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November 1944 in der Slowakei. Zwei sowjetische Kriegsgefangene, denen die Flucht aus dem Werk gelungen ist, wollen zu den Partisanen, die gegen die Faschisten kämpfen. Schwer ist der Weg für Tschangow und Tischin. Aber sie müssen zu den Partisanen. Und vielleicht treffen sie dort auch auf die sowjetische Ärztin Vera, Tschangows Frau … Und dann stoßen Tschangow und Tischin auf Männer in sowjetischen Uniformen, insgesamt zwölf Leute. Endlich Partisanen! Aber sind es auch wirklich sowjetische Soldaten? Das spannende Buch erschien erstmals 1986 als Heft 298 der Erzählerreihe des Militärverlages der DDR. LESEPROBE: Plötzlich sah Vasek die beiden Männer, die über eine tief verschneite Waldwiese liefen. Sie trugen Zivil. „Partisanen“, keuchte Kottenhahn erregt. „Es ist besser, wenn wir nachts laufen Und am Tage schlafen.“ Vasek hoffte, dass es Partisanen waren. Wenn sie uns gesehen haben, dachte er, werden sie eine Abteilung alarmieren, die uns an irgendeiner Stelle des Weges stellen wird. So plötzlich, wie die Männer aufgetaucht waren, die man nur als kleine dunkle Punkte wahrnehmen konnte, waren sie wieder verschwunden. Es sah aus, als hätte sie das Krummholz des anderen Bergkamms verschluckt. Vasek spürte einen Stoß im Rücken und blickte in die kalten blauen Augen Kottenhahns. „Wir werden nur noch nachts marschieren und am Tag in den Bunkern schlafen. Teile den Weg so ein.“ „Das wird nicht gehen“, antwortete Vasek erschrocken, „Es wird“, knurrte Kottenhahn, und Vasek blickte in den Lauf einer Maschinenpistole. Wenn er mich erschießt, dachte Vasek, kann ich die Partisanen nicht warnen, die in dem Erdbunker sind, in dem die Ärztin arbeitet. Ich muss diese Männer töten, ehe sie mich töten. „Denke nicht, dass du uns entkommst, oder dass du sie warnen kannst“, hörte er Kottenhahn sagen, der die Worte zwischen den Zähnen hervorstieß wie Geschosse. „Und vergiss nicht: Wenn wir nicht zurückkommen, trifft es dein Kind und deine Frau. Ein KZ überleben sie nicht in ihrem Zustand.“ „Ja“, sagte Vasek leise. Er blickte in die kalten Augen Kottenhahns, wusste, dass er diese Männer nie zu der Ärztin führen würde. Und die letzte Möglichkeit, die ihm bleiben würde, wenn er sie nicht selbst töten konnte, musste sein Schrei sein, der, wenn ihn kein Sturm verschluckte, weit, unendlich weit zu hören sein würde. Und wieder dachte Vasek an die zwei Männer, deren Spuren die Flocken, die langsam dichter und dichter fielen, bedecken und auslöschen würden.
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Seitenzahl: 54
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Impressum
Jan Flieger
Die Nacht der Schnee-Eule
ISBN 978-3-86394-482-7 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1986 im Militärverlag der DDR, Berlin (Erzählerreihe 298).
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2014 EDITION digital® Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Tschangow und Tischin lagen im Dunkeln und warteten. Am Anfang hatten sie die Stunden gezählt, die ersten Stunden nach der Flucht. Ernst Röhrig hatte sie in diesem Raum versteckt, der Mann, der für diese Flucht den Posten des erkrankten Pförtners übernommen hatte.
Drei Tage und drei Nächte waren Tschangow und Tischin fieberhaft gesucht worden. Aber wer sollte sie noch im Werk vermuten und in diesem Raum? Wer?
Viele sowjetische Kriegsgefangene hatten versucht, aus diesem Lager zu fliehen, das so nahe der Fabrik lag. Kaum einem war es gelungen, die Berge der Niederen Tatra zu erreichen.
Wasserfässer hatten sie an den zweieinhalb Meter hohen Zaun geschoben, den Stacheldraht mit Lappen umwickelt und überstiegen, um in die nahen Wälder zu fliehen. Wie viele waren erschossen worden? Niemand würde es je erfahren.
Wie war es Iwanow ergangen?
Oder Galenkow?
Wie Ostrowerschow?
Oder Benranjuk?
Aber Tschangow und Tischin hatten ihre Flucht gut vorbereitet, und Ernst Röhrig, Mitglied einer Widerstandsgruppe, hatte ihnen dabei geholfen.
Fasste man sie beide nicht in diesem Werk, würden sie in Zivilkleidung weiter fliehen können, mit Proviant und einer Karte der Slowakei. Aber in den Bergen lag hoher Schnee, wartete der Frost, der Hunger.
In den Bergen, dachte Tschangow, lebt dort nicht Vera? Hatte nicht Röhrig von einer sowjetischen Ärztin gesprochen und diesen Berg genannt, in dessen Nähe sie Verwundete operieren sollte?
Ob es wirklich Vera war?
Vera ...
Seine Frau Vera ...
Oder war es nur ein Gerücht?
Aber die Hoffnung, dass er Vera finden würde, hatte ihm Kraft gegeben, und der Name des Berges war wie ein Lockruf geworden.
Bevor sie in die Wälder tauchen konnten, mussten sie die Verfolger abschütteln, die SS und die Hlinkagardisten, diese slowakischen Faschisten, die gefährlich waren, weil sie das Land kannten, in dem sie lebten, auch die Wälder, auch die Berge.
Es war ein grauer Novembertag des Jahres 1944.
Tschangow erschrak, als er die dröhnenden Stiefel hörte.
„Hier ist schon alles durchsucht worden.“ Sie erkannten Röhrigs Stimme.
Tschangow hielt den Atem an.
Einen Augenblick lang vernahm er keinen Laut.
„Und dieser Raum?“, fragte ein Mann.
„Eine Abstellkammer“, erklärte Röhrig. „Sie ist immer verschlossen. Der Schlüssel hängt gesondert im Pförtnerhaus. Ich hab’ ihn deshalb nicht am Bund. Wenn ich ihn holen soll ...“
Jetzt geht es um unsere Köpfe, dachte Tschangow, um meinen, um Tischins, um Röhrigs.
Jetzt!
Wenn Röhrig den Schlüssel holen muss, sind wir verloren.
„Na gut“, hörte er die Stimme wieder. „Noch die andere Halle und den Kohlenkeller! Dann gleich weiter! Abrücken!“
Tschangow stand an der Tür und presste das Ohr gegen das Holz. Sie gingen weiter! In dieser Nacht würden sie ihr Versteck verlassen können!
Und in den Bergen würde er vielleicht Vera treffen, seine schwarzhaarige Vera, die so zärtlich sein konnte und so hart. Vera ...
„Wann wird er uns holen, Boris?“, flüsterte Tischin.
„Vielleicht lässt er noch einen Tag verstreichen“, antwortete Tschangow.
„Er weiß, dass dieser Raum sicher ist.“
Und dann ging alles so schnell.
Nachts zogen sie los. Röhrig hatte ihnen Kleidung gegeben, Proviant und eine Karte. Ihre verschlissenen Uniformen hatte er verbrannt.
Als es Tag wurde, sahen sie die Berge, die Kämme, zwischen denen die Täler lagen. Und irgendwo mussten sie Partisanen finden.
Beide kannten das Risiko. Die deutschen und die slowakischen Faschisten, die Hlinkagardisten, werden sie suchen. Sie hatten keine Waffen und für die Partisanen keine Legitimation. Was war, wenn sie auf eine Abteilung stießen, die ihnen nicht glauben würde? Der Tod war ihr Begleiter. Aber das hatten sie gewusst. Beide. Und wer würde ihnen in den Dörfern trauen? Ganze Ortschaften hatte die SS ausgelöscht.
Tschangow und Tischin mieden die Straßen, aber so kamen sie schwer voran im Schnee. Sie folgten Holzfällerpfaden und Wildspuren. Nach einem Tal kam ein Kamm, nach einem Kamm ein Tal. Wenn sie Straßen überquerten, verwischten sie ihre Spuren mit Tannenzweigen.
Tschangow sah das Motorrad als erster, eine deutsche Maschine mit Seitenwagen, die den Hang hinabgestürzt war. Der Fahrer, ein SS- Mann, lag im Schnee, offenbar tot. Der zweite hockte benommen da. Die Waffen, dachte Tschangow. Ihre Waffen. Sturmgewehre!
„Wenn er den Hang hinaufsteigt“, flüsterte er Tischin zu, „müssen wir ihn packen. Er ist außer Atem, wenn er die Straße erreicht. Und er hat einen Schock.“
Sie verbargen sich in den Büschen, die am Straßenrand standen.
Der Mann stieg keuchend nach oben.
Tschangow sprang ihn von hinten an, umklammerte seinen Hals, drückte zu.
Sie zogen den Toten in. den Wald, bedeckten ihn mit Reisig.
Dann lehnten sie an zwei Stämmen und blickten sich an, Waffen!
Wir haben Waffen!
Und Munition!
Sie konnten kämpfen! Sie waren nicht mehr wehrlos. Und Verpflegung hatten sie auch.
„So ein Glück!“, keuchte Tschangow. „So ein Glück!“
Vor Tschangow und Tischin lag eine riesige weiße Fläche. Sie sanken bis zu den Knien und oft bis zu den Hüften im Schnee ein.
„Dieser verdammte Eiswind nimmt zu“, sagte Tischin und blickte sich nach dem Freund um.
Tschangow nickte. Wenn sie doch nur erst den Kamm erreicht hätten, der ihnen gegenüberlag!
Es schneite heftig. Der eisige Wind schien ihnen die Flocken entgegenzutreiben, er peitschte ihre Gesichter. Im Wirbel des Flockenfalls konnte Tschangow kaum noch Tischins Rücken erkennen.
Jeder Schritt wurde zur Qual, kostete unendliche Kraft. Tschangow stemmte sich gegen den Sturm, den jaulenden, fauchenden Sturm. Sie waren beide diesem Inferno ausgeliefert, solange sie nicht den schützenden Wald erreicht hatten. Wenn uns die Dunkelheit überrascht, dachte Tschangow, sind wir verloren. Aber dieser riesige Hang aus Schnee musste irgendwann einmal zu Ende sein. Aber wann? Wann?
Sie mussten den Wald erreichen, bevor die Dunkelheit begann, und sie mussten die nasse Kleidung am Feuer trocknen. Aber es war noch lange nicht Abend, das Schneetreiben verdunkelte nur das Tageslicht.
Fluchend wühlte sich Tschangow aus einer Schneewehe. Er sah Tischin nicht mehr, aber er durfte ihn nicht verlieren.
Tschangow keuchte vor Anstrengung, als er versuchte, den Spuren Tischins zu folgen, die der Schnee in Minutenschrielle zu bedecken schien.
„Tischin!“, schrie er plötzlich. Doch der heulende Sturm verschluckte jedes Wort. Dann sah er sie wieder, die schemenhafte Gestalt des Kameraden.
Der Sturm heulte immer schriller.
Tschangows Lider waren nur noch schlitzbreit geöffnet. Verbissen stapfte er weiter. Immer tiefer versank er im Schnee. Er hielt Ausschau nach den Bäumen, doch das Schneetreiben verwehrte ihm die Sicht.
Weiter, nur weiter!
Hinein in den Sturm!
Er prallte gegen etwas Hartes, erschrak und riss die Waffe von der Schulter. Der erste Stamm!
„Der Wald!“, keuchte Tischin. „Der Wald!“
Sie lehnten an einem Stamm und atmeten schwer.
Dann stapften sie weiter in den Wald hinein.
So plötzlich, wie er begonnen hatte, endete der Schneesturm.
Die Dämmerung ging langsam in die Nacht über.