Der silberne Schwan - Benjamin Black - E-Book + Hörbuch

Der silberne Schwan E-Book

Benjamin Black

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Beschreibung

»Man erliegt dem zwielichtigen Charme Nachkriegs-Dublins und riecht förmlich den Zigarettenrauch und das irische Bier.« Times Literary Supplement Als Billy Hunt, ein Freund aus Collegetagen, sich bei Quirke meldet, weil sich seine junge und hübsche Frau Deirdre angeblich das Leben genommen hat, kann Quirke den Ärger schon von Weitem riechen. Quirke, Pathologe und ehemaliger Trinker, ist jedoch kein Mann, der Problemen gerne aus dem Weg geht, und so ermittelt er auf eigene Faust. Deirdre, Besitzerin des Schönheitssalons »Der silberne Schwan« ist ermordet worden, und in Betracht kommen vor allem ihr Geliebter und Partner Leslie White, ein schmieriger Friseur, der es nach Deirdres Tod auf Quirkes Tochter abgesehen hat, sowie der seltsame Geistheiler Dr. Kreutz, den vor allem Frauen aufsuchen. Angetrieben von der eigenen Einsamkeit, dem schlechten Verhältnis zu seiner Tochter und von einer unstillbaren Neugier wird Quirke in einen Skandal hineingezogen, in dem sexuelle Obsessionen, Prüderie und Erpressung eine Rolle spielen. »Ein fesselnder, atmosphärisch dichter Roman, wunderschön geschrieben.« Guardian

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Seitenzahl: 539

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John Banville

alias Benjamin Black

Der silberne Schwan

Roman

Aus dem Englischenvon Christa Schuenke

Kurzübersicht

> Buch lesen

> Titelseite

> Inhaltsverzeichnis

> Über John Banville

> Über dieses Buch

> Impressum

> Hinweise zur Darstellung dieses E-Books

Inhaltsverzeichnis

I. Kapitel1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. KapitelII. Kapitel1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelIII. Kapitel1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. KapitelEpilog
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I

1

Der Name sagte Quirke nichts. Er kam ihm zwar bekannt vor, doch ein Gesicht verband sich damit nicht. Es passierte ihm häufiger, dass plötzlich aus heiterem Himmel jemand aus seinem früheren Leben, seinem Trinkerleben, wieder auftauchte, dass jemand, den er längst vergessen hatte, ihn anpumpen oder ihm einen todsicheren Tipp geben oder einfach bloß mit ihm Kontakt aufnehmen wollte, aus Einsamkeit oder auch aus Neugier, einfach, um rauszukriegen, ob er noch am Leben war, ob ihn der Alkohol noch nicht ins Grab gebracht hatte. Meistens speiste er die Leute ab, nuschelte irgendwas von Arbeitsdruck oder so. Diesmal hätte das eigentlich ganz leicht sein müssen, denn es gab nichts als einen Zettel mit einem Namen und einer Telefonnummer, der in der Klinik an der Rezeption für ihn hinterlegt worden war, einen Fetzen Papier, den er mühelos hätte verlieren oder kurzerhand wegschmeißen können. Doch irgendwas erregte sein Interesse. Die Nachricht hatte so etwas merkwürdig Drängendes, etwas, das ihm unerklärlicherweise Unbehagen bereitete und ihn nervös machte.

Billy Hunt.

Womit verband sich dieser Name? Mit einer vergessenen Erinnerung, oder gar – noch beunruhigender – mit einer Vorahnung?

Er legte den Zettel auf eine Schreibtischecke und gab sich alle Mühe, ihn zu übersehen. Es war mitten im Sommer, ein schwülheißer Tag, die Luft war zum Schneiden, über der Stadt lag eine dünne bräunlich violette Dunstglocke, und Quirke war heilfroh, dass es in seinem fensterlosen Kellerbüro in der Pathologie so schön kühl und still war. Er hängte sein Jackett über die Stuhllehne, nahm den Schlips ab, ohne den Knoten aufzubinden, öffnete die zwei oberen Knöpfe an seinem Hemd und setzte sich auf die vollgekramte Tischplatte seines metallenen Schreibtischs. Er mochte den Geruch hier unten, dieses vertraute Gemisch aus kaltem Zigarettenrauch, Teeblättern, Papier, Formalin und noch etwas anderem, so einer fleischigen, moschusartigen Note, die er selber beisteuerte.

Als er sich eine Zigarette ansteckte, wanderte sein Blick von Neuem hinüber zu dem Zettel mit der Nachricht von Billy Hunt. Nichts weiter als der Name und die Nummer, von der Telefonistin mit Bleistift hingekritzelt, dazu die Worte bitte anrufen. Und auf einmal spürte er ganz deutlich das Drängende, geradezu Flehentliche, das von der Mitteilung ausging. Bitte anrufen.

Er konnte sich nicht erklären, warum er plötzlich daran denken musste, wie er vor einem halben Jahr bei McGonagle, mitten im dicksten Weihnachtsrummel und angesäuselt, wie er war, im Boden seines leeren Whiskeyglases verschwommen sein gerötetes, aufgedunsenes Gesicht gesehen hatte und sich mit einem Schlage, ohne selbst eine Erklärung dafür zu haben, hundertprozentig sicher gewesen war, dass er soeben zum letzten Mal im Leben Alkohol getrunken hatte. Seitdem war er trocken, was ihn selber übrigens genauso sehr verwunderte wie alle anderen, die ihn kannten. Er hatte beinah das Gefühl, als hätte er diese Entscheidung gar nicht von sich aus gefällt, als wäre sie vielmehr irgendwie für ihn getroffen worden. Insgeheim war er trotz all seiner Erfahrung und all der vielen Jahre, die er im Sektionssaal zugebracht hatte, davon überzeugt, dass der Körper ein eigenes Bewusstsein hat und mindestens genauso gut über sich und seine Bedürfnisse Bescheid weiß wie der Geist, der sich nur einbildet, Bescheid zu wissen. Das Urteil, das ihm damals an jenem Abend sozusagen aus dem Bauch heraus verkündet worden war, das von seiner geschwollenen Leber und aus seinen Herzkammern kam, dieses Urteil war absolut und unumstößlich. Fast zwei Jahre lang war er sukzessive immer tiefer in den Abgrund der Trunksucht hineingerutscht, beinah so tief wie damals, vor zwanzig Jahren, als seine Frau gestorben war, und jetzt war dieser langsam, aber sicher vonstattengehende Niedergang mit einem Mal gestoppt.

Er schielte rüber zu dem Zettel an der Schreibtischkante, griff nach dem Telefonhörer und wählte. Am anderen Ende dröhnte das Freizeichen.

Später hatte er noch einmal ein Whiskeyglas umgedreht – diesmal freilich eines, das nicht er geleert hatte –, einfach aus Neugier, weil er sehen wollte, ob man im Boden eines solchen Glases tatsächlich sein Spiegelbild erkennen kann, aber es war keins zu sehen gewesen.

Billy Hunts Stimme half ihm auch nicht weiter; sie sagte ihm genauso wenig wie der Name. Der Tonfall war leiernd, ein Singsang mit breit gedehnten Vokalen und abgeschliffenen Konsonanten. Ein Mann vom Lande. Quirke meinte ein leichtes Zittern wahrzunehmen, so ein ganz leichtes Überkippen, als wollte der andere jeden Moment laut loslachen – oder etwas anderes. Mitunter verschluckte er ein Wort oder verhaspelte sich. Vielleicht war er angetrunken.

»Na«, sagte er, »du kannst dich wohl nicht mehr an mich erinnern, was?«

»Aber natürlich erinnere ich mich«, log Quirke.

»Billy Hunt. Klingt wie ’ne Zote, hast du früher immer gesagt. Wir waren zusammen auf dem College. Ich war im ersten Studienjahr, als du im letzten warst. Ich hab, ehrlich gesagt, gar nicht damit gerechnet, dass du dich an mich erinnerst. Es gab ja schließlich kaum Berührungspunkte zwischen uns. Ich war ’ne Sportskanone – Hurling, Gaelic Football und so weiter, und du warst mehr so künstlerisch veranlagt, hast lieber die Nase ins Buch gesteckt oder bist sieben Abende die Woche ins Theater gerannt, immer abwechselnd entweder ins Abbey oder ins Gate. Ich hab das Medizinstudium geschmissen – hab keine Lust mehr gehabt.«

Quirke ließ einen Augenblick verstreichen, ohne etwas zu sagen. »Und was machst du mittlerweile?«, fragte er dann.

Billy Hunt seufzte tief und unsicher. »Ach, nicht so wichtig«, antwortete er, nicht direkt unwirsch, sondern vielmehr erschöpft. »Es geht eigentlich eher darum, was du mittlerweile machst.«

Und da, nachdem sich Quirke bereits die ganze Zeit das Gehirn zermartert hatte, entstand vor seinem inneren Auge endlich so was wie ein Bild: große breite Stirn, die Nase unverkennbar gebrochen, dickes, störrisches, rotes Haar, Sommersprossen. Der Vater hatte einen Krämerladen irgendwo unten im Süden – Wicklow, Wexford, Waterford, eins von den Countys mit W am Anfang. An sich ein gutmütiger Bursche, aber wenn man ihn reizte, konnte er leicht mal durchdrehen, daher auch die Septumfraktur. Billy Hunt. Ja, genau.

»Was ich mittlerweile mache?«, fragte Quirke. »Wie meinst du das?«

Wieder trat eine Pause ein.

»Es geht um meine Frau«, sagte Billy Hunt schließlich. Quirke hörte ihn einatmen, heftig, mit einem pfeifenden Geräusch in der lädierten Nasenhöhle.

»Weil, die hat sich nämlich umgebracht.«

 

Sie trafen sich im Café Bewley in der Grafton Street. Es war Mittagszeit, und es herrschte ziemlich viel Betrieb. Als Quirke eintrat, drehte sich ihm beinah der Magen um von dem schweren, fettigen Geruch der Kaffeebohnen, die drinnen, gleich hinter der Tür, in einem großen Tiegel geröstet wurden. Merkwürdig, vor was für Sachen er sich neuerdings ekelte; er hatte angenommen, wenn er aufhörte zu trinken, würden seine Sinne abstumpfen und es würde ihm nicht mehr ganz so schwerfallen, die Welt und die diversen Reize zu ertragen, doch das Gegenteil war eingetreten, bisweilen kam er sich wie ein wandelndes Knäuel aus lauter verhedderten Nervenenden vor, auf das von allen Seiten die abscheulichsten Gerüche, Geschmäcker und Berührungen einstürmten. Nach dem grellen Sonnenlicht draußen auf der Straße dauerte es einen Moment, bis sich seine Augen an die Dunkelheit im Gastraum des Cafés gewöhnt hatten. Quirke wurde von einer jungen Dame gestreift, die gerade im Hinausgehen war; sie trug ein weißes Kleid und einen großen Strohhut; der Duft ihres Parfums wehte ihr nach und stieg ihm in die Nase. Er stellte sich vor, wie er unversehens kehrtmachte, ihr nachlief, sie am Ellenbogen fasste und mit ihr in die Hitze des Sommertags hinaustrat. Es gab wahrhaftig Dinge, die verlockender waren als die Aussicht, sich mit Billy Hunt und dessen toter Frau beschäftigen zu müssen.

Quirke entdeckte ihn sofort; unnatürlich steif saß er auf der mit rotem Plüsch bezogenen Polsterbank in einer von den Nischen drüben auf der anderen Seite, vor sich auf dem grauen Marmortisch eine noch unberührte Tasse Milchkaffee. Hunt hatte ihn nicht gleich bemerkt, und so konnte Quirke sich einen Moment Zeit lassen, um ihn zu beobachten – das fahle, blutleere Gesicht mit den kontrastierenden Sommersprossen, der starre, verzweifelte Blick, der wie eingefroren wirkte, die großen rübenförmigen Hände, die mit dem Zuckerlöffel spielten. Erstaunlich, wie wenig er sich verändert hatte in diesen beinah zwanzig Jahren, die vergangen waren seit damals, als Quirke ihn kannte. Nun ja, »kannte« war eigentlich zu viel gesagt. In Quirkes nicht eben deutlicher Erinnerung war Billy ein allzu schnell in die Höhe geschossener Schuljunge, der mal quietschvergnügt, mal außer sich vor Wut, mitunter auch beides gleichzeitig, mit knorpeligen nackten rosa Knien und feuerroten, von der noch ungewohnten morgendlichen Rasur blutgesprenkelten Knabenwangen in schlackernden Turnhosen und gestreiftem Footballtrikot auf den Sportplatz hinausrannte und stets einen Ball oder ein Bündel Hurling-Schläger unterm Arm hatte. Und der – natürlich – immer gerne lauthals und mit heiserer Stimme über seine Sportskameraden lästerte und hin und wieder unter seinen farblosen Wimpern einen hämischen Blick hinüberwarf zu Quirke und den anderen »mehr so künstlerisch veranlagten« Kommilitonen. Er war in die Breite gegangen mit den Jahren, hatte eine kahle Stelle oben auf dem Schädel, eine Art Tonsur, und der speckige rote Nacken stülpte sich in fetten Wülsten über den Kragen seines ausgebeulten Tweedjacketts.

Und außerdem hatte er diesen heißen, wunden, salzigen Geruch, den Quirke sofort erkannte, den Geruch des frischgebackenen Hinterbliebenen. Sich nur mit Mühe aufrecht haltend, saß er am Tisch – ein dicker Sack voll Trauer, Elend und angestauter Wut.

»Ich weiß nicht, warum sie das gemacht hat«, sagte er hilflos zu Quirke.

Quirke nickte. »Hat sie irgendwas hinterlassen?« Billy blinzelte ihn verständnislos an. »Ich meine, einen Brief. Eine Nachricht.«

»Nein, nein, nichts dergleichen.« Er verzog das Gesicht zu einem schiefen, fast dümmlichen Lächeln. »Wenn sie’s doch bloß getan hätte.«

Am Morgen desselben Tages war ein Trupp Polizisten mit einer Barkasse hinausgefahren und hatte die arme tote Deirdre Hunt an der landeinwärts gelegenen Küste der Insel Dalkey nackt von den Klippen geborgen.

»Sie haben angerufen, ich soll kommen und sie identifizieren«, sagte Billy, nach wie vor mit diesem komischen, gequälten Lächeln auf den Lippen, das gar kein Lächeln war, und in den Augen immer noch das fassungslose Entsetzen über den Anblick, den er dann im Leichenschauhaus hatte ertragen müssen. Und den er nun wohl nie mehr wieder loswerden würde; bis ans Ende seiner Tage, dachte Quirke düster. »Sie hatten sie ins St Vincent Hospital gebracht. Sie sah total verändert aus. Ich glaube, wenn die Haare nicht gewesen wären, ich hätt sie überhaupt gar nicht erkannt. Die waren doch ihr ganzer Stolz, die Haare.« Er zog verlegen eine Schulter hoch und ließ sie wieder sacken.

Quirke musste an eine sehr dicke Frau denken, die sich in die Liffey gestürzt hatte und aus deren Brusthöhle, als er sie aufschnitt und die Rippen beiseiteklappen wollte, mit einer trägen Behäbigkeit, wie sie nur wirklich wohlgenährten Wesen eigen ist, ein ganzes Geschwader durchsichtiger, vielbeiniger, krabbenartiger Kreaturen hervorgekrochen kam.

Eine Kellnerin mit Häubchen und schwarz-weißem Dress eilte herbei, um Quirkes Bestellung aufzunehmen. Unangenehm stiegen ihm die Dünste von frittiertem und gekochtem Essen in die Nase. Er bestellte Tee. Billy Hunt war ganz mit sich beschäftigt, gedankenverloren stocherte er mit seinem Löffel zwischen den klappernden Kandisbrocken in der Zuckerdose herum.

»Das ist wirklich hart«, sagte Quirke, als die Kellnerin gegangen war. »Ich meine, eine Leiche identifizieren. Das ist immer hart.«

Billy senkte den Blick; seine Unterlippe fing an zu zittern, er zog sie zwischen die Zähne, wie ein kleines Kind.

»Hast du Kinder, Billy?«, fragte Quirke.

Billy schüttelte ohne aufzublicken den Kopf. »Nein«, murmelte er, »keine Kinder. Da war Deirdre nicht so für zu haben.«

»Und was machst du sonst, ich meine beruflich?«

»Handlungsreisender. Arzneimittel. Ich komme ziemlich viel rum in meinem Job, landauf, landab, gelegentlich auch mal ins Ausland, in die Schweiz, wenn die in der Zentrale ihre Konferenzen haben. Ich glaub, das ist auch mit dran schuld, an diesem Unglück, weil, ich bin halt immer so viel weg gewesen – zum einen das und dann auch, dass sie keine Kinder wollte.« Da haben wir’s ja, dachte Quirke, das also war das Unglück. Doch Billy sagte bloß: »Einsam wird sie gewesen sein. Obwohl, sie hat sich nie beklagt.« Plötzlich blickte er auf und sah Quirke geradezu trotzig an. »Sie hat sich niemals beklagt – nie!«

Dann sprach er weiter über sie, wie sie gewesen war, was sie gemacht hatte. Und dabei verstärkte sich dieser gehetzte Zug in seinen Augen immer mehr, sein Blick schoss bald in diese, bald in jene Richtung, und das mit solch einer eigenartigen, gleichsam verhaltenen Eindringlichkeit, als wollte er einen ganz bestimmten Punkt fixieren, der ihm jedoch immer wieder entglitt. Die Kellnerin brachte den Tee für Quirke. Er trank ihn schwarz, verbrühte sich beinah die Zunge. Er holte sein Zigarettenetui heraus. »Na, nun erzähl mal«, sagte er, »warum hast du mich sprechen wollen?«

Da senkte Billy abermals die bleichen Wimpern und guckte runter auf die Zuckerdose. Aus seinem Kragen stieg eine Welle von frieseliger Röte und überflutete allmählich sein Gesicht bis rauf zum Haaransatz und gar noch weiter. Quirke registrierte sein Erröten. Schließlich nickte Billy wortlos und holte tief Luft.

»Ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«

Quirke wartete. Es kamen immer mehr Mittagsgäste, und das allgemeine Gemurmel war mittlerweile zu einem vielstimmigen Dröhnen angeschwollen. Kellnerinnen rannten von Tisch zu Tisch, sie schleppten braune Tabletts, auf denen sich Teller mit Essen türmten – Würstchen und Kartoffelbrei, Fisch und Chips, dampfende Teetassen, Gläser mit Orangensaft. Quirke hielt Billy sein geöffnetes Zigarettenetui hin, und dieser, ohne recht zu merken, was er tat, nahm eine Zigarette. Quirkes Feuerzeug klickte und flammte auf. Billy beugte sich vor und steckte sich mit zitternden Fingern die Zigarette zwischen die Lippen. Dann lehnte er sich auf der Polsterbank zurück, er sah erschöpft aus.

»Ich lese andauernd irgendwas über dich in der Zeitung«, sagte er. »Über die ganzen Fälle, wo du mit zu tun hast.« Quirke rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl herum. »Die Sache mit dem Mädel, das gestorben ist, und mit dieser Frau, die sie umgebracht haben, wie hießen die denn gleich noch mal, die zwei?«

»Welche denn?«, fragte Quirke gleichmütig.

»Na diese Frau da, die aus Stoneybatter. Vergangenes Jahr, oder war’s das Jahr davor? Diese Dolly Dingsbums.« Er legte die Stirn in Falten, versuchte sich zu erinnern. »Was ist da eigentlich draus geworden, aus der Geschichte? Erst stand’s groß in allen Zeitungen, und dann – plötzlich war Ruhe. Kein Wort mehr.«

»Ja, das geht schnell, dass die Zeitungen das Interesse verlieren«, sagte Quirke.

Billy ging etwas durch den Sinn. »Oh Gott«, sagte er leise und starrte dabei weiter vor sich hin, »dann werden sie doch sicher auch was über Deirdre bringen.«

»Ich kann ja mal mit dem amtlichen Leichenbeschauer reden«, sagte Quirke in bewusst skeptischem Ton.

Aber Billys Problem war nicht, was die Zeitungen schreiben würden. Wieder beugte er sich vor, und auf einmal war er hellwach und streckte eindringlich die Hand aus, als ob er Quirke am Arm oder am Kragen packen wollte. »Ich will nicht, dass sie aufgeschnitten wird«, stieß er mit leiser, heiserer Stimme hervor.

»Aufgeschnitten?«

»Na ja, Autopsie, Obduktion oder wie das heißt – ich will nicht, dass das einer bei ihr macht.«

Quirke schwieg einen Moment. »Aber Billy, das ist eine reine Formsache«, sagte er dann. »Das ist vom Gesetz so vorgeschrieben.«

Billy schüttelte den Kopf; er hatte die Augen geschlossen und verzog gequält den Mund. »Ich will nicht, dass das einer bei ihr macht. Ich will nicht, dass sie aufgeschnitten wird wie – wie so ’n totes Tier.« Er hielt sich mit der einen Hand die Augen zu, während in den Fingern der anderen die vergessene Zigarette vor sich hin brannte. »Ich kann den Gedanken nicht ertragen. Wie ich sie heute früh hab müssen sehn, das war schon schlimm genug« – er nahm die Hand weg und glotzte, starr vor Fassungslosigkeit, ins Leere –, »aber die Vorstellung, dass sie auf so ’nem Tisch liegt, unter diesen Lampen, mit dem Messer … Wenn du sie gekannt hättest, wie sie war, früher, wie – wie quicklebendig sie gewesen ist.« Wieder irrten seine Blicke durch den Raum, als würde er irgendetwas suchen, einen festen Halt, einen dicken Brocken Alltagswirklichkeit, in den er seine Zähne schlagen konnte. »Hör zu, Quirke, ich ertrag das nicht«, sagte er heiser, beinah flüsternd. »Ich schwör’s dir bei Gott, das ertrage ich nicht.«

Quirke trank einen Schluck von seinem mittlerweile lauwarm gewordenen Tee; die Gerbsäure brannte ihm unangenehm auf der verbrühten Zunge. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Es kam zwar eher selten vor, dass er direkt mit den Angehörigen der Toten zu tun hatte, aber bisweilen wandte sich doch jemand an ihn, so wie Billy jetzt, und bat ihn um einen Gefallen. Manche wollten, dass er ein Andenken für sie zurückbehalten sollte, einen Ehering oder eine Haarlocke; eine republikanisch gesinnte Witwe hatte ihn einmal gebeten, ihr ein Stück von der Kugel zu übergeben, von der ihr verstorbener Gatte im Bürgerkrieg getroffen worden war und die er dreißig Jahre direkt neben dem Herzen getragen hatte. Andere traten mit ernsteren und entschieden zwielichtigeren Wünschen an ihn heran und baten ihn zum Beispiel, eine plausible Erklärung für die Blutergüsse am Körper eines toten Kindes oder für das plötzliche Dahinscheiden eines betagten kranken Elternteils zu finden oder ihnen platterdings beim Verhehlen eines Selbstmords behilflich zu sein. Aber was Billy da von ihm verlangte, nein, so was hatte noch nie jemand von ihm verlangt.

»Na schön, Billy«, sagte er. »Ich schau mal, was sich machen lässt.«

Mit seinen Fingerspitzen, die beinah zu sirren schienen, fast so, als ob sie unter Starkstrom stünden, berührte Billy daraufhin ganz leicht, kaum wahrnehmbar, Quirkes Hand. »Du lässt mich nicht im Stich, Quirke«, sagte er eher feststellend als bittend und fuhr dann mit bebender Stimme fort: »Um der alten Zeiten willen.« Er machte einen tiefen Laut, der halb ein Schluchzen, halb ein Lachen war – »Und wegen Deirdre.«

Quirke stand auf. Er holte ein Halbkronenstück aus der Tasche und legte es neben seiner Untertasse auf den Tisch. Billy hatte wieder diesen zerstreuten Blick, wie jemand, der sich auf sämtliche Taschen klopft, weil er etwas sucht und es nicht finden kann. Er förderte ein Zippo zutage und ließ es gedankenverloren ein ums andere Mal auf- und zuschnappen. Auf seiner Glatze und durch das schüttere, strähnige, farblose Haar hindurch sah man Schweißperlen glänzen. »Das ist übrigens nicht ihr richtiger Name«, sagte er. Quirke verstand nicht, was das heißen sollte. »Ich meine, das ist schon ihr richtiger Name, sie hat sich bloß anders genannt. Laura – Laura Swan. So ’ne Art Künstlername fürs Geschäft. Sie hat nämlich einen Schönheitssalon gehabt, der Silver Swan hieß. Daher der Name – Laura Swan.«

Quirke wartete, doch Billy war fertig; er wandte sich um und ging davon.

 

Am Nachmittag wurde der Leichnam auf Anordnung von Quirke aus dem St Vincent Hospital in das in der Innenstadt gelegene Holy Family Hospital gebracht, wo Quirke ihn bereits erwartete. Nachdem das Holy Family von einer neuerlichen Runde ebenso heftig wie erfolglos bekämpfter Zwangsmaßnahmen zur Senkung der Kosten erfasst worden war, hatte Quirke nicht mehr, wie früher, zwei Assistenten, sondern nur noch einen. So hatte er vor der Aufgabe gestanden, sich zwischen dem jungen Wilkins, diesem kreuzbraven Protestanten, und dem Juden Sinclair zu entscheiden. Er hatte Sinclair ausgewählt, ganz spontan und ohne klare Begründung, denn im Hinblick auf ihren Erfahrungsstand – oder mitunter auch ihren Mangel an Erfahrung – waren die beiden einander durchaus ebenbürtig. Doch Sinclair war ihm sympathischer, seine Unabhängigkeit, sein hintersinniger Humor, dieser etwas bärbeißige Zug, den er an sich hatte; einmal hatte Quirke ihn gefragt, woher eigentlich seine Familie stamme; Sinclair hatte ihm ungerührt in die Augen geschaut und ganz trocken erwidert: »Aus Cork.« Er hatte sich mit keinem Wort dafür bedankt, dass die Wahl auf ihn gefallen war, und auch das imponierte Quirke.

Quirke überlegte, inwieweit er Sinclair in der Leichensache Deirdre Hunt wohl ins Vertrauen ziehen konnte, speziell hinsichtlich der Bitte ihres Mannes, den Leichnam unangetastet zu lassen. Aber Sinclair war keiner, der groß Trara machte. Als Quirke ihm mitteilte, dass er die Obduktion allein vornehmen werde – eine einfache Leichenschau reiche aus – Sinclair könne also ruhig eine Pause machen und in die Kantine gehen, um einen Tee zu trinken und eine zu rauchen –, zögerte der junge Mann nur ganz, ganz kurz, bevor er seinen grünen Kittel und die Gummistiefel auszog, die Hände in die Taschen schob und leise vor sich hin pfeifend aus dem Sektionssaal schlenderte. Quirke ging zurück und zog die Plastikplane weg.

Deirdre Hunt oder Laura Swan, oder unter welchem Namen sie auch immer firmiert haben mochte, war offenbar eine gut aussehende junge Frau gewesen, stellte er fest, vielleicht sogar eine Schönheit. Sie war ein ganzes Ende jünger als Billy Hunt – gewesen. Ihr Körper, der nicht lange genug im Wasser gelegen hatte, um ernsthaft Schaden zu nehmen, war klein und wohlgeformt; ein kräftiger Körper mit starken Muskeln, aber auch mit sanften Kurven und schlanken, schön geschwungenen Hüften und Waden. Ihr Gesicht war nicht besonders fein – Quirke war aufgefallen, dass sie mit Mädchennamen Ward hieß, was darauf schließen ließ, dass sie Kesselflickerblut in ihren Adern hatte –, aber die Stirn war klar und hoch, und ihre wallende kupferrote Mähne musste zu Lebzeiten prächtig gewesen sein. Er sah sie vor sich, ausgestreckt auf den nassen Steinen, das lange Haar im Nacken zu einem komplizierten Knoten geschlungen, wie ein dickes, glänzendes Knäuel aus Tang. Was mochte diese hübsche, kerngesunde junge Frau nur dazu getrieben haben, sich in einer warmen Sommernacht draußen vor dem Hafen von Sandycove in die schwarzen Fluten der Bucht von Dublin zu stürzen, mutterseelenallein, und nur die funkelnden Sterne am Himmel und der finster dräuende Martello Tower waren Zeuge? Ihre Kleider, hatte Billy Hunt gesagt, hätten fein säuberlich zusammengefaltet an der Mauer auf dem Pier gelegen; das war die einzige Spur von ihrem Abgang, die sie hinterlassen hatte – das und ihr Wagen, auf den sie sich doch garantiert ganz schön was eingebildet hatte; und trotzdem hatte sie ihn ordentlich unter einem Fliederbaum an der Sandycove Avenue abgestellt und war ihrer Wege gegangen. Ihr Wagen und ihr Haar, dies beides war gewiss ihr ganzer Stolz gewesen. Was war passiert, das diesen Stolz gebrochen hatte?

Und nun sah er den winzig kleinen Einstich innen an ihrem kreideweißen linken Arm.

2

In der Schule wurde sie natürlich Karotte gerufen. Das störte sie aber nicht weiter; sie wusste ja, dass die andern bloß neidisch waren, diese ganze Blase, bis auf die, die zu blöd waren, um neidisch zu sein, und über die man sich deswegen auch nicht ärgern musste. Ihr Haar war gar nicht richtig rot, nicht so rostrot wie bei manchen Mädchen in ihrer Schule – besonders bei denen, deren Eltern vom Lande kamen und keine waschechten Dubliner waren – ganz im Gegensatz zu ihren eigenen Leuten. Nein, Deirdres Haar hatte so einen leuchtend rötlich-goldenen Ton, als bestünde es aus Millionen feiner, geschmeidiger Metallfäden, die, egal, von welcher Seite man schaute, das Licht einfingen und selbst dann noch glänzten, wenn es schon beinah dunkel war. Sie hatte keine Ahnung, woher das kam, bestimmt nicht in direkter Linie von ihren Eltern, und als sie eines Tages zufällig hörte, wie Tante Irene mit ihrer schmutzigen Lache was von wegen »Kesselflickerhaare« sagte, da machte sie sich nichts daraus. Ihre Mutter hatte von Anfang an aufgepasst, dass man ihr ja nicht die Haare abschnitt; dabei hatte sie doch immer behauptet, Deirdre würde ganz nach der väterlichen Verwandtschaft kommen, nach den blonden, blauäugigen Wards also, dieser »Bande«, wie Ma immer gesagt hatte, wenn Dad nicht in der Nähe war. »Für diese Bande ist mir meine Zeit zu schade«, hatte sie immer gesagt. Ihre Brüder machten sich einen Spaß daraus, Deirdre an den Haaren zu ziehen; sie packten eine lange, dicke Strähne, schlangen sie sich um die Faust und rissen daran, bis sie laut kreischte. Was allerdings immer noch besser war als das, was ihr Vater machte, denn der strich ihr gern von oben bis unten übers Haar und wühlte darin herum, und anschließend betatschte er ihr mit seinen Fingern das Rückgrat, jeden Wirbel einzeln. Sie trug am liebsten smaragdgrüne Sachen und wusste schon als kleines Mädchen ganz genau, dass dieser Farbton am besten zu ihrem Hauttyp und zu ihren Haaren passte und beides so vorteilhaft betonte. Solche roten Haare und dazu Augen von strahlendem Blau, genauer gesagt, von einem ins Bläuliche spielenden Violett, das war selbst bei den Wards sehr ungewöhnlich. Auch ihre Haut erregte allgemein Bewunderung: durchscheinend wie dieses Gestein, das Alabaster hieß, wenn sie nicht irrte, und bei dem man immer das Gefühl hatte, man könne direkt hindurchschauen durch seine cremefarbenen Tiefen.

Sie war sich ihrer Reize sehr wohl bewusst, doch hochnäsig war sie deswegen nicht. Dass sie nicht in die Neubausiedlung gehörte, war ihr natürlich klar, aber sie konnte warten; eines Tages würde sie da rauskommen, und dann fing ihr eigentliches Leben an. Die Neubausiedlung … Die war wahrscheinlich wirklich irgendwann mal neu gewesen, obwohl es Deirdre schwerfiel, sich das vorzustellen. Welcher Esel bei der Stadtverwaltung war bloß auf die Idee gekommen, das Ding Wohnpark Lourdes Mansions zu nennen? Wände und Fußböden waren dünn wie Pappe – man konnte die Nachbarn in der Wohnung oben drüber aufs Klo gehen hören, sogar die Leute in der Wohnung nebenan –, und auf den kahlen Fluren, wo die kleinen Kinder wie wild hin und her rannten und herrenlose Katzen streunten und Liebespärchen sich in den dunklen Ecken befummelten, stand alles voller Kinderwagen und kaputter Fahrräder. Es gab keinerlei Kontrollen, und wer hätte die auch durchführen sollen? Die Mieter machten einfach, was sie wollten. Die Goggins im vierten Stock hielten sich ein Pferd im Wohnzimmer, einen großen Schecken, und spätabends und frühmorgens, wenn Tommy Goggin und seine rotznasigen Schwestern mit dem Gaul unten auf der kleinen Brache hinter der Keksfabrik Gassi gingen und eine Runde reiten wollten, hörte man auf der Betontreppe das Hufgeklapper. Am schlimmsten aber – noch schlimmer als die Kälte in den Zimmern mit den niedrigen Decken, die ständigen Rohrbrüche, die Gasleitungen, die alle naselang kaputt waren, und der ganze Dreck überall, noch schlimmer als das alles war der Geruch, der sommers wie winters im Treppenhaus und in den Korridoren hing, dieser dumpfe, schale, hoffnungslose Gestank nach vollgepinkelten Matratzen, abgestandenem Tee und verstopften Toiletten – dieser Geruch, dieser unverwechselbare Geruch der Armut, an den sie sich niemals gewöhnen konnte, nie und nimmer.

Sie spielte mit den gleichaltrigen Kindern auf dem Sandplatz draußen vor dem Block, wo es ein paar kaputte Schaukeln gab, eine mit zotigen Ausdrücken vollgeschmierte Wippe und einen Maschendrahtzaun, damit der Ball nicht auf die Straße fliegen konnte. Die Jungs kniffen sie und zerrten an ihr herum, und die, die schon älter waren, wollten ihr immer unter den Rock fassen; die Mädchen redeten hinter ihrem Rücken über sie und rotteten sich gegen sie zusammen. Sie nahm keine Notiz von diesen Dingen. Einmal kam ihr Vater Weihnachten angetrunken nach Hause und schenkte ihr ein rotes Fahrrad – wahrscheinlich geklaut, sagte ihr Bruder Mikey lachend –, und dann fuhr sie eine ganze Woche lang ständig damit auf dem Spielplatz herum, sogar bei Regen, bis es ihr an Neujahr gestohlen wurde und ein für allemal verschwunden blieb. In ihrer Wut über den Verlust des Rades ließ sie sich auf eine Prügelei mit Tommy Goggin ein und schlug ihm einen Schneidezahn aus. »Na, die ist ja vielleicht ein grobes Luder«, sagte ihre Tante Irene mit grimmigem Nicken und über dem mächtigen Hängebusen verschränkten Armen. Doch manchmal, wenn Deirdre an einem Sommerabend im sogenannten Wohnzimmer am Fenster stand, dem einzigen richtigen Zimmer, das es neben zwei stickigen kleinen Schlafkammern, von denen sie sich eine mit ihren Eltern teilen musste, in der Wohnung gab, dann atmete sie genießerisch den süßlichen warmen Duft ein, der von der Keksfabrik herüberwehte, lauschte einer Amsel, die sich auf einem Telegrafendraht das Herz aus dem Leibe sang – einem Draht, der genauso schwarz war wie die Amsel selber und aussah wie ein Tintenstrich, den man mit feiner Feder über den glutroten, allmählich verblassenden Himmel hinterm Croke Park Stadion gezogen hatte –, und dann fühlte sie in ihrem Innern etwas aufsteigen, etwas Geheimes, Geheimnisvolles, das all die vielen vagen, aber wundervollen Verheißungen, die ihrer in der Zukunft harrten, in sich barg.

Als sie sechzehn war, begann sie in einer Apotheke zu arbeiten. Es gefiel ihr gut dort bei den ordentlich abgepackten Arzneimitteln, den Flakons mit Duftwässerchen und den feinen Seifen. Der Drogist hieß Mr Plunkett und war ein verheirateter Mann, was ihn aber nicht daran hinderte, ihr nachzustellen und immer wieder zu versuchen, sie rumzukriegen. Sie wies ihn natürlich ab, bisweilen aber folgte sie ihm widerwillig in den Lagerraum hinterm Verkaufsbereich, sei es, um sich auf diese Art für eine Weile Ruhe zu erkaufen, sei es, weil sie befürchtete, dass er sie rauswarf, wenn sie standhaft blieb; dann schloss er die Tür zu, und sie erlaubte ihm, ihr die Hand unter die Kleider zu schieben. Er war schon alt, vierzig, vielleicht sogar noch drüber, und sein Atem roch nach Zigaretten und schlechten Zähnen, aber wenn sie so dastand und versonnen über seine Schulter hinweg die vollgepackten Regale betrachtete, während er an ihr herumfummelte und ihr unterm Rockbund den Bauch knetete und mit dem Daumen auf ihre stur jede Reaktion verweigernden Brustwarzen drückte, dann ging ihr durch den Sinn, dass er ja eigentlich kein schlechter Kerl war. Und wenn sie hinterher sah, wie Mrs Plunkett die Buchhaltung erledigte und sie dabei forschend mit zusammengekniffenen Augen musterte, dann nahm sie sich vor, dem ollen Plunkett, sollte er jemals versuchen, sie rauszuschmeißen, ganz schnell zu stecken, dass sie sich ja mal mit seiner Alten unterhalten könnte, das würde ihn schon wieder zur Vernunft bringen.

Und eines Tages betrat Billy Hunt mit seinem Musterkoffer den Laden, und obwohl er gar nicht ihre Kragenweite war – sein Hauttyp war dem ihren ziemlich ähnlich, und ihr war völlig klar, dass eine Frau nie einen Mann vom selben Hauttyp nehmen sollte –, schenkte sie ihm ein Lächeln, und als er bei Mr Plunkett seine Vertretermasche abzog, gab sie ihm das Gefühl, ganz Ohr zu sein. Und als er hinterher noch mit ihr reden wollte, hörte sie ihm mit konzentrierter Miene zu, tat so, als brächten seine albernen Schuljungenwitze sie tatsächlich zum Lachen, und schaffte es sogar, bei den etwas gewagteren Späßchen einen roten Kopf zu kriegen. Als er das nächste Mal kam und sie fragte, ob er sie gelegentlich mal ins Kino einladen dürfe, sagte sie laut und deutlich Ja, laut genug, dass Mr Plunkett es hörte und ein finsteres Gesicht machte.

Billy war wesentlich älter als sie, fast sechzehn Jahre – sie machte sich schon langsam Sorgen, ob sie vielleicht was an sich hatte, dass sich vor allem ältere Männer für sie interessierten –, und er sah weder besonders gut aus, noch war er besonders klug, aber er hatte so einen tapsigen Charme, der ihr irgendwie gefiel und dem es zu verdanken war, dass sie sich mit der Zeit einreden konnte, sie sei in ihn verliebt. Sie waren erst ein paar Monate miteinander gegangen, als er eines Abends, während er sie nach Hause brachte – inzwischen hatte sie ein eigenes Zimmerchen in der Kevin Street über einem Fleischerladen –, plötzlich anfing, irgendwas zu stammeln, nach ihrem Arm fasste und ihr völlig unvermittelt eine kleine quadratische Schachtel in die Hand drückte. Sie war vollkommen von den Socken, sie hatte nicht die leiseste Ahnung, was in der Schachtel drin sein könnte, und musste sie tatsächlich erst mal öffnen, um zu begreifen, was das alles zu bedeuten hatte.

An diesem Abend nahm sie ihn zum ersten Mal mit hinauf in ihr Zimmer. Sie setzten sich nebeneinander aufs Bett, und er küsste ihr das ganze Gesicht ab – er stotterte und lachte immer noch und konnte es gar nicht fassen, dass sie Ja gesagt hatte – und erzählte ihr von seinen Zukunftsplänen, und sie glaubte ihm beinah und hielt die Hand vor sich ausgestreckt und drückte die Finger durch und bewunderte den dünnen Goldreif mit dem winzig kleinen funkelnden Diamanten. Billy kam aus Waterford, wo seine Familie ein Pub hatte; sein Dad wollte wohl, dass er den Laden übernahm, aber er sagte, er würde nicht wieder dorthin zurückgehen, obwohl ihr auffiel, dass er immer »zu Hause« sagte, wenn er von Waterford redete. Er erzählte ihr von Genf, wohin er zweimal im Jahr fahren musste, um in der Zentrale, wie er sich ausdrückte, an einer Sitzung mit den ganzen hohen Tieren aus der Firma teilzunehmen, wo sich Hunderte von der Sorte trafen, und sie kamen aus aller Welt. Er war so stolz darauf, dass er dazu eingeladen wurde, er, der doch bloß ein kleiner Vertreter war! Er beschrieb ihr den See, die Berge, die Stadt – »und alles so sauber, das kannst du dir gar nicht vorstellen!« – und versprach, dass er sie eines Tages mit dorthin nehmen würde. Der arme Billy mit seinen großartigen Ideen, seinen tollen Plänen.

Die Jahre verstrichen, und es schien, als sollte alles immer so weitergehen, bis eines Tages der Doktor den Laden betrat. Kreutz hieß er, was sich deutsch anhörte, doch Deirdre glaubte, dass er Inder sei. Er war groß und dünn, so dünn, dass man sich gar nicht vorstellen konnte, wie in diesem Körper sämtliche Organe Platz haben sollten, und er hatte ein wunderschönes langes, schmales Gesicht, ein Heiligengesicht, hatte sie sich im Stillen gleich gedacht, das Antlitz eines Heiligen in einem dieser Bücher über die Missionsstationen in der Fremde, die sie in der Schule gehabt hatten. Er trug einen sehr schönen Anzug aus einem dunkelblauen Stoff, der wie Seide aussah, aber doch eine gewisse Schwere hatte und seine schrägen, knochigen Schultern und die praktisch nicht vorhandenen Hüften wirklich äußerst elegant umspielte. Sie hatte noch nie einen Farbigen aus solcher Nähe gesehen und musste sich zwingen, ihn nicht weiter anzustarren, besonders seine feingliedrigen dunklen Hände, die am Rand, dort wo die blasse, puderrosafarbene Haut der Handflächen anfing, eine noch dunklere, samtige Linie hatten. Auch sein Geruch, den sie, schon als er eingetreten war, ganz deutlich wahrgenommen hatte, war dunkel, fand sie, würzig und dunkel; sie hätte schwören können, dass es kein Eau de Cologne war und auch kein Rasierwasser, sondern ein Duft, den seine Haut von selbst verströmte. Sie verspürte den Wunsch, diese Haut zu berühren, mit den Fingerspitzen darüberzustreichen, aus purer Neugier, weil sie wissen wollte, wie diese Haut sich anfasste. Und sein Haar, sein sehr korrekt gescheiteltes, in sanften Wellen aus der Stirn gekämmtes, ungemein glattes, schwarzes Haar, von einem Schwarz, das einen Stich ins Violett hatte, auch das hätte sie gerne einmal angefasst.

Er fragte nach irgendwelchen pflanzlichen Sachen, von denen Mr Plunkett noch nie etwas gehört hatte. Seine Stimme war hell und sanft und gleichzeitig auch tief, und wenn er sprach, dann klang es beinah wie Gesang. »Ach, das ist aber höchst sonderbar«, sagte er, als Mr Plunkett ihm erklärte, dass er das Gewünschte leider nicht am Lager habe, »höchst, höchst sonderbar.« Allerdings wirkte er keineswegs verärgert. Er sei schon in mehreren Apotheken gewesen, erzählte er, und nirgends habe man ihm helfen können. Mr Plunkett nickte mitfühlend, wusste aber offenbar nicht, was er weiter sagen sollte, doch der Mann blieb einfach stehen, legte die Stirn in Falten, nicht ärgerlich, sondern höflich erstaunt, wie es schien, als ob er noch auf irgendetwas wartete und sich ganz sicher war, dass es passieren werde. Er machte keinerlei Anstalten, sich zu entfernen, nicht einmal, als sich der Apotheker ostentativ umwandte und ihm den Rücken kehrte. Das war eine Eigenschaft von ihm, die Deirdre später noch oft genug erleben sollte, diese seltsame Art, die er hatte, auch dann noch an einem bestimmten Ort oder in Gesellschaft bestimmter Leute auszuharren, wenn scheinbar klar war, dass sich dort nichts mehr für ihn ergeben würde; sein Auftreten war ruhig und entspannt, doch lag darin so eine unterschwellige Erwartung, als ob er sich ganz sicher sei, dass noch irgendetwas kommen werde, und unbedingt abwarten wolle, ob seine Ahnungen sich nicht vielleicht doch noch erfüllten. In der ganzen Zeit, die sie ihn kannte, hörte sie ihn niemals lachen, und er lächelte auch nie, jedenfalls nicht richtig, und wirkte dennoch stets gewissermaßen stillvergnügt, wie jemand, der etwas – nein, im Grunde alles – mit wohlwollender Erheiterung betrachtet.

Bei diesem ersten Zusammentreffen hatte er Deirdre gar nicht angeschaut, zumindest nicht direkt, und doch hatte sie gespürt, dass er sie bemerkt, sie irgendwie in sich aufgenommen hatte. Die meisten Männer, die in die Apotheke kamen, waren zu schüchtern, um der jungen Frau ins Gesicht zu sehen, und blieben halb abgewandt stehen, zappelten herum oder grinsten albern vor sich hin, kriegten den Mund nicht richtig zu und hatten die Zungenspitze zwischen die Zähne geklemmt. Dr. Kreutz aber war nicht schüchtern, oh nein – ihr war noch nie zuvor jemand begegnet, der ein derart selbstbewusstes, derart sicheres Auftreten hatte. Zufrieden war das Wort, das ihr als erstes in den Sinn gekommen wäre, wenn sie ihn hätte beschreiben sollen, ganz zufrieden – oder ganz ganz zufrieden, denn auch das gehörte zu seinen Angewohnheiten, zu seiner Art, dass er immer jedes Wort zweimal sagte, und dies so schnell, dass er die beiden Wörter in seinem sanften, vergnügten, singenden Tonfall zu einem einzigen zusammenzog: höchsthöchst, ganzganz.

Er holte ein kleines, in Leder gebundenes Notizbuch aus der Brusttasche seines Jacketts, riss eine Seite heraus und bestand darauf, Mr Plunkett seine Adresse zu hinterlassen, damit man ihn benachrichtigen könne, falls das, was er haben wollte, doch irgendwann vorrätig sein sollte – es handelte sich schlicht um Aloe vera, aber damals dachte sie, er sage einfach »allo«, wie ein Franzose in einem Comicstrip, der versucht, »Hallo« zu sagen –, und dann machte er sich endlich davon und zog, als er zur Tür hinausging, den schmalen, dunklen Kopf ein, wie ein Pilger, dachte sie, oder ein Heiliger, der auf der Tempelschwelle demütig das Haupt senkt. Der Mann hatte wirklich gute Manieren. Als er weg war, brabbelte Mr Plunkett irgendwas von wegen Neger und warf den Zettel mit der Adresse in den Papierkorb. Deirdre wartete ein Weilchen ab, und als der Apotheker gerade mal nicht hinsah, holte sie den Zettel wieder raus und steckte ihn ein.

Dr. Kreutz hatte seine Praxis, wie er das nannte, im Souterrain eines alten Hauses in der Adelaide Road. Deirdre wusste selbst nicht recht, was sie erwartet hatte, aber mit Sicherheit nicht so eine enge, heruntergekommene Bude mit nur einem einzigen Fenster, durch dessen obere Hälfte man einen schmalen Streifen staubiges Gras und ein Stück von einem schwarzen Eisenzaun sah. Einen Tag, nachdem er in der Apotheke gewesen war – es war Mittwoch, und sie hatte ihren freien Nachmittag –, sagte sie zu Billy, dass sie ihre Mutter besuchen wolle; sie fuhr mit dem Bus bis zur Leeson Street Bridge, ging dann durch die Adelaide Road, allerdings auf der gegenüberliegenden Straßenseite, und an der Augen- und Ohrenklinik vorbei, wo der Gehweg von hohen Bäumen gesäumt war. Als sie an seinem Haus war, zwang sie sich, einfach weiterzulaufen, das ganze Stück bis zum Anfang der Harcourt Street, erst kehrtzumachen, wenn sie dort angekommen war, und dann wieder zurückzuschlendern, diesmal auf der rechten Straßenseite. Im Vorübergehen schielte sie verstohlen zu dem Haus hinüber und las, was auf dem Messingschild stand, das, festgeschraubt auf einem Holzbrett, am Zaun befestigt war.

Dr. Hakeem Kreutz

Geisteheiler

Durch die Fenster von Dr. Kreutzens Praxis war nichts zu sehen, die Scheiben reflektierten nur einmal kurz, ganz unscharf und verschwommen, ihr eigenes Spiegelbild vom Kopf bis zu den Schultern. Sie sagte sich, dass sie doch blöd sein musste, ihren schönen halben freien Tag so zu verplempern und an einem Nachmittag im Oktober am hellen Tage hier herumzulungern. Wenn er nun aus dem Haus trat und sie sah und sich vielleicht an sie erinnerte, was dann? Und während sie noch so überlegte, war er auf einmal wirklich da, urplötzlich, kam ihr aus der Leeson Street entgegen. Heute trug er eine Art Kasack, so lang wie ein normales Hemd, goldbraun, mit einem hohen runden Stehkragen, dazu eine weite Seidenhose und Sandalen, die einfach aus ledernen Sohlen und ein paar Lederriemen bestanden, die um die Fesseln gewickelt waren; auch seine Füße, sah sie, waren lang und schmal, genau wie seine Hände, und hatten den gleichen goldbraunen Ton wie der Stoff seines Kasacks. Er hatte ein Einkaufsnetz mit drei roten Äpfeln und einem Procea-Kastenbrot – wie sonderbar, ging es ihr durch den Sinn, dass sie trotz ihrer Aufregung noch dazu kam, all diese Einzelheiten zu registrieren. Sie überlegte kurz, ob sie sich umdrehen und schnell davonlaufen sollte, einfach so tun, als ob ihr gerade etwas eingefallen war, aber dann ging sie weiter, und das, obwohl ihr dermaßen die Knie zitterten, dass sie kaum richtig geradeaus laufen konnte. Jetzt reiß dich doch mal zusammen! Herrgott noch mal!, ermahnte sie sich, aber es nützte nichts, sie merkte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg, ihr alabasterweißes Gesicht, das immer schon beim kleinsten Anflug von Verlegenheit rötlich anlief. Er hatte sie gesehen – er hatte sie erkannt. Es war aberwitzig, vollkommen unlogisch, aber sie überlegte unwillkürlich, wie alt er wohl sein mochte – genauso alt wie Mr Plunkett, schätzte sie, aber welch ein Unterschied in der Art und Weise, wie er mit seinem Alter umging. Ihre Füße trugen sie mechanisch weiter. Was für einen anmutigen, ungezwungenen Gang er hatte, wie er sich bei jedem seiner langen, federnden Schritte ganz leicht erst nach der einen und dann nach der anderen Seite neigte, wie seine Schultern rhythmisch wippten und wie der Kopf auf seinem langen Hals, der einem Pflanzenstängel ähnelte, sanft immer abwechselnd nach hinten und dann wieder nach vorne glitt – wie bei einem prächtigen exotischen Schreitvogel.

Sie war damals dermaßen durcheinander gewesen, dass sie sich nachher gar nicht mehr richtig daran erinnern konnte, wie er sie dazu gebracht hatte, stehen zu bleiben und sich mit ihm zu unterhalten. Das Einzige, was sie noch wusste, war, dass ein kalter, böiger Wind geweht hatte, der die herabgefallenen Blätter der Platanen wie große, welke Hände übers Pflaster jagte. Dem Doktor schien die Kälte nichts auszumachen, obwohl er doch nur seinen dünnen Kasack trug und praktisch barfuß war. Ein Alter mit puterrotem Gesicht, der in einem Auto vorüberfuhr, ging extra vom Gas und starrte diese beiden an, die dort beisammenstanden, die blasse junge Frau und den dunklen Mann, sie mit so einem blöden Grinsen im Gesicht, und er mit einer Seelenruhe, als würden sie sich schon seit Ewigkeiten kennen.

Ja, vierzig, dachte sie, gut und gerne vierzig war er, sogar noch älter als Billy. Aber was hatte es schon zu sagen, wie alt er war?

Er fragte sie nach ihrem Namen. »Deirdre«, sagte oder besser hauchte sie, und er wiederholte es, ließ es sich auf der Zunge zergehen, als wären es die ersten beiden Silben von einem Lied, wenn nicht gar einer Hymne. Deirdre.

3

Das kleine bisschen Glaube an die katholische Frömmigkeit, das Quirke vielleicht früher einmal gehabt hatte, das er in seiner Kindheit in dem offiziell unter der Bezeichnung Gewerbeschule firmierenden Arbeitshaus in Carricklea von den Fratres Jahr um Jahr mühsam eingebläut bekommen hatte, es war schon längst perdu. Seine Hausgötter aber, seine Totems, die nichts und niemand umstürzen konnte, die hatte er noch immer, auch wenn er unterdessen die vierzig lange überschritten hatte, und dazu zählten die gigantischen Relikte jenes Mannes, den er den größten Teil seines Lebens ohne jeden Zweifel für einen guten Menschen, ja sogar für einen großen Menschen gehalten hatte. Garret Griffin, oder der Richter, wie er allgemein genannt wurde, obwohl er schon seit einer ganzen Weile nicht mehr in der Lage war, Urteile zu fällen, denn seit ihn im vergangenen Jahr, es war sein dreiundsiebzigstes, der Schlag getroffen und ihn umgeworfen hatte, war er komplett gelähmt, bis auf die Mund- und Augenmuskeln und die Sehnen in seinem Hals. Stumm, aber noch empfindungsfähig, war er in Rathfarnham, einem weit abgelegenen Vorort von Dublin, im St Louis Presentation Convent eingesperrt, im dritten Stock, in einem großen weißen Zimmer mit zwei Fenstern, jedes an einer Seite des Raumes, die auf zwei gegensätzliche Ansichten der Dublin Mountains blickten, steinig und kahl die eine, die andere aber grün, mit Ginsterbüschen übersät. Immer wieder wanderte sein Blick zu diesen sanften Hügeln, und dabei mischten sich in seiner Miene Verzweiflung, Schmerz und Zorn. Quirke staunte, wie viel von dem Mann, wie viel von dem, was noch an Leben in ihm war, sich jetzt in seinen Augen sammelte; es war, als ballte sich die ganze Kraft seiner Persönlichkeit in diesen beiden Punkten, die heillos und erbittert glühten.

Quirke besuchte den alten Mann immer montags und donnerstags; Phoebe, seine Tochter, kam dienstags und freitags; sonntags war die Reihe an Malachy, dem Sohn des Richters, und mittwochs und samstags blieb der Alte sich selbst überlassen und hatte den ganzen Tag Zeit, die Berge mit ihrem Wechselspiel von Licht und Schatten zu betrachten und sich mit sprachloser und, falls man dem Ausdruck in seinen Augen Glauben schenken durfte, gleichsam wutschnaubender Verachtung die Fürsorge der mit seiner Pflege betrauten greisen Nonne Schwester Agatha gefallen zu lassen. In seinem früheren Leben, seinem Leben da draußen in der Welt, hatte er stillschweigend eine Menge Gutes für die Nonnen des Presentation Convent getan, und so waren sie denn auch die Ersten gewesen, die sich erboten hatten, ihn aufzunehmen, als die Katastrophe über ihn hereingebrochen war. Man hatte damit gerechnet, dass er nach diesem verheerenden Schlag allenfalls noch ein, zwei Wochen zu leben habe, doch dann vergingen die Wochen, es wurden Monate daraus, und noch immer gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass sein eherner Lebenswille an Beharrlichkeit verlor. Im ersten Stockwerk des Gebäudes war eine Mädchenschule untergebracht, und dreimal täglich, jeweils zu festen Zeiten – einmal am Vormittag, einmal am Mittag und nachmittags um vier, wenn der Unterricht zu Ende war –, ließen die Schülerinnen ihre Stimmen erschallen, und ihr gellendes Geschrei hallte bis hinauf in die dritte Etage. Wenn der Richter diese Geräusche hörte, trat ein angespannter, konzentrierter Ausdruck in seine Augen, der schwer zu deuten war; war es Empörung, Nostalgie, wehmütiges Erinnern – oder einfach bloß Verwirrtheit? Vielleicht wusste der alte Mann nicht, wo er sich befand und was die Geräusche, die er hörte, zu bedeuten hatten; vielleicht war sein Verstand – und diese Augen ließen kaum einen Zweifel daran, dass hinter ihnen ein Verstand am Wirken war – in einem Zustand konstanter Verwirrung und hilfloser Ungewissheit gefangen. Quirke wusste nicht recht, was er davon halten sollte. Ein Teil von ihm, der enttäuschte, verbitterte Teil, wollte, dass der Richter leiden sollte, während ein anderer Teil, nämlich der, der immer noch das Kind von damals war, sich vielmehr wünschte, der Schlaganfall hätte ihn auf der Stelle umgebracht, damit ihm diese letzten Demütigungen erspart geblieben wären.

Quirke brachte seine Besuche bei dem Alten damit zu, dass er ihm aus dem Irish Independent vorlas. Heute war Montag, es war Sommer, und auf den Zeitungsseiten stand nur wenig Interessantes. In Maynooth und am All Hallows College waren in feierlichen Zeremonien achtzig Priester geweiht worden – noch mehr Klerus, dachte Quirke, das fehlt uns wie ein Loch im Kopf. Dann gab es ein Foto von Mr Tom Bent, dem Chef der Talbot-Werkstatt in Wexford, der dem Bürgermeister der Stadt den Schlüssel für ein neues Feuerwehrauto überreichte. Bei Macy’s auf der George’s Street hatte der Sommerschlussverkauf begonnen. Er blätterte weiter zu den Auslandsnachrichten. Ike Eisenhower, die olle Schlafmütze, machte mal wieder den Russen die Hölle heiß. Kanzler Adenauer hatte angeblich gestern Abend auf einer Wahlkampfrede im nordrhein-westfälischen Düsseldorf erklärt, das deutsche Volk könne nicht ewig auf seine Souveränität warten. Und dann fiel Quirke eine Meldung ins Auge, gleich auf Seite eins; unter der Überschrift Mädchenleiche gefunden stand dort zu lesen:

 

Die am 17. Juni in ihrer Heimatstadt Derry vermisst gemeldete Mary Ellen Quigley (16), Arbeiterin in einer Hemdenfabrik, wurde gestern tot aus dem Foyle geborgen. Gefunden hat die Leiche ein Fischer, der sein Netz einholen wollte. Die Untersuchung der Todesursache ist für heute angesetzt.

 

Er legte die Zeitung zur Seite. Er brauchte eine Zigarette. Doch Schwester Agatha hatte strikt verboten, dass im Krankenzimmer geraucht wurde. Das war für Quirke ein zusätzliches Ärgernis, aber andererseits lieferte es ihm einen Vorwand, mindestens zweimal in der Stunde auf den Gummifliesen des hallenden Korridors auf und ab zu gehen und angespannt wie ein werdender Vater in einer Filmkomödie an seiner Zigarette zu ziehen.

Warum kam er immer noch und immer wieder hierher? Kein Mensch hätte ihm einen Vorwurf daraus gemacht, wenn er einfach weggeblieben wäre und den sterbenden alten Mann seiner zornigen Einsamkeit überlassen hätte. Denn im Geheimen war der Richter ein großer Sünder, und Quirke war es gewesen, der seine Sünden ans Licht gebracht hatte. Eine junge Frau war umgekommen, eine zweite Frau war ermordet worden, und dieser alte Mann hier trug die Schuld daran. Was Quirke am meisten zu schaffen machte, war die Tatsache, dass man einfach den Mantel des Schweigens über die ganze Angelegenheit gebreitet hatte und er nun ganz allein dastand mit seinem Zorn, dass er mit alldem nur sich selbst geschadet hatte, dass man ihn als unglaubwürdig hinstellte und ihn kurzerhand ignorierte wie einen armen Irren, der an einer Straßenecke herumschreit. Warum also kam er nach wie vor pflichtschuldig Woche für Woche in dieses kahle Zimmer im Schatten der Berge? Auch er hatte seine Sünden, für die er geradestehen musste, seine Tochter konnte es bezeugen, die Tochter, die er so viele Jahre lang verleugnet hatte. Es war so etwas wie eine kleine Buße, zweimal in der Woche hierherzukommen und dem sterbenden alten Mann die Gerichtsfälle und die Todesanzeigen vorzulesen.

Seine Gedanken kehrten zurück zu Deirdre Hunt. Nachdem er rein zufällig diesen Einstich am Arm der Frau entdeckt hatte, war klar gewesen, dass ihm gar nichts weiter übrig blieb, als sie zu obduzieren. Immerhin hatte er die Pflichten, die sein Amt ihm auferlegte, zu erfüllen, doch das war nicht der Grund, weshalb er schließlich zum Skalpell griff. Der Grund war wieder mal, wie üblich, einfach seine Neugier, obwohl Quirke wusste, dass nichts an dieser Neugier einfach war. Er hatte den Leichnam aufgeschnitten, die Organe durch Tasten untersucht, die Blutmengen gemessen, und jetzt, hier im Beisein des Richters, der sein stummer Zeuge war, ging er alles noch mal in Ruhe durch, ganz für sich alleine, und betrachtete die Sache aus allen nur denkbaren Blickwinkeln. Doch er konnte machen, was er wollte, er kam zu keinem Schluss.

Er drehte sich um. »Was meinst du denn dazu, Garret?«, fragte er. »Einfach bloß wieder ein verlorenes Mädchen?«

Der Richter lag da mit seinem schiefen Mund, den Rücken an einen ganzen Berg von Kopfkissen gelehnt, und funkelte ihn zornig an. Quirke seufzte. Es war heiß und stickig im Raum, und obwohl er das Jackett abgelegt hatte, schwitzte er und spürte die feuchten Flecke unter seinen Achselhöhlen und zwischen den Schulterblättern. Und zum wer weiß wievielten Male fragte er sich, ob der Richter all so was überhaupt noch wahrnahm – Hitze, Kälte, die kleinen Extravaganzen des Alltags. Ob er Schmerzen hatte? Das muss man sich mal vorstellen, dachte Quirke, das muss man sich tatsächlich einmal vorstellen, was es bedeutet, permanent unter erbarmungslosen Schmerzen zu leiden und noch nicht mal in der Lage zu sein, sich durch Schreien Erleichterung zu verschaffen oder auch nur um Mitleid zu bitten.

Er seufzte wieder. Er musste an seine ungute Vorahnung denken, an dieses Unbehagen, das ihn neulich in der Klinik überkommen hatte, als ihm die Frau an der Rezeption diesen Zettel von Billy Hunt gab, auf dem stand, er solle bitte anrufen. Wieso hatte er sofort gewusst, dass da irgendwas nicht stimmte? Was für eine Eingebung, was für ein sechster Sinn hatte ihn vorgewarnt? Und was war das für eine Angst, die er nun empfand? Schon einmal hatte er die Leiche einer jungen Frau obduziert, und das Ergebnis war gewesen, dass dieses ganze Gespinst aus Lügen, das der Richter so mühsam gewoben hatte, zerriss und alle seine finsteren Geheimnisse ans Tageslicht gekommen waren; wollte er sich wirklich schon wieder auf so eine Sache einlassen? War es nicht gescheiter, den Fall Deirdre Hunt ad acta zu legen und ihrem Mann die Gnade des Nichtwissens zu gewähren? Eine junge Frau war ins Wasser gegangen – na und? Sie hatte ihren Kummer hinter sich, wozu also den ihres Mannes noch vergrößern? All diese Fragen stellte Quirke sich jetzt, und gleichzeitig merkte er, wie es ihm schon wieder in den Fingern juckte, zum Kern der Sache vorzudringen, sich geradewegs hineinzustürzen in die Finsternis der Dinge, die im Verborgenen lagen – sich auf die Suche nach Erkenntnis zu begeben.

Geschäftig trat Schwester Agatha ins Zimmer und war sichtlich ungehalten, dass er immer noch hier war, wo er doch sonst nie einen Hehl daraus machte, wie eilig er es hatte, wieder wegzukommen. Und es war ja auch wirklich interessant, warum er heute so herumtrödelte. Rechnete er etwa damit, dass der alte Mann ihm eine stumme Offenbarung zuteilwerden ließ, irgendein großmütiges Zeichen, einen Fingerzeig oder eine Ermahnung? Erwartete er etwa Hilfe? Die Nonne war ein kleines, verhutzeltes Weiblein mit einem Bart und einem Blick, genauso stechend wie der eines Rotkehlchens. Egal in welchem Teil des Zimmers sie gerade war, irgendwie schaffte sie es immer, sich gleichsam schützend zwischen ihm und ihrem hilflos ans Bett gefesselten Pflegling aufzupflanzen. Sie konnte Quirke nicht leiden und gab sich keine Mühe, diese Tatsache zu verhehlen.

»Ist das nicht herrlich?«, sagte sie, ohne ihn anzusehen. »So spät schon, und immer noch scheint die Sonne!«

Es war gar nicht spät, es war gerade erst sechs, sie wollte ihm bloß zu verstehen geben, dass er gefälligst verschwinden sollte. Er sah ihr zu, wie sie sich um den Alten kümmerte, ihm die Kissen richtete, die dünne Decke und das umgeschlagene Leintuch glatt strich, das quer über seiner Brust lag wie ein breites Fixierband. Nie war ihm der Richter so groß erschienen wie jetzt, wo er hier hilflos an sein schmales Eisenbett gefesselt war; Quirke musste daran denken, wie er einmal, vor langer, langer Zeit, damals in Carricklea, Zeuge war, wie der Wind bei einem gewaltigen Unwetter eine mächtige Buche knickte; als sie umfiel, bebte der Boden, und die Scheiben des Fensters, an dem er stand und wie gebannt zusah, klirrten von der Erschütterung. Daran erinnerte ihn der Zusammenbruch des Richters; hier fand etwas sein Ende, das so lange dagewesen war, dass es einem schier unverrückbar vorkam. Wie viel mochte Quirke wohl zu diesem Werk der Zerstörung beigetragen haben? Und war er nicht gerade im Begriff, von Neuem einen Sturm zu entfesseln – einen Sturm, der das Denkmal, das Billy Hunt seiner toten Frau setzen wollte, vom Sockel stürzen würde?

Er griff nach seinem Jackett, das immer noch über der Lehne des Besucherstuhls hing, der am Bett des Richters stand. »Auf Wiedersehen, Schwester«, sagte er. »Bis Donnerstag.«

Sie würdigte ihn keines Blickes und sprach kein Wort, sie atmete nur hörbar durch die Nase aus, was wie ein leises, verächtliches Schnauben klang. Auch der alte Mann reagierte nicht, sondern hatte den düster und hochmütig wirkenden Blick starr auf die Berge geheftet.

 

In einem Chinarestaurant in der Baggot Street nahm Quirke ein miserables Abendessen zu sich und ging dann heim in seine Wohnung, wobei er unterwegs die ganze Zeit versuchte, mit der Zunge den widerlichen Fettfilm wegzuwischen, der an seinen Vorderzähnen klebte. So völlig ohne alkoholische Betäubung auszukommen, fiel ihm nicht leicht, besonders abends, zumal jetzt im Sommer, wo es nachts gar nicht richtig dunkel wurde. All seine Freunde waren Kneipengänger, jedenfalls die paar Bekannten, die er früher hatte, und wenn er sich heute – selten genug – mit ihnen traf, dann merkte er durchaus, wie sehr er ihnen auf die Nerven fiel mit seinem neu entdeckten Nüchternheitsfimmel. Er überlegte, ob er vielleicht ins Kino gehen sollte, aber dann sah er sich inmitten all der Liebespärchen allein im flackernden Dunkel sitzen und fand, dagegen sei es geradezu ein Luxus, so einen sonnendurchfluteten Sommerabend in der gottverlassenen Stille seiner eigenen vier Wände zu verbringen. An dem heruntergekommenen georgianischen Haus in der Upper Mount Street angelangt, in dem sich seine Wohnung befand, zog er lautlos die Eingangstür hinter sich ins Schloss und ging leise durch den Flur und die Treppe hinauf. Irgendwie fühlte er sich hier immer wie ein Eindringling, zwischen diesen lauernden Schatten, in dieser Stille.

Und in seiner Wohnung oben im dritten Stock herrschte die gewohnte schmallippig-verklemmte Atmosphäre, als wären hier bis eben noch irgendwelche frevelhaften Dinge vor sich gegangen, die in dem Moment, wo er den Schlüssel im Schloss herumgedreht hatte, abgebrochen worden waren. Er blieb einen Augenblick mitten im Wohnzimmer stehen, den Schlüssel noch in der Hand, und sah sich um, betrachtete das charakterlose Mobiliar, die zwanghaft ordentlich aufgeräumten Bücherregale und auf dem Tischchen neben dem Fenster die hölzerne Künstlerpuppe mit den melodramatisch hochgerissenen Armen. Auf dem Kaminsims stand ein Rosenstrauß. Den hatte er – etwas eigenartig, wie er fand – von einer Frau bekommen – verheiratet, blond, reichlich langweilig –, mit der er ein paar nicht sehr aufregende Abende geteilt hatte, aber irgendwie brachte er es nicht übers Herz, die Blumen wegzuwerfen, obwohl sie mittlerweile schon ganz welk waren und die vertrockneten Blütenblätter einen schalen, leicht süßlichen Geruch verströmten, der ihn unangenehm an seinen Arbeitsplatz erinnerte. Er machte das Radio an und versuchte, BBC 3 einzustellen, aber der Empfang war mal wieder hoffnungslos schlecht, wie – aus unerfindlichen Gründen – immer bei schönem Wetter. Er zündete sich eine Zigarette an, trat ans Fenster und schaute hinaus auf die breite leere Straße mit ihren schrägen, ein wenig unheimlich wirkenden Schatten. Für die Huren, die hier ihr Revier hatten, war es noch zu früh, obwohl in solchen heißen Sommernächten wie heute die Geschäfte selbst bei den hässlichsten und betagtesten Vertreterinnen ihrer Zunft florierten. Er spürte das erste leise Kribbeln der Verzweiflung, die oft im Sommer um die Abenddämmerung herum von ihm Besitz ergriff. Ein leises, kurzes Rascheln hinter seinem Rücken ließ ihn zusammenschrecken, er drehte sich um: Ein schweres Blütenblatt hatte sich von einer der verwelkten Rosen gelöst und war wie ein staubiger kleiner, an den Rändern gewellter Fetzen von dunkelrotem Samt auf den Feuerrost gefallen. Er brummte etwas vor sich hin, griff nach seinem Jackett und ging eilig zur Tür.

 

Malachy Griffin, dem ein betagtes Dienstmädchen die Wirtschaft führte, konnte sich nicht von dem großen Haus in Rathgar lösen, in dem Sarah und er fünfzehn Jahre lang gelebt hatten. Er hatte überlegt, es zu verkaufen, jetzt, wo Sarah nicht mehr da war, und er würde es auch verkaufen, irgendwann später, noch aber war ihm der Gedanke unerträglich, dass Grundstücksmakler kämen und er Angebote vergleichen müsste und alles herrichten für die Leute, die hier einziehen wollten, und dann der Umzug selber. Er malte sich aus, wie er, wenn der Umzugswagen fortfuhr, zum letzten Mal die Haustür abschloss und den schmalen, rechts und links von Rasen gesäumten Pfad hinunterging, bis zu dem alten pockennarbigen, mehr als ein Jahrhundert lang immer wieder mit neuen Schichten von zähem schwarzen Lack überpinselten Gartentor, wie er zum letzten Mal den Liguster roch, zum letzten Mal hinaustrat auf den Gehweg, sich zum letzten Mal nach dem Kanal umdrehte und in eine Zukunft blickte, von der er sich keine Vorstellung machen konnte. Nein, lieber blieb er vorerst noch, wo er war, wartete in aller Ruhe ab und schaute zu, wie die Tage einer nach dem anderen herunterfielen wie Kalenderblätter. Es blieb ihm ja nichts weiter übrig, als morgens aufzustehen, zur Arbeit zu gehen, abends wieder heimzukommen, zu schlafen – zu vegetieren. Nein, weiter blieb ihm ja nichts übrig.