Wo blüht denn blauer Mohn? - Jan Flieger - E-Book

Wo blüht denn blauer Mohn? E-Book

Jan Flieger

4,8

Beschreibung

Ja, auch die Frage wird in diesem Buch beantwortet, wo denn nun blauer Mohn blüht. Sogar auf zweifache Weise. Aber vor allem wird sich zeigen, ob die Liebe hält, die sich da langsam entwickelt zwischen dem Matrosen Bert Müller, den alle nur Kußmaat nennen, und seinem Mädchen, das auf verschiedene Weise ein ganz besonderer Mensch ist. Und Kußmaat merkt, dass er um seine Liebe kämpfen muss, wenn er sie behalten will. Und sein Mädchen. Es ist eben eine ernsthafte Sache. INHALT: Die Begegnung Der nächste Tag, die nächste Nacht und der übernächste Tag Die Stille ist nicht stumm Und du bist fern, und du bist nah Eisgang Wie hoch mich deine Küsse tragen Fahrtwind LESEPROBE: Da stürmt der Läufer in das Zimmer. «He, Kussmaat. Anruf von unten - ’ne Puppe!» Kussmaat schreckt hoch, denn er trägt nur die Turnhose und die Jacke des Trainingsanzuges. «Für mich?», fragt er. «Denkste für mich?», fragt der Läufer. «Wenn du sie nicht brauchst - ich nehme sie dir ab!» Während Kussmaat sich überhastet anzieht und noch vergisst, einen Knopf zu schließen, fliegt die Botschaft durch alle Zimmer des Nachrichtenzuges: die Puppe vom Kussmaat! Jetzt stehen auch die am Fenster im Waschraum, die in den Zimmern auf den Betten gelegen haben. Und solange Kussmaat sich noch anzieht, nun ganz allein im Zimmer, kann man schon seine Witze machen. Aber die Münder bleiben offen. So ein Mädchen verschlägt ihnen den Atem: so blond! Und die Figur! Beine hat die! Mann! Da kann man verstehen, dass Kussmaat so wild ist, wenn er an sie denkt. «Aber sie lässt ihn nicht ran», witzelt Eddi. «Das sieht man der an. Die ist stolz. Der schönste Pudding ist blöd, wenn man ihn nicht essen kann.» Das erste Diensthalbjahr schweigt, auch Siggi, obwohl er etwas sagen möchte, aber er verkneift sich die Bemerkung. Und eigentlich hat ja Eddi auch recht. Nur würde er die Worte vor Kussmaat sagen? Kussmaat läuft die Treppe hinab, nimmt drei Stufen auf einmal, stößt zusammen mit Leutnant Wulf von den Aufklärern, der um die Ecke biegt. «Sie haben wohl persönlichen Alarm, Genosse Müller?» «So kann man das sagen, Genosse Leutnant», platzt Kussmaat atemlos heraus. Leutnant Wulf lacht. «Na, dann laufen Sie los!» Miriam steht vor der Tür des Besucherraumes. «Hallo, Miriam.» Kussmaat sieht verstohlen hoch zu dem Fenster, durch das die Soldaten des Nachrichtenzuges herabblicken, Gesicht an Gesicht!

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Impressum

Jan Flieger

Wo blüht denn blauer Mohn?

ISBN 978-3-86394-498-8 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 im Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik, Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Meinen Kindern Anke und Tim

Die Begegnung

Meine Lippen umkosen dein Ohr. So klein und zart, wie hat es Platz für all die Musik?

Jannis Ritsos

1. Kapitel

Es ist ein Abend im August an einem ganz gewöhnlichen Wochentag. Die Lichter auf dem Rummelplatz flammen auf, und die Narrenschellen der Karussells klingeln, das Lachen und die Rufe schwellen an, lauter und lauter.

Bert schlendert mit Siegfried vorbei an den Karussells, den Schieß- und den Losbuden, den Ständen, vorbei an der Geisterbahn, dem Skooter, dem Lachkabinett und dem «Waffel-Shop». Beide tragen sie eine Uniform, beide sind sie zur Zeit Soldaten, seit drei Monaten und sechzehn Tagen genau. Siegfried Schubert nennen die neuen Kameraden «Siggi», und Bert Müller heißt «Kußmaat», weil er im zivilen Leben als Binnenschiffer arbeitet und die Flüsse hinauf- und hinunterfährt, bergwärts und talwärts, wie er es nennt in seiner Schiffersprache, und weil er wieder ein Mädchen sucht. So wurde aus Bert Müller: Kußmaat. Und manche rufen diesen Spitznamen wie einen Dienstrang: Kußmaat Bert. Anfangs hatte Kußmaat sich über den Namen geärgert, aber nun ist er ihm so vertraut, dass er sich nicht mehr an ihm stößt, er ist ihm so vertraut wie sein Familienname, und Kußmaat klingt eigentlich sogar besser als Müller, doch dazu hat eben jeder seine eigene Meinung.

Eng aneinandergedrängt stehen die Schießstände, die Losbuden, die Imbissstände, flankiert von Karussells. Und am Ende des Rummelplatzes dreht sich das Riesenrad. Seine Gondeln scheinen wie gigantische Leuchtkäfer durch die Luft zu fliegen, und man kann dort oben den gesamten Platz überblicken.

Kußmaat und Siggi aber schauen zu den Mädchen.

«Beine!», sagt Siggi und schnalzt mit der Zunge.

Kußmaat nickt, doch er ist nicht so recht bei der Sache. Zwei Mädchen wollen sie kennenlernen, so ist es ausgemacht, und die Mädchen laufen ja auch nur zu zweit herum.

Der Abend ist lang und ein Ausgang aus dem Objekt etwas Herrliches, weil sie erst um vierundzwanzig Uhr in der Kaserne sein müssen. Aber an die Kaserne denkt Kußmaat jetzt nicht, die liegt weit, weit weg, Stunden trennen ihn von ihr, fünf Stunden, fünf lange Stunden.

«Die zwei da?», fragt Siggi.

Kußmaat blickt aufmerksam in die Richtung, die ihm Siggis Hand weist, sieht eine Brünette mit einem Fransenschnitt, die Jeans trägt, und eine Rothaarige in kurzem Rock, aber als die Mädchen näher kommen, gefallen ihm ihre Gesichter nicht. «Fehlmeldung», sagt er. «Tuschkästen.»

Und Siggi nickt, obwohl er auch die «Tuschkästen» ansprechen würde, aber dieser Kußmaat hat einen ausgefallenen Geschmack, das weiß er längst. Geschminkte Mädchen liebt Kußmaat nicht. Der Rummelplatz ist groß, riesengroß, und oft ist das Gewimmel so dicht, dass sie beide achtgeben müssen, um sich nicht aus den Augen zu verlieren.

«Zum Gähnen langweilig», sagt Siggi mit einer leisen Trauer in der Stimme.

Kußmaat widerspricht nicht.

«Wir essen eine Bratwurst», schlägt Siggi vor.

«Gut», antwortet Kußmaat.

Sie stellen sich an und kaufen jeder noch zwei große Gläser Bier.

«Warum es keine größeren gibt», meint Siggi. «Die Gläser reichen gerade für meinen hohlen Zahn.»

Siggi übertreibt gern, und Kußmaat weiß das, denn Siggi ist der erste, der betrunken ist, wenn sie einen Gruppenausgang in die Kneipe unternehmen. Ein paar Biere und drei Weiße reichen völlig aus, dann müssen zwei Mann Siggi in die Mitte nehmen, damit er, ohne aufzufallen, das Kasernentor passieren kann. Und auf dem Zimmer stolpert er dann über die Hocker, auf denen die Uniformen liegen und die Unterwäsche, sorgsam zusammengelegt, damit beim Stubendurchgang Feldwebel Menzels wachsamer Blick nichts zu beanstanden hat.

«He», sagt Siggi, «träumst wohl?»

Kußmaat schrickt zusammen. Ich muss wirklich geträumt haben, denkt er. Er leert ein Glas auf einen Zug und lässt den Inhalt des zweiten folgen. Das schafft Siggi nicht, er würde sich verschlucken, er verschluckt sich auch beim Stiefeltrinken, und er muss dann immer bezahlen. Kußmaat bezahlt nie.

Bert Müller ist mittelgroß und sehr schlank. Er hat ein jungenhaftes Gesicht und einen verwegenen Blick. Seine Haare sind so braun wie seine Augen. Mädchen mögen Kußmaat.

Kußmaat und Siggi bringen die leeren Gläser zurück und schlendern weiter. Neben dem Riesenrad dreht sich ein Karussell, dessen Sirene aufheult mit an- und abschwellendem Ton. Eine dichte Traube aus Mädchen und Jungen ballt sich davor.

«Die haben hier immer ihre Macker mit», sagt Siggi. «Du denkst, so eine ist allein, da kommt plötzlich ein halber Hahn und kräht.»

«Na und?», fragt Kußmaat.

«Der halbe Hahn hat ’ne Armee hinter sich», schimpft Siggi. «Drei, vier, fünf Mann auf einmal!»

Siggi, das weiß Kußmaat, ist nicht streitsüchtig, und an eine Schlägerei denkt er schon gar nicht, besonders dann nicht, wenn er sie verlieren könnte.

«Die verprügeln dich», warnt Siggi.

«Mich nicht», antwortet Kußmaat.

Kußmaat weicht einem Streit nie aus, aber dafür tun es die anderen, wenn sie in Kußmaats Augen sehen, da Jähzorn ein Funken ist, den man erkennen kann. Dieser Jähzorn hat Kußmaat schon viel Ärger eingebracht, auch in der Kaserne, denn die Vorgesetzten wollen ihn nicht verzeihen. Disziplin ist alles, und Jähzorn fördert keine Disziplin.

«Na gut», sagt Kußmaat väterlich.

Sie gehen weiter.

«Es bietet sich einfach nichts an», mault Siggi. «Nur Schleiereulen. Oder ein gutes Mädchen und eine Schleiereule als Zugabe.»

«Wird schon noch», tröstet Kußmaat. «Der Abend ist lang.» Doch er glaubt nicht an seine Worte.

«Der Ausgang ist zu kurz», antwortet Siggi, als sie vor der Geisterbahn stehen. «Kinderbelustigung», sagt er dann. «Weißt du, wie ich es machen würde? Richtig echt. Ich würd mich in eine dunkle Ecke stellen und immer, wenn ein Wagen kommt, hinten aufspringen und den Insassen in die Ohren brüllen. Die würden weiß im Gesicht wie Schafskäse.»

Kußmaat winkt ab. «Wir gehen weiter», sagt er und blickt in die Gesichter, die ihm im Strom der Menschen besonders auffallen.

Ein Mann trägt einen Jungen auf dem Arm, der ihn immer dann, wenn er ein Karussell sieht, am Bart zupft. Neben ihm geht eine blonde Frau mit einem hübschen Gesicht, aber ziemlich starken Hüften. Dass Frauen immer so dick werden müssen, denkt Kußmaat, sie essen zu viel, sie können sich nicht beherrschen.

Da erstarrt Kußmaat, und einen Augenblick lang hält er die Luft an. Dieses Mädchen!

Blaue Augen streifen Kußmaat. Große Augen, sehr große. Ungewöhnliche Augen.

Kußmaat blickt dem Mädchen nach.

«Was ist denn?», fragt Siggi.

Aber Kußmaat folgt dem fremden Mädchen, dessen Haare lang und blond herabfallen bis weit über die Schultern. Alles ist vergessen, der Rummelplatz, die Menschen, der Freund. Die Gestalt des Mädchens ist wie ein gewaltiger kraftvoller Magnet, dem er sich nicht entziehen kann.

Siggi packt seinen Arm. «Mann! Was ist denn? He, Kußmaat! Bist du mondsüchtig?»

«Weg!», sagt Kußmaat schroff.

Drei Schritte geht er hinter dem Mädchen, so, dass er sie nicht aus den Augen verlieren kann.

«Die da?», fragt Siggi aufgebracht.

«Ja», knurrt Kußmaat.

Siggi empört sich. «Wir haben ausgemacht, dass wir nur zwei Mädchen ansprechen!»

Aber Kußmaat antwortet nicht, und Siggi weiß: Ein wütender oder ein von einer bestimmten Idee besessener Kußmaat ist gefährlich, also folgt er ihm schweigend.

Das Mädchen steht in der Schlange vor dem Riesenrad.

Kußmaat will in dieselbe Gondel wie sie, drängelt sich vor, aber es klappt doch nicht, denn die Leute murren, und ein Ehepaar mit einem Kind steigt vor ihm in die Gondel. Der Mann auf dem Steg weist das Mädchen mit ein.

Das Riesenrad fängt an, sich langsam zu drehen, dann schneller und schneller.

«Hallo!», ruft Kußmaat und winkt, weil er den Kopf des Mädchens über sich sieht. «Ich wollte mit zu dir in die Gondel.»

Aber das Mädchen schaut nicht herab, blickt über den Rummelplatz, als wären die Worte nicht gerufen worden.

«Mal hersehen könnte sie ja wenigstens», sagt Siggi. «Ihre Augen sind groß genug.»

Das Riesenrad dreht sich schneller, schneller, schneller ... Das Ehepaar mit dem Kind lacht, die Frau sehr schrill, der Mann dröhnend. Das blonde Mädchen sitzt stumm dabei.

«Hallo!», ruft Kußmaat noch einmal und nun sehr laut. «Hallo! Wollen wir die nächste Tour zusammen fahren?»

«Die ist zu fein!», stichelt Siggi. «Bei der musst du mit weißen Handschuhen kommen. Und einen von der <Fahne> sieht sie gar nicht an. Und Sie musst du auch sagen.»

Das Riesenrad verlangsamt die Fahrt, steht, die Fahrgäste steigen aus den Gondeln. Das Ehepaar wird noch einmal fahren, bleibt sitzen, nur das Mädchen verlässt die Gondel.

«Los!», fordert Kußmaat. «Hinterher!»

«Die Eingebildete?», fragt Siggi. «Du hast Nerven!»

Kußmaat drängt Menschen zur Seite, bis er direkt hinter dem Mädchen geht und ihr Haar beinahe mit seinen Lippen berühren kann.

«Guten Abend», sagt er. «Wollen wir noch eine Runde auf dem Riesenrad fahren?»

Das Mädchen dreht sich nicht zu ihm um, schaut weiter nach vorn. Keine Regung in ihrem Gesicht verrät, ob sie den Vorschlag gut findet oder schlecht.

«Nur mal eine Fahrt», bittet Kußmaat. «Ganz unverbindlich. Nur mal so», ergänzt er leiser, unsicher, weil er spürt, dass er einen Korb bekommt.

Das Mädchen geht weiter.

«Du kannst dich wenigstens mal umsehen», sagt Kußmaat. «Wir können auch woanders fahren. Du kannst bestimmen, wo! Geisterbahn? Oder ...»

«Lass die doch», stichelt Siggi wieder, der hinter Kußmaat einhertrottet, «die lässt dich abblitzen.»

Das Mädchen wendet sich um, aber ihr Blick gleitet über Kußmaat hinweg, als suchten ihre Augen nochmals das Riesenrad.

«Sag doch was», versucht es Kußmaat noch einmal.

Das Mädchen geht weiter, wortlos.

«Ist die ’n Eisberg», sagt Siggi. «Du bist Luft für die. Einfach Luft. Mann, begreifst du das nicht! Obermies ist die.»

«Sei still», bestimmt Kußmaat. Aber das Verhalten des Mädchens ist kränkend, anders kann er es gewiss nicht nennen.

Plötzlich blickt sie sich wieder um, aber sie schaut an Kußmaat vorbei, als wäre er aus Glas, als hätte er nicht versucht, sie anzusprechen.

«Blonde Ziege!», sagt Siggi laut.

Das Mädchen geht, unberührt von der Beleidigung, weiter.

«Noch ein Wort!», droht Kußmaat, «und ...»

«Bin ja schon ruhig», lenkt Siggi ein, weil er in Kußmaats Augen das bekannte Flackern sieht. Kußmaat überholt das Mädchen, steht plötzlich vor ihr.

«Ich würde dich gern zu was einladen», beginnt er erneut.

Das Mädchen blickt erschrocken, verwirrt, bleibt stehen.

Mann, denkt Kußmaat, ist die schön.

Das Mädchen tippt auf ihre Brust, und Kußmaat nickt eifrig, weil die Sache endlich ins Lot zu kommen scheint.

Da lächelt das Mädchen, schüttelt den Kopf.

«Warum nicht?», bohrt Kußmaat weiter. «Wir können auch ein Eis essen gehen.»

Das Mädchen blickt ihn unverwandt an.

Wenn ich ihr nicht gefalle, denkt Kußmaat, dann soll sie sich doch umdrehen, einfach gehen! Vielleicht stört sie meine Uniform? Aber stehen und mich anstarren?

Kußmaat weiß nicht, was er tun soll, er spürt Ellenbogen, wird gerempelt, aber die Wut darüber stellt sich nicht ein. Er blickt in die Augen des Mädchens, hat alles vergessen. Dieses Lächeln, denkt er, so warm, so voller Traurigkeit, ich kann mich nicht sattsehen. Seine Kehle ist trocken.

Da zeigt das Mädchen mit einer bedauernden Geste auf ihre Ohren. Kußmaat steht wie erstarrt, er wehrt sich gegen das Begreifen, hebt die Schultern, senkt sie. Das Mädchen wendet sich um und geht. Aber Kußmaat bleibt weiter neben ihr, obwohl ihm der Schreck die Kehle zuschnürt und er nicht sprechen kann. Taubstumm! Nicht hören und nicht sprechen können?

Das Mädchen blickt ihn wieder an, und Kußmaat zeigt schnell auf den Italienischen Eissalon. «Wollen wir?», fragt er.»

Das Mädchen nickt zögernd, folgt ihm dann.

Sie finden einen freien Tisch. Ich muss jede Frage aufschreiben, denkt Kußmaat, und sie die Antwort. Aber woher soll ich einen Zettel nehmen? Da entdeckt er einen Ständer mit Servietten, zieht eine heraus, greift nach seinem Kugelschreiber, den er aus irgendeinem Grund in der Tasche mit sich herumträgt.

Ich heiße Bert, schreibt er auf die Serviette. Und du? Er schiebt dem Mädchen die Serviette zu und den Stift.

«Miriam», sagt das Mädchen plötzlich.

Aber sie spricht doch, denkt Kußmaat, es klingt nur etwas hart. Sie spricht!

«Der Name gefällt mir», sagt er erleichtert. «Miriam», wiederholt er.

Das Mädchen lächelt.

Kußmaat blickt zu Siggi, der draußen steht und den Kopf schüttelt, ehe er geht.

Siggi ist sauer, denkt Kußmaat und blickt das Mädchen an, weil keine Pause aufkommen soll in dem Gespräch, keine Verlegenheitspause.

Nun erzählt er über sich, erzählt einfach drauflos und untermalt seine Worte mit Zeichnungen auf der Serviette.

«Binnenschiffer zu sein», sagt das Mädchen, «ist sicher schön.»

Kußmaat nickt stolz, denn es gibt keinen schöneren Beruf und kein freieres Leben, nirgendwo.

Eigenartig ist das, denkt er, wenn ich sie ansehe beim Sprechen, versteht sie mich, wende ich mich ab, muss ich die Worte wiederholen ...

«Erzähl doch mal was von dir», sagt er nun.

Sie arbeitet, hört er, als Schriftsetzerin. Sie ist achtzehn Jahre alt, ihre Hobbys sind Malen und Lesen. Sie liest gern Aitmatow. Kußmaat hat wenigstens den Namen schon gehört, aber er kennt keinen Buchtitel.

«Ich habe», sagt er, «zum Lesen keine Zeit.»

«Das ist ein Fehler», antwortet das Mädchen. «Ein großer Fehler. Zum Lesen muss man immer Zeit haben. Lieber nicht fernsehen.»

Mann, denkt Kußmaat, ist die direkt. Aber solche Menschen mag er.

Sie malt gern mit Ölfarben.

Kußmaats Augen weiten sich. Eine Malerin? Auf seinem Schiff hängen drei Reproduktionen von einem Gauguin, die ihm gefallen. Malen ist eine Kunst, eine große Kunst, eine bewundernswerte. Im Regiment malt auch ein Soldat, aber der hat fünf Jahre lang Malerei studiert.

Sie liebt Tiere, besonders Katzen, einfache schwarze Hauskatzen.

«Ich auch», sagt Kußmaat und lacht. «Ich prügele mich mit jedem, der sie quält. Schon seit dem Kindergarten.»

«Prügeln», erwidert das Mädchen, «mag ich nicht, aber wenn Tiere gequält werden, da wäre ich manchmal auch gern ein Junge gewesen.»

Nun lacht Kußmaat, und sein Lachen steckt das Mädchen an.

Sie wohnt hier, hört er dann, war aber die gesamte Schulzeit im Internat der Gehörlosenschule einer anderen Stadt, die sie nicht nennt. Nur am Wochenende war sie zu Hause.

Kußmaat schweigt. Dann streichelt er die Hand des Mädchens, aber die Hand wird vorsichtig zurückgezogen.

«Ich will kein Mitleid», sagt das Mädchen und blickt einschüchternd ernst.

«Es ist kein Mitleid», antwortet Kußmaat und denkt: Glaubt sie, ich sitze hier mit ihr aus Mitleid? Aber er weiß nicht, wie er ihr das sagen soll.

«Ich bin immer für Offenheit», sagt das Mädchen.

«Ich auch», antwortet Kußmaat. «Ich mach mir damit Feinde genug.»

Sie lächelt wieder.

Was ist mit mir los? denkt Kußmaat. Irgendwie bin ich völlig verwirrt.

«Hast du einen Freund?», fragt er schnell, wobei er den Kopf zum Ausgang wendet.

Miriam schweigt, als er sie wieder ansieht.

«Ich muss gehen», sagt sie. Das ist keine Antwort, denkt er. Doch sie erhebt sich, und auch er steht auf und bleibt dicht hinter ihr. «Ich bring dich nach Hause. Darf ich?»

Aber das Mädchen, das Miriam heißt, schweigt, auch als er die Frage wiederholt.

Sie verlassen das Eiscafé, gehen weiter auf einer Platanenallee, immer weiter, bis die Geräusche sehr leise werden. Kußmaat spürt die Schulter des Mädchens, und der Nachtwind bläst ihm ihr Haar ins Gesicht. Stunden, denkt Kußmaat, könnte ich so gehen, Stunden ...

Das Mädchen blickt auf seine Lippen, als er seine Frage wiederholt, denn er möchte wissen, wo das Mädchen wohnt, obwohl er noch nicht sicher ist, wie es weitergehen soll mit ihr und mit ihm. Glück und Erschrecken liegen so dicht beieinander.

Das Mädchen nickt.

Ganz vorsichtig nimmt er ihre Hand.

Schweigend gehen sie auf der Allee immer weiter, über den Thälmannplatz und dann die Schillerstraße entlang.

Das Mädchen entzieht ihm ihre Hand wieder. Die Gedanken wirbeln herum in Kußmaats Kopf wie in einem Karussell, und es ist gut, dass er schweigen kann, denn mit diesem Erlebnis muss er fertig werden.

Das Mädchen lächelt ihn an. Bis ins Herz kann so ein Lächeln treffen. Aus Mitleid, denkt Kußmaat, gehe ich gewiss nicht mit.

Sie stehen vor Miriams Haus, einem Altbau mit hohen Fenstern, und das Mädchen weist auf einen beleuchteten Namen neben dem Klingelknopf.

Kußmaat sieht das Mädchen an. Ihre Augen wirken nun dunkel, beinahe schwarz.

Was wird ihr durch den Kopf gehen? denkt Kußmaat.

Ehe er sich umwendet, streichelt er sie, so zart, wie er wohl noch nie ein Mädchen gestreichelt hat. Sentimental wollte er nie werden. Nie! Und nun diese Miriam.

Kußmaat wendet sich schnell ab, doch ehe er um die Ecke biegt, schaut er zurück. Das Mädchen blickt ihm nach, noch immer.

Kußmaat steigt in keine Straßenbahn, er läuft zur Kaserne zurück, er muss einfach laufen, im Nachtwind laufen.

2. Kapitel

Kußmaat erreicht sein Objekt, sieht das Tor, den Posten: Lehmann von der zweiten Batterie.

Die Gebäude sind dunkel, nur in dem Zimmer, wo die Unteroffiziere vom Dienst sitzen, brennen die Lampen. Auch der Block, in dem Kußmaat schläft, liegt im Dunkel.

In dem zweistöckigen Gebäude wacht im Parterre der Offizier vom Dienst, im ersten Stock wohnen die Aufklärer und im zweiten der Nachrichtenzug des Flakregimentes, dem Kußmaat als Empfangsfunker angehört.

Kußmaat hebt die Ausgangskarte hoch.

«Schieb durch», knurrt Lehmann müde.

Kußmaat erreicht seinen Block und steigt die Treppe hinauf zum zweiten Stock. Gleich rechts ist das Zimmer, in dem er seit Abschluss der Grundausbildung schläft, die Stube acht. Er grüßt Schollak, der heute Gehilfe des Unteroffiziers vom Dienst ist, den «Läufer», wie er sich nennt in der Sprache der Armee. Kußmaat gibt die Ausgangskarte ab und drückt die Klinke zu seinem Zimmer leise nach unten.

Vorsicht ist geboten bei jeder Rückkehr, denn der Schabernack der Kameraden kann überall lauern, jeder weiß das. Man muss auf den Fußboden achten, man muss untersuchen, ob die Matratze auch im Bett liegt und nicht nur das Laken, auch, ob der Stahlboden des Bettes wirklich fest ist. Doch man kennt die Streiche. Allerdings gibt es auch unvorhergesehene Späße, und keiner bleibt verschont. Kußmaat selbst ist da sehr erfinderisch.

Das Zimmer liegt im Dunkel, und Kußmaat schaltet das Licht auch nicht an, denn es ist ausgemacht, dass jeder, der aus dem Ausgang kommt, sich ohne Licht auszieht, um die anderen nicht zu stören.

Aber alles scheint in Ordnung.

Leise entkleidet sich Kußmaat, schlüpft in den Schlafanzug, freut sich, dass die Ärmel nicht zusammengenäht sind, tastet sich in sein Bett. Lochmann und Löbig schlafen tief und fest, Fonfara grunzt im Schlaf, Siggi wälzt sich herum, und Eddi schnarcht, Eddi, der eigentliche Chef in diesem Zimmer, obwohl Schibulek Stubenältester ist und im selben Diensthalbjahr wie Kußmaat.

Die Luft ist rein!

Nur das Bett ist hart, sehr hart. Einmal haben sie Kußmaat einen dicken Stock zwischen Boden und Matratze gestellt. Kußmaat greift sicherheitshalber unter das Bett, aber er muss sich getäuscht haben.

Er liegt und blickt in das Dunkel.

Dieses Mädchen, dieses Mädchen Miriam. Warum kann er die Begegnung nicht vergessen?

Warum vergisst er Miriam nicht einfach?

Eine Gehörlose! Warum denkt er überhaupt an sie? Er muss den Abend auslöschen aus der Erinnerung. Sentimental ist er doch nicht.

Siggi stammelt ein paar wirre Worte im Schlaf.

Ich brauche ja nicht wieder hinzugehen, denkt Kußmaat. Wir haben uns nicht verabredet.

Er wälzt sich herum im Bett. Ich will schlafen, denkt er, warum kommt er nicht, dieser verfluchte Schlaf! Ich kann doch morgen grübeln, ich habe überhaupt viel Zeit zum Grübeln, ich kann grübeln, wann ich will, aber wenn ich die Kopfhörer aufhabe bei der Funkausbildung, geht es nicht, weil Grosche, der Ausbilder, immer wachsam ist. Wer träumt, ist für Grosche ein Spinner, und die mag Grosche nicht, er mag nur gute Soldaten, dieser Grosche, der Truppführer der Empfangsfunker, Kußmaats Chef, der Mustersoldat.

Miriam! Er sitzt ihr wieder gegenüber im Eissalon. Dieses Mädchen Miriam! Wieder und wieder denkt er an das Gespräch. Aber es gibt genug Mädchen, die Straßen sind voll von ihnen, es gibt viele langhaarige Blonde mit schönen Augen, unendlich viele. Doch das Aussehen ist nur die eine Seite der Medaille. Miriam ist irgendwie anders als die Mädchen, die er bisher kennengelernt hat. Aber sie ist gehörlos!

Gehörlos?

Und doch hat sie verstanden, was er gesagt hat? Aber nur, wenn sie auf seine Lippen schaute, nur dann.

Kußmaat wird es heiß unter den Decken. Nichts ist passiert, Bert, gar nichts! Du hast irgendein Mädchen nach Hause gebracht, nichts weiter. Du hast sie nicht einmal geküsst, sie erwartet nicht, dass du wiederkommst! Du kannst genug Mädchen haben! Und vielleicht hat sie sowieso einen Freund! Der Gedanke aber schmerzt, lässt das Herz schneller schlagen. Er wird ganz fest an morgen denken, denn morgen werfen sie Handgranaten, scharfe Handgranaten. Siggi sagt immer: Wenn mal was nicht stimmt mit diesen faustgroßen Dingern, wenn sie in der Hand explodieren, dann ...

Im Werfen mit der Übungshandgranate ist Kußmaat gut. Er wirft sogar weiter als Eddi, viel weiter als Siggi. Meine Gedanken müssen weg von dieser Miriam, redet er sich ein. Aber woran soll er denken?

Ja, woran?

Lehmann am Tor hat es gut: kein Mädchen - keine Probleme! Doch ob das erstrebenswert ist? Lehmanns griesgrämiges Gesicht am Tor? Steht da, als hielte er sich an seiner MPi fest.

Das Tor ...

Das Objekttor ...

Woran denkt man, wenn man den Schlaf erzwingen will?

Liegen in einem Kornfeld?

Kußmaat stellt sich ein Kornfeld vor, wogende Ähren, weit bis zum Horizont, eine Wiese mit Schafen, einen blauen Himmel mit weißen Wolken, aber der Schlaf will nicht kommen. Er zählt bis fünfzig, ganz langsam. Auf jeden Fall muss er die Gedanken an das Mädchen verdrängen.

Vielleicht an sein Schiff denken?

An Kuddel, den Schiffsführer, und die anderen?

Dieses laute Schnarchen! Sie schlafen, und er muss wach liegen! Ausgerechnet er!

Keine Ähren helfen, keine Schafe, kein Schiff!

Er hört das Atmen der Schlafenden.

Soll er an die «Fahne» denken? Einfach so? Er muss beinahe lächeln bei diesem Gedanken. Soll er wirklich? Ein Mädchen hat keinen Platz in dieser Welt der Männer, das ist sicher, absolut. Einfach zurückdenken bis zum ersten Tag? Das hat er noch nie getan.

Und plötzlich, als er die Augen schließt, erblickt er wie in einem Schaukasten Bilder aus den ersten Tagen bei der Armee.

Es ist der dritte Tag im Monat Mai. Kußmaat trägt noch Zivil und einen alten Koffer, in dem nur enthalten ist, was auf der Karte vom Wehrkreiskommando angegeben wurde. Und bis zur letzten Minute hat er gewartet, bis zur allerletzten.

Funker ist sicher besser als mot. Schütze, aber das ist kein Trost. Ich muss weg von meinem Schiff! Das ist sein einziger und quälender Gedanke. Achtzehn Monate in einer Kaserne! Achtzehn Monate lang keine Schiffsplanke unter den Füßen spüren! Eine irrsinnig lange Zeit, die wohl nie vergehen wird! Nie!

Und doch muss er nun durch das Kasernentor, endgültig, denn er will nicht gleich am Anfang unangenehm auffallen. Er blickt umher, aber er kennt niemanden, er sieht nur fremde Gesichter, als er vor einem Flachbau wartet. Aus den Fenstern eines anderen Blockes schauen Soldaten, sie witzeln, besonders dann, wenn einer mit langen Haaren kommt.

«Der Friseur wartet schon», rufen sie.

Und er wartet wirklich im Flachbau, grauhaarig, verhutzelt und mit einer Hornbrille.

Kußmaat lacht auch, als er einen Langhaarigen erblickt, aber das Lachen vergeht ihm, als die Schere durch sein eigenes Haar fährt. Wie kann dieser Friseur nur so viel Haare von einem Kopf schneiden?

«Nicht ganz so viel», knurrt Kußmaat.

Aber der Friseur schneidet ungerührt weiter. Hier, in der Kaserne, ist er der König und nicht sein Kunde.

Und die Haare fallen weiter.

Haare, Haare, Haare ...

Ein ganzer Berg von ihnen liegt schon auf dem Boden.

Als Kußmaat aufsteht und in den Spiegel sieht, kommt er sich vor wie damals, als er zur Jugendweihe ging. Der einzige Trost: Ausgang gibt es sowieso nicht, solange die Grundausbildung dauert.

Man «klopft» sich ab mit ein paar anderen, und große Worte fallen gegen die Unsicherheit.

Und dann die Bekleidungs- und Ausrüstungskammer: Alles muss hinein in eine Plane, die vielen Siebensachen pro Mann, vom Helm bis zur Socke. Die Plane ist schwerer als ein Seesack, viel schwerer. Auf zum Nachrichtenzug des Regimentes, zum Block, den Kußmaat schon gesehen hat, als er auf den Friseur wartete.

Und die erste Nacht!

Doppelstockbetten.

Grau gestrichenes Metall.

Schönes militärisches Grau.

Blau karierte Bezüge für die Decken.

Sie sind acht in einem Zimmer. Ganz vorn, im ersten Bett neben der Tür, schläft «Specki», der im dritten Diensthalbjahr ist und die Neuen betreuen soll.

Er ist dreiundzwanzig, Elektromonteur und hat einen Sohn, der Leonardo heißt, Leonardo Schulze.

Unter ihm liegt Schollak, achtzehn und Melker in einer LPG, ein ehemaliges Heimkind, der auch im Jugendwerkhof war.

Im dritten Bett schnarcht Lochmann, der sechsundzwanzig Jahre alt ist und schon gedacht hatte, er wäre glücklicherweise vergessen worden vom Wehrkreiskommando seiner Stadt. Er besitzt schon einen Bauch, als einziger im Zimmer, und ist ein Diplom-Ingenieur. Mit nörglerischer Miene wird er herumblicken am nächsten Tag, auch an den folgenden. Und ein wenig hochnäsig.

Unter ihm liegt Fonfara, ein langer dürrer Achtzehnjähriger mit einem Pferdegesicht. Wenn er lacht, wiehert er wie ein Pferd.

Fonfara - das Pferd.

Ein «Adliger», wenn man «von Fara» sagt.

Ein sanftes Pferd, das nicht ausschlägt.

Da ist Siggi anders, der oben im zweiten Bett liegt. Er hat Lochmann, als er dieses Bett beanspruchen wollte, eine Tracht Prügel angedroht. Lochmann aber hatte von oben herabgeguckt und war wortlos ein Bett weitergegangen.