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Der Bau von Moscheen, das Tragen von Kopftüchern in Schulen, das jüdische und muslimische Beschneidungsritual - in den Debatten, die erregt über diese Praktiken geführt werden, erscheinen "fremde" Kulturen und Religionen oft als bedrohend, ja skandalös. Dieser Haltung steht das politische Konzept des Multikulturalismus gegenüber, das für Schutz und Anerkennung kultureller Unterschiede durch Staat und Gesellschaft eintritt. In der politischen Theorie wie in der breiten Öffentlichkeit löst dieser Ansatz heute aber vielfach Unbehagen aus. Der Sozialwissenschaftler Volker M. Heins, der viele Jahre in Kanada, den USA, Israel und Indien gelebt hat, fragt nach den Ursachen dieses Unbehagens. In seinem gut lesbaren Überblick über die internationale Multikulturalismusdebatte zeichnet er die Fortschritte und Rückschläge bei der Auseinandersetzung nach, die in den letzten Jahrzehnten über kulturelle Vielfalt geführt wurde. Seine These lautet, dass der Streit um den Multikulturalismus - um religiöse Symbole, Sprachkompetenz von Migranten, Import internationaler Konflikte, Chancen auf dem Arbeitsmarkt - grundlegende Fragen von Identität, Differenz und Solidarität berührt, die weder im Nationalstaat noch im vereinten Europa gelöst worden sind.
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Seitenzahl: 344
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Volker M. Heins
Der Skandal der Vielfalt
Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Der Bau von Moscheen, das Tragen von Kopftüchern in Schulen, das jüdische und muslimische Beschneidungsritual – in den Debatten, die erregt über diese Praktiken geführt werden, erscheinen »fremde« Kulturen und Religionen oft als bedrohend, ja skandalös. Dieser Haltung steht das politische Konzept des Multikulturalismus gegenüber, das für Schutz und Anerkennung kultureller Unterschiede durch Staat und Gesellschaft eintritt. In der politischen Theorie wie in der breiten Öffentlichkeit löst dieser Ansatz heute aber vielfach Unbehagen aus. Der Sozialwissenschaftler Volker M. Heins, der viele Jahre in Kanada, den USA, Israel und Indien gelebt hat, fragt nach den Ursachen dieses Unbehagens. In seinem gut lesbaren Überblick über die internationale Multikulturalismusdebatte zeichnet er die Fortschritte und Rückschläge bei der Auseinandersetzung nach, die in den letzten Jahrzehnten über kulturelle Vielfalt geführt wurde. Seine These lautet, dass der Streit um den Multikulturalismus – um religiöse Symbole, Sprachkompetenz von Migranten, Import internationaler Konflikte, Chancen auf dem Arbeitsmarkt – grundlegende Fragen von Identität, Differenz und Solidarität berührt, die weder im Nationalstaat noch im vereinten Europa gelöst worden sind.
Über den Autor
Volker M. Heins ist wissenschaftlicher Leiter des Forschungsbereichs »Interkultur« am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI). Er lehrt außerdem Politische Theorie und Ideengeschichte an der Universität Bochum und ist Faculty Fellow am Center for Cultural Sociology der Yale University/USA.
Danksagung
Einleitung: »Multikulti« – zwanzig Jahre später
1 Vor dem Multikulturalismus
Montesquieus Perser
Joseph in Ägypten und andere Geschichten
Assimilation, Simulation und Identitätspanik
Kulturkämpfe im europäischen Nationalstaat
Das Management tiefer kultureller Differenzen
2 Theorie und Kritik
Warum der Multikulturalismus aus Kanada kommt
Authentizität statt Assimilation: Taylor
»Eine andere Welt ist wirklich«: Tully
Das Einfache, das leicht zu machen ist: Kymlicka
»Administrativer Artenschutz«: Habermas
Zwei Varianten der feministischen Kritik
Wie real sind Gruppen und Kulturen?
3 Politik und Erfahrung
Das Unbehagen in der Multikultur
Kommissionen, Komitees und Konferenzen
Kasuistik und »reasonable accommodation«
Knabenbeschneidung und Religionsfreiheit
Minderheiten, Volksverhetzung und Redefreiheit
4 Die Zukunft der »gemischten Multitude«
Kultur als Schranke und Ressource
Juden, Muslime, Homosexuelle
Die Rolle der Staatsangehörigkeit
Multikulturalismus oder Interkulturalität?
Anmerkungen
Literatur
Schreiben ist eine Last. Nachdenken, Diskutieren und Recherchieren macht Spaß. Nicht zuletzt deshalb, weil man dabei nicht allein ist. So war es auch bei diesem Buch, an dem viele auf die eine oder andere Weise mitgewirkt haben. Zu einem guten Teil speist sich das Buch aus Erfahrungen in Ländern außerhalb Deutschlands, in denen ich mehr oder weniger lange gelebt habe: Kanada, USA, Israel, Indien, Irland. Geschrieben wurde es aber erst am Kulturwissenschaftlichen Institut Essen (KWI), und zwar als Teil einer Anstrengung, dem Forschungsbereich »Interkultur«, für den ich von Berufs wegen zuständig bin, ein neues Profil zu geben. Aus der Fächerperspektive der benachbarten Universitäten, die das KWI tragen, gehört der Text teils in das Feld der politischen Theorie und Ideengeschichte, teils in den Bereich der politischen Soziologie. Meine Quellen (und Adressaten) sind aber auch Philosophen, Theologen, Erziehungswissenschaftler, Kulturanthropologen und andere, disziplinär ungebundene Beobachter.
Bedanken möchte mich zuerst bei Claus Leggewie, dem Direktor des KWI, der mich überhaupt auf die Idee zu dem Buch gebracht und dessen Entstehung aufmerksam begleitet hat, sowie bei Judith Wilke-Primavesi vom Campus Verlag, die den Weg von der Idee zum Buch geebnet hat. Axel Honneth verdanke ich eine lange Zeit anregender Zusammenarbeit am Frankfurter Institut für Sozialforschung. Für den Wert spezifisch kultursoziologischer Fragestellungen hat mich Jeffrey Alexander sensibilisiert. Ein Gefühl besonderer Dankbarkeit verbindet mich außerdem mit Michael Flitner, dessen anhaltende Wertschätzung und Gesprächsbereitschaft mir sehr geholfen hat. Dankend erwähnen möchte ich ferner eine Reihe neuerer Freunde und Kollegen aus einem internationalen Forschungszusammenhang über religiös-kulturellen Pluralismus und jüdisch-muslimische Beziehungen: Elisabeth Becker, Michal Bodemann, Yolande Jansen, Riva Kastoryano, Brian Klug, Karen Körber, Cilly Kugelmann, Sergey Lagodinsky, Tariq Modood, Per Mouritsen, Esra Özyürek, Yasemin Shooman und Riem Spielhaus.
Hinzu kommen weitere wichtige Gesprächspartner, die ich der Einfachheit halber alphabetisch aufzähle: Sigrid Baringhorst, David Chandler, Maeve Cooke, Burak Copur, Georg Essen, Ron Eyerman, Martina Grimmig, Jonas Jakobsen, Darja Klingenberg, Almut Küppers, Will Kymlicka, Andreas Langenohl, Jacob Levy, Catherine Lu, Cillian McBride, Andreas Pettenkofer, Meital Pinto, Till van Rahden, Roland Roth, Karin Schittenhelm, Sonja Schnitzler, Ferdinand Sutterlüty, Haci-Halil Uslucan und Gisela Welz. Ihnen allen sei für ihre Aufmerksamkeit, für Literaturhinweise und kritische Nachfragen gedankt. Danken möchte ich außerdem Minela Balic für sorgfältige Recherchedienste, Jutta Böing für eine erste Lektüre des Manuskripts sowie nicht zuletzt der Berliner Künstlerin Feriel Bendjama für das wunderbare Coverfoto, das manches von dem, was ich mit vielen Worten sage, auf einen Blick verrät. Gewidmet sei das Buch Mechtild Manus in Dublin und am Schliersee.
Volker M. Heins
Essen, im Juli 2013
Dass Vielfalt eine gute Sache ist, scheint unumstritten zu sein. Die Frage ist nur: Vielfalt wovon? Wir können kaum genug bekommen von der Vielfalt an sinnlichen Reizen in Gestalt von Konsum, Kunst oder kulinarischen Angeboten. Dasselbe gilt für die biologische Vielfalt der Arten, die durch ein eigenes Abkommen der Vereinten Nationen geschützt wird. Schwieriger wird es, wenn wir über kulturelle Vielfalt sprechen. Mehrheitsfähig ist in Deutschland bisher nur das, was der amerikanische Intellektuelle Stanley Fish als »Boutiquen-Multikulturalismus« bezeichnet hat: die kulturelle Vielfalt ethnischer Restaurants, Moden und Reiseziele (Fish 1997). Das Fremde muss genießbar, verdaulich und möglichst auch käuflich sein, um nicht Schrecken und Abwehr hervorzurufen. »Vielfalt« ist das Mantra einer zwar freien, aber auch den Konformismus begünstigenden Gesellschaft.
Ein gutes Beispiel für die Schwierigkeit unserer Gesellschaft, mit Vielfalt und Differenz umzugehen, ist der jüngere Streit um die Beschneidung von Jungen. Tatsächlich hat diese alte rituelle Praxis, die eng mit identitätsstiftenden Glaubensinhalten des Judentums und des Islam verknüpft ist, für ganz unangemessen großes Aufsehen gesorgt. So wertete das Landgericht Köln im Mai 2012 in einem viel beachteten Urteil die religiös motivierte Beschneidung der Vorhaut eines minderjährigen muslimischen Jungen als rechtswidrige Körperverletzung. Für kurze Zeit blieb dieses Urteil ein Teil der profanen Welt, formuliert in der Sprache der Juristen und nüchterner Zeitungsmeldungen. Bald darauf jedoch brach eine rasch um sich greifende, hoch emotionale Debatte über den Charakter und die Zulässigkeit eines solchen Eingriffs aus. Die »Beschneidungsdebatte« signalisierte, dass dieses Thema die Kraft hatte, die deutsche Gesellschaft in ihrem Kern zu berühren und aufzuwühlen. Wie in längst vergangen geglaubten Zeiten schienen sich plötzlich große Teile des Publikums bedroht zu fühlen durch etwas Dunkles, Blutiges, Außereuropäisches. Vordergründig stand im Mittelpunkt dieser Debatte der Begriff des Kindeswohls, der in einen Gegensatz gebracht wurde zur Religionsfreiheit von Muslimen und dann natürlich auch von Juden, deren religiöse Tradition ebenfalls die Beschneidung von Jungen vorschreibt und etwa zur Voraussetzung der Teilnahme am Pessachfest macht. Angefeuert von Meinungsumfragen, die schnell zeigten, dass eine Mehrheit der deutschen Bevölkerung hinter ihnen steht, nutzten zahlreiche Ärzte, Psychologen, Journalisten und sogenannte Islamkritiker das Gerichtsurteil für die Zwecke eines Kulturkampfs gegen die aus ihrer Sicht überholten, irrationalen oder sogar verfassungsfeindlichen Praktiken bestimmter religiös-kultureller Minderheiten. Anstatt mit Juden und Muslimen zu sprechen, sprach man über sie. Und ganz erstaunlich war die ungetrübte Gewissheit weißer, europäischer, unbeschnittener Männer, auf der Seite der Wissenschaft, der Humanität, des Fortschritts und aller Werte zu stehen, mit denen Europa seit der Vernichtung der Azteken durch Hernán Cortés den Rest der Welt beglückt hat.
Die Ironie dieses in allen Medien und Formaten zelebrierten Selbstvergewisserungsrituals des modernen Deutschlands bestand darin, dass es selbst etwas Archaisches und Tribales an sich hatte. Der große französische Anthropologe Claude Lévi-Strauss hat einmal beiläufig vom »Skandal der Vielfalt« gesprochen, der seit jeher die menschlichen Gesellschaften aufschreckte, wenn sie mit kulturellen Abweichungen konfrontiert wurden:
»[…] die Vielfalt der Kulturen ist den Menschen selten als das erschienen, was sie ist: als natürliches Phänomen, das aus den direkten und indirekten Beziehungen der Gesellschaften resultiert. Sie sahen darin eher eine Art von Ungeheuerlichkeit oder Skandal. Schon in ferner Vorzeit veranlasste eine Neigung, die so fest verankert ist, daß man sie für instinktiv halten könnte, die Menschen dazu, Sitten, Glaubensvorstellungen, Bräuche und Werte, die von denen in ihrer eigenen Gesellschaft geltenden am meisten entfernt sind, schlicht und einfach zu verwerfen […]. Damit weigert man sich, die kulturelle Vielfalt anzuerkennen.« (Lévi-Strauss 2012: 122)
Moderne Gesellschaften, so möchte ich ergänzen, sind darüber hinaus durch eine widersprüchliche Tendenz gekennzeichnet. Einerseits weisen ihre Denksysteme die Teilung der Menschheit in Zivilisierte und Barbaren selbst als barbarisch zurück. Es gibt eine statistisch erfassbare Tendenz zur Relativierung jener kulturellen Überlegenheitsgefühle, die sich in den hitzigen Debatten um Beschneidung, Kopftücher usw. regelmäßig austoben.1 Andererseits neigen dieselben Gesellschaften dazu, durch staatliche Erziehung, umfassende Verrechtlichung, Massenmedien und Expertenherrschaft die Homogenisierung der Sitten, Gewohnheiten, Hoffnungen und Ängste ihrer Mitglieder noch weiter zu treiben als manche vorindustrielle Gesellschaften. Dadurch werden selbst geringe Abweichungen, die Einwanderer und andere »Fremde« kennzeichnen, leicht zum Gegenstand von Stereotypen und negativen Klassifikationen.
Was heute auf dem europäischen Kontinent die Kopfbedeckungen muslimischer Frauen oder die plötzlich als skandalös empfundene jüdische und muslimische Praxis der Knabenbeschneidung sind, waren vor hundert Jahren in New York die von osteuropäischen Juden geschätzten Essiggurken und andere eingelegte Esswaren, von denen patriotische Sozialreformer und Gesundheitsbeamte glaubten, sie würden ihre Genießer zu »nervösen, instabilen« Subjekten und letztlich zu »schlechten Amerikanern« machen (zit. nach Ziegelman 2011). Nach wie vor führt die Zuwanderung von Menschen aus kulturell unvertrauten Weltregionen ebenso wie das erstarkte Selbstbewusstsein einheimischer Minderheiten2 zu Auseinandersetzungen um Rechte, Sitten und Gewohnheiten. Teilweise werden diese Konflikte durch politische oder publizistische Initiativen »von oben« angefeuert. Oft entwickeln sich multikulturelle Konflikte aber auch »von unten«, indem kleine, sinnlich mehr oder weniger auffällige Merkmale von »fremden« Bevölkerungsgruppen als Zeichen einer kollektiven Zurückgebliebenheit oder einer moralischen Bedrohung des Gemeinwesens gedeutet werden.
Als politische Reformbewegung läuft der Multikulturalismus auf eine kulturelle Denationalisierung der Nationalstaaten hinaus, innerhalb derer er verwirklicht wird. Das bedeutet, dass bestimmte Praktiken der symbolischen Grenzziehung zwischen Menschengruppen revidiert werden. Max Weber hat den Prozess geschildert, der kleine Unterschiede in große verwandelt und dadurch ganze Nationen oder Kulturen in Gegensatz zueinander bringt. Kulturelle Differenzen können an Merkmalen festgemacht werden, die eine Polarisierung zwischen der eigenen und der Fremdgruppe befördern, wobei diese Fremdgruppe keineswegs immer nur aus Einwanderern bestehen muss. Weber spricht von »kleinen Unterschieden«, die Anlass zur »Abstoßung und Verachtung der Andersgearteten« geben können, und nennt als Beispiele solche »der Bart- und Haartracht, Kleidung, Ernährungsweise, der gewohnten Arbeitsteilung der Geschlechter und alle überhaupt ins Auge fallenden Differenzen« (Weber 1976: 236). Die jüngere Kultursoziologie hat Webers Analyse ausgeweitet auf unsichtbare oder bloß ausgedachte Differenzen (Alexander 2006). Das Programm des Multikulturalismus kann man so verstehen, dass die großen Unterschiede, die in diesen Prozessen der Abstoßung von Fremdgruppen entstehen, entdramatisiert und in kleine Unterschiede zurückverwandelt werden.
Webers Diagnose der Übertreibung und Überdramatisierung von Differenzen und ihrer Verwandlung in Antagonismen ist auch in unserer – angeblich postnationalen und kosmopolitischen – Gesellschaft hilfreich, um die gegenwärtigen Debatten um den »Rückzug« und das »Scheitern« des Multikulturalismus in Europa besser zu verstehen (vgl. Joppke 2004; Vertovec und Wessendorf 2010; Alexander 2013). Der vielfach totgesagte Multikulturalismus ist jenes sprichwörtliche Kind, das mit dem Bad ausgeschüttet wurde – nur um danach gleich wieder zurückgekrabbelt zu kommen. Diese doppelte Bewegung der Verwerfung und Rückkehr steht im Mittelpunkt des vorliegenden Buches. Dabei konzentriere ich mich im Wesentlichen auf die Idee des Multikulturalismus und die Wandlungen dieser Idee im Laufe ihrer jungen Geschichte, die nicht zu Ende ist. Unter Multikulturalismus verstehe ich zweierlei: eine uneinheitliche, aber in ihrem Kern liberale philosophische Perspektive auf das Problem der wachsenden kulturellen Vielfalt von Individuen und Gruppen in modernen Gesellschaften, und eine politische Reformbewegung, die für eine bestimmte Form des Umgangs gesellschaftlicher Akteure und des Staates mit kulturellen Differenzen wirbt.
Der reflexartige Einwand von Kritikern des Multikulturalismus lautet, dass kulturelle Differenzen nicht einfach »gegeben«, sondern sozial konstruiert oder zugeschrieben seien. Dieser Einwand ist aber nur aus der Beobachterperspektive zutreffend, während aus dem Blickwinkel von Subjekten kulturelle Differenzen tatsächlich gegeben und eine oft schmerzlich spürbare Realität sind, die sich in wiederkehrenden Diskriminierungs- und Fremdheitserfahrungen niederschlägt. Die vorgegaukelte Neutralität von Staaten und Sozialwissenschaften, die diese Erfahrungen leugnen und für eine »differenzblinde« Politik werben, ist nicht ein Teil der Lösung, sondern ein Teil des Problems, mit dem Minderheiten immer wieder konfrontiert sind. Interessant sind dabei nicht beliebige, sondern nur »tiefe« Differenzen. Von tiefen Differenzen spreche ich im Anschluss an Charles Taylor dann, wenn sie sich nicht der Konjunktur von Moden und Lebensstilen verdanken, sondern in handlungsleitenden Symbolen, Narrativen und »starken Wertungen« (Taylor 1996) verankert sind, die sich nicht willkürlich, etwa durch politische Entscheidungen, verändern oder neutralisieren lassen.
Eine multikulturelle Gesellschaft erkennt man nicht an der bloßen Präsenz von Einwanderern und Minderheiten, sondern an der Existenz von differenzsensiblen Maßnahmen und Regeln. Die multikulturelle Form des Umgangs mit Vielfalt ist nicht repressiv, an starren Regeln orientiert und assimilatorisch, sondern responsiv, kontextvariabel und inkludierend. Liberale Toleranz ist ein zentraler Aspekt dieser Umgangsform, wenngleich die ursprüngliche Idee des Multikulturalismus über Toleranz hinausgeht und die Herstellung von Empathie und Solidarität zwischen Bürgern mit unterschiedlichen kulturellen Herkunftsgeschichten und Orientierungen einschließt. Beispiele für multikulturalistische politische Reformen sind zum einen Maßnahmen wie die Zulassung von doppelten Staatsangehörigkeiten, bestimmte Ausnahmen von Vorschriften und Gesetzen, um die Entfaltung religiöser Lebensformen zu ermöglichen oder auch Gesetze, die selbst Sonderregelungen wie etwa die Steuerbefreiung von bestimmten Institutionen vorsehen; zum anderen umfasst der Multikulturalismus gezielte Antidiskriminierungsmaßnahmen, eine andere Rekrutierungspraxis der öffentlich-rechtlichen Medien, eine Entprivilegierung des Christentums im Schulsystem, die Einführung neuer Feiertage wie Id al-Fitr (Ende des Fastenmonats Ramadan) oder Jom Kippur (das jüdische Versöhnungsfest) sowie eine bessere Förderung von Mehrsprachigkeit, die auch die tatsächlich in der Gesellschaft gesprochenen Sprachen – in Deutschland vor allem Türkisch – berücksichtigt (vgl. Brumlik 1998: 951f.; Kymlicka 2012: 7).
Multikulturelle Gesellschaften öffnen darüber hinaus ihren Mitgliedern die Augen für nicht durch Einwanderung importierte sowie für nichtethnische Differenzen und Gruppenbildungen. Nicht alle Muslime sind Einwanderer, und viele Einwanderer aus islamisch geprägten Gesellschaften sind keine Muslime. Eine für erlittene oder selbstgewählte Differenzen sensible Gesellschaft wird auch dafür sorgen, um ein Beispiel zu nennen, dass Nachrichtensendungen im Fernsehen durch Gebärdendolmetscher begleitet werden, anstatt (wie jüngst der Sender Phoenix) Gehörlose und Hörgeschädigte als vermeintlich »Taubstumme« aus der Kommunikationsgemeinschaft auszuschließen.
Der Dauerstreit um den richtigen Modus der Inkorporierung von Zuwanderern und ihren Nachkommen findet vor dem Hintergrund einer wachsenden ethnischen und religiösen Heterogenität der Bevölkerung sowie der Zunahme ethnischer Minderheiten statt. In der Debatte um den Multikulturalismus und sein vermeintliches »Scheitern« geht es viel um wirtschaftliche, demografische und im engen Sinne politische Sachverhalte. Mir kommt es dabei darauf an, die mit starken kollektiven Emotionen versehenen Bedeutungen nachzuvollziehen, die diesen Sachverhalten zugeschrieben werden. Was wir beobachten, sind Prozesse, in denen reale oder imaginierte Merkmale von Personen und Gruppen zum Anlass genommen werden, nicht nur Grenzen zwischen großen Kollektiven, sondern auch eine Schwellezu markieren, jenseits derer eine Zone des Bedrohlichen und Suspekten beginnt. Diese Markierungen sind nicht ein für alle Mal festgeschrieben. So hat sich seit den 1960er und 1970er Jahren in den westlichen Staaten eine allmähliche Abkehr von der Politik der Assimilation vollzogen, das heißt von einer Politik, deren Ziel es war, durch staatliche Erziehung und Reglementierung möglichst vollständig die primordialen Sitten und Gewohnheiten von Neuankömmlingen durch die dominanten kulturellen Muster der Aufnahmegesellschaft zu ersetzen. Diese Abkehr wird heute auch in verschiedenen Erklärungen der deutschen Bundesregierung betont, die immer wieder die Wechselseitigkeit des Integrationsprozesses unterstreicht und ausdrücklich »Respekt vor kultureller Vielfalt« fordert (vgl. Löffler 2011: 247–249).
Die multikulturelle Öffnung weist allerdings große nationale Unterschiede auf und ist immer wieder von Rückschlägen betroffen. Daher muss die Abkehr von der Politik der Assimilation keineswegs eindeutig oder endgültig sein.3 Dort, wo die Abkehr von der Assimilation aus Gründen, auf die ich später eingehen werde, unternommen worden ist, sind in den vergangenen Jahrzehnten unterschiedliche Konzepte einer Politik des Multikulturalismus vorgeschlagen und ausprobiert worden. Der Ausdruck »Multikulturalismus« war dabei zunächst nicht mehr als ein rhetorischer Platzhalter für eine neue, erst noch zu schaffende Form des Managements von kulturellen Differenzen. Das wird deutlich, wenn man auf die älteren Texte zurückgreift, die das Vokabular des Multikulturalismus in Deutschland populär gemacht haben. Den Anfang machte Claus Leggewies Streitschrift MultiKulti. Spielregeln für die Vielvölkerrepublik (2011a) aus dem Jahr 1990 (nach zwanzig Jahren neu aufgelegt), dicht gefolgt von Heimat Babylon (1993) der beiden Frankfurter Autoren Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid.
Diese beiden Texte markierten in ihrer Zeit eine deutliche Zäsur zu der abstrakten Solidarität der 68er Studentenbewegung mit den Völkern der »Dritten Welt« – eine Solidarität, die weitgehend abgekoppelt war von realen Begegnungen mit jenen idealisierten fernen Fremden, für deren reale Wunden man sich kaum interessierte. Symptomatisch hierfür war das große Interesse an Frantz Fanon, dem Apologeten rücksichtsloser Gewalt in Die Verdammten dieser Erde, zu Lasten jenes anderen Fanon, der sich 1952 in Schwarze Haut, weiße Masken als ein sensibler Analytiker kollektiver Traumata präsentierte. Dieser Text, der die Bedeutung einer intakten gesellschaftlichen Kultur für das Selbstbewusstsein von Einzelnen und Gruppen unterstreicht, wurde von den radikalen Studenten ignoriert oder missverstanden (vgl. Slobodian 2012: 204–206). Die von Fanon gelegte Spur taucht erst in der Diskussion des Multikulturalismus wieder auf, deren Protagonisten den Zusammenhang von kultureller Integrität und persönlicher Autonomie erneut hervorgehoben und systematisch untersucht haben.
An dieser Stelle möchte ich mich nur auf einige stillschweigende Annahmen der frühen deutschen Debatte konzentrieren, die mir fragwürdig erscheinen. Etwas plakativ lassen sich meine Bedenken und Ergänzungen unter drei Überschriften zusammenfassen. So scheint mir die allzu enge Verklammerung der Begriffe »Multikulturalismus« und »Einwanderung« problematisch zu sein; ich bestreite, dass der Multikulturalismus alternativlos ist; und ich finde, dass der von mir gegen den Zeitgeist verteidigte liberale Multikulturalismus nach seinen Zwecken befragt werden muss: Warum sollen wir uns für diese Form des Umgangs mit Differenz einsetzen?
Die beherrschende Idee der ersten Runde der Debatte war die enge Verknüpfung von Multikulturalismus und Einwanderung. Gelegentlich werden die beiden Begriffe sogar einfach gleichgesetzt. »Multikulturalismus«, so Leggewie in der Einleitung zur Neuauflage seines populären Klassikers, bezeichnet das Phänomen der »Masseneinwanderung« und der dadurch bewirkten kulturellen Verunsicherung innerhalb der Aufnahmegesellschaft (Leggewie 2011b: 7). Diese Aussage impliziert, dass durch Einwanderung kulturelle Differenzen in homogene Nationalstaaten importiert werden und damit zugleich eine postnationale Zukunft eingeläutet wird. Der Fokus liegt auf der Anerkennung der Realität der Einwanderung, der Erleichterung von Einbürgerung und der Zulassung doppelter Staatsbürgerschaften. Dieser letzte Aspekt ist wichtig, auch wenn die Staatsbürgerschaft nur eine Schicht von Zugehörigkeit betrifft und nicht als solche bewirkt, dass sich ihre neuen Inhaber zu Hause und akzeptiert fühlen. So schützt der legale Status der Staatsbürgerschaft nicht vor nachträglicher moralischer Ausbürgerung. Er sagt auch nichts aus über die Grenzen, innerhalb derer Bürger ein Recht auf kulturelle Differenz geltend machen dürfen.
Für demokratische Gesellschaften ist weiterhin kennzeichnend, dass sie Differenz nicht nur importieren, sondern auch aus sich heraus ethnisch und religiös eingefärbte Widerstandspotenziale mobilisieren und dadurch kulturelle Differenzen hervorbringen, sichtbar machen und vertiefen können. Dies zeigt schon die Herkunft des Begriffs des »kulturellen Pluralismus«. Dieser Begriff geht nämlich auf das Engagement jüdischer Studenten in den USA zurück, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Assimilationsmodell des melting pot verwarfen und zum Beispiel die Einführung jüdischer Studien an den amerikanischen Universitäten forderten, übrigens unter Berufung auf den deutschen »Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden«, der seit dem frühen 19. Jahrhundert bestand (Greene 2011). Aber es gibt auch eindrucksvolle jüngere Beispiele. Ungefähr 22 Millionen Amerikaner praktizieren inzwischen verschiedene Yoga-Techniken, die teilweise auch Eingang in den Sportunterricht finden, was unlängst in Los Angeles zu Klagen über das Vordringen des »Hinduismus« an Schulen geführt hat (Perry 2012). Die Ausbreitung von Yoga, Feng Shui und diversen quasibuddhistischen Meditationspraktiken im Westen hat allerdings nichts oder kaum etwas zu tun mit der Einwanderung von Asiaten nach Amerika und Europa. Ähnliches gilt für die massenhafte Konversion von Afro-Amerikanern zum Islam, die seit den 1960er Jahren zu beobachten ist und dazu geführt hat, dass diese Gruppe inzwischen schätzungsweise 40 Prozent der amerikanischen Muslime ausmacht (Ahmed 2011: 11). Kurz: Es gibt Migranten, die nicht als Fremde markiert werden, zum Beispiel bestimmte Gruppen hoch qualifizierter Fachkräfte; und es gibt Einheimische oder Langzeitansässige, die zu Fremden gemacht werden, zum Beispiel deshalb, weil sie zum Islam konvertiert sind oder weil sich neue Formen der gruppenbezogenen Feindschaft in der Gesellschaft ausbreiten.
Die Gleichsetzung von Einwanderung und Multikulturalismus impliziert zudem, dass Deutschland und vergleichbare Länder irgendwann einmal entweder keine Einwanderungsgesellschaften oder, wenn doch, immer schon multikulturell waren. Der alte Multikulturalismus-Diskurs lässt offen, wie man zum Beispiel die massive Einwanderung insbesondere von Polen ins Ruhrgebiet einschätzen soll, die für die Industrialisierung Deutschlands von großer Bedeutung war. Oder umgekehrt: Ist die heutige indische Gesellschaft monokulturell, nur weil der Ausländeranteil an der Gesamtbevölkerung im Promillebereich liegt und es abgesehen von einigen Bangladeschis, Afghanen und Tibetern nur wenige gibt, die nach Indien ausgewandert sind?
Der alte Diskurs des Multikulturalismus leidet ferner an der Überschätzung der Neuigkeit der Gegenwart sowie an einer eurozentrisch verengten Sicht auf das globale Migrationsgeschehen. Der amerikanische Historiker Adam McKeown (2004) hat Zahlen zusammengetragen, die helfen, diese beiden Schwächen zu kurieren. Die Zahlen zeigen, dass die Migrationsbewegungen seit den 1990er Jahren möglicherweise nicht größer waren als die Migrationsströme zwischen 1912 und dem Ende der 1920er Jahre, und dass es folglich keinen Grund gibt, heute von einer noch nie dagewesenen Zeitenwende oder dem Ende des Nationalstaats zu sprechen (ebd.: 183–185). Noch interessanter sind andere Zahlen. So sind von 1846 bis zum Zweiten Weltkrieg nicht nur 55 bis 58 Millionen Europäer nach Nord- und Südamerika ausgewandert. Im selben Zeitraum haben sich 48 bis 52 Millionen Inder, Chinesen und Afrikaner in Südostasien, an den Küsten des Indischen Ozeans und im Südpazifik niedergelassen, während sich beinahe ebenso viele Menschen aus dem Nordosten Asiens und aus Russland auf den Weg machten in die Mandschurei, nach Zentralasien oder Japan (ebd.: 156–160). Die »Anderen« wandern keineswegs immer nur zu »uns«, sondern in alle Richtungen. Wenn man die Prämisse akzeptiert, dass Masseneinwanderung multikulturelle Gesellschaften produziert, dann ist die gesamte moderne Welt immer schon multikulturell. Diese Schlussfolgerung spricht jedoch gegen die Plausibilität der Prämisse. Wenn die ganze Welt seit dem Beginn der Industrialisierung multikulturell ist, dann verliert der Begriff des Multikulturalismus seine polemische Qualität. Alle Katzen wären grau (oder alle Papageien gleich bunt), und der Multikulturalismus wäre keine Alternative mehr zum Nationalismus und Rassismus der modernen Welt, sondern eine bloße Begleiterscheinung dieser Phänomene.
Die Gegenthese lautet: Wir müssen neben der Globalisierung von Migrationsbewegungen auch die globale Durchsetzung bestimmter Konzepte von Minderheitenrechten untersuchen, um zu verstehen, warum sich Einwanderer heute eher als früher weigern, die soziokulturellen Normen der Aufnahmegesellschaft umstandslos zu übernehmen. Die Tendenz zur kulturellen Pluralisierung ist nicht das Resultat einer grenzüberschreitenden Bewegung von Körpern, sondern der Beweglichkeit des menschlichen Geistes.
Es ist somit ratsam, Multikulturalismus von Einwanderung analytisch zu entkoppeln, auch wenn Einwanderung ein Pfad ist, auf dem Personen und Gruppen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen gezwungen werden können, über neue Formen des Zusammenlebens nachzudenken. Die Massenwanderungen des 19. und 20. Jahrhunderts haben durch die erhöhte Interaktionsdichte zwischen »Fremden« zur Bildung von standardisierten Kategorien zur Bewältigung von Differenzerfahrungen angeregt. Ethnizität, Nationalität, Rasse oder Menschenrechte sind solche Kategorien. Auch die geläufige Vorstellung von räumlich abgegrenzten »Kulturen« ist ein Produkt von Austausch- und Sinngebungsprozessen. Daher scheint mir das Leitmotiv der Texte aus den frühen 1990er Jahren ganz unplausibel zu sein: Die Leugnung der Tatsache, dass wir in einer multikulturellen Gesellschaft leben, sei irrational, weil es zu dieser »keine Alternative« (Cohn-Bendit und Schmid 1993: 12) gebe.
Richtig daran ist sicher der Aufruf, sich stärker auf die empirische soziale Realität der Gesellschaft zu beziehen und deren reale Heterogenität wahrzunehmen. Eine andere Welt ist nicht nur möglich, sondern bereits wirklich: Wir müssen nur genau hinsehen. Richtig ist auch, dass die frühzeitige offizielle Anerkennung der Tatsache, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, von großer Bedeutung für die Mentalität der Republik gewesen wäre. Falsch ist allerdings die Behauptung, die in den frühen Texten zum Multikulturalismus ebenfalls mitschwingt, dass die Form einer genuin liberalen, minderheitenfreundlichen, auf Ausgleich und Kompromissbildung zielenden Politik alternativlos sei. Es gibt, so schrieb damals auch Jürgen Habermas, »keine Alternative« zur wachsenden kulturellen Heterogenität der Gesellschaft, »es sei denn um den normativ unerträglichen Preis ethnischer Säuberungen« (Habermas 1996a: 142). Diese Formulierung verstellt jedoch den Blick auf das eigentliche Problem, dass es sehr wohl alternative Modelle des Umgangs mit kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt gibt. Anstatt das Problem in den Begriffen eines Spektrums von politischen Optionen zu formulieren, haben sowohl Multikulturalisten als auch deren Gegner auf ihre jeweils eigene Realitätstüchtigkeit gepocht und der Gegenseite Tatsachenblindheit und Naivität vorgeworfen. Dabei wäre beiden zuzugestehen, dass sie umstrittene Modelle des Umgangs mit kultureller Vielfalt propagieren, die jeweils auf eigenen Realitätsdeutungen und Bildern der guten Gesellschaft beruhen. Mit Emile Durkheim behaupte ich, dass wir die Gesellschaft im Licht von Klassifikationen beschreiben, die eine mehrdeutige Wirklichkeit vereindeutigen, ohne dass eine bestimmte Klassifikation der Realität ontologisch näher käme als eine andere.
So ist es durchaus möglich, in einem Milieu kultureller Vielfalt für die Eindämmung bestimmter Praktiken oder die Abdrängung bestimmter Sitten und Gewohnheiten in die Privatsphäre einzutreten. Man kann Einbürgerungstests einführen, die Bewerber nur dann bestehen, wenn sie liberaler sind als der Durchschnitt der Bevölkerung des Landes, dem sie angehören wollen. Man kann das Tragen von Kopftüchern bei Beamtinnen und Angestellten im öffentlichen Dienst verbieten und danach – etwa unter Berufung auf das »Kopftuchurteil« des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte gegen Leyla Şahin vom Juni 2004 – noch ausweiten auf Schülerinnen und Studentinnen. Man kann den Bau von Moscheen erschweren und zum Beispiel Minarette verbieten. Man kann die rituelle Beschneidung von muslimischen und jüdischen Jungen einschränken oder verbieten. Schließlich kann man sich, wie in Deutschland geschehen, Verfassungsschutzbehörden leisten, die rassistische Tätergruppen ignorieren und deren Enttarnung erschweren. Natürlich hängt die Frage, ob all diese realen Vorkommnisse und Meinungstrends eine praktikable Alternative zum Multikulturalismus ergeben, von den sozialen Kräfteverhältnissen ab, deren Dynamik sich schwer vorhersehen lässt. In der Vergangenheit ging ein bestimmter Marxismus fälschlicherweise davon aus, dass das Wachstum der Arbeiterklasse irgendwann zwangsläufig zum Sozialismus führen müsse. Genauso fragwürdig scheint mir die Annahme zu sein, dass die bloße Präsenz und das Wachstum ethnischer und religiöser Minderheiten irgendwann zwangsläufig zur Verwirklichung des Ideals einer multikulturellen Gesellschaft führen werden.
Die krypto-marxistische Denkfigur einer naturwüchsigen Tendenz zum Multikulturalismus, die nur noch ins Bewusstsein dringen und anerkannt werden muss, hat nicht zuletzt den Preis, dass man sich nicht mehr für die Frage interessiert hat, was eine multikulturelle Gesellschaft eigentlich normativ auszeichnet und warum es sich lohnt, für sie zu kämpfen. Vielfalt ist nicht per se und auf allen Gebieten ein erstrebenswertes Gut. Es lassen sich zum Beispiel gute Gründe für sogenannte »Ortsbildsatzungen« finden, die in historischen Kulturlandschaften oder alten Städten architektonische und ästhetische Vielfalt zugunsten einer gewissen optischen Einheitlichkeit neuer Bauvorhaben unterdrücken. Wir ahnen, dass es sich mit der kulturellen Pluralität unserer Gesellschaften anders verhält. Aber warum? Meine eigene Antwort auf diese normative Frage kreist um vier Stichworte: Klugheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Utopie.
1. Klugheit. Der Zweck des Multikulturalismus ist die wohlverstandene »Integration« von Zuwanderern und Minderheiten. Integration lässt sich ablesen am Zugehörigkeitsgefühl dieser Gruppen zur Gesellschaft. Zugehörigkeitsgefühle spiegeln Akzeptanz und sind ein Indiz für soziale Teilhabechancen. Multikulturalisten haben verstanden, um James Tully zu zitieren, dass in kulturell heterogenen Gesellschaften ein Zugehörigkeitsgefühl, »a sense of belonging«, nur hergestellt werden kann, wenn alle »eine Form von Bestätigung oder Anerkennung [acknowledgment or recognition] im öffentlichen Leben und den Institutionen« erhalten (Tully 2008: I, 160). Auch Kymlicka (2012) spricht von »multikultureller Integration« als Weg und Ziel. Multikulturalismus ist erfolgreich, wenn sich nachweisen lässt, dass er zur Bildung des kollektiven Gefühls von Migranten und Minderheiten beiträgt, zur Gesellschaft und zur politischen Gemeinschaft wirklich dazuzugehören. In Deutschland bezeichnen nur 58 Prozent der Muslime das Zusammenleben mit der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung als »ungestört«, was ein ziemlich schwaches Adjektiv ist. Dagegen fühlen sich 84 Prozent der britischen Muslime in ihrer Gesellschaft »fair behandelt« (Sachverständigenrat 2013: 18; McGoldrick 2013: 52). Aus meiner Sicht ist dies ein Indikator für den Erfolg und den europäischen Vorbildcharakter des britischen Multikulturalismus.
2. Gerechtigkeit. Eine Politik zur Verteidigung der kulturellen, ethnischen und religiösen Pluralität unserer Gesellschaften ist notwendig, weil es nicht nur eine ungleiche und häufig ungerechte wirtschaftliche Verteilung von Gütern gibt, sondern auch Ungerechtigkeit im Verhältnis von kulturellen Gruppen zueinander. Diese zweite Ungerechtigkeit drückt sich aus in der Geringschätzung, Abwertung und Missachtung der einen durch die anderen – eine Missachtung, die sich irgendwann zu einem habitualisierten Muster wechselseitiger Fremdheit verfestigt. Jüngere Erkenntnisse zu wirtschaftlichen Aufsteigern unter türkeistammigen Migranten zeigen, dass die Missachteten auch und gerade dann, wenn sie erfolgreich und »integriert« sind, ein Ziel von Stigmatisierung bleiben (Sutterlüty 2010). In diesem Sinne kann man von einem Primat der Anerkennung über Verteilungsfragen sprechen: Der Weg diskriminierter Minderheiten zu stabiler wirtschaftlicher und sozialer Teilhabe wird durch eine Politik der Anerkennung geebnet, nicht umgekehrt.
Kulturelle Ungerechtigkeit kann sich auf verschiedene Weise äußern. Der klassische Fall sind überzogene, immer weiter in die Höhe geschraubte kulturelle oder habituelle Anpassungserwartungen an vorgegebene Werte oder Verhaltensstandards, die der Staat an Minderheiten richtet, ohne ihnen gleichzeitig eine Aussicht auf reale Teilhabe zu eröffnen. Weniger bedeutend, aber ebenfalls real ist das umgekehrte Phänomen illegitimer Anerkennungsforderungen von Minderheiten selbst.4 Die Diskussion ist unter anderem deshalb kompliziert – so kompliziert, dass sie aus meiner Sicht ein weiteres Buch erfordert! –, weil eine Reihe von Annahmen ins Wanken geraten sind, die in der Vergangenheit zu Recht oder zu Unrecht mit dem Multikulturalismus in Verbindung gebracht wurden. So sind vor allem gruppenbezogene Kulturbegriffe in Misskredit geraten mit der Folge, dass nicht immer klar ist, wer oder was eigentlich vor wem geschützt werden soll: Muslime oder Juden vor der Mehrheitsgesellschaft? Musliminnen vor ihren Männern? Deutsche vor »deutschfeindlichen« Jugendlichen mit Migrationshintergrund? Fragen dieses Typs haben weitreichende Diskussionen über Legitimität und Grenzen des Multikulturalismus ausgelöst.
3. Demokratie. Es ist aufschlussreich, dass in der umfangreichen Forschung zur »Qualität« von demokratischen Systemen die Frage des Umgangs mit Einwanderern und Minderheiten keine Rolle spielt, solange nicht Verfassungsgrundsätze verletzt werden. Ein gutes Beispiel ist Stein Ringens What Democracy Is For (2007). Ringen möchte darin die vergleichende Demokratieforschung nicht mehr nur als Vergleich von Regierungssystemen verstanden wissen, sondern auch als einen Vergleich dessen, was diese Systeme für die Bürgerinnen und Bürger leisten und bedeuten. Verglichen werden die Regeln der Demokratie und des Wohlfahrtsstaats in unterschiedlichen Ländern sowie die Art und Weise, wie diese Regeln zum guten Leben der Einzelnen und ihrer Familien beitragen. Neben der »demokratischen Politik« soll die »demokratische Kultur«, neben dem »Regime« die »Person« gleichberechtigt Beachtung finden (ebd.: 6, 33). Relevante Indikatoren für die Qualität des Regierungssystems sind der Grad ihrer Konsolidierung, die fraglose Gewährleistung der Pressefreiheit, die Effektivität des Regierungshandelns und der Schutz demokratischer Verfahren vor der Infiltration durch wirtschaftliche Interessen. Indikatoren für die Qualität der Lebenssituation der Bürger in der Demokratie sind der Schutz vor dem Armutsrisiko, die Gewährleistung der Gesundheitsversorgung, das Vertrauen in das politische System sowie das Vertrauen in die Mitbürger (ebd.: 32–47).
Das Problem sehe ich darin, dass Ringen sich nicht wirklich für »Personen« interessiert, sondern nur für Bürger, und zwar für Bürger im Allgemeinen, nicht für ethnische oder religiöse Minderheiten im Besonderen, und schon gar nicht für diejenigen, die keine Bürger sind (Flüchtlinge, »Illegale« usw.) oder sich auf dem manchmal langen Weg zur Einbürgerung befinden. Wenn Demokratien, wie Ringen (ebd.: 32) richtig schreibt, »kind and gentle« sein sollen, dann sollte man konsequenterweise auch nach Indikatoren suchen, mit deren Hilfe sich die spezifisch multikulturelle Qualität von Demokratien messen ließe. Das ist alles andere als eine Nebensache. Die Qualität der Demokratie entscheidet sich nämlich an deren Peripherie, an der Durchlässigkeit von Grenzen und der Offenheit für minoritäre Stimmen. In Analogie zu dem Verfahren, das Ringen anwendet, müsste man folglich auch die Regeln analysieren, die für die Bereiche Asyl, Einwanderung, Einbürgerung und Integration gelten, und danach die Konsequenzen ermitteln, die sich aus der Anwendung dieser Regeln und aus dem Verhalten der Einheimischen für das Wohlergehen und das Zugehörigkeitsgefühl von Nichtbürgern, Neubürgern und Angehörigen von Minderheiten ergeben.5 In Anlehnung an Ringen müssen wir fragen »What is multiculturalism for?« und die Antwort auf dem Feld der Erfahrungen suchen, die dazu beitragen, dass sich Migranten und deren Nachkommen sowie einheimische Minderheiten einem Gemeinwesen verbunden fühlen und sich darin entfalten können. Wenn man will, kann man dieses Ergebnis auch »Integration« nennen. Vorbilder einer solchen wohlverstandenen Integration wären allerdings nicht die assimilierten und trotzdem (oder gerade deswegen) verachteten Juden Europas vor dem Holocaust, sondern eher Figuren wie Esther oder Daniel aus den gleichnamigen Büchern der Hebräischen Bibel (oder des »Alten Testaments«).
4. Utopie. Im Zuge der Rekonstruktion der ursprünglichen politischen Theorie des Multikulturalismus werde ich zeigen, dass diese Theorie keineswegs die fraglose Zugehörigkeit von Einzelnen zu Gruppen und ganzen Kulturen unterstellt. Das Argument für eine Politik zum Schutz der kulturellen Vielfalt von Gruppen ist vielmehr, dass, wenn alles richtig gemacht wird, die individuelle Freiheit gleich mit geschützt wird. In einer Gesellschaft, in der alternative kulturelle Orientierungen und Lebensentwürfe zum Greifen nahe und oftmals buchstäblich in der Nachbarschaft zu finden sind, ist es weder wünschenswert noch möglich, die Einzelnen auf ihre primordiale Zugehörigkeit zu einer Herkunftsgruppe einzuschwören. Gleichwohl kann die Herkunftskultur beides sein: Schranke und Ressource. Will Kymlicka, einer der wichtigsten Vertreter des liberalen Multikulturalismus, sieht den Zusammenhang von Kultur und Freiheit darin, dass Individuen auf eine eigene »kulturelle Struktur« angewiesen seien, um für sich selbst sinnvolle Entscheidungen treffen zu können (Kymlicka 1995). Vielleicht kann man diese Struktur am besten mit der sogenannten Muttersprache vergleichen, die bei Kymlicka einen Teil von ihr bildet. An der Muttersprache wird deutlich, dass sie das Individuum nicht einschränkt oder auf seine Herkunft reduziert, sondern umgekehrt den Zugang zu anderen Sprachen und ihren Sprechern überhaupt erst ermöglicht. Die Unterdrückung der Sprache der Anderen gehörte aus diesem Grund zu den Markenzeichen des Kolonialismus. Der philosophische Multikulturalismus macht das Gegenteil: Er zwingt die Individuen nicht in starre Kategorien von Gruppenzugehörigkeit, sondern leuchtet den kollektiven Hintergrund aus, vor dem sie ihre Freiheit tatsächlich leben können. Auch der einflussreiche Philosoph Charles Taylor betont, dass die Vielfalt von Kulturen die Vielfalt von individuellen Orientierungen nicht unterdrückt, sondern eher hervorbringt. Gerade für Taylor steht fest, »daß das gute Leben für dich nicht dasselbe ist wie das gute Leben für mich« (Taylor 1996: 654).
Das normative Ideal des Multikulturalismus, wie ich es verstehe, besteht folglich nicht in einer Gesellschaft des Dauerkonflikts zwischen verschanzten kulturellen Gruppen, sondern in der Ermöglichung von sozialen Beziehungen zwischen Einzelnen und Gruppen, die nicht mehr durch das Dazwischentreten von Abstraktionen wie Nation, Rasse oder Kultur verzerrt und gefährdet werden. »Leben und leben lassen« statt »Wehe, du respektierst meine Gruppe nicht!« Etwas davon klingt bereits in der Literatur des ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhunderts an, etwa bei Arthur Schnitzler, der aus einer assimilierten Wiener Ärztefamilie stammte und die Zuschreibung »jüdischer Autor« ablehnte, was ihn keineswegs vor dem wachsenden Antisemitismus vieler seiner Zeitgenossen schützte. In seinem 1908 erschienenen Roman Der Weg ins Freie lässt er einen seiner Protagonisten spüren und ausdrücken, dass etwas nicht stimmt mit dem Leben in einem zunehmend fremdenfeindlich geprägten Nationalstaat. Er fühlt sich,
»als wäre auch er sein Leben lang von einer gewissen leichtfertigen und durch persönliche Erfahrung gar nicht gerechtfertigten Feindseligkeit gegen die ›Fremden‹ […] nicht frei gewesen und hätte so sein Teil zu dem Mißtrauen und dem Trotz beigetragen, mit dem so manche sich vor ihm verschlossen, denen entgegenzukommen er selbst Anlaß und Neigung fühlen mochte. Dieser Gedanke erregte in ihm ein wachsendes Unbehagen, das er sich nicht recht deuten konnte, und das nichts andres war als die dumpfe Einsicht, daß reine Beziehungen auch zwischen einzelnen und reinen Menschen in einer Atmosphäre von Torheit, Unrecht und Unaufrichtigkeit nicht gedeihen können.« (Schnitzler 2007: 117)
Das entscheidende Stichwort lautet hier: »reine Beziehungen«. Schnitzler nimmt damit das Herzstück einer politischen Theorie vorweg, die auf die Herstellung einer Gesellschaft von Freien und Gleichen zielt, denen nichts daran liegt, einander überhaupt zu klassifizieren. Das, was Schnitzler seine »dumpfe Einsicht« in den Wert solcher Beziehungen nennt, bildet den Ausgangspunkt eines Denkens, das darauf angelegt ist, den gesellschaftlichen Austausch ohne pauschale Kollektivzuschreibungen zu regeln.
Damit komme ich zu den beiden zentralen Anliegen des Buches. Erstens zeichne ich die Bahn nach, die die Schnecke namens Fortschritt auf dem Gebiet der wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Reflexion über kulturelle Vielfalt in den letzten Jahrzehnten zurückgelegt hat, und liefere einen Überblick über die gesamte Debatte. Zweitens kommt es mir darauf an, dem Unbehagen am Multikulturalismus, das sowohl die politische Theorie als auch die breite Öffentlichkeit nicht nur in Deutschland bestimmt, eine deutlichere Gestalt zu geben, um es besser diskutieren und damit in etwas Neues verwandeln zu können. Meine These lautet, dass die empirischen Details, um die es vordergründig im Streit um den Multikulturalismus geht – religiöse Symbole, Sprachkompetenz von Migranten, Import internationaler Konflikte, Arbeitsmarkt- und Bildungserfolge –, grundlegende Fragen von Identität, Differenz und Solidarität berühren, die nicht nur in der überlieferten Kultur des europäischen Nationalstaats ungelöst geblieben sind, sondern auch im vereinigten Europa weiterbestehen. Fragen der Konstruktion von Differenz und Solidarität stehen im Zentrum der ursprünglichen Theorieansätze, die die Politik des Multikulturalismus inspiriert und in einigen Ländern zu beachtlichen Innovationen geführt haben. Besonders in Deutschland und Österreich dominieren dagegen Missverständnisse darüber, worum es bei der Idee des Multikulturalismus eigentlich geht. In einer Zeit, in der selbst linksliberale Kritiker unter Multikulturalismus nur noch eine Philosophie verstehen, die alle Menschen auf »ihre Herkunft reduziert« und sich das soziale Leben als ein »unverbindlich-tolerantes Nebeneinander« der Kulturen vorstellt, so etwa Mark Terkessides (2010) im Klappentext seines Buches Interkultur, erscheint es mir sinnvoll, zu den Quellen zurückzugehen und die politische Theorie des Multikulturalismus in ihren Grundzügen zu rekonstruieren.
In Kapitel 1 biete ich anhand von literarischen und historischen Texten eine kleine Genealogie des Multikulturalismus. Elementare Modelle des Austausches zwischen kulturell Fremden, die in das Gedächtnis europäischer Gesellschaften eingegangen sind, finde ich in der Literatur der europäischen Aufklärung, der Exilliteratur des 20. Jahrhunderts sowie bei Marcel Proust, der ein ausgezeichneter Analytiker der Identitätspaniken war, die zur Zeit der Dreyfus-Affäre die Französische Republik erfassten. In der Hauptsache geht es mir um die Rekonstruktion des Bedeutungswandels von »Assimilation« sowie die teilweise schon antiken Einwände gegen diese Form des Identitätsmanagements, deren Paradoxien erst im modernen Nationalstaat deutlich zutage getreten sind. In diesem Zusammenhang werde ich weitere Themen streifen: Bismarcks Kulturkampf, bestimmte Erfahrungen des Kolonialismus sowie die Frage einer brauchbaren Typologie unterschiedlicher Formen der Inkorporierung von Neuankömmlingen und ethnischen Minderheiten.
Nachdem ich im Urgestein der Vorgeschichte des Multikulturalismus gegraben habe, erreiche ich in Kapitel 2 die ideellen Quellen dieser Denkströmung. Das Kapitel beantwortet die Frage nach der besonderen Rolle Kanadas in der Frühgeschichte des Multikulturalismus und diskutiert zentrale Theoriebausteine und Autoren, die im Kontext realer institutioneller Neuerungen und verfassungspolitischer Debatten zu sehen sind. Im Einzelnen entwickele ich Charles Taylors Begriffe von Authentizität, Politik und interkulturellem Dialog, James Tullys antiimperiale Auffassung einer öffentlichen Philosophie sowie Will Kymlickas dezidiert liberale Theorie multikultureller Demokratie. In einem nächsten Schritt erörtere ich die Beiträge einiger prominenter Kritiker des Multikulturalismus. So hat Jürgen Habermas frühzeitig die Befürchtung geäußert, dass die staatliche Bestandsgarantie für identitätsstarke kulturelle Gruppen selbst zu einer Norm erstarren könnte, die den einzelnen Angehörigen dieser Gruppen auch gegen deren Neigungen entgegengehalten wird und sie auf Traditionspflege verpflichtet. Interessant ist außerdem, dass sich Habermas in jüngerer Zeit auf Positionen von Taylor und Kymlicka zubewegt hat. Neben Habermas diskutiere ich Varianten der feministischen Kritik sowie die Frage danach, was die Rede von schützenswerten Kulturen und kulturellen Gruppen überhaupt bedeuten soll.
In Kapitel 3 bewege ich mich von den Quellen gleichsam flussabwärts in den Strom der Erfahrung, indem ich von den theoretischen zu gesellschaftlichen Kontroversen um die Implementierung oder Verhinderung multikultureller Handlungsprogramme und Maßnahmen übergehe. Das Ziel ist dabei nicht eine Policy-Analyse, sondern ein Beitrag zu einer »history in ideas«, das heißt zu der Frage, wie die Idee des Multikulturalismus in bestimmten Kontexten Gestalt angenommen und sich gewandelt hat. Ich werde so verfahren, dass ich erst das neuerliche Unbehagen am Multikulturalismus zu beschreiben versuche. Danach diskutiere ich einen bestimmten Typus des staatlichen Umgangs mit diesem Unbehagen, der in verschiedenen Ländern die Gestalt von groß angelegten Untersuchungskommissionen und Institutionen wie etwa der Deutschen Islamkonferenz angenommen hat. Am Schluss dieses Kapitels diskutiere ich eine Reihe von exemplarischen gesellschaftlichen Kämpfen um Anerkennung, Deutungshoheit und Leitkultur, in denen sich jeweils bestimmte Minderheiten mehr oder weniger lautstark zu Wort gemeldet haben. Diese Kontroversen drehen sich um irritierende Kleidungsstücke, rituelle Körperverletzungen, blasphemische Kunst- oder Machwerke, die zu Gegenständen und Auslösern von Kulturkämpfen um das Verhältnis von Solidarität und Differenz geworden sind.
Kapitel 4 schließlich bietet einen thesenartigen Ausblick auf die Zukunft des Multikulturalismus und der »gemischten Multitude«, wie sie schon im Buch Exodus genannt wurde. Alle Flüsse gegenwärtiger Erfahrung münden in dieses Meer, das noch undeutlich vor uns liegt. Ich beginne mit Thesen zum zeitgeschichtlichen Kontext des Multikulturalismus, der etwas zu tun hat mit der Umwertung von »Kultur«, die nicht länger als Schranke von Modernisierung und Fortschritt, sondern als symbolische Ressource wahrgenommen wird. Danach diskutiere ich die Rolle von Juden, Muslimen und Homosexuellen als den paradigmatisch »Anderen« moderner Gesellschaften, an deren Stellung sich die Liberalität dieser Gesellschaften messen lässt. Ich fahre fort mit einer Bestimmung der Rolle von Staatsbürgerschaft in der Debatte und schließe mit einem Kommentar zum Begriff der Interkulturalität, der versteckte normative Implikationen enthält, die mich erneut darin bestärken, angesichts der schlechteren Alternativen an der Politik und Theorie des Multikulturalismus festzuhalten.
Die Interaktion zwischen kulturell Fremden berührt nicht nur die Interessen, sondern auch das Selbstwertgefühl der Beteiligten und ihr Bedürfnis nach symbolischer Ordnung und Abgrenzung, mit anderen Worten das, was man ungenau ihre »Identität« nennt. Mit Blick auf diesen Aspekt skizziert das vorliegende Kapitel elementare Modelle des Austauschs zwischen Migranten, Minderheiten und Neuankömmlingen auf der einen Seite und den schon länger Einheimischen auf der anderen Seite. Diese Modelle entnehme ich der Literatur der europäischen Aufklärung (Montesquieus Persische Briefe), der Exilliteratur des 20. Jahrhunderts (Thomas Manns Joseph in Ägypten) sowie Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit