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Booker-Preis-Gewinner John Banville zeigt sich von seiner kriminellen Seite Quirke ist Herr über das Totenreich des Holy Family Hospitals. Er liebt die Abgeschiedenheit der Pathologie, zwei Stockwerke unter dem geschäftigen Treiben auf den Straßen Dublins. Dann wirft die Leiche der jungen Christine Falls Fragen auf. Und Quirke begibt sich, auf der Suche nach Antworten, in die Welt der Lebenden, wo sich die Abgründe seiner eigenen Familie vor ihm auftun. Es ist mitten in der Nacht, als Quirke seinen Schwager Malachy, den überaus angesehenen Leiter der Geburtsklinik, in der Pathologie überrascht – gebeugt über die Akte Christine Falls. Das Erscheinen des seltenen Gastes erweckt Quirkes Argwohn und regt ihn zu Nachforschungen an. Er findet heraus, dass Christine Falls keineswegs an einer Lungenembolie gestorben ist, wie auf dem Totenschein vermerkt, und dass sie das Schicksal vieler junger Frauen im Irland der Fünfzigerjahre teilte. Quirke forscht weiter und gerät mit der eigenen Vergangenheit und dem katholischen Establishment in Konflikt. Die Fäden laufen im tief verschneiten Boston zusammen. John Banville, der für seinen internationalen Bestseller »Die See« den Man Booker Prize erhielt und auch in Deutschland im Herbst 2006 von Kritikern, Buchhändlern und Lesern begeistert aufgenommen wurde, zeigt sich von einer neuen Seite. Unter dem Pseudonym Benjamin Black hat er seinen ersten Krimi verfasst: atmosphärisch dicht, mitreißend und sprachlich brillant. »Ich denke, die Figuren in seinem Roman sind nicht so schrecklich, wie er uns glauben machen will. Sie haben ihre Dämonen, ihre bösen Träume, ihre Angst einflößenden Geheimnisse, aber in ihnen allen … steckt ein bittersüßes Gefühl der Sehnsucht nach den Dingen, die sie verloren oder aber überhaupt nie besessen haben.« John Banville über Benjamin Black »Das ist der Unterschied zwischen Ihnen und mir. … Sie spekulieren über Seiten hinweg darüber, weshalb die eine Figur dieses oder jenes tut, natürlich ohne jemals eine Antwort oder auch nur den Hauch einer Antwort darauf zu finden. … Ich hingegen halte mich an das, was die Figuren tun.« Benjamin Black zu John Banville
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Seitenzahl: 557
Inhalt
CoverTitelVorwortKapitel IKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel IIKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel IIIKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11EpilogDanksagungBuchAutorImpressum[Menü]
Sie war froh, dass sie das späte Postschiff genommen hatte, denn morgens abzureisen hätte sie bestimmt nicht geschafft. Bei der Party gestern Abend hatte einer der Medizinstudenten eine Flasche mit reinem Alkohol gefunden und diesen mit Orangensaft vermischt, und davon hatte sie zwei Gläser getrunken; ihre Mundschleimhäute waren jetzt noch wund von dem Zeug, und hinter ihrer Stirn wummerten dumpfe Trommelschläge. Sie war den ganzen Vormittag im Bett geblieben, immer noch angesäuselt, hatte nicht schlafen können und dauernd wieder angefangen zu weinen, und dabei hatte sie sich das zerknüllte Taschentuch vor den Mund gepresst, damit das Schluchzen nicht so laut war. Wenn sie daran dachte, was sie heute tun musste, was sie heute auf sich nehmen musste, wurde ihr angst und bange. Ja, sie hatte Angst.
In Dun Laoghaire ging sie am Pier auf und ab, innerlich zu aufgewühlt, um stillstehen zu können. Ihr Gepäck hatte sie schon in die Kabine gebracht und war dann noch einmal zum Anlegeplatz zurückgekommen, um hier zu warten, wie man ihr gesagt hatte. Sie wusste selber nicht, warum sie sich darauf eingelassen hatte, diesen Auftrag anzunehmen. Sicher, sie hatten ihr diese Stelle in Boston angeboten, und dann natürlich das Geld, das sie bekommen sollte, aber der Hauptgrund war wahrscheinlich einfach Angst vor der Oberin gewesen, Angst, nein zu sagen, als diese sie gefragt hatte, ob sie nicht das Kind mitnehmen könnte. Die Oberschwester hatte so eine Art, einen einzuschüchtern, und je sanfter sie mit einem sprach, desto schlimmer war es. Also pass auf, Brenda, hatte sie gesagt und sie dabei mit ihren Kuhaugen angeschaut, ich möchte, dass du dir das gründlich überlegst, denn es ist eine große Verantwortung. Es war alles so merkwürdig gewesen, die Übelkeit im Magen und das Brennen im Mund vom Alkohol und die Tatsache, dass sie nicht ihre Schwesterntracht anhatte, sondern das rosa Wollkostüm, das sie sich extra für gut gekauft hatte – ihr gutes Kostüm, wie zur Hochzeit, und dabei hatte sie statt Flitterwochen eine Woche Babyhüten vor sich, und von einem Bräutigam war auch weit und breit nichts zu sehen. Bist ein braves Mädchen, Brenda, hatte die Oberschwester gesagt und dabei das Gesicht zu einem Lächeln verzogen, das noch unangenehmer gewesen war als ihre bösen Blicke, Gott sei mit dir. Das werde ich auch nötig haben, dachte sie jetzt bekümmert: erst mal heute Nacht auf dem Schiff, dann auf der Bahnfahrt nach Southampton und dann noch fünf Tage auf See und dann, ja, was dann? Sie war noch nie im Ausland gewesen, außer einmal, als sie noch klein war und ihr Vater mit der ganzen Familie ein paar Tage auf die Isle of Man gefahren war.
Ein schnittiger schwarzer PKW bahnte sich seinen Weg durch die Menge der Passagiere, die sich am Pier drängelten. Gut zehn Meter vor ihr blieb er stehen, und auf der Beifahrerseite stieg eine Frau aus, die eine Reisetasche in der Hand trug und auf dem anderen Arm ein Bündel, das in eine Decke gewickelt war. Sie war nicht mehr jung, mindestens sechzig, aber angezogen, als ob sie höchstens halb so alt wäre – graues Kostüm mit engem, wadenlangem Rock, straff geschnallter Gürtel, unter dem ihr kleiner Schmerbauch hervortrat, und auf dem Kopf ein Pillbox-Hütchen mit blauem Schleier, der bis über die Nasenspitze reichte. Die angemalten Lippen zu einem Lächeln geschürzt, kam sie unsicher in ihren Stöckelschuhen über die Steinplatten gestakst. Ihre Augen waren klein, schwarz und stechend.
»Miss Ruttledge?«, sagte sie. »Moran mein Name.« Ihr vornehmer Akzent war genauso falsch wie alles andere an ihr. Sie übergab Brenda die Tasche. »Da sind die Babysachen drin und ihre Papiere – die geben Sie dem Zahlmeister, wenn Sie in Southampton an Bord gehen, der weiß dann schon, wer Sie sind.« Sie kniff ihre kleinen schwarzen Augen zusammen und musterte Brenda mit prüfendem Blick. »Geht’s Ihnen gut? Sie sehen blass aus.«
Worauf Brenda erwiderte, sie sei nur ein bisschen spät schlafen gegangen, ansonsten sei alles in Ordnung. Miss Moran, oder Mrs, oder wie auch immer, lächelte verkniffen.
»Kleine Abschiedsfeier, was?« Sie hielt ihr das eingemummelte Bündel hin. »Hier – nicht runterfallen lassen.« Sie lachte auf, runzelte verlegen die Stirn und sagte: »Oh, Verzeihung.«
Das Erste, was Brenda an dem Bündel auffiel, war die Wärme; wenn das Ding da in der Decke nicht so weich gewesen wäre und sich nicht bewegt hätte, man hätte glatt meinen können, es sei ein Stückchen Kohlenglut. Als sie es an die Brust drückte, zuckte sie innerlich zusammen wie ein Fisch. »Oh«, seufzte sie halb erstaunt, halb angenehm überrascht. Die Frau redete wieder auf sie ein, aber sie hörte nicht zu. Aus den Falten der Decke schaute ein kleines, wie verschleiert wirkendes Auge sie mit nüchtern-sachlichem Interesse an. Etwas schnürte ihr die Kehle zu, sie hatte Angst, die Heulerei von heute Morgen könnte wieder losgehen.
»Danke«, sagte sie. Mehr brachte sie nicht heraus, und sie wusste auch gar nicht recht, bei wem oder für was sie sich bedankte.
Die Frau, die Moran hieß, zuckte die Achseln und verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln.
»Viel Glück«, sagte sie.
Dann ging sie raschen Schrittes mit klappernden Absätzen zum Wagen zurück, stieg ein und zog die Tür zu. »So, das hätten wir«, sagte sie und guckte durch die Windschutzscheibe hinüber zu Brenda Ruttledge, die immer noch am Anlegeplatz stand, genau an derselben Stelle, wo sie sie verlassen hatte, ganz versunken in die Decke schaute und die Reisetasche vor sich auf dem Boden vergessen zu haben schien. »Nun sieh dir das an«, sagte sie mürrisch. »Die denkt, sie ist die Heilige Jungfrau.« Der Fahrer ließ wortlos den Motor an.
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Quirke grauste es nicht vor den Toten, sondern vor den Lebenden. Als er lange nach Mitternacht in die Pathologie kam und Malachy Griffin dort sah, lief ihm ein Schauer den Rücken hinunter, ein ahnungsvoller Schauer, wie sich bald erweisen sollte, eine bebende Vorahnung künftiger Kümmernisse. Malachy saß in Quirkes Zimmer am Schreibtisch. Quirke blieb in der unbeleuchteten Leichenhalle stehen, zwischen all den verhüllten Körpern auf ihren Bahren, und beobachtete ihn durch die offene Tür, wie er dort saß mit seiner Nickelbrille, mit dem Rücken zu ihm, konzentriert nach vorn gebeugt, die linke Gesichtshälfte ins Licht der Schreibtischlampe getaucht, das sein Ohr in wütendem Hellrot glühen ließ. Vor sich auf dem Tisch hatte er eine aufgeschlagene Akte, in die er mit eigentümlich linkischen Bewegungen etwas hineinschrieb. Was Quirke mit Sicherheit noch mehr befremdet hätte, wenn er nicht betrunken gewesen wäre. Der Anblick weckte bei ihm eine Erinnerung an ihre gemeinsame Schulzeit, verblüffend deutlich: Malachy zwischen fünfzig anderen ernsthaften Schülern in einem großen, mucksmäuschenstillen Klassenzimmer in der Schulbank sitzend, in genau der gleichen konzentrierten Haltung, eifrig über einen Prüfungsaufsatz gebeugt, und durch ein Fenster irgendwo oben, über ihm, fiel schräg ein Sonnenstrahl auf ihn. Auch diesen glatten Seehundkopf mit dem öligen, sorgsam gekämmten und gescheitelten schwarzen Haar hatte er immer noch.
Als Malachy spürte, dass jemand hinter ihm war, drehte er sich um und blinzelte ins schattige Dunkel der Leichenhalle. Quirke wartete einen Augenblick, dann trat er leicht schwankend ins Licht der Türöffnung.
»Quirke«, sagte Malachy sichtlich erleichtert, als er ihn erkannte, und gab ein ärgerliches Stöhnen von sich. »Meine Güte.«
Malachy war in Abendgarderobe, allerdings nicht so zugeknöpft wie gewöhnlich, er hatte die Krawatte gelockert, und an seinem weißen Hemd stand der Kragenknopf offen. Quirke musterte ihn, während er seine Taschen nach Zigaretten absuchte; ihm entging nicht, wie Malachy eilig den Unterarm über die Akte schob, um sie zu verstecken, und da fühlte er sich gleich noch einmal an die Schulzeit erinnert.
»So spät noch bei der Arbeit?«, sagte Quirke und grinste hintersinnig, denn der Alkohol verleitete ihn dazu zu glauben, dass dies eine außerordentlich geistreiche Bemerkung gewesen sei.
»Was machst du denn hier?«, entgegnete Malachy etwas zu laut und ohne auf die Frage einzugehen. Mit einer kurzen Bewegung des Zeigefingers schob er sich die Brille auf dem feuchten Nasenrücken hoch. Er war nervös. Quirke zeigte zur Decke.
»Party«, sagte er. »Da oben.«
Malachy setzte seine Facharztmiene auf und legte gebieterisch die Stirn in Falten. »Party? Was denn für eine Party?«
»Brenda Ruttledge«, sagte Quirke. »Eine von den Krankenschwestern. Abschiedsfeier.«
Malachys Stirn bekam noch tiefere Falten. »Ruttledge?«
Quirke hatte plötzlich keine Lust mehr. Er fragte Malachy, ob er eine Zigarette haben könne, denn seine eigenen hatte er anscheinend doch nicht bei sich, aber Malachy überhörte auch diese Frage. Er stand auf, nahm schwungvoll die Akte an sich und versuchte immer noch, sie unterm Arm zu verstecken. Quirke musste sich richtig anstrengen, damit er den Namen entziffern konnte, der in großen, handgeschriebenen Lettern über den Ordnerrücken kroch: Christine Falls. Malachys Füllfederhalter lag auf dem Schreibtisch, ein dicker, schwarz glänzender Parker, garantiert mit Goldfeder, zweiundzwanzig Karat, wenn nicht sogar noch mehr; Malachy hatte ein Faible für protzige Sachen, das war eine von seinen Schwächen.
»Wie geht’s Sarah?«, fragte Quirke. Er ließ sich schwer zur Seite fallen, bis seine Schulter am Türrahmen Halt fand. Ihm war schwindlig, rings um ihn herum flackerte alles, und sämtliche Gegenstände hatten so einen komischen Linksdrall. Er war in dem Stadium, wo er bereute, dass er zu viel getrunken hatte, und gleichzeitig wusste, dass ihm nichts weiter übrig blieb als abzuwarten, bis die Wirkung nachließ. Malachy stand mit dem Rücken zu ihm und legte den Ordner in ein Fach des hohen grauen Aktenschranks.
»Der geht’s gut«, sagte Malachy. »Wir waren bei einem Rittermahl. Ich hab sie mit dem Taxi nach Hause geschickt.«
»Ritter?«, fragte Quirke begriffsstutzig und riss die Augen auf.
Malachy drehte sich zu ihm herum, sein Blick hinter den blitzenden Brillengläsern war leer und ausdruckslos.
»Na, vom St.-Patrick’s-Orden. Tu doch nicht so, als ob du nicht Bescheid weißt.«
»Ach so«, sagte Quirke.»Ja, richtig.« Er sah aus, als müsste er sich mühsam das Lachen verkneifen. »Wie dem auch sei«, sagte er, »um mich geht’s ja gar nicht, was treibst du eigentlich hier unten bei den Toten?«
Malachy hatte so eine Art, Stielaugen zu machen und seine ohnehin schon lange dünne Gestalt geschmeidig in die Höhe zu schrauben, wie zu den Flötentönen eines Schlangenbeschwörers. Und wieder einmal – nicht zum ersten Mal – konnte Quirke nicht umhin, den wie poliert wirkenden Glanz seiner Haare zu bewundern, die Glätte der darunterliegenden Stirn und das ungetrübte Stahlblau seiner Augen hinter den bergkristallenen Brillengläsern.
»Ich hatte noch was zu erledigen«, sagte Malachy. »Was nachzusehen.«
»Was denn?«
Malachy antwortete nicht. Er musterte Quirke und sah, wie betrunken er war, und in seinen Augen blitzte kalte Erleichterung auf. »Du solltest lieber nach Hause gehen«, sagte er.
Quirke erwog, sich dagegen zu verwahren – die Pathologie war schließlich sein Reich –, verlor jedoch abermals von einer Sekunde auf die andere jegliches Interesse. Er drehte sich achselzuckend um, während Malachy ihn weiter beobachtete, schlängelte sich zwischen den Toten hindurch und machte sich davon. Als er den Raum halb durchquert hatte, stolperte er und streckte rasch die Hand aus, um sich an einer Bahre festzuhalten, bekam aber bloß das schneeweiß leuchtende Tuch zu fassen, das zischelnd hinabglitt. Er erschrak über die klamme Kälte des Nylons; es fasste sich so menschlich an, wie eine weite, kühle Kutte aus undurchbluteter Haut. Auf der Bahre lag der Leichnam einer jungen Frau, schlank und mit strohblondem Haar; sie war einmal hübsch gewesen, aber der Tod hatte sie ihrer Charakterzüge beraubt, und nun sah sie aus wie aus Speckstein geschnitzt, glatt und ausdruckslos. Noch ehe er auf das an ihrem Zeh befestigte Schild geschaut hatte, sagte ihm irgendetwas, wahrscheinlich sein Pathologeninstinkt, wie ihr Name war. »Christine Falls«, brummte er. »Passt wie die Faust aufs Auge.« Als er genauer hinsah, entdeckte er die dunklen Haaransätze an Stirn und Schläfen: tot und noch nicht mal ’ne echte Blondine.
Stunden später, zusammengerollt auf der Seite liegend, erwachte er mit dem vagen und dennoch drängenden Gefühl eines drohenden Unheils und ohne jede Erinnerung daran, dass er sich hier unten schlafen gelegt hatte, zwischen den ganzen Leichen. Die Kälte war ihm in die Knochen gekrochen, seine Krawatte war verrutscht und würgte ihn. Er richtete sich auf, räusperte sich; was hatte er denn getrunken? Erst ein paar bei McGonagle und oben auf der Party dann auch noch einiges. Die Tür zu seinem Dienstzimmer stand offen – war Malachy wirklich da drin gewesen, oder hatte er das bloß geträumt? Er setzte die Füße auf den Boden und stand vorsichtig auf. Ihm war schwindlig, er kam sich vor, als ob ihm jemand die Schädeldecke abgenommen hätte. Er hob nach Römermanier den Arm, salutierte den Bahren um sich herum und stakste mit leichter Schlagseite hinaus.
Die Korridorwände waren mattgrün, die Türen, Holzverkleidungen und Heizkörper zigmal mit irgendeinem gallig gelben, klebrig glänzenden Zeug übertüncht worden, das eher wie angebackener Haferschleim aussah als wie Farbe. Unten an der Freitreppe, deren Eleganz dem Zweck des Gebäudes – ursprünglich ein Club für georgianische Lebemänner – so gar nicht angemessen schien, blieb er stehen und wunderte sich, dass aus dem fünften Stock immer noch Partygeräusche zu hören waren. Er setzte den Fuß auf die erste Stufe, griff nach dem Geländer, überlegte es sich aber nochmal. Junge Assistenzärzte, Medizinstudenten, aufgebrezelte Krankenschwestern: nein danke, das stand ihm bis sonst wohin, und außerdem waren die jungen Herren da oben auch nicht gerade begeistert gewesen, dass er mit dabei war. Also ging er weiter den Korridor entlang. Er spürte den lauernden Kater, der nur darauf wartete, sich mit Holzhammer und Zange auf ihn zu stürzen. Im Zimmer des Nachtportiers, direkt neben der hohen Flügeltür am Eingang, dudelte leise ein Radio vor sich hin. Die Inkspots. Quirke summte die Melodie mit. It’s a Sin to Tell a Lie. Wohl wahr.
Als er auf die Eingangstreppe hinaustrat, stand dort der Portier in seinem braunen Hauskittel, rauchte eine Zigarette und sah zu, wie das Morgengrauen mürrisch über die Kuppel der Four Courts gekrochen kam. Der Portier war ein munterer, geschniegelter kleiner Bursche mit Brille, staubfarbenem Haar und einer spitzen, fortwährend zuckenden Nase. Auf der noch dunklen Straße tuckerte ein Auto vorbei.
»Morgen, Portier«, sagte Quirke.
Der Portier lachte. »Sie wissen doch ganz genau, Mr Quirke, dass ich nicht Portier heiße«, sagte er. Mit seinen strohigen braunen Haaren und dieser unwirsch aus der Stirn geschobenen Tolle sah er aus wie jemand, der permanent mit dem Schlimmsten rechnet. Ein quengeliger kleiner Mäuserich.
»Stimmt«, sagte Quirke, »Sie sind der Portier, aber Sie heißen nicht Portier.« Hinter den Four Courts schob sich inzwischen eine grimmig entschlossene dunkelblaue Wolke am Himmel herauf und knipste der noch unsichtbaren Sonne das Licht aus. Quirke schlug den Kragen seines Jacketts hoch und fragte sich kurz, was eigentlich mit seinem Regenmantel war, den er, wenn sein Gedächtnis ihn nicht täuschte, noch angehabt hatte, als er vorhin, vor vielen Stunden, mit dem Trinken anfing. Und wo war überhaupt sein Zigarettenetui geblieben? »Haben Sie mal ’ne Zigarette für mich?«, fragte er.
Der Portier holte eine Packung aus der Tasche. »Sind aber bloß Woodbines, Mr Quirke.«
Quirke nahm die Zigarette, beugte sich über sein Feuerzeug, schirmte die Flamme mit der Hand ab, genoss den schwachen Geruch nach brennendem Benzin, der ihm in die Nase stieg. Er hob das Gesicht zum Himmel und atmete den beißenden Rauch tief ein. Hm, köstlich, die erste Lunge voll Qualm am frühen Morgen. Mit einem Klick ließ er das Feuerzeug wieder zuschnappen. Dann musste er husten, und das hörte sich beinah so an, als ob es ihm den Kehlkopf auseinanderfetzen wollte.
»Meine Güte, Portier«, sagte er mit brüchiger Stimme, »wie können Sie bloß dieses Kraut rauchen? Eines schönen Tages liegen Sie da unten bei mir auf dem Tisch, und dann mach ich Sie auf und schau mir Ihre Lunge an, und die sieht aus wie ’n Räucherhering.«
Der Portier lachte wieder, oder besser, er gab ein angestrengtes, japsendes Kichern von sich. Quirke wandte sich brüsk ab und ließ ihn stehen. Während er die Stufen hinabstieg, spürte er im Rücken den nicht mehr lachenden, sondern plötzlich boshaft gewordenen Blick des Burschen. Und oben, fünf Stockwerke über ihm, aus einem erleuchteten Fenster, hinter dem noch immer feiernde Gestalten schemenhaft auf und ab wogten, folgte ihm melancholisch ein zweiter Blick, aber den spürte er nicht.
Am Merrion Square färbte ein lautlos strömender Sommerregen die Bäume grau. Quirke ging eilig dicht an den schmiedeeisernen Gitterzäunen entlang, als könnten sie ihm Schutz bieten; der Kragen seines Jacketts klebte ihm am Hals fest. Für die Büroangestellten war es noch zu früh, die breite Straße war wie ausgestorben, weit und breit kein einziges Auto, und wenn der Regen nicht gewesen wäre, hätte er freie Sicht bis zur Peppercanister-Kirche gehabt, die ihm von weitem, wenn er sie so wie jetzt von diesem breiten, heruntergekommenen Teil der Upper Mount Street aus betrachtete, immer ein bisschen schief vorkam. Aus einigen der dichtgedrängten Schornsteine stiegen dünne Rauchfahnen empor; der Sommer ging langsam zu Ende, die Luft war ungewohnt frostig. Aber wer heizte denn da, so früh am Morgen? Gab es sie etwa immer noch, die Küchenmädchen, die schon vorm ersten Tageslicht in den Keller hinabstiegen und einen Eimer Kohlen hochschleppten? Er musterte die hohen Fenster und dachte an all die Zimmer, die dahinter im Schatten lagen, und die Leute dort drinnen, wie sie gähnend erwachten, aufstanden, Frühstück machten oder sich auf die andere Seite drehten, um noch ein halbes Stündchen weiter in ihren mollig-muffigen Betten vor sich hin zu dösen. Einmal, als er an einem anderen Sommertag im Morgengrauen hier vorbeigekommen war, genau wie jetzt, hatte er aus einem dieser Fenster die Lustschreie einer Frau die Straße hinabwehen gehört. Was war das für ein Schmerz gewesen, was für ein bohrendes Selbstmitleid, weil er so ganz alleine unterwegs war, bevor noch irgendjemand anders seinen Tag begonnen hatte; ein bohrender, brennender Schmerz, aber durchaus nicht unangenehm, denn insgeheim war seine Einsamkeit ihm ja ganz lieb, er fühlte sich durch sie erhaben.
Im Hausflur hing der übliche, allemal undefinierbare Mief, schmuddlig und schal, ein Geruch aus der Kindheit, wenn Kindheit das rechte Wort war für jene ersten zehn Jahre Elend, die er hatte durchmachen müssen. Mühsam, wie einer, der aufs Schafott steigt, schleppte er sich die Treppe hoch, seine nass gewordenen Schuhe schmatzten bei jedem Schritt. Als er eben auf dem ersten Treppenabsatz angekommen war, hörte er unten eine Tür aufgehen; seufzend blieb er stehen.
»Wieder mal schrecklich laut gewesen heute Nacht«, rief Mr Poole anklagend hinauf. »Kein Auge zugemacht.«
Quirke drehte sich um. Poole stand wie gewohnt seitlich in seiner nur einen Spaltbreit geöffneten Wohnungstür, weder richtig drin noch richtig draußen, und zog ein trotziges und gleichzeitig verängstigtes Gesicht. Ein echter Frühaufsteher, falls er überhaupt je schlief. Er trug einen ärmellosen Pullover, eine Fliege, Baumwollhosen mit scharfer Bügelfalte und graue Filzpantoffeln. Quirke fand immer, er sah aus wie der Vater eines Kampffliegers in einem dieser »Schlacht um England«-Filme oder, besser noch, wie der Vater der Freundin des Kampffliegers.
»Guten Morgen, Mr Poole«, sagte Quirke höflich-distanziert; mitunter war der Bursche eine ganz nette Abwechslung, aber heute früh war Quirke nicht nach netten Abwechslungen zumute.
In Pooles fahlem Tölpelauge funkelte die Rachgier. Er hatte die Angewohnheit, ständig den Unterkiefer malmend von einer Seite zur andern zu schieben.
»Die ganze Nacht, ununterbrochen«, jammerte er. Die anderen Wohnungen im Haus standen alle leer, bis auf die von Quirke oben im dritten Stock, aber Poole beschwerte sich permanent über nächtlichen Lärm. »Scheußlich, die ganze Zeit wumm-wumm-wumm.«
Quirke nickte.»Furchtbar. Ich war übrigens gar nicht daheim.«
Poole guckte kurz hinter sich ins Zimmer und dann wieder hoch zu Quirke. »Mir selber macht das ja nichts aus«, sagte er und senkte die Stimme, um flüsternd fortzufahren: »aber meiner Frau.« Das war eine neue Wendung. Mrs Poole, die man fast nie zu Gesicht bekam, war eine winzige Person mit großen, unstet und verschreckt dreinblickenden Augen, und Quirke wusste hundertprozentig, dass sie stocktaub war. »Ich habe mich in aller Form beschwert. Ich erwarte, dass etwas getan wird, hab ich gesagt.«
»Recht so!«
Poole kniff die Augen zusammen, argwöhnte Ironie.
»Das wollen wir doch mal sehen«, sagte er drohend. »Das wollen wir doch mal sehen.«
Quirke ging weiter die Treppe hoch; erst, als er oben vor seiner Wohnungstür stand, hörte er, wie Poole die seine ins Schloss zog.
Kühl und abweisend stand die Luft im Wohnzimmer, wo der Regen leise vor den beiden hohen Fenstern rauschte, Relikte einer wohlhabenderen Epoche, die für Quirke selbst an noch so trüben Tagen immer irgendwie von einem matten Strahlen erfüllt waren, was er eigentümlich deprimierend fand. Er öffnete das silberne Zigarettenetui auf dem Kaminsims, aber es war leer. Er kniete sich hin und schaffte es mit einiger Mühe, mit der kleinen Flamme seines Feuerzeugs die Zündflamme des Gasfeuers anzumachen. Als er seinen achtlos über einen Sessel geworfenen Regenmantel sah, der die ganze Zeit hier im Trockenen gelegen hatte, ärgerte er sich. Dann stand er wieder auf, zu schnell, und sah einen Moment lang Sterne. Als sein Blick wieder klar war, fiel ihm ein Foto ins Auge, das in einem Schildpattrahmen auf dem Kaminsims stand: Malachy Griffin, Sarah, er selbst als Zwanzigjähriger, und Delia, seine damals zukünftige Frau, die lachend mit ihrem Schläger in die Kamera zeigte, alle in weißem Tenniszeug, Arm in Arm bei strahlendem Sonnenschein auf den Betrachter zukommend. Er erschrak ein bisschen, als er feststellte, dass er sich nicht erinnern konnte, wo dieses Foto aufgenommen worden war; in Boston wahrscheinlich, ja, das musste in Boston gewesen sein – aber hatten sie in Boston denn Tennis gespielt?
Er zog den feuchten Anzug aus, schlüpfte in seinen Morgenrock und setzte sich barfuß vor den Kamin, in dem das Gasfeuer brannte. Dann sah er sich in dem großen, hohen Zimmer um und grinste freudlos: seine Bücher, seine Grafiken, sein Orientteppich – sein Leben. Mit Anfang vierzig – zehn Jahre jünger als das Jahrhundert. Die neunzehnfünfziger Jahre hatten eine neue Ära mit Glück und Wohlstand für alle verheißen;sie hielten nicht, was sie versprochen hatten. Sein Blick blieb an einer etwa dreißig Zentimeter hohen hölzernen Künstlerpuppe hängen, die mit ihren gelenkigen Gliedern in stolzgeschwellter Pose auf dem flachen Telefontischchen am Fenster stand. Er wandte sich ab, legte die Stirn in Falten, doch dann stand er mit gequältem Seufzen auf, ging zu der Figur hinüber und brachte sie in eine demütig-niedergeschlagene Haltung, die besser zu seiner düsteren Morgenstimmung und dem immer schlimmer werdenden Kater passte. Dann kehrte er zurück zu seinem Sessel und setzte sich wieder hin. Der Regen hörte auf, es herrschte Stille, nur das Fauchen der Gasflamme war zu hören. Ihm brannten die Augen, sie fühlten sich an wie gekocht; er machte sie zu und schauderte, als die Lider aufeinandertrafen und ihre entzündeten Ränder sich einen grausigen kleinen Kuss gaben. Und plötzlich sah er den Moment auf diesem Foto deutlich vor sich: das Gras, den Sonnenschein, die großen heißen Bäume und sie zu viert, im Vorwärtsschreiten, jung und grazil und lächelnd. Wo war das bloß? Wo nur? Und wer hatte hinter der Kamera gestanden?
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Die Mittagspause war schon vorbei, als er sich endlich dazu aufraffen konnte, sich zur Arbeit zu schleppen. Bei seinem Auftauchen in der Pathologie wechselten Wilkins und Sinclair, seine beiden Assistenten, einen vielsagenden Blick. »Morgen, Männer«, rief Quirke. »Ich meine, Mahlzeit.« Er drehte sich um und hängte Hut und Regenmantel auf; Sinclair grinste Wilkins an; er hob ein imaginäres Glas zum Munde und tat, als ob er es in einem Zug austrank. Sinclair, ein koboldhafter Bursche mit sichelkrummer Nase und glänzenden schwarzen Locken, die ihm in die Stirn fielen, war der Komiker der Abteilung. Quirke ließ an einem der stählernen Waschbecken, die in einer Reihe an der Wand hinter dem Sektionstisch angebracht waren, einen Becher voll Wasser laufen und trug ihn vorsichtig und mit nicht ganz ruhiger Hand in sein Dienstzimmer. Er suchte in dem Durcheinander in seiner Schreibtischschublade nach den Aspirintabletten, und während er sich, wie stets, darüber wunderte, was sich in diesem Schubfach alles angesammelt hatte, fiel sein Blick auf Malachys Füller, der auf der Schreibtischunterlage lag; die Kappe war abgeschraubt, und an der Feder war angetrocknete Tinte. Sehr untypisch für Malachy, seinen kostbaren Füller so rumliegen zu lassen, und obendrein auch noch unzugeschraubt. Quirke legte die Stirn in Falten und tappte in Gedanken durch den Alkoholnebel zurück zu dem Moment, ganz früh am Morgen, als er Malachy hier überrascht hatte. Der Füller war der Beweis, dass das Ganze doch kein Traum gewesen war, aber irgendetwas stimmte nicht mit dieser Szene, an die er sich erinnerte, ja, da stimmten so einige Dinge nicht, und die Tatsache, dass Malachy hier an seinem Schreibtisch gewesen war, wo er doch überhaupt nichts zu suchen hatte, und schon gar nicht um diese nachtschlafende Zeit, war nur eines davon.
Quirke drehte sich um und machte sich auf den Weg in die Leichenhalle, dort ging er zu der Bahre von Christine Falls, zog das Laken weg und fuhr erschrocken zurück, denn vor ihm lag der Leichnam einer alten Frau mit Halbglatze und Damenbart, deren Augen nicht ganz geschlossen waren und durch deren dünne, blutleere, einen Spaltbreit geöffnete Lippen er den oberen Rand einer unangemessen weißen Zahnprothese blitzen sah. Hoffentlich hatten die zwei Assistenten nicht gemerkt, wie er zusammengezuckt war.
Er ging wieder in sein Dienstzimmer, nahm die Akte Christine Falls aus dem Aktenschrank und setzte sich damit an den Schreibtisch. Das Kopfweh war jetzt richtig schlimm, so ein anhaltendes dumpfes Hämmern tief unten im Hinterkopf. Er schlug die Akte auf. Die Handschrift war ihm unbekannt, seine eigene war es jedenfalls nicht und auch nicht die von Sinclair oder Wilkins, und die Unterschrift war ein unleserliches, kindliches Krickelkrakel. Das Mädchen kam vom Lande, aus Wexford oder Waterford, eins von beiden, genau konnte er es nicht entziffern, die Schrift war einfach zu schlecht. Als Todesursache war Pulmonalembolie angegeben; sehr jung, dachte er beiläufig, für eine Embolie. Hinter ihm trat mit quietschenden Kreppsohlen Wilkins ins Zimmer. Wilkins war ein großohriger, schmalköpfiger Protestant, schon dreißig Jahre alt, aber linkisch wie ein Schuljunge; er war von einer unerschütterlichen, geradezu überbordenden Höflichkeit, die einen schier rasend machen konnte.
»Das hier ist für Sie abgegeben worden, Mr Quirke«, sagte er und legte Quirkes Zigarettenetui auf den Schreibtisch. Er hüstelte. »Eine von den Krankenschwestern hat es gehabt.«
»Ach ja«, sagte Quirke. »Richtig.« Und dann starrten sie beide das dünne silberne Etui an, als erwarteten sie, dass es sich jeden Moment bewegte. Quirke räusperte sich. »Welche Schwester denn?«
»Ruttledge.«
»Verstehe.« Das Schweigen kam einer Aufforderung gleich, sich zu erklären. »Im Fünften war letzte Nacht so ’ne kleine Party. Da muss ich’s wohl da oben vergessen haben.« Er nahm eine Zigarette aus dem Etui und zündete sie an. »Dieses Mädchen«, sagte er schroff und hob die Akte hoch, »diese Frau, Christine Falls – wo ist die eigentlich abgeblieben?«
»Wie war noch gleich der Name, Mr Quirke?«
»Falls. Christine. Sie muss irgendwann gestern Abend gebracht worden sein, und jetzt ist sie weg. Wohin?«
»Ich weiß nicht, Mr Quirke.«
Quirke seufzte über der aufgeschlagenen Akte; wenn dieser Wilkins doch bloß aufhören würde, ihn jedes Mal, wenn er ihn aufforderte, etwas zu sagen, auf diese kriecherisch servile Weise mit seinem Namen anzusprechen. »Und die Freigabe«, sagte er, »wo ist die?«
Wilkins ging in die Leichenhalle. Quirke durchsuchte von neuem die Schreibtischschublade, und diesmal fand er das Aspirinröhrchen; es war nur noch eine Tablette drin.
»Hier, bitte, Mr Quirke.«
Wilkins legte ihm das dünne rosa Papier auf den Schreibtisch. Quirke sah sofort, dass die unleserliche Unterschrift mehr oder minder mit der in der Akte identisch war. Und plötzlich ging ihm auf, was an Malachys Haltung letzte Nacht hier am Schreibtisch so merkwürdig gewesen war: Malachy war Rechtshänder, aber geschrieben hatte er mit der linken Hand.
Mr Malachy Griffin machte seine Nachmittagsvisite auf der Pränatalen. Im Nadelstreifendreiteiler mit roter Fliege wanderte er von Station zu Station, stocksteif, kerzengerade, den schmalen Kopf hoch haltend, eine Herde beflissen hinter ihm herlatschender Studenten im Schlepptau. Bei jedem Zimmer blieb er einen Moment lang theatralisch auf der Türschwelle stehen, rief: »Einen schönen Nachmittag, die Damen, na, wie geht’s uns denn heute?«, und ließ mit breitem, strahlendem und ein ganz klein wenig kummervollem Lächeln den Blick durch den Raum schweifen. Dann kam Bewegung in die Frauen, die träge mit ihren großen Bäuchen auf den Betten lagen; in banger Erwartung zupften sie sich die Kragen ihrer Bettjäckchen zurecht, ordneten mit einem raschen Handgriff ihre Frisur und schoben eilig ihre Puderdosen und die in Vorbereitung auf seinen Besuch herausgeholten Taschenspiegel unters Kopfkissen. Er war der begehrteste Geburtshilfe-Doktor der Stadt. Obwohl er so berühmt war, hatte er eine gewisse Zaghaftigkeit an sich, die all die werdenden Mütter einfach unwiderstehlich fanden. Die Ehemänner seufzten, wenn ihre Frauen während der Besuchszeit anfingen, von Mr Griffin zu schwärmen, und so mancher kleine Junge, der hier im Holy Family Hospital das Licht der Welt erblickte, musste den Hindernislauf des Lebens mit dem Namen Malachy antreten, was in Quirkes Augen ein nicht unbeträchtliches Handicap war.
»Na prima, meine Damen, Sie sind fantastisch, absolut fantastisch – ganz fantastisch alle miteinander!«
Quirke hielt sich am Ende des Korridors im Hintergrund und beobachtete mit verkniffenem Lächeln, wie Malachy in seinem Reiche Hof hielt. Quirke schnupperte. Seltsam, hier oben zu sein, wo alles nach Leben roch, und obendrein auch noch nach neugeborenem Leben. Als Malachy die letzte Station seines Rundgangs hinter sich hatte, sah er Quirke und verzog das Gesicht.
»Kann ich dich mal kurz sprechen?«, sagte Quirke.
»Du siehst doch, ich bin mitten bei der Visite.«
»Ganz kurz bloß.«
Malachy seufzte und bedeutete seinen Studenten, doch schon mal weiterzugehen. Sie liefen ein paar Schritte und blieben stehen, die Hände in den Taschen ihrer weißen Kittel vergraben, und so manch einer musste sich ein dreckiges Grinsen verkneifen: Schließlich war allgemein bekannt, dass Quirke und Mr Griffin nicht viel füreinander übrig hatten.
Quirke reichte Malachy den Füller. »Den hast du liegen lassen.«
»Ach, tatsächlich?«, sagte Malachy in neutralem Ton. »Danke.«
Er steckte den Füller in die Innentasche seiner Anzugjacke; mit wie viel Umsicht Malachy selbst die kleinste Verrichtung ausführte, dachte Quirke, wie viel Gewicht er selbst den trivialsten Angelegenheiten des Lebens beimaß, wie viel Bedachtsamkeit.
»Dieses Mädchen«, sagte Quirke, »diese Christine Falls.«
Malachy zwinkerte und sah kurz zu den wartenden Studenten hinüber, dann wandte er sich wieder Quirke zu und schob sich die Brille hoch.
»Ja?«, sagte er.
»Ich hab die Akte gelesen, die, die du letzte Nacht rausgeholt hattest. Gab’s da ein Problem?«
Malachy knispelte mit Daumen und Zeigefinger an seiner Unterlippe herum; auch so eine Angewohnheit von ihm, genau wie das ewige Herumnesteln an seiner Brille, das Nasezucken, und dass er andauernd laut mit den Fingern knackte. Im Grunde war der Mann seine eigene Karikatur, ging es Quirke durch den Kopf.
»Ich hab mich bloß mal kurz über ein paar Details des Falles informiert«, sagte Malachy in bemüht lässigem Ton.
Quirke zog die Augenbrauen übertrieben hoch. »Des Falles?«, fragte er.
Malachy zuckte ungeduldig die Achseln. »Was interessiert dich denn daran so sehr?«
»Nun, zuerst einmal ist sie verschwunden. Ihre Leiche wurde –«
»Davon ist mir nichts bekannt. Hör mal, Quirke, ich hab noch eine Menge zu tun heute Nachmittag – also, wenn du nichts dagegen hast …«
Er machte Anstalten zu gehen, aber Quirke griff nach seinem Arm.
»Diese Abteilung ist mein Zuständigkeitsbereich, Malachy. Du hältst dich da raus, in Ordnung?«
Er ließ Malachys Arm los, und Malachy drehte sich mit leerer Miene um und ging eilig davon. Quirke sah, wie er seinen Schritt beschleunigte und die Studenten wie Gänseküken hinter ihm herwatschelten. Daraufhin machte auch Quirke kehrt, stieg die geradezu grotesk elegante Treppe zum Untergeschoss hinunter und verzog sich in sein Dienstzimmer, wo er sich unter Sinclairs Augen, deren wachsamer Blick ihm keineswegs entging, an den Schreibtisch setzte und abermals die Akte Christine Falls aufschlug. Währenddessen klingelte das Telefon, das wie eine dicke Kröte neben ihm hockte und dessen gebieterisches Gebimmel ihn auch diesmal wieder zusammenzucken ließ. Als er die Stimme am anderen Ende der Leitung vernahm, entspannte sich seine Miene. Er hörte kurz zu, dann sagte er: »Halb fünf?«, und legte auf.
Die Abendluft war mild und schimmerte grünlich. Quirke stand auf dem breiten Gehweg unter den Bäumen, rauchte die letzten paar Züge einer Zigarette und schaute hinüber zu dem jungen Mädchen, das vis-à-vis auf den Stufen des Shelbourne Hotels wartete. Sie trug ein weißes Sommerkleid mit roten Tupfen und ein kesses weißes Hütchen mit einer Feder. Sie hatte das Gesicht nach rechts gewandt, den Blick zur Ecke Kildare Street. Die sanfte Brise ließ den Rocksaum ihres Kleides leise wehen. Es gefiel ihm gut, wie sie dort stand, wachsam und voller Selbstbeherrschung, Kopf und Schultern zurückgebogen, die zierlich beschuhten Füße hübsch ordentlich nebeneinander, die Hände mit Handtasche und Handschuhen in Höhe der Taille. Sie erinnerte ihn so sehr an Delia. Ein olivgrünes Fuhrwerk mit einem schokoladenbraunen Clydesdale kam vorüber. Quirke hob den Kopf und atmete die Gerüche des Spätsommers ein: Staub, Pferd, Laub, Dieselabgase, vielleicht sogar, in seiner Einbildung, ein Hauch von dem Parfum des Mädchens.
Als er die Straße überquerte, stieß er um ein Haar mit einem grünen Doppeldeckerbus zusammen, der ihn giftig anhupte. Das Mädchen drehte den Kopf und sah gleichmütig zu, wie er im wabernden Wechselspiel von Licht und Schatten über die Fahrbahn auf sie zukam, den Regenmantel überm Arm, eine Hand steif in der Tasche seines zweireihigen Jacketts und auf dem Kopf, gefährlich schräg, den braunen Hut. Sie registrierte sein konzentriertes Stirnrunzeln und seine unglaublich kleinen Füße, auf denen er sich scheinbar nur mit Mühe fortbewegen konnte. Sie kam die Treppe hinunter, um ihn zu begrüßen.
»Ist das dein neues Hobby«, sagte sie, »auf so eine Art heimlich Mädchen zu beobachten?«
Quirke blieb vor ihr stehen, einen Fuß auf der Bordsteinkante. »Auf was für eine Art?«, fragte er.
»Wie ein Gangster, der eine Bank auskundschaftet.«
»Kommt ganz auf das Mädchen an. Gibt’s denn bei dir was zu rauben?«
»Kommt ganz darauf an, auf was du aus bist.«
Sie schwiegen einen Augenblick, musterten einander, dann lächelte das Mädchen.
»Hallo, Onkelchen«, sagte sie.
»Hallo, Phoebe. Na, wo brennt’s denn?«
Sie verzog das Gesicht, zuckte die Achseln.
»Frag lieber, wo’s nicht brennt.«
Sie saßen in der Hotelhalle auf zierlichen vergoldeten Sesselchen bei Tee und einem Teller voll winziger Sandwichs sowie einer zweistöckigen Etagere voll ebenso winziger Kuchenstückchen. In dem hohen, überladen wirkenden Raum herrschte reges Treiben. Es war Freitagabend, die Pferdenarren aus der Umgebung hatten sich versammelt, alle in Tweed und festem Schuhwerk und alle mit schmetternden Stimmen, bemüht, sich gegenseitig zu übertönen; Quirke machte das Getümmel nervös, er wand sich vor Unbehagen und kam sich von den geschwungenen Armlehnen des vergoldeten Sessels regelrecht in die Zange genommen vor. Phoebe hingegen fühlte sich sichtlich wohl und genoss die Gelegenheit, die gesetzte junge Dame zu spielen, die Tochter von Dr. Griffin, dem bekannten Arzt aus Rathgar. Quirke betrachtete sie über seine Teetasse hinweg und freute sich daran, dass sie sich freute. Sie hatte den Hut abgenommen und ihn neben ihren Teller gelegt, wo er mit seiner träge herabhängenden Feder wie ein Tischschmuck aussah. Ihr gewelltes Haar war so schwarz, dass die Täler zwischen den einzelnen Wellen bläulich schimmerten. Sie hatte die gleichen lebhaften blauen Augen wie ihre Mutter. Für seinen Geschmack war sie zu stark geschminkt – der Lippenstift entschieden zu aufdringlich für ein junges Mädchen ihres Alters –, aber er verkniff sich eine entsprechende Bemerkung. Auf der gegenüberliegenden Seite des Saals, in der Ecke, saß ein schon etwas betagterer Bursche mit militärischem Habitus, glänzender Glatze und Monokel, der ihn die ganze Zeit mit empört-beleidigter Miene anstarrte. Phoebe griff nach einem der winzigen Éclairs, schob es sich ganz in den Mund, kaute mit beiden Backen, riss dabei weit die Augen auf und musste über sich selbst lachen.
»Was macht dein Freund?«, fragte Quirke.
Sie zuckte die Achseln und schluckte kräftig runter. »Dem geht’s gut.«
»Studiert er immer noch Jura?«
»Macht nächstes Jahr sein Anwaltsexamen.«
»Ach, doch schon, ja? Na, ist ja toll.«
Sie warf einen Kuchenkrümel nach ihm; aus der Ecke vis-à-vis kam ein wütendes Monokelblitzen.
»Sei doch nicht so sarkastisch«, sagte sie. »Du bist immer so sarkastisch.« Ihr Gesicht verdüsterte sich, sie schaute in ihre Tasse. »Die wollen mich zwingen, mich von ihm zu trennen. Darum hab ich dich doch angerufen.«
Er nickte, verzog aber keine Miene. »Wer die?«
Sie warf heftig den Kopf zurück, ihre Dauerwellen hüpften. »Na alle«, sagte sie. »Daddy natürlich. Sogar Großpapa.«
»Und deine Mutter?«
»Die?«, sagte sie und lachte höhnisch. Dann zog sie eine Schnute und sagte in gespielt vorwurfsvollem Ton: »Hör zu,Phoebe,du musst doch auch mal an die Familie denken,an den Ruf,den dein Vater hat. Diese Heuchler!« Sie funkelte ihn wütend an, aber plötzlich musste sie lachen, schlug sich aber sogleich mit der Hand auf den Mund. »Was machst du denn für ein Gesicht!«, rief sie. »Stimmt’s, du kannst es nicht ertragen, wenn einer ein Wort gegen sie sagt?«
Er ließ ihre Frage unbeantwortet. »Und was soll ich jetzt tun?«, fragte er seinerseits.
»Mit ihnen reden«, sagte sie, indem sie sich rasch über den Tisch vorbeugte und die Hände vor der Brust faltete. »Sprich mit Daddy – oder sprich mit Großpapa, du bist doch schließlich sein Liebling, und Daddy macht alles, was Großpapa sagt.«
Quirke holte sein Zigarettenetui und das Feuerzeug heraus. Phoebe schaute zu, wie er die Zigarette auf den Daumennagel klopfte. Er sah, dass sie sich überlegte, ob sie ihn bitten sollte, ihr auch eine zu geben. Er blies eine Rauchwolke zur Decke und zupfte sich einen Tabakkrümel von der Unterlippe ab. »Du hast doch hoffentlich nicht ernsthaft vor, diesen Komiker zu heiraten?«, sagte er.
»Wenn du damit Conor Carrington meinst – der hat mich nicht gefragt. Bis jetzt.«
»Wie alt bist du?«
»Zwanzig.«
»Du schwindelst doch.«
»Aber bald.«
Er lehnte sich auf dem niedrigen Sessel zurück und betrachtete sie.
»Aber du willst doch wohl nicht wieder durchbrennen, oder?«
»Ich trage mich mit dem Gedanken wegzugehen. Weißt du, ich bin kein Kind mehr. Wir leben schließlich nicht im finsteren Mittelalter, sondern mitten im zwanzigsten Jahrhundert. Aber wenn ich schon nicht Conor Carrington heiraten darf, dann kann ich mich doch wenigstens von dir entführen lassen.«
Er lachte, und der kleine Sessel meldete sogleich hörbar Protest an. »Nein danke.«
»Das wäre noch nicht mal Inzest. Du bist ja bloß mein angeheirateter Onkel.«
Aber plötzlich passierte etwas mit ihrem Gesicht, sie biss sich auf die Unterlippe, senkte den Blick und fing an, in ihrem Täschchen herumzukramen. Erschrocken sah er eine Träne auf ihren Handrücken fallen. Er schaute rasch hinüber zu dem Mann mit dem Monokel, der aufgestanden war, sich mit grimmig entschlossener Miene seinen Weg durch die Tischreihen bahnte und direkt auf sie zukam. Phoebe fand ihr Taschentuch, nach dem sie gesucht hatte, und schnaubte sich herzhaft die Nase. Inzwischen war der Monokelmann schon fast bei ihnen angelangt, und Quirke – obwohl er keine Ahnung hatte, womit er den Groll des anderen auf sich zog – machte sich innerlich auf eine Konfrontation gefasst, doch der Mann stapfte an ihrem Tisch vorbei, entblößte grinsend sein Pferdegebiss, reichte irgendwem, der hinter Quirke stand, die Hand und sagte: »Trevor! Hab ich mir doch gleich gedacht, dass du das bist …«
Phoebes Gesicht war verschmiert, unter dem einen Auge hatte sie eine ölig schwarze Pierrotschliere von der Wimperntusche. »Ach, Onkelchen«, jammerte sie leise, »ich bin ja so unglücklich.«
Quirke drückte seine Zigarette in dem Aschenbecher aus, der auf dem Tisch stand. »Um Himmels willen, jetzt beruhige dich doch mal«, brummte er; er hatte immer noch Kopfweh.
Phoebe, nach wie vor mit Tränen in den Augen, sah ihn finster an. »Jetzt sag du mir nicht auch noch, dass ich mich beruhigen soll!«, schimpfte sie. »Alle sagen dauernd bloß, ich soll mich beruhigen. Ich kann das nicht mehr hören!« Sie knipste ihre Tasche zu und stand auf, und dabei sah sie sich zögernd nach rechts und links um, als sei sie sich nicht ganz sicher, wo sie war. Quirke, immer noch im Sessel sitzend, sagte ihr, sie solle sich doch um Gottes willen wieder hinsetzen, doch sie hörte nicht auf ihn. Die Leute an den Nachbartischen guckten schon rüber. »Ich muss hier raus«, sagte sie und ging.
Quirke zahlte und holte sie draußen auf der Treppe ein. Sie hatte schon wieder das Taschentuch an den Augen. »Du siehst ja schrecklich aus«, sagte er. »Na los, geh nochmal rein und bring dein Gesicht in Ordnung.«
Gehorsam ging sie ins Hotel zurück. Er steckte sich noch eine Zigarette an und wartete in dem durch ein Geländer abgetrennten Bereich neben der Glastür auf sie. Der Tag war fast zu Ende, die Bäume auf dem Rasen warfen schräge Schatten quer über die Straße; nicht mehr lange, und es wäre Herbst. Als er gerade das satte Licht auf den Backsteinfassaden der Häuser gegenüber an der Hume Street bewunderte, kam Phoebe zurück und hakte sich bei ihm ein. »Komm«, sagte sie, »bring mich irgendwohin. In irgendeinen üblen Schuppen.« Sie drückte sich an ihn und lachte tief und kehlig. »Ich will ein bööööses Mädchen sein.«
Sie schlenderten über den Rasen in Richtung Grafton Street. Es wimmelte von Spaziergängern, die den letzten Rest dieses schönen Tages genießen wollten, der so unschön angefangen hatte. Phoebe ging dicht neben ihm her, hatte ihn immer noch untergehakt; er spürte die Wärme ihrer Hüfte, ihr festes Fleisch und darin die sanfte Bewegung des Gelenks. Und auf einmal musste er wieder an Christine Falls denken, die bleich und wächsern auf ihrer Bahre gelegen hatte. »Was macht das Studium?«, fragte Quirke.
Phoebe zuckte die Achseln. »Ich werd wohl wechseln«, sagte sie. »Geschichte ist mir zu langweilig.«
»Ach ja? Und was willst du stattdessen machen?«
»Vielleicht Medizin. Mich in die Familientradition einreihen.« Quirke sagte nichts. Sie drückte wieder seinen Arm. »Weißt du, ich will wirklich ausziehen. Wenn die mich nicht mein eigenes Leben leben lassen, dann hau ich eben ab.«
Quirke schaute zu ihr hinunter und lachte. »Und wovon willst du leben? Kaum anzunehmen, dass dir dein Vater dieses freie Künstlerleben finanziert, auf das du so erpicht bist.«
»Ich geh arbeiten. In Amerika machen sie das auch so. Ich hatte mal eine Brieffreundin, die hat sich ihr ganzes Studium alleine erarbeitet. Mein Studium erarbeite ich mir ganz alleine, hat sie mir geschrieben. Stell dir das mal vor.«
Sie bogen in die Grafton Street ein und kamen zu Mc-Gonagle. Als Quirke die schwere Tür mit den rot-grünen Bleiglasscheiben öffnete, schlugen ihnen Lärm, Bierdunst und Zigarettenrauch entgegen. Das Pub war trotz der frühen Stunde schon brechend voll.
»Häh?«, machte Phoebe, »und das hier soll ein übler Schuppen sein?«
Sie folgte Quirke, der den Weg zur Theke bahnte. Neben einer viereckigen Holzsäule, in die ein schmaler Spiegel eingelassen war, fanden sie noch zwei freie Barhocker. Phoebe zog sich zum Hinsetzen den Rock hoch und lächelte. Ja, dachte Quirke, sie hat tatsächlich Delias Lächeln. Als sie sich hingesetzt hatten, sah er in dem Spiegel hinter ihrem Rücken sein Konterfei und bat sie, die Plätze zu tauschen, denn es war ihm immer unangenehm, sich selber ins Gesicht sehen zu müssen.
»Was möchtest du?«, fragte er, während er den Finger hob, um den Zapfer heranzuwinken.
»Was darf ich denn?«
»Sarsaparilla.«
»Gin. Ich will Gin.«
Er zog die Brauen hoch. »Soso.«
Der Zapfer war ein krummer älterer Mann, der in seinem Gebaren an einen Priester erinnerte.
»Für mich das Übliche, Davy«, sagte Quirke, »und für die junge Dame hier einen Gin Tonic. Mehr Tonic als Gin.« McGonagle war früher eine seiner Stammkneipen gewesen, damals, als er noch richtig schwer getrunken hatte.
Davy nickte schniefend und schlurfte los. Phoebe sah sich in der verräucherten Gaststube um. Eine üppige, rotwangige Frau in Lila, die ein Glas Stout in der beringten Hand hielt, zwinkerte ihr zu und zeigte lächelnd ihr lückenhaftes, tabakgelbes Gebiss;der dazugehörige Mann war mager wie ein Windhund und hatte farbloses, glattes Haar, das wie angebacken aussah.
»Sind die jemand?«, fragte Phoebe leise; McGonagle war berühmt als Treffpunkt für selbsternannte Dichter und ihre Musen.
»Hier ist jeder jemand«, sagte Quirke.»Oder hält sich zumindest dafür.«
Davy, der Zapfer, kam mit ihren Drinks. Merkwürdig, sinnierte Quirke, dass ihm der Whiskey oder der Alkohol überhaupt eigentlich nie wirklich geschmeckt hatte; selbst in den wilden Zeiten nach Delias Tod war ihm dieser säuerlich brennende Geschmack immer ein bisschen zuwider gewesen, obwohl er es natürlich trotzdem fertiggebracht hatte, das Zeug literweise in sich reinzuschütten. Er war kein geborener Trinker;solche gab es nach seiner Überzeugung auch, aber zu denen gehörte er nicht. Vermutlich war er dadurch davor bewahrt geblieben, sich ganz und gar kaputt zu machen, damals in den langen, tränenreichen Jahren der Trauer um seine verstorbene Frau.
Er hob sein Glas und stieß mit dem Mädchen an. »Auf die Freiheit«, sagte er.
Sie starrte in ihren Drink und sah zu, wie die Eiswürfel zwischen den Bläschen herumstrudelten. »Du, wirklich, wenn’s um Mummy geht, wirst du jedes Mal weich«, sagte sie. Mummy. Das Wort ließ ihn einen Herzschlag lang zusammenzucken. Ein hochgewachsener Mann mit hoher, glatter Stirn ging vorbei und zwängte sich seitlich durch die Menge. Quirke erkannte ihn wieder, es war dieser Trevor, den der Mann mit dem Monokel vorhin im Hotel begrüßt hatte und für den er extra quer durch den ganzen Raum gegangen war. Die Welt ist klein; zu klein. »Du warst mal in sie verliebt«, sagte Phoebe, »früher, vor vielen Jahren, und das bist du heute immer noch. Ich weiß Bescheid.«
»Ich war in ihre Schwester verliebt – ich hab sie sogar geheiratet, ihre Schwester.«
»Aber bloß, weil Mummy dir einen Korb gegeben hat. Die, die du eigentlich haben wolltest, hat Daddy abgekriegt, und darum musstest du Tante Delia heiraten.«
»Du sprichst von einer Toten.«
»Ich weiß. Ich bin schrecklich, nicht wahr? Aber recht hab ich trotzdem. Fehlt sie dir sehr?«
»Wer?« Sie klopfte ihm so kräftig mit dem Fingerknöchel aufs Handgelenk, dass die Feder an ihrem Hut ordentlich auf und ab wippte und mit der Spitze seine Stirn streifte. »Das ist zwanzig Jahre her«, sagte er. Und dann, nach einer Pause: »Ja, sie fehlt mir.«
Sarah setzte sich auf den Plüschhocker vor der Frisierkommode und betrachtete sich prüfend im Spiegel. Sie trug ein scharlachrotes Seidenkleid, aber inzwischen fragte sie sich, ob das nicht ein Fehler war. Sie würden sie schärfstens beobachten, wie sie es immer taten – nicht offen natürlich –, und nach irgendwas suchen, das sie ablehnen konnten, nach irgendwelchen Indizien dafür, dass sie anders war, irgendwelchen Belegen dafür, dass sie eigentlich gar nicht richtig mit dazugehörte. Jetzt lebte sie schon seit – ja, wie lange eigentlich? Seit fünfzehn Jahren? – unter ihnen, aber akzeptiert hatten die sie immer noch nicht und würden es auch nie tun, am allerwenigsten die Frauen. Sie lächelten, sie schmeichelten ihr, sie warfen ihr ein paar nichtssagende Konversationsbrocken hin und behandelten sie wie ein exotisches Tier im Zoo. Wenn sie etwas sagte, hörten sie übertrieben aufmerksam zu, nickten und lächelten aufmunternd, wie man es mit kleinen Kindern macht oder mit jemandem, der nicht alle Tassen im Schrank hat. Sarah konnte schon im Voraus hören, wie ihre Stimme vor Anstrengung zittern würde, wenn sie einfach nur etwas ganz Normales sagen wollte, wie die Sätze aus ihrem Mund purzeln und den anderen kraftlos vor die Füße fallen würden. Und was sie immer für ein Gesicht zogen, wie sie höfliches Erstaunen heuchelten, wenn sie sich einmal vergaß und einen amerikanischen Ausdruck gebrauchte. Wie interessant, sagten sie dann, dass Sie immer noch Ihren Akzent behalten haben, und fügten gleich hinzu: immer noch, nach all den Jahren, als wäre sie von den ersten transatlantischen Bukaniern hier eingeschleppt worden, wie der Tabak oder der Truthahn. Sie seufzte. Doch, das Kleid war ein Fehler, aber sie merkte, dass sie einfach nicht die Kraft hatte, ein anderes anzuziehen.
Malachy kam ohne Schlips und Kragen, nur in Hemd und Hosenträgern aus dem Badezimmer und hielt ihr ein paar Manschettenknöpfe hin.
»Kannst du mir die vermaledeiten Dinger mal bitte reinmachen?«, grummelte er verdrossen.
Er streckte die Arme aus, und Sarah stand auf, nahm sich die fitzeligen, kalten Knöpfe vor und schob sie in die Knopflöcher. Die zwei vermieden es, einander anzusehen: Malachy guckte mit leerem Blick, geschürzten Lippen und abgewandtem Gesicht an die Decke. Wie empfindlich und fahl die Haut innen an seinen Handgelenken war. Das war das Erste gewesen, was ihr an ihm aufgefallen war, damals vor zwanzig Jahren, als sie sich kennengelernt hatten, wie weich er war, wie seidenweich, vom Kopf bis zu den Füßen, dieser große, zarte, verletzliche Mann.
»Ist Phoebe zu Hause?«, fragte er.
»Sie wird schon nicht zu spät kommen.«
»Das möchte ich ihr aber auch geraten haben, ausgerechnet heute Abend.«
»Du bist zu streng mit ihr, Malachy.«
Er presste die Lippen noch fester zusammen. »Geh du mal lieber nachsehen, ob mein Vater schon da ist«, sagte er. »Du weißt doch ganz genau, wie pedantisch er ist.« Sie überlegte, wann das eigentlich angefangen hatte, wann sie angefangen hatten, in diesem gestelzten, gereizten Ton miteinander zu reden, wie zwei Fremde, die im Fahrstuhl festsaßen.
Sie ging hinunter, die Seide ihres Kleides raschelte ihr um die Knie, es klang wie ein unterdrücktes Gekicher. Sie sollte wirklich etwas weniger Dramatisches anziehen, etwas weniger – weniger Bombastisches. Bombastisch – schönes Wort –, sie musste leise lächeln. Normalerweise neigte sie ganz und gar nicht zum Bombast.
Im Esszimmer war Maggie, das Dienstmädchen, und legte das Besteck auf dem Tisch zurecht.
»Ist alles bereit, Maggie?«
Maggie musterte sie mit einem raschen, fragenden Blick, als hätte sie ihre Hausherrin im ersten Moment gar nicht erkannt. Dann nickte sie. Hinten am Saum ihres Servierkleides war ein Fleck, hoffentlich bloß Bratensoße, dachte Sarah. Maggie war schon weit über das Pensionsalter hinaus, aber Sarah brachte es einfach nicht über sich, sie ebenso zu entlassen, wie sie das andere arme Mädchen entlassen hatte. Es klopfte an der Haustür.
»Ich geh schon«, sagte Sarah. Maggie nickte wieder, ohne von den Löffeln aufzublicken.
Sarah öffnete die Tür und kriegte von Garret Griffin unverzüglich einen großen Blumenstrauß in die Hand gedrückt. »Garret«, sagte sie erfreut. »Komm rein.«
Nachdem der alte Mann eingetreten war, kam wieder einmal, wie üblich, der peinliche Moment des Überlegens, wie sie ihn begrüßen sollte, denn einfach küssen ließen sich die Griffins nicht so schnell, nicht einmal Garret. Er zeigte auf die Blumen, die sie im Arm hielt; sie waren auffallend hässlich. »Ich hoffe, die sind in Ordnung«, sagte er. »Ich kenn mich bei so was nicht aus.«
»Sie sind sehr hübsch«, sagte sie und schnupperte vorsichtig an den Blüten; die Herbstastern rochen nach dreckigen Socken. Sie lächelte; Astern hin oder her, sie freute sich einfach, dass er da war. »Sehr hübsch«, sagte sie noch einmal.
Er zog den Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe hinter der Tür. »Bin ich etwa der Erste?«, fragte er, während er sich wieder zu ihr herumdrehte und sich die Hände rieb.
»Alle anderen sind zu spät.«
»Ach herrje«, brummte er, »es ist doch immer dasselbe mit mir – ich komme jedes Mal zu früh!«
»So haben wir wenigstens die Chance, uns ein bisschen zu unterhalten, bevor die anderen alle da sind und dich mit Beschlag belegen.«
Er lächelte und senkte auf seine unbeholfen schüchterne Art den Blick. Ein klein wenig verwundert – aber weshalb wunderte sie das eigentlich? – spürte sie wieder mal, wie sehr sie ihn mochte. Auf der Treppe erschien Malachy, ernst und feierlich in seinem dunklen Anzug mit gedeckter Krawatte. Garret schaute ohne große Begeisterung zu ihm hinauf. »Da bist du ja«, sagte er.
Schweigend standen Vater und Sohn einander gegenüber. Einem inneren Impuls nachgebend, trat Sarah auf die beiden zu, und dabei hatte sie das Gefühl, dass eine unsichtbare, spröde Hülle lautlos von ihr abfiel und ringsherum in tausend Scherben zerbrach. »Schau, was mir Garret mitgebracht hat!«, sagte sie und hielt die abscheulichen Blumen hoch. »Sind die nicht schön?«
Quirke hatte seinen dritten Drink beim Wickel. Er saß schräg an der Theke, hatte den Ellbogen aufgestützt, ein Auge zugekniffen, damit der Zigarettenrauch nicht hineinkam, und hörte mit halbem Ohr zu, wie Phoebe ihre Zukunftspläne vor ihm ausbreitete. Er hatte ihr noch einen zweiten Gin erlaubt, und nun glänzten ihre Augen, und eine leichte Röte überzog ihre Stirn. Sie redete und redete, und die Feder an ihrem Hütchen zitterte im Takt zu ihrem aufgeregten Geplapper. Der Mann neben ihnen, der mit dem angebackenen Haar, warf ihr, sehr zum Ärger seiner dicken Begleiterin, einen verstohlenen Blick nach dem anderen zu, doch Phoebe schien diesen Burschen mit seinen Fischaugen gar nicht zu bemerken. Quirke lächelte stillvergnügt in sich hinein und kam sich nur ein ganz klein wenig töricht vor, weil es ihm solche Freude machte, sie hier neben sich zu haben in ihrem Sommerkleid, so jung und munter. Mittlerweile war das allgemeine Kneipengebrabbel zu einem permanenten Tosen angeschwollen, sodass er selbst bei größter Anstrengung kaum noch verstehen konnte, was sie sagte. Plötzlich kreischte jemand hinter ihm.
»Großer Gott, ich fress ’n Besen, wenn das nicht der Doktor Tod ist!«
Hinter ihm stand Barney Boyle – dreist und betrunken und beängstigend jovial. Quirke drehte sich um und verzog das Gesicht zu einem Lächeln. Barney war ein gefährlicher Bekannter; früher, in alten Zeiten, hatten Quirke und er sich oft zusammen betrunken. »Hallo, Barney«, sagte er abwartend.
Barney hatte seine Saufklamotten an: schwarzer Anzug, fleckig und zerknittert, gestreifte Krawatte als Gürtel und ein ehemals weißes, am Hals weit auseinanderklaffendes Hemd, das aussah, als ob’s ihm einer bei ’ner Schlägerei zerfetzt hätte. Phoebe war ganz aufgeregt – der berühmte Barney Boyle! Und fast hätte sie lachen müssen: Der Bursche war ja eine etwas verkleinerte Ausgabe von Quirke, na gut, er war einen ganzen Kopf kleiner, aber er hatte genau die gleiche gewölbte Brust, genau die gleiche Boxernase und genauso lächerlich winzige Füße. Er schnappte sich ihre Hand und drückte ihr einen schlüpfrigen Kuss drauf. Er selber, sah sie, hatte weiche und liebenswert knubblige kleine Hände.
»Deine Nichte, stimmt’s?«, sagte er zu Quirke. »Alle Achtung, Doc, auf niedliche Nichten möcht man mitnichten verzichten – und weißt du was, mein Schätzchen«, er grinste Phoebe breit an, »ist gar nicht so einfach, das richtig auszusprechen, wenn du ’n paar Porter intus hast.«
Er bestellte Drinks und bestand trotz Quirkes Protest darauf, dass Phoebe auch noch einen nehmen müsse. Unter den gierigen Blicken des Mädchens gockelte Barney herum, wippte auf den Zehenspitzen, in der einen Hand sein Porter, in der anderen eine nass gesabberte Zigarette. Als Phoebe ihn fragte, ob er an einem neuen Stück schreibe, holte er mit dem Arm aus und machte eine wegwerfende Geste. »Aber nicht doch!«, brüllte er. »Ich schreib überhaupt keine Stücke mehr.« Er stellte sich großartig in Positur und sprach, wie an ein Publikum gewandt: »Von heut an muss das Abbey Theatre ohne die Früchte meines Genies auskommen!« Er nahm einen mächtigen Zug, warf den Kopf in den Nacken, riss den Mund weit auf und schluckte mit zuckenden Halssehnen. »Ich schreibe wieder Lyrik«, sagte er und wischte sich mit dem Handrücken über die wulstigen roten Lippen. »Auf Irisch, in dieser herrlichen Sprache, die ich im Gefängnis gelernt habe, denn das Gefängnis ist die Universität der arbeitenden Klassen.«
Quirke merkte, wie sein Lächeln nach und nach hilflos erstarrte. Es hatte Nächte gegeben, da hatten Barney und er hier fröhlich wie ein Mann durchgehalten bis zur Sperrstunde und weit darüber hinaus, hatten ein Glas nach dem anderen gekippt, hatten sich voreinander aufgepumpt und sich gegenseitig ihr hohles Geblubber um die Ohren gehauen wie zwei kleine Jungs, die mit Luftballons kämpfen. Aber diese Zeiten waren ein für alle Mal vorbei. Als Barney noch eine Runde bestellen wollte, hob Quirke abwehrend die Hand und sagte nein, sie müssten jetzt los.
»Tut mir leid, Barney«, sagte er, während er von seinem Barhocker kletterte, ohne auf Phoebe zu achten, die ihn wütend anfunkelte. »Ein andermal.«
Barney fasste ihn abschätzig ins verschwiemelte Auge und verzog angewidert den Mund. Zum zweiten Mal an jenem Abend befürchtete Quirke einen Angriff und überlegte, wie er ihm am besten entgehen könnte, denn Barney war zwar klein von Wuchs, aber er konnte kämpfen – doch plötzlich schwenkte er seinen wütenden Blick auf Phoebe.
»Soso, Miss Griffin«, sagte er und kniff ein Auge zu. »Haben Sie vielleicht irgendwie rein zufällig was mit Richter Garret Griffin zu schaffen, mit dem Herrn Obersten Richter und Größten Wichtigtuer aller Zeiten höchstpersönlich?«
Quirke versuchte immer noch, Phoebe zum Aufstehen zu bewegen, zog sie am Ellbogen und griff dabei nach Hut und Regenmantel. »Ganz andere Familie«, sagte er.
Doch Barney hörte nicht auf ihn.
»Weil«, sagte er zu Phoebe, »das ist nämlich der nette Mensch, der mich hinter Gitter gebracht hat, weil ich für die Freiheit meines Vaterlandes gekämpft habe. Oh ja, ich war einer von denen, die neununddreißig das Feuerwerk in Coventry mit angezündet haben. Na, Miss Griffin, das haben Sie wohl nicht gewusst, oder? Ich sage Ihnen, die Bombe ist mächtiger als die Feder.« Seine Stirn glänzte heiß, und seine Augen sahen aus, als wollten sie in den Schädel zurückrutschen. »Und als ich wieder nach Hause kam, haben sie mich nicht etwa als Held gefeiert, wie ich’s verdient hätte, i wo, da hat mich der Herr Richter Griffin erst mal für drei Jahre ins Kittchen geschickt, zur Abkühlung, hat er gesagt, und der ganze Gerichtssaal hat gelacht. Da war ich sechzehn Jahre alt. Na, wie finden Sie das, Miss Griffin?«
Quirke hatte sich unterdessen entschlossen in Bewegung gesetzt und versuchte immer noch, die widerstrebende Phoebe hinter sich herzuziehen. Jetzt beugte der Mann mit den hässlichen Haaren, der Barney interessiert zugehört hatte, sich vor und fing mit erhobenem Zeigefinger an zu reden. »Also ich glaube –«, setzte er an.
»Du hältst die Fresse«, sagte Barney, ohne ihn eines Blickes zu würdigen.
»Halt sie doch selber«, mischte sich die Frau in Lila wacker ein, »du und dein Kumpel und deim’ Kumpel sein Flittchen.«
Phoebe kicherte angesäuselt, Quirke zerrte noch einmal kräftig, und da kippte sie vom Barhocker und wäre beinah hingefallen, aber er schob ihr rasch die Hand unter den Arm, um sie zu stützen.
»Und jetzt, hab ich gehört«, schrie Barney so laut, dass das halbe Pub es hören konnte, »jetzt will er auch noch einen Papstorden haben, Komtur heißt das wohl. Glaub ich jedenfalls« – noch eine Ecke lauter – »ich glaub, das Wort heißt Komtur.«
[Menü]
Der Salon war von leisem Gemurmel erfüllt. Die Gäste, zirka zwanzig Leute, standen in Grüppchen zusammen, die Männer alle im dunklen Anzug, die Frauen hingegen glichen bunten, zwitschernden Vögeln. Sarah ging zwischen ihnen herum, streifte hin und wieder eine Hand, berührte jemanden am Ellbogen und passte auf, dass ihr das Lächeln nicht abhandenkam. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil es ihr einfach nicht gelang, diese Menschen, größtenteils Freunde von Malachy oder dem Richter, zu mögen. Abgesehen von den Priestern – immer diese vielen Priester! – waren es durchweg Geschäftsleute, Juristen oder Mediziner, alle gut betucht und darauf bedacht, ihre Privilegien zu verteidigen, genauer gesagt, ihren Platz im gesellschaftlichen Leben der Stadt. Sie hatte sich schon vor einer ganzen Weile eingestehen müssen, dass ihr diese Leute ein klein wenig unheimlich waren, alle, nicht nur die wirklich gruseligen, wie zum Beispiel dieser Costigan. Es wunderte sie jedes Mal von neuem, dass Malachy oder sein Vater solche Leute zu Freunden hatten. Aber gab es denn hier überhaupt jemanden, der anders war? Es war eine kleine Welt, in der sie sich bewegten. Und es war nicht Sarahs Welt. Ich lebe zwar in dieser Welt, sagte sie sich immer wieder, doch ich gehöre nicht dazu. Es durfte bloß niemand wissen, was sie dachte. Du musst lächeln, sagte sie sich, immer schön lächeln!