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Ein Sommer in Schweden, eine Pension am Meer und eine Begegnung, die sie noch Jahrzehnte später im Herzen trägt ...
Wer sein Herz öffnet, riskiert auch, verletzt zu werden. Diesen schlauen Spruch hat Ebba am eigenen Leib erfahren. Ihre Ehe ist am Ende – genau wie ihre Karriere als Beziehungskolumnistin. Denn wer will schon Beziehungstipps von einer geschiedenen Mittvierzigerin? Und nun soll ausgerechnet sie eine Frau interviewen, die 60 Jahre lang glücklich verheiratet war! Ebba reist nach Nordschweden, in ein kleines Dorf und trifft dort Veronika, die mit 79 Jahren immer noch eine eindrucksvolle Erscheinung ist. Doch die große Liebe, von der sie erzählt, ist nicht ihr verstorbener Mann …
Ihre Geschichte berührt Ebba zutiefst: Was geschah wirklich im Sommer 1955? Woran scheiterte Veronikas große Liebe? Und: Kann Ebba ihrer neuen Freundin einen letzten Wunsch erfüllen?
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Seitenzahl: 486
Sara Paborn, 1972 in Sölvesborg geboren, war früher in der Werbebranche tätig und lebt heute als Autorin in Stockholm. 2009 veröffentlichte sie ihr Debüt. In Deutschland erschienen bisher Beim Morden bitte langsam vorgehen und Meine Mutter und die Liebe. Ihr neuster Roman Der Sommer der Distelblüten avancierte in Schweden zum Lieblingsbuch der Buchhändler*innen und begeisterte die Leser*innen.
Außerdem von Sara Paborn lieferbar:
Beim Morden bitte langsam vorgehen
Meine Mutter und die Liebe
SARA PABORN
Der Sommerder Distelblüten
Roman
Aus dem Schwedischen von Nina Hoyer
Die Originalausgabe erschien 2020
unter dem Titel Tistelhonung
bei Albert Bonniers Förlag, Stockholm.
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Copyright © der Originalausgabe by Sara Paborn 2020
Published by agreement with Ahlander Agency
Copyright © 2023 der deutschsprachigen Ausgabe by Penguin Verlag
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Cover: Favoritbüro
Covermotiv: © Westend61 / Torsten Becker / mauritiusimages, © CoSveta / Shutterstock, © Ildiko Neer / Trevillion Images
Redaktion: Friederike Arnold
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-27114-5V002
www.penguin-verlag.de
Für zwei Freunde, die mir geholfen haben, Licht ins Dunkle zu bringen:
Was für ein ungewöhnlicher Leserbrief. Ich sitze im Wartezimmer der Praxis und blättere in einer Zeitschrift. Sofort springt mir die Überschrift »Denkt meine Jugendliebe noch an mich?« in der Kolumne »Frag das Medium« ins Auge. Unterschrieben ist der Brief mit den Worten »Eine Träumerin«. Der ernste, erhabene Ton des Leserbriefs steht in starkem Kontrast zu dem Sammelsurium von Rezepten und praktischen Tipps zum Überwintern von Hyazinthenzwiebeln wie in solch einer Zeitschrift üblich. Mit wachsendem Interesse lese ich:
Liebe Monica,
ich schreibe Ihnen, weil ich in den vergangenen Monaten immer wieder verstärkt an einen jungen Mann habe denken müssen, mit dem ich im Sommer 1955 eine kurze, heftige Liebesbeziehung verband. Er studierte Kunst und war für einige Wochen Pensionsgast bei meiner Mutter auf der Halbinsel Bjärehalvön. Wir wurden damals unter ziemlich dramatischen Umständen voneinander getrennt, und ich habe ihn seither nie wiedergesehen.
Nun verhält es sich so, dass mein Mann vor gut einem Jahr gestorben ist. Wir waren sechzig Jahre lang verheiratet und haben ein schönes, erfülltes Leben miteinander verbracht, obwohl unsere Ehe kinderlos blieb. Währenddessen habe ich kaum jemals an den anderen gedacht. In der letzten Zeit aber schweifen meine Gedanken immer häufiger zu ihm. Er erscheint sogar nachts in meinen Träumen. Was kann das bedeuten? Versucht er vielleicht, mit mir Verbindung aufzunehmen, oder ist das doch nur ein »Hirngespinst« meinerseits? Was raten Sie mir? Ich bin neunundsiebzig Jahre alt.
Für eine baldige Antwort wäre ich dankbar.
Eine Träumerin
Unter dem Leserbrief ist die – gelinde gesagt erstaunliche – Antwort des Mediums abgedruckt. Auf dem dazugehörigen Foto ist eine rundliche Dame mit Pausbäckchen und Tiara zu sehen:
Liebe Träumerin,
Ihre einstige Liebe ist noch am Leben! Ich sehe ganz deutlich einen gut aussehenden Mann mit nunmehr grauem Haar vor mir. Er trägt ein hellblaues Hemd und winkt fröhlich. Menschen, die sich einmal sehr nahegestanden haben, können manchmal, selbst Jahre später, noch seelisch miteinander verbunden sein. Es kommt also durchaus vor, dass man spürt, wenn der andere in Schwierigkeiten ist und die Hilfe des anderen benötigt. Es könnten aber auch unverarbeitete Gefühle Ihrerseits dahinterstecken. Warum haben Sie sich getrennt? Sie schreiben, dass Sie unter ziemlich dramatischen Umständen voneinander getrennt wurden. Vielleicht müssen Sie diesen erst einmal auf den Grund gehen, um Ihren Seelenfrieden zu finden? Wissen Sie, wo Ihre Jugendliebe heute lebt? Falls nicht, können Sie ihn vielleicht einfach im Internet googeln. Ich wünsche Ihnen viel Glück!
Herzliche Grüße,
Monica
Ich nehme zuerst gar nicht wahr, dass mein Therapeut mich aufruft. Ich bin ganz ergriffen. Sechzig Jahre! Und dann dieser Brief an eine völlig fremde Person, der sie noch nie zuvor begegnet ist. Wenn das Medium nun erwidert hätte: Er hat Sie längst vergessen. Hat sich sowieso nie besonders für Sie interessiert. Und gestorben ist er auch schon.
Widerwillig lege ich die Zeitschrift beiseite und gebe Joar die Hand. Wir hatten noch nicht oft das Vergnügen, aber er ist schon wie ein alter Bekannter für mich. Vielleicht bin ich ihm ja als Jugendliche mal auf einem Festival begegnet. Seine dunklen Locken, die ihm bis zum Kinn reichen, die leicht gebeugte Haltung, die engen schwarzen Jeans und dieser unglaublich warmherzige Augenausdruck sind mir angenehm vertraut. Er hält mir die Tür zu seinem Zimmer auf, das Platz für zwei blaue Sessel und einen ausladenden Schreibtisch bietet. Sonnenlicht fällt auf den kleinen Tisch aus Furnierholz mit der obligatorischen Box Papiertaschentücher. Joar holt eine bereits beunruhigend dicke Akte hervor und setzt sich. Sein Schlüsselbund am Hosenbund klimpert.
»Und, wie geht es Ihnen so?« Er sieht mich freundlich an.
»Beschissen!«, erwidere ich.
Joar lächelt.
»Haben Sie die Entspannungsübungen gemacht, die wir besprochen haben?«
»Ja, aber es fällt mir schwer, mich darauf zu konzentrieren. Ich bemerke auch gar keinen Unterschied. Ich habe das Gefühl, es ist zwecklos.«
Ich rutsche unruhig auf dem Sessel hin und her.
»Es muss aber nicht alles zwecklos sein, nur weil es sich so anfühlt«, schärft Joar mir ein. »Die Übungen zeigen erst nach mehreren Wochen Wirkung. Es ist wichtig, dass Sie dranbleiben! Sonst werden wir nie erfahren, ob sie helfen.«
Ich beäuge ihn skeptisch. Joar ist noch jung, erst so um die dreißig, aber vollkommen in sich gefestigt. An den Wänden seines Behandlungszimmers hängen Kunstdrucke. Sein Schreibtisch ist vorbildlich aufgeräumt. Auf einem Flipchart sind Dreiecke abgebildet, darüber der Text Automatische Gedanken.
»Existiert dieses Geräusch überhaupt? Oder ist das pure Einbildung?«, frage ich.
»Sie hören es, also existiert es. Das stimmt doch, oder?« Joar betrachtet mich aufmerksam. »Manche Menschen stören sich schon enorm an einem leisen Geräusch, andere wiederum hören einen lauten Ton, der sie gar nicht weiter beeinträchtigt. Nur die persönliche Wahrnehmung ist entscheidend.«
Er blättert in der Akte auf seinem Schoß. Ich suche Joar aus so vielen Gründen auf, dass jedes Gebiet einen eigenen Reiter für sich beansprucht. Der Tinnitus ist vermutlich das geringste meiner Probleme. Da sind auch noch meine Schuldgefühle, weil ich Tom verlassen und Oskar zum Scheidungskind gemacht habe. Meine Liebe zu Erik und die Trennung von ihm. Meine darauffolgende öffentliche Demütigung. Die Trauer über den Verlust des besagten Erik. Meine latenten Depressionen. Und dazu die Ängste wegen meiner freiberuflichen Arbeitsaufträge beziehungsweise ihrem Ausbleiben. Der Tinnitus ist da eher das Sahnehäubchen obendrauf.
»Seit Ihrem letzten Besuch habe ich mich mehr über den Tinnitus informiert«, sagt Joar mit einem Kopfnicken. »Viele sind ja der Ansicht, das ist ein neuzeitliches Phänomen wegen zu hoher Lärmbelästigung, aber das gibt es wohl schon seit Anbeginn der Menschheit. Ich bin da auf ein paar interessante Aspekte gestoßen. Darunter auch auf eine Schrift über eine medizinische Behandlungsmethode aus dem alten Ägypten. Damals goss man dem Leidenden ein spezielles Öl ins Ohr. Man glaubte, im Ohr wohne ein böser Dämon.«
Joar zieht ein Blatt Papier aus einem Stapel.
»Und nach Aristoteles’ Theorie war der Tinnitus ein Wind, der im Ohr gefangen war und nicht wieder herausfand. Den Betroffenen wurden übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben. Sie könnten irgendwelche Sachen spüren, durch die Zeit reisen und dergleichen. Es galt mit anderen Worten irgendwie als cool. Die Behandlung war allerdings weniger effektiv. Man bohrte einfach ein Loch in den Schädel des Betroffenen, damit der Wind wieder entweichen konnte. Natürlich starb der Patient. Deshalb macht man das heute auch nicht mehr, also Löcher bohren.«
Joar lächelt so breit, dass die Lücke zwischen seinen Schneidezähnen deutlich zu sehen ist.
»Möchten Sie eigentlich etwas trinken? Es ist ganz schön heiß hier drinnen.«
Er schenkt mir ein Glas Wasser aus einer Karaffe ein.
Joar ist verlobt, er trägt einen schlichten Goldring am Finger. Im Herbst wird er Vater. Ich halte ihn für einen glücklichen Menschen. Zumindest erweckt er diesen Eindruck. Vermutlich gehen seine Freundin und er sehr rücksichtsvoll miteinander um. Hören dem anderen zu. Erheben nie grundlos dem anderen gegenüber die Stimme, geben einander Sicherheit und Geborgenheit. Ob Joar wohl auch irgendwo eine alte Flamme hat, die im Hintergrund herumspukt? Aber nein, das kann ich mir kaum vorstellen. Und falls er eine gehabt hätte, hätte er die Angelegenheit mittlerweile sicherlich mit ihr geklärt. Joar zieht es vor, im Hier und Jetzt zu leben, er ist nicht der Typ, der über alten Geschichten brütet. Er trifft Entscheidungen.
Während unserer Sitzungen mache ich mir Notizen, die ich dann später an »sicheren« Orten deponiere. Dahinter steckt die Idee, sie wieder hervorzukramen, wenn ich plötzlich Lust dazu verspüre, und die Ratschläge in die Tat umzusetzen, wenn ich sowieso gerade nichts Besseres vorhabe, als ziellos durch die Wohnung zu schlendern. Aber es ist etwas anders gekommen als gedacht. Ich vergesse regelmäßig, wo ich die Notizen hingelegt habe, so wie ich auch fast alles andere vergesse. Aber manche Sprüche kenne ich sowieso in- und auswendig:
In der Ruhe liegt die Kraft.
Warten, bis der Sturm sich legt und einen sicheren Hafen anlaufen.
Handle nie impulsiv.
Betrachte die Angelegenheit von außen.
Die Zeit heilt alle Wunden.
Diese Merksätze sind kleine Hoffnungsschimmer, die mich immerhin für einen flüchtigen Moment glauben lassen, dass auch wieder bessere Zeiten kommen werden. Leider aber lässt ihre Wirkung häufig schon nach, sowie ich aus der Praxistür bin. Und ich weiß auch nicht, wie ich diese Ratschläge in mein Leben integrieren soll. Das Gebiet zwischen Herz und Verstand ist so unwegsam. Und die Wege in meinem Inneren sind so ausgelatscht, dass jeder Versuch, Berge zu versetzen, um mir neue Wege zu erschließen, mir unmöglich erscheint. Trotzdem habe ich hier, in Joars kleinem Behandlungszimmer, manchmal das Gefühl, dass Veränderungen möglich wären.
Joar nimmt eine Broschüre von seinem Schreibtisch.
»Frisch aus der Druckerei. Nehmen Sie sie ruhig mit, vielleicht sind ja ein paar nützliche Tipps drin.«
Er reicht sie mir: Der kleine Tinnitus-Wegweiser.
Nachdem der nächste Patient in Joars Zimmer gegangen ist, gehe ich unauffällig zu dem Tisch mit den Zeitschriften, trenne diskret die Seite mit dem Leserbrief heraus und stecke sie in die Hosentasche. Dann verlasse ich die Praxis, nehme den Aufzug in die dunkle Eingangshalle und trete hinaus ins grelle Sonnenlicht.
Man denkt, man würde sich immer an das Gefühl der Einsamkeit erinnern.
Man denkt, man würde sich immer an das Gefühl erinnern, geliebt zu werden.
Doch das ist ein Trugschluss. Man weiß später kaum noch, wie das war, selbst wenn man sich geschworen hat, es nie zu vergessen.
Ich kann mich an vereinzelte Momente erinnern, an denen mir durch den Kopf gegangen ist: »Dieses Gefühl musst du bewahren.« So wie damals an einem Tag im Herbst, als ich während eines Platzregens am Zebrastreifen stand, nachdem ich gerade Erik kennengelernt hatte. »Vergiss nicht, wie glücklich du gerade bist«, sagte ich zu mir. »Versuche, dich daran zu erinnern.«
Doch dann vergaß ich es.
Nun hocke ich meistens in der glühend heißen kleinen Neubauwohnung, die wir gemeinsam in einem Stockholmer Vorort erworben haben, und bemühe mich, etwas zu finden, an das ich mich halten könnte: eine Zukunft, einen Plan, eine Vorstellung davon, wie ich den Rest meines Lebens verbringen will. Solche Kleinigkeiten eben. Vor zwanzig Jahren war ich von meiner untrüglichen Fähigkeit überzeugt, stets zu wissen, welcher Weg der richtige für mich sei. Heute stehe ich in einem undurchdringlichen Dickicht und kann nicht mal mehr einen Weg erkennen. Irgendwo in der Ferne scheint da etwas vor sich zu gehen, ich kann ein Rauschen hören, aber zu vieles trübt mir die Sicht. Aber vielleicht ist das Rauschen ja auch nur in meinem Ohr.
Es ist nicht übertrieben, wenn ich sage, dass ich mich verloren fühle und von Leid erfüllt bin.
Auf dem Heimweg schlüpfe ich in eine Konditorei. Ich bestelle mir einen Kaffee und ein Gebäck und setze mich damit nach draußen an einen Tisch an der Straßenecke, wo die Frühsommersonne ihre dekorativen Strahlen hinwirft. Das war immer unser gemeinsames Sonntagsvergnügen – zu verschiedenen Cafés zu fahren und den Anschein zu erwecken, wir würden in dem jeweiligen Viertel wohnen. Erik bestellte dann immer etwas Üppiges mit Sahne, grünem Marzipan oder zittrigem Gelee. Ich nahm meistens eine Punschrolle oder ein Mandeltörtchen. Wir lasen die Zeitung und tauschten sie untereinander aus. Tranken Unmengen von Kaffee. Wir beiden liebten diese kleine Auszeit.
Heute kommt mir die Fahrt mit Bus und U-Bahn in die Stockholmer Innenstadt vor wie eine Reise in die Vergangenheit. Eine Vergangenheit, in der ich noch Programmchefin beim Radiosender war und niemals Zeit gehabt hätte, am helllichten Tag in einem Café zu sitzen. Eine Reise zu einem jüngeren, unbeschwerteren Ich. Vielleicht suche ich diese Gegend deshalb immer wieder auf; mein Zahnarzt und jetzt auch Joar haben hier ihre Praxis. Eigentlich kann ich mir weder die Kognitive Verhaltenstherapie noch den Kuchen von einem der teuersten Cafés der Stadt leisten. Aber ich sehe es als Ausdruck eines letzten Funkens Lebenswillen, der mir noch geblieben ist – trotz allem hier an der Straßenecke zu sitzen und vorzugeben, als gehörte diese kleine Auszeit im Café zu meinem gewohnten Tagesablauf.
Zweiunddreißig Kronen für eine Punschrolle. Achtunddreißig für einen stinknormalen Kaffee. Welch ein Glück, dass man sich umsonst nachschenken darf. Und dass es dazu kleine viereckige Servietten mit dem Aufdruck Tösse in Royalblau gibt. Ich lasse einige davon mit einem Tütchen Zucker in meiner Jackentasche verschwinden. Wer weiß, ob ich sie nicht irgendwann mal gebrauchen kann.
Aus den Augenwinkeln merke ich, wie mich ein Mann mit silbernem, sorgfältig gekämmtem Haar einige Tische entfernt misstrauisch ansieht. Vor zehn Jahren hätte er sich vielleicht ein klein wenig schüchtern vorgebeugt und gefragt: »Entschuldigen Sie die Störung, aber sind Sie nicht die Autorin dieses Buches, wie man seine Beziehung rettet? Ich kenne Sie aus dem Fernsehen.«
Und dann hätte ich gnädig erwidern können: »Ja, ganz richtig. Hoffentlich hat es Ihnen gefallen. Und vielen Dank, dass Sie sich für mein Buch entschieden haben!«
Und daraufhin hätte ich mich wieder meinem Sonnenbad gewidmet. Aber so ist das eben. Niemand kennt mich heute noch. Mein heutiges blasses, schmal gewordenes Gesicht hat nicht mehr viel gemein mit dem Hochglanzporträt auf dem Klappenumschlag meiner Selbsthilferatgeber.
Nie ohne Versöhnung ins Bett, Liebe jeden Tag und The best of Liebeslabor, so lauten die Titel meiner Bücher. Alles Bestseller – zumindest in Schweden.
Mein Buch Harmonische Scheidung, dessen Publikation ich bereue im Hinblick auf alles, was später geschah, wurde bedauerlicherweise viel besprochen, verkaufte sich jedoch nicht. Immer wieder wurde daraus irgendein schlauer Rat höhnisch im Zusammenhang mit meiner eigenen schmutzigen Scheidung zitiert.
Ich habe alle meine Bücher in meinem früheren Leben geschrieben, als ich noch dachte, dass ein bisschen guter Wille und Beharrlichkeit die beste Medizin seien. Nichts hört der Mensch lieber als das – dass alles wieder ins Lot kommt, solange man es nur wirklich will. Dass man alles selbst beeinflussen kann. Dass man alles sein kann, was man will. Sein eigenes Schicksal in der Hand hat. Es stimmt nur nicht, und das weiß niemand besser als ich.
Es gibt da auch noch diesen Aspekt des Unvorhersehbaren, diesen kleinen Fluss des Lebens, der in ein unbekanntes Meer mündet, von dessen Existenz wir vielleicht nie etwas geahnt haben.
Nachdem ich vor meiner zweiten Tasse Kaffee sitze, ziehe ich den Leserbrief aus meiner Hosentasche und lese ihn noch einmal. Wie die Frau wohl aussieht, die ihn geschrieben hat? Und wie heißt sie? Wo lebt sie? In einem Haus, einer Wohnung oder vielleicht in einem Altenheim? Nennt man das heute überhaupt noch so? Ich frage mich, ob sie sich tatsächlich auf die Suche nach ihrer Jugendliebe machen will. Was sie wohl zu ihm sagen würde, falls sie ihn fände? Was sagt man nach sechzig Jahren? Ich habe dich vermisst? Wo bist du gewesen?
Die Briefschreiberin hat ihren Mann zur selben Zeit wie ich verloren. Ihrer ist gestorben. Meiner hat mich nur verlassen.
Doch während ich es kaum wage, mich selbst im Spiegel anzusehen, träumt sie von ihrer Jugendliebe. Ist »eine Träumerin«. Träumt davon, dass ihre einstige Liebe noch immer an sie denkt und nach all dieser Zeit Verbindung zu ihr aufnehmen will. Vor ein paar Jahren noch hätte ich das Ganze als Spleen abgetan. Ich weiß nicht, ob das Alter, meine eigene Krise oder meine plötzliche Wesensveränderung schuld daran sind, dass ich andere jetzt nicht mehr so vorschnell verurteile. Wie gut es sich doch anfühlte, sich sicher zu sein, wer schlau war und wer dumm. Von seinem eigenen untrüglichen Urteilsvermögen überzeugt zu sein und davon, alles im Griff zu haben. Damals konnte ich beim Seitensprung anderer sogar eine gewisse Schadenfreude empfinden. Es ist wirklich ein Jammer, dass einem dieses Vergnügen geraubt wurde. Heute stimme ich im besten Fall in das Gelächter anderer mit ein. Und wenn ich jetzt über jemanden lache, dann aus Angst wegen des hauchdünnen Grats, der mich vom Leid des anderen trennt.
Ich war nie jemand, der besonders solidarisch mit den Schwächeren war. Es hat sich einfach so ergeben.
Eine Träumerin würde das Glitzern auf längst verebbten Wellen sehen.
Eine Träumerin würde sich fragen, wie sie Seelenruhe fände. Da wäre sie nicht die Einzige.
Trotz allem drängt sich mir immer wieder der Gedanke auf, wie rührend es doch ist, wenn Menschen ihr Schicksal in die Hände einer ihnen vollkommen fremden Person legen, solange es nur um etwas von großer Wichtigkeit geht.
Ich war über viele Jahre Moderatorin einer beliebten Radiosendung zum Thema Liebe und Beziehungen, bei der die Hörer anrufen und sich beteiligen konnten. Weil ich diese Rolle so gut ausgefüllt habe, bekam ich schließlich eine eigene Sendung, Das Liebeslabor, bei der mir eine Gruppe von Experten zur Seite stand. Wir wollten für den Singlemann oder die Singlefrau der Woche einen passenden Partner finden, haben über Fehltritte beim ersten Rendezvous Witze gerissen und Beziehungsratschläge erteilt. Als sich ein Verlag bei mir meldete und mich fragte, ob ich nicht ein Buch darüber schreiben wolle, schien das nur eine natürliche Folge zu sein. Auf das erste Buch folgte ein zweites, und beide wurden ein großer Erfolg. Ich nahm es als selbstverständlich hin, dass es auch in Zukunft so weitergehen würde. Dass ich vor großem Publikum Vorträge halten und man mich um Mitwirkung bei diesem und jenem bitten würde. Mein Ehemann Tom und ich waren der beste Beweis dafür, dass man mit seiner Jugendliebe dauerhaft zusammenbleiben konnte. Wir hatten uns mit Anfang zwanzig kennengelernt und waren ein umtriebiges Paar voller Elan. Ich zitierte ihn in meinen Büchern häufig als Beispiel und gab humorvolle und lehrreiche Anekdoten aus unserem Leben zum Besten. Nicht selten über kleine Meinungsverschiedenheiten mit glücklichem Ausgang. Zwischen uns herrschte eine unglaubliche Einigkeit darüber, wie gut wir einander doch ergänzten. Ich war impulsiv, er nachdenklich. Er plante vorausschauend, ich spontan. Dem Vier-Farben-Modell der Persönlichkeitstypen zufolge war Toms Persönlichkeit blau, und meine rot. Und beide langweilten sich.
Mittlerweile ist mir nur eine einzige Kolumne in einer Monatszeitschrift geblieben. Allerdings hat die Redakteurin zuletzt eine gewisse Besorgnis darüber geäußert, dass meine zunehmend deprimierenden Texte meine Leserschaft dazu bewegten, ihr Leben beenden zu wollen, statt es zu bejahen. Die Widrigkeiten des Lebens sind nur so lange kommerziell interessant, wie sie sich im Leben glücklicher Menschen abspielen. Wenn der Leser sich sicher sein kann, dass sie nur vorübergehend sind. Das pure Elend verkauft sich schlecht.
Um meine Kasse aufzubessern, habe ich im letzten Jahr einen Fernkurs in Kreuzworträtsel-Erstellung absolviert und entwickle jetzt für diverse Magazine ausgeklügelte Kreuzworträtsel – in die ich gerne Wörter wie Zweifel, Ohnmacht und Seelenpein unterbringe. Damit wenigstens einige Leute über diese Dinge zum Nachdenken gezwungen werden, auch wenn sie es nicht wollen.
Ich trinke meine vierte Tasse Kaffee aus und schlendere widerwillig in Richtung U-Bahn. Es gibt nichts, was mich zu Hause erwartet, aber irgendwann lässt sich das Heimfahren nicht länger vermeiden.
In der Bahn schlage ich Joars Broschüre über den Tinnitus auf und lese:
Der Begriff Tinnitus kommt von lateinisch tinnīre – klingeln. Der Tinnitus kann als ein Pfeifton, Brausen oder Rauschen in Erscheinung treten, als ein Knacken, Zischen oder Klingeln. In den vergangenen Jahrhunderten wurde der Tinnitus durch die Verabreichung von Fuchsfett, Stiergalle, Blattläuse, Zedernbaumsaft, Rosenöl, Honig, Essig und Weißwein behandelt.
Mit Weißwein kann ich dienen.
Ich sehe aus dem verdreckten U-Bahnfenster. Wir fahren gerade in die Station ein. Ganz in der Nähe wohnt Erik mit seiner Neuen. Die Wagons quietschen und rumpeln. Ich habe schon monatelang nicht mehr mit Erik gesprochen. Irgendwo da über mir sitzt er vielleicht gerade mit ihr am Küchentisch, oder sie liegt auf dem Futonbett, auf dem ich früher lag, während er auf der Suche nach Embryogeräuschen ein Ohr an ihren Bauch presst. Jedenfalls befinde ich mich gerade direkt unter ihm. Stecke tief unten im Felsgestein in einem Tunnel.
Ich versuche die Symbolik zu verdrängen.
Vor meinem geistigen Auge flackert eine flüchtige Erinnerung vorbei. Wie wir in seinem Bett liegen und er zu mir sagt: »Wären wir uns doch bloß früher begegnet, dann wäre uns mehr Zeit miteinander geblieben.«
Der Zug bremst, die Schienen klirren. Ich schließe die Augen, spüre den Luftzug vom Bahnsteig.
Seitdem ich keine feste Stelle mehr habe, habe ich mir angewöhnt, morgens lange zu schlafen. Je länger man schläft, umso schneller geht der Tag rum. Mehr Schlaf ist auch gut für den Teint. Wenn andere zu Mittag gegessen haben, mache ich mich mit dem Gedanken vertraut, aufzustehen. Ausgerechnet heute aber weckt mich vorzeitig das Klingeln des Handys, das ich auszustellen vergessen habe. Ich werfe einen Blick auf die Uhr. Halb zehn. Im Prinzip noch Nacht. Anna, die Redakteurin der Zeitschrift, für die ich schreibe, meldet sich.
»Hej, Ebba, wie geht’s dir?« Ihre Stimme klingt zerstreut, geistesabwesend.
»Gut«, erwidere ich schlaftrunken. »Beziehungsweise so gut es eben geht.«
»Mmm. Weißt du, Ebba, wir haben uns hier in der Redaktion ein bisschen unterhalten …« Einen Augenblick herrscht Stille in der Leitung. Im Hintergrund sind Lärm und Stimmengewirr zu hören. Gewöhnliche Geräusche, wie sie Menschen von sich geben, die eine Arbeit haben, der sie nachgehen können. »… und wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass wir bei der Kolumne Umstrukturierungen vornehmen müssen.«
»Und was heißt das?« Ich richte mich im Bett auf.
»Wir brauchen eine neue Kolumnistin, jemanden, der präsenter in den heutigen Medien ist.« Anna räuspert sich. »Ich weiß, dass deine Kolumne beliebt ist, aber du hast sie mittlerweile ja schon ziemlich lange, und im letzten halben Jahr … na ja, da schienen dir ein wenig die Ideen auszugehen. Außerdem ist es vielleicht auch für dich besser, deine privaten Probleme nicht in der Zeitschrift breitzutreten. Ich mache mir ehrlich gesagt ein bisschen Sorgen um dich.«
Ich sage nichts. Mir wird eiskalt. »Du kennst das ja – wir bekommen selbst Druck von oben. Wir müssen neue Weichen stellen.«
»Diese Kolumne ist mein einziges regelmäßiges Einkommen«, erwidere ich mit gepresster Stimme.
In Annas Stimme schleicht sich ein angespannter Ton.
»Ich weiß, dass das hart ist, aber so ist die Lage nun mal. Wir müssen umstrukturieren.«
»Und was heißt das konkret? Soll ich die Arbeit an der Kolumne erst mal unterbrechen?«
»Das heißt, dass wir im Moment keine Möglichkeit sehen, unsere Zusammenarbeit mit dir fortzuführen. Jedenfalls nicht die augenblickliche, aber es können sich ja andere Aufträge ergeben. Einzelprojekte.«
»Aber meine nächste Kolumne über mentale Erschöpfung und Selbstzweifel ist doch schon fertig!«, protestiere ich mit schriller Stimme.
»Sie wird auch wie geplant ins Magazin kommen, aber danach … danach wird jemand anderes deine Kolumne übernehmen.«
Mir will keine Erwiderung mehr einfallen. Stattdessen starre ich aus dem Fenster. Die Kiefer hat ihre Nadeln verloren.
»Bist du noch dran, Ebba?«, fragt Anna mit besorgter Stimme.
»Jaja«, antworte ich.
»Wir können ja nach den Ferien noch einmal bei einem Kaffee über die Sache reden. Jetzt ist hier gerade die Hölle los.« Sie scheint die Hand vor die Muschel zu halten und spricht gedämpft mit jemandem im Hintergrund. Als sie das Gespräch wieder aufnimmt, klingt ihre Stimme gehetzt. »Ich muss jetzt los zu einer Besprechung. Wir unterhalten uns später weiter. Pass auf dich auf!«
Mit diesen Worten legt sie auf.
Nach meiner Scheidung von Tom vor zwei Jahren wollte niemand mehr sechzehntausend Kronen für einen Vortrag zum Thema Beziehungsrettung bezahlen. Meine Dating-Sendung wurde auf Eis gelegt, und meine im Affekt getroffene Entscheidung, beim Sender zu kündigen, erwies sich als heftiger Irrtum. Danach wurde ich nicht gerade mit freiberuflichen Aufträgen überschüttet. Meine Kolumne im Magazin Die neue Frau (deren Auflage sich gerade im Sinkflug befindet) war die einzige, die mir noch geblieben war. Sie ist von symbolischem Wert für mich, obwohl ich mein Einkommen zurzeit vor allem durch die Kreuzworträtsel bestreite.
Mir InDesign für meine Kreuzwortkonstruktionen anzueignen und nur noch die Hälfte meines vorherigen Einkommens zu verdienen, war nach den vielen Umwälzungen der letzten Jahre wie eine mentale Reinigung. So eine Art seelische Darmspülung. Die strenge, begrenzte Form der Kreuzworträtsel hat mir große Befriedigung geschenkt. Das Triumphgefühl, das sich beim Aufspüren des exakt passenden Wortes mit der richtigen Anzahl Buchstaben einstellt, damit das Rätsel aufgeht, ist nicht zu unterschätzen.
Bedauerlicherweise sind seitens meines größten Auftraggebers Nostalgische Kreuzworträtsel kürzlich Beschwerden über meine Wortwahl laut geworden. Manche Leser sind anscheinend der Ansicht, ich würde immer wieder dieselbe Art von Lösungswörtern verwenden. Das finde ich – gelinde gesagt – undankbar, habe ich doch so viel Mühe darauf verwandt. Irgendwer muss sich immer über irgendetwas beschweren, ganz egal, wie gut man seine Sache auch macht.
Trotzdem muss ich mich bei der kleinen Handvoll an Aufträgen, die ich noch habe, mehr ins Zeug legen. Sonst bleibt mir bald nichts anderes übrig, als mich den weniger kreativen und schlechter bezahlten Sudokus zu widmen. Ich umklammere das Handy. Wie lautet diese eine Redewendung gleich noch mal? Ach ja. Noch niemand ist daran erstickt, seinen Stolz herunterzuschlucken. Ich rufe Anna an. Sie nimmt nach fünfmaligem Klingeln ab.
»Ja?«, meldet sie sich atemlos.
»Entschuldige die Störung, aber falls im Sommer noch irgendwelche Aufträge eintrudeln, kannst du dich dann bei mir melden? Ich habe noch ein paar Slots, die ich füllen könnte.«
»Was für ein lustiger Zufall, dass du gerade jetzt anrufst.«
»Ach ja? Wieso denn?«
»Wir haben gerade einen Auftrag reinbekommen, für den wir einen Autor brauchen. Die eigentliche damit beauftragte Journalistin hat ihn zurückgegeben, weil er ihr zu schlecht bezahlt ist.«
»Das klingt interessant«, sage ich und lege mich wieder ins Bett. »Worum handelt es sich genau?«
»Um eine Artikelserie über Paare, die sehr lange miteinander liiert waren. Länger als zwanzig Jahre. Dein früheres Metier, könnte man so sagen.« Anna räuspert sich. »Wir wollen uns stärker der älteren Generation zuwenden und herausfinden, wie sich die Sichtweise auf die Liebe und die Erwartungen über die Jahre verändert haben. Drei Porträts sind schon fertig, eines fehlt noch. Aber ist das denn überhaupt etwas für dich? Es ist nur ein einziges Interview.«
»Doch, das ist was für mich«, erwidere ich wie aus der Pistole geschossen.
»Die Story soll aber humorvoll rüberkommen. Leicht und unbeschwert. Und keine Weltuntergangsstimmung verbreiten.«
»Verstehe.«
»Zehntausend Zeichen. Abgabe in zwei Wochen. Schaffst du das?«
»Und wen soll ich interviewen?«
»Das ist das Problem. Die Frau, die wir dafür vorgesehen hatten, ist gestorben, wir sitzen also etwas in der Tinte. Wir müssen eine andere auftreiben.«
Mein Mund fühlt sich mittlerweile ganz trocken an, aber irgendwie bringe ich die Worte doch hervor:
»Ich kenne da vielleicht jemanden.«
»Und wen?«
»Eine … äh … Bekannte. Eine alte Freundin. Sie war sechzig Jahre lang verheiratet – glücklich verheiratet.«
»Sechzig Jahre?!«, erwidert Anna ungläubig.
»Ja. Aber ihr Mann ist vor einem Jahr gestorben. Vielleicht kann sie sich ja vorstellen, sich dafür zur Verfügung zu stellen. Ich könnte mal mit ihr reden.«
»Lebt sie denn in Schweden?«
»Ja, in Schonen.«
»Das zählt zu Schweden.« Anna verstummt kurz.
»Na gut, frag sie. Und sag mir Bescheid, wenn du Genaueres weißt.«
»Natürlich. Kein Problem.«
»Prima. Dann mach’s gut, Ebba«, sagt Anna, und ihre Stimme klingt jetzt eine Spur weicher.
Ich liege im Bett. Die Jalousie hängt schief. Das tut sie schon lange, aber ich habe noch nicht die Kraft gehabt, es zu ändern. Unter meinem Bett liegt ein Haufen Schmutzwäsche. Die Handtücher im Badezimmer sind an den Rändern ausgefranst. In den letzten neun Monaten habe ich alles einfach nur schleifen lassen. Manchmal erscheint es einem sicherer, in seinem Elend zu verharren, als es hinter sich zu lassen. Richtet man den Blick nach vorn, rückt die Zeit vor dem Elend nur noch mehr in weite Ferne. Will man das?
Manchmal hält man die Vergangenheit einfach fest, selbst wenn das bedeutet, dass die Gegenwart beschissen ist.
Man kann sich selbst bestrafen, indem man nicht länger für sich selbst Verantwortung übernimmt, indem man alles um sich herum zugrunde gehen lässt, so wie man selbst zugrunde geht.
All diese Erkenntnisse sind mir im letzten Jahr gekommen. Es waren vielleicht nicht unbedingt die Erkenntnisse, die ich mir erhofft hatte, doch was soll’s.
Mein Sohn Oskar ist gerade mit seinem Vater und dessen neuer Freundin Malin – einer Biologielehrerin – unterwegs. Sie ist ein Jahr nach unserer Scheidung bei Tom eingezogen, hat dort rasch rigorose Ordnungsregeln eingeführt und den Scherbenhaufen seines Lebens zusammengekehrt. Sie haben Pläne: Wollen zu dritt eine Gebirgstour in Norwegen machen. Wollen mit dem Auto umherfahren und zelten. Zwei Gemeinschaftsschullehrer, die dazu imstande sind, Rücksichtnahme zu zeigen, zu fischen und Pilze zu sammeln. Abends werden sie ihre Wollkleidung zum Lüften raushängen und im Zelt Gesellschaftsspiele spielen.
Ich habe keine Pläne.
Wir haben jetzt Ende Mai. Es ist der wärmste Mai seit hundertfünfzig Jahren. Die Vogelkirsche ist schon verblüht. Die Fliederblüten an den Zweigen vertrocknet. Und der ganze Sommer liegt noch vor mir.
Ich kann mich nirgendwohin flüchten. Also kann ich genauso gut versuchen, diese Frau zu finden.
Die Träumerin.
Wenn man nur will, lassen sich die meisten Menschen aufspüren. Manche bleiben natürlich unter dem Radar, aber es ist schwer, keinerlei Spuren zu hinterlassen. Wer keine Spuren im Netz hinterlässt, gilt rasch als suspekt. Die meisten Personen treten in irgendeinem Kontext in Erscheinung, selbst wenn sie es nicht darauf anlegen: als Mitglied eines obskuren Gremiums oder als Fußnote in einem Schreiben an den örtlichen Segelverein oder die Hausverwaltung. Aber da dieser Leserbrief nicht mit richtigem Namen unterschrieben wurde, bleibt mir nichts anderes übrig, als mich zuerst an die Zeitschriftenredaktion zu wenden, die ihn veröffentlicht hat.
Ich schustere eine E-Mail zusammen und schreibe, ich sei Journalistin und würde gerne für eine Reportage über lang währende Partnerschaften Kontakt zur Verfasserin des Leserbriefes, signiert mit Eine Träumerin, aufnehmen. Die Briefschreiberin könne sicher so manche Erkenntnis dazu beitragen.
Schon nach zwei Stunden bekomme ich Antwort.
Hallo!
Vielen Dank für Ihre Nachricht. Wir freuen uns, dass Sie unsere Zeitschrift Goldener Herd lesen! Wenn ich mich recht entsinne, haben wir in unserem Magazin auch einmal Ihr letztes Buch empfohlen. Aber inzwischen ist es wohl schon länger her, dass Sie etwas geschrieben haben, oder? Nichtsdestotrotz habe ich Ihre Anfrage an unser Medium weitergeleitet und hoffe, dass Sie sich baldmöglichst bei Ihnen meldet. Lesen Sie gern weiterhin Goldener Herd. Im Moment haben wir sogar ein Sonderangebot für ein halbjähriges Abo. Nur 143 Kronen! Darüber hinaus erhalten Sie eine schöne Vase von Alvar Aalto dazu. Klicken Sie auf folgenden Link, um mehr darüber zu erfahren!
Mit freundlichen Grüßen,
Jaana Isaksson, Chefredakteurin
Ich versuche tunlichst darüber hinwegzusehen, dass ich inzwischen vor allem in meiner Eigenschaft als potenzielle Abonnentin gefragt bin, nicht als Promi, über den man Artikel schreibt. Falls das Medium sich nicht im Laufe einiger Tage bei mir meldet, werde ich mich selbst an sie wenden. Und bis dahin? Auf der Couch liegen und warten. Mir irgendeine Fernsehserie reinziehen. Oder vielleicht den Pollenstaub von den Fensterscheiben wischen, damit ich die blühende Heckenkirsche auf dem Hof sehen kann. Ich könnte nach dem Großreinemachen auch ein paar rosa- und orangefarbene Blüten davon abschneiden und auf den Küchentisch stellen.
Vielleicht in einer Vase von Alvar Aalto?
In jenem Sommer gab es massenhaft Bienen in der Pension. Buchstäblich eine Invasion. Niemand wusste, woher sie kamen oder wo sie ihr Nest hatten, aber sie waren überall. Vor allem im Haus. Sie kamen in Scharen, krochen über den Boden und an Tischbeinen hinauf, fielen in den Saft und blieben an den klebrigen Likörflaschen in der Bar hängen. Manche lagen tot in den Fensterrahmen, andere krabbelten in die Bodenabläufe der Badezimmer.
Am Anfang des Sommers waren noch alle davon ausgegangen, dass es sich bei ihnen um Wespen handelte. Beim Frühstück wurden die unterschiedlichsten Ratschläge ausgetauscht, wie man sie loswerden könnte. Den Hals mit Essig einreiben! Keine bunte Kleidung tragen! Nicht barfuß gehen! Ein weiblicher Stammgast seit vielen Jahren, Frau Cedergren, meinte, man solle weißen Pfeffer in die Rabatten schütten. Eine andere Dame wiederum schwor, dass nur eine frisch aufgeschnittene Zwiebel, unmittelbar auf der vom Wespenstich betroffenen Stelle, Hilfe verspräche. Sie selbst hatte sich mit Gummiband eine Zwiebel am Fuß befestigt und lag im Liegestuhl.
Im Juli hatte ein bescheidener Dozent aus Lund Veronika darüber aufgeklärt, dass es Bienen seien, die da ihr Unwesen trieben. Veronikas Mutter, die Pensionswirtin, wurde gleich darauf mit allerhand Fragen von den Gästen überschüttet. Die gesamte Pension stellte Mutmaßungen über dieses Rätsel an. Wieso tauchte wie aus dem Nichts plötzlich ein ganzer Bienenschwarm auf? Waren sie vielleicht einem Imker entwischt? Doch wer sollte das sein? Oder waren es gar Wildbienen? Diese gruben sich offenbar Erdhöhlen oder hausten in verlassenen Wühlmausgängen. Aber weshalb hatten sie ausgerechnet diese Pension gewählt? Die Meinungen darüber gingen auseinander.
Die Köchin Signe hatte auf den Tischen der Veranda Saftflaschen verteilt, um dieses verfluchte Geschmeiß anzulocken. Die meisten Gäste zogen sich unter die Sonnenschirme im Garten zurück, spielten eine Partie Krocket oder dösten während der heißesten Stunden in der Hollywoodschaukel vor sich hin. Andere wiederum gingen an den Strand. Es war August, und das Wasser war mehr als zwanzig Grad warm. Man sprach schon von einem Hitzerekord.
In den letzten Sommerwochen half Veronikas ältere Cousine Francie beim Pensionsbetrieb mit. Sie hatte gerade ihre Verlobung mit einem jungen Mann namens Roy gelöst, war aber eigentlich viel zu faul, um eine echte Hilfe zu sein. Die meiste Zeit verbrachte sie in der Hängematte auf der kleinen Rasenfläche hinter dem Kücheneingang und gab vor, sich erheben zu wollen, wenn man an ihr vorbeiging. Stapelweise Zeitschriften lagen im Gras, und sie trank immerzu Eistee. Damit hatte sie in Kopenhagen während ihrer einjährigen Ausbildung zur Stenografin begonnen. Eigentlich wollte sie aber überhaupt nicht Stenografin werden, sondern Schauspielerin. Francie zufolge konnte Stenografin aber durchaus ein Sprungbrett zur Schauspielerei sein. Sie könnte damit vielleicht eine Stelle an einer Theaterkasse oder – verwaltung bekommen und für eine kranke Schauspielerin einspringen. Schauspielerinnen waren schließlich ständig krank. Da galt es dann, zu zeigen, was man draufhatte.
Francie schlief in einem Nebengebäude und war dort vollauf damit beschäftigt, sich vor dem Spiegel mit Marilyn Monroe zu vergleichen. Sie bleichte sich ihre Haare mit Wasserstoffperoxid, erhitzte ihren Lockenstab auf dem Küchenherd und belegte zum Verdruss das WC der Gäste. Die Haushaltsarbeiten rangierten unter ferner liefen. Folglich wischte meistens Veronika die Böden, bezog die Betten und stellte frische Blumen auf die Nachttische.
Veronika war siebzehn. Ein Alter, in dem man davon ausging, dass es die Blütezeit junger Mädchen und das Leben einfach nur wundervoll sei. Weibliche Pensionsgäste höheren Alters kniffen Veronika gelegentlich ahnungslos mit den Worten in die Wange: »Und, wie sieht es aus? Haben Sie schon einen feschen Verehrer, Fräulein Veronika?«, oder »Wie schön es doch ist, jung zu sein und das ganze Leben noch vor sich zu haben!« Veronika mochte dieses Gerede überhaupt nicht. Sie empfand sich selbst überhaupt nicht als jung, jedenfalls nicht von ihrem Wesen her. Sie war nicht wie Francie, die sich wie selbstverständlich das vom Leben nahm, was es ihr bot. Sie war nicht davon überzeugt, dass sie eine strahlende Zukunft vor sich hatte, und ging nicht davon aus, glücklich zu werden. Andere Mädchen ihres Alters schienen anzunehmen, dass ihr Leben mit Heirat und Familie, einem eigenen Haus und wiederkehrenden Festen nach einer festen Gesetzmäßigkeit und in heimeliger Harmonie verlaufen würde. Veronika wusste nicht, woher sie diese Gewissheit nahmen. Francie zum Beispiel ging wie selbstverständlich davon aus, dass sie einen neuen Mann kennenlernen würde, sowie sie sich aus der Hängematte bequemte.
Veronikas Gedanken dagegen kreisten vor allem um das, was nicht eintreffen würde. Um alles, was schiefgehen konnte. Das Leben mit all seinen Anforderungen erschien ihr übermächtig – alles, was man lernen sollte, womit man umgehen sollte, was man wuppen, was man durchmachen sollte. Da reichte ja schon ein Blick auf die Pensionsgäste. Manche von ihnen waren gezeichnet vom Leben, unglücklich, einsam, voller Kummer. Das wusste sie einfach. Nicht selten hatten sie Veronika im Gesellschaftszimmer ihr Herz ausgeschüttet, ihre Hand umklammert und sich lang und breit über ihre Gebrechen, über Todesfälle und Zipperlein ausgelassen. Dann tat Veronika immer ihr Bestes, um sie zu trösten, obwohl sie sich eigentlich gar nicht mit deren Problemen auskannte. Doch natürlich war jeder Mensch Prüfungen unterworfen. Und der Schein trog nicht selten.
Und obwohl Veronika wusste, dass man nicht viel erwarten konnte, wartete sie insgeheim auf etwas. Es war ein Gefühl, wie wenn man ein Sammelalbum mit getrockneten Schmetterlingen aufschlug, oder wie der Nervenkitzel, der einen kurz vor dem Ende einer Spukgeschichte packte. Die Erwartung von etwas Rätselhaftem, von einem Mehr.
Sie wusste nur nicht, was es war.
Veronika hatte gerade ihren Realschulabschluss gemacht. Sie war noch nie richtig verliebt gewesen, hatte nur einige Jungen sympathisch gefunden und für sie geschwärmt, in die andere Mädchen verliebt gewesen waren. Manchmal hatte sie einen als möglichen Anwärter zu sehen versucht, aber nie ein echtes Interesse für denjenigen aufbringen können. Die gleichaltrigen Jungs, die es wagten, sich ihr zu nähern, obwohl sie selbst einen Kopf größer als die meisten von ihnen war, interessierten sie nicht. Ihre unbeholfene Art, ihr den Hof zu machen, verursachten ihr höchstens Beklemmungen. Manchmal wurde sie von älteren, beschwipsten Pensionsgästen umworben. Diese musste Veronika dann vorsichtig dazu bringen, sie in Ruhe zu lassen. Man konnte es ihnen ja nicht geradeheraus auf den Kopf zusagen, das wäre unhöflich gewesen. Dass sie für andere auch immer ein offenes Ohr haben musste! Immer gut gelaunt und verständnisvoll tun musste. Manchmal hatte sie das so satt! Und während die Gäste mit leichtem Herzen davongingen, blieb sie zurück mit der Last.
Sie war zu groß. Eine Zeit lang war sie nur die Zweitgrößte in der Klasse gewesen, was ihr nur entgegenkam, wenn jemand einwandte, wie groß sie sei. Doch dann hatte die noch größere Margareta Kjellgren die Klasse verlassen, und Veronika bekam den Spitznamen Pat verpasst.
»Steh gerade!«, sagte Veronikas Mutter ärgerlich. »Du siehst nicht kleiner aus, nur weil du dich duckst!«
Aber das glaubte Veronika nicht. Sie musste doch wohl etwas kleiner wirken, wenn sie den Kopf einzog? Das war doch nur logisch. Eine Weile hatte sie mit einem kleinen, pummeligen Mädchen aus ihrer Klasse herumgehangen, die den Beinamen Patachon hatte. Pat und Patachon. Nach dem gleichnamigen, beliebten dänischen Komikerpaar. Der Spitzname blieb sofort an Veronika kleben und war nur schwer wieder loszuwerden. Eine Zeit lang war sie so schnell gewachsen, dass sie nachts Rückenschmerzen bekam und zur Behandlung zu einem amerikanischen Chiropraktiker gehen musste.
Manchmal zog Veronika sich mitten am Tag zurück in das Gesellschaftszimmer der Pension mit seinen durchgesessenen Samtsesseln, dem Bridgetisch mit grünem Filzbezug und dem Regal, in dem die Bücher standen, die die Gäste zurückgelassen hatten. Dort war es angenehm dunkel. In dem Zimmer stand auch ein Sekretär mit Briefpapier, Kuverts und Stiften, falls jemand Briefe schreiben wollte. Die Stammgäste bekamen ihre Post immer direkt in die Pension geschickt. Manchmal saß ein Gast dösend im Gesellschaftszimmer und schnarchte die Tapete an, oder an dem runden Jacaranda-Tisch wurde Karten gespielt.
Es war noch gar nicht so lange her, da hatten die älteren, jährlich wiederkehrenden Gäste immer ihr Portemonnaie gezückt und Veronika etwas Geld zugesteckt, sowie sie ins Zimmer kam. Einen Groschen für die Kinder, damit sie sich etwas Süßes kaufen konnten, vielleicht ein Eis von Angels Kiosk. Das war Usus. Viele der Stammgäste, zumindest die weiblichen, hatten Namen, die auf Y endeten: Henny. Elsy. Evy. Elvy. Lilly. Dagny. Vielleicht hatten ihre Mütter auf diese Weise dem gewöhnlichen, etwas derben Namen einen glamouröseren und weicheren Klang geben wollen, obwohl die Damen selbst meistens ziemlich robust waren. Viele hatten in eigens dafür mitgebrachten Cretonne-Taschen mit Bambusgriff Handarbeiten dabei. Brüsseler Spitze. Stricknadeln mit halb fertigen Strümpfen. Kinderkleidung für eine Cousine oder einen Vetter, stramm gehäkelt, wie um nicht in Vergessenheit geraten zu lassen, wie hart und unerbittlich das Leben war. Westen, die an Kettenhemden erinnerten. Jacken, die kleinen gestrickten Rüstungen glichen. In diese Kinderkleidung war eine versteckte Warnung eingearbeitet: Das Leben ist nicht so einfach, wie du dir vorstellst! Du brauchst Schutz!
Die Damen nahmen alles sehr genau. Einige versahen Kopfkissen mit Hohlsäumen, deren Fertigstellung den ganzen Sommer dauerte. Andere wiederum stickten Monogramme auf mitgebrachte Handtücher oder Bettwäsche. Veronika gefielen diese weiblichen Stammgäste, ihre patente und unverblümte Art. So wie Veronikas Mutter waren viele verwitwet. Einige wenige waren nie verheiratet gewesen.
Jetzt gerade war Veronika jedoch allein im Gesellschaftszimmer. Die Pendeluhr an der Wand tickte laut. Auf dem Tisch lag ein abgegriffenes Kartenspiel in einem Holzkästchen neben einem Stapel mit Illustrierten. Abends nahm Veronika häufig einige mit auf ihr Zimmer und blätterte die Gesellschaftsseiten mit den Bildern von Premieren durch. Im Taschenjournal waren Fotografien eines amerikanisch inspirierten Luxushotels namens Arizona in Farbe abgebildet. Die Französische Riviera im fluoreszierenden Licht. Eine prominente Schauspielerin in Shorts und geblümter Bluse, das Haar uneitel hochgesteckt. Ganz hinten befand sich die Ratgeberspalte Vertrauenssache, wo Menschen um Rat in Liebesdingen baten. Zum Beispiel: Darf ich meine Ringe weiterhin tragen, obwohl ich Witwe geworden bin?, oder: Wie lange sollte man nach einer gelösten Verlobung warten, bis man etwas Neues anfängt?
Man muss einander genügend Raum zum Atmen geben! Dann hält die Liebe lange, erwiderte die verantwortliche Redakteurin Eva dann vielleicht.
Die Menschen waren vollauf beschäftigt mit ihren Beziehungen und Bewunderern. Veronika selbst war nie auch nur annähernd mit dergleichen in Berührung gekommen. Sie konnte sich nicht beschweren. Musste nichts fragen. Nichts betrauern. Es war ungerecht, dass so viele andere Menschen, die weitaus hässlicher und sicherlich größer als sie waren, geliebt wurden. Was würde sie nicht dafür geben, um einmal die Liebe zu erleben? Eine einzige, richtige Liebeserfahrung zu machen, wie teuer erkauft sie auch wäre.
So dachte sie.
Nach zwei Tagen habe ich den Leserbrief fast vergessen. Bis es auf meinem Handy plötzlich Pling! macht. Zuerst bin ich verärgert, schließlich habe ich es mit Ausnahme von Oskars Nummer und der einiger weniger Freunde auf lautlos gestellt. Vor allem, um nicht auf Anrufe zu warten, die sowieso nicht kommen. Doch offenbar bin ich selbst an dieser nicht allzu schwierigen Aufgabe gescheitert. Eine Sekunde später sehe ich, von wem die SMS stammt.
Liebe Ebba!
Sie haben sich vor Kurzem mit der Frage an mich gewandt, wer die eigentliche Verfasserin des Leserbriefes Eine Träumerin in meiner Kolumne ist. Ich habe mich bei ihr erkundigt, ob wir ihre Kontaktinformationen an Sie weitergeben können. Sie dürfen sich herzlich gern bei ihr melden. Ihr Name lautet Veronika Mörk und sie lebt in der Seniorenresidenz Tallgården in Båstad. Sie freut sich, von Ihnen zu hören. Ich hoffe, dass alles seinen Gang geht!
Herzliche Grüße,
Monica Molnia
Veronika Mörk. Der Name klingt wie aus einem Roman.
Tatsächlich hege ich schon lange den Wunsch, mit einer älteren Frau Bekanntschaft zu schließen. Mit einer klugen und warmherzigen Frau, die gern bereit ist, mich an ihren durch ein langes Leben herausgesiebten Weisheiten teilhaben zu lassen. Am liebsten jemanden, der mich auf Anhieb als den Menschen erkennt, der ich bin, und an meiner Stelle kluge Entscheidungen trifft. Jemand, an den ich mich klammern kann, von dem ich lernen kann. Vielleicht ist Veronika Mörk ja die Frau, nach der ich gesucht habe? Dieser Gedanke löst zwar nicht gerade eine sofortige überschäumende Freude bei mir aus, jedoch ein leises Prickeln. Ein Zeichen von Hoffnung? Lang ersehnter Ablenkung? Gefühle, auf die man hervorragend zurückgreifen kann, wenn die Freude noch in zu weiter Ferne liegt.
Aus dem Durcheinander meiner Schreibtischschublade krame ich ein Set mit Büttenpapier, ein Flohmarktfund. Wenn ich diese Sache wirklich angehen will, kann ich es auch gleich richtig machen. Ältere Menschen sind doch sicherlich ganz angetan von handgeschriebenen Briefen, oder? Wer wäre das nicht? Ich hole meinen Füllfederhalter der Marke Pelikan hervor, ein Weihnachtsgeschenk von Erik. Sicherheitshalber habe ich ihn persönlich im Internet auf einer Auktionsseite ersteigert. Die Tinte im Füller ist vertrocknet (Schon wieder ein Symbol!), ich muss erst mit warmem Wasser nachspülen, bis wieder Flüssigkeit aus der Feder fließt.
Danach mache ich es mir mit einem Glas Weißwein und einem Kissen als Schreibunterlage auf dem Balkon bequem und fange an zu schreiben:
Liebe Veronika!
Der Brief muss einen professionellen Anschein erwecken, muss mein ernsthaftes Anliegen unterstreichen. Aber vielleicht klingt Liebe Veronika doch zu gekünstelt? Ich ändere das noch einmal und schreibe einfach nur ganz gewöhnlich »Hej«.
Ich habe Ihre Adresse von Monica Molnia von der ZeitschriftGoldener Herderhalten. Mein Name ist Ebba Lindqvist. Ich bin Journalistin und schreibe an einem Artikel über Beziehungen, die ein Leben lang währten. Zufällig ist mir Ihr Leserbrief inGoldener Herdins Auge gestochen. Ihre Geschichte hat mich sehr berührt, sowohl der Teil über Ihre langjährige Ehe als auch der über Ihre Jugendliebe.
Ich lege den Stift beiseite. Auf dem Spielplatz unseres Wohnblocks beobachte ich, wie eine Katze ihre Notdurft im Sandkasten verrichtet, während ein kleiner Junge daneben vollkommen ungerührt schaukelt. Mein Blick folgt ihm einen Moment, bevor ich weiterschreibe. Einmal Mutter, immer Mutter. Wer jemals kleine Kinder hatte, dem ist es in Fleisch und Blut übergegangen, auch auf fremde Kinder zu achten. Ich fahre fort:
Ich möchte gerne Menschen porträtieren, die eine lange Partnerschaft geführt haben. Wie haben sich die Erwartungen an die Liebe die Jahre hindurch verändert? Wie ist eine lange, glückliche Beziehung beschaffen? Welche Kompromisse waren nötig? Wie ist man mit Rückschlägen umgegangen? Hat sich die Sichtweise auf die Liebe mit dem Älterwerden geändert, und wie ist es, nach so vielen Jahren auf einmal allein zu sein? So wie Sie sich in Ihrem Leserbrief ausgedrückt haben, könnte ich mir vorstellen, dass wir ein interessantes Gespräch führen könnten. Ein Gespräch, das unseren Leserinnen vielleicht einen Einblick in die Sichtweise Ihrer Generation auf die Liebe und die Ehe geben könnte.
Ein klein wenig Honig um den Bart schmieren hat ja noch nie geschadet. Niemand ist gegen Komplimente gefeit.
Und nun zu meiner Bitte: Gewähren Sie mir ein Interview? Ich komme dafür auch gerne nach Båstad, wann immer es Ihnen passt. Ich habe den ganzen Sommer über Zeit.
Oder klingt das zu verzweifelt?
(…) Ich bin zeitlich flexibel, falls Sie im Sommer einen Termin mit mir vereinbaren möchten.
Bevor ich den Brief in das Kuvert mit hoffnungsvollem lindgrünem Seidenfutter tue, notiere ich meine Adresse und meine Handynummer unter die Grußformel. Danach schreibe ich sorgfältig die Adresse in Druckbuchstaben auf den Umschlag und radle in Kleid und Sandalen zum Pressekiosk am Busbahnhof, kaufe eine Briefmarke und stecke den Brief in den Briefkasten.
Ein paar Tage vergehen. Dann erreicht mich eine lange SMS mit der Frage, weshalb ich davon ausgegangen sei, dass Achtzigjährige nicht simsen würden.
Hej, Ebba!
Wie schön, dass Sie mich kennenlernen möchten. Ich befürchte nur, Sie vielleicht zu enttäuschen. Ich weiß gar nicht, ob ich Ihnen etwas erzählen könnte, das für Sie von Interesse wäre. Vermutlich werden Sie die Reise hierher ganz umsonst antreten, aber damit rechnen Sie vielleicht auch? Wenn Sie dennoch das Risiko eingehen wollen, sind Sie herzlich willkommen. Möchten Sie nur für einen Tag nach Båstad kommen, oder benötigen Sie eine Unterkunft? In der Stadt gibt es noch ein oder zwei Pensionen (bedauerlicherweise nicht mehr die von meiner Mutter, sie wurde abgerissen). Aber Sie sollten eine Unterkunft unbedingt rechtzeitig buchen.
Ich kann Sie leider nicht bei mir beherbergen, weil ich in einer Seniorenresidenz lebe, die nicht auf Übernachtungsgäste ausgerichtet ist. Dafür haben wir einen Wintergarten und eine eigene Töpferwerkstatt. Lassen Sie mich wissen, für wann Sie Ihren Besuch planen und ob ich etwas Besonderes bedenken soll. Wie bereits erwähnt, bin ich mir nicht sicher, ob ich Ihnen helfen kann, aber ich muss zugeben, dass die Sache sehr spannend klingt.
Mit freundlichen Grüßen,
Veronika Mörk
P.S. Wird für das Interview eine Vergütung gezahlt?
Man sollte wissen, worum man bittet. Es könnte eintreffen. Jetzt bleibt mir also nichts anderes übrig, als nach Båstad zu fahren und einen Artikel zu schreiben.
Ich war dort sogar schon einmal in Verbindung mit einem von mir gehaltenen Vortrag zum Thema Seines eigenen Glückes Schmied sein. Wenn ich mich richtig entsinne, wimmelt es in Båstad nur so von verwöhntem, Champagner schlürfendem Jungvolk in Polohemden und zurückgegelten Haaren. Will ich mich dem wirklich aussetzen? Das ganze Vorhaben erscheint mir auf einmal als ein unüberwindlicher Kraftakt. Andererseits war schon länger beinahe alles ein unüberwindlicher Kraftakt für mich. Sogar das Aufstehen und Anziehen. Wozu erst Knöpfe schließen, wenn sie sowieso wieder geöffnet werden? Damit ich nicht mehr so häufig waschen muss, habe ich mir angewöhnt, meine Kleider mehrmals zu tragen, bevor sie im Wäschekorb landen. Sogar die Nahrungsaufnahme erscheint mir überschätzt. Und nicht täglich zu duschen, ist mein Beitrag zur Klimarettung, rede ich mir ein. Ich bin schon so lange passiv, dass mir der Gedanke, aktiv zu werden, ungewohnt erscheint.
Verwirrung ist stets der Beginn kreativen Wandels.
Eine Psychologin, die häufiger in meiner Radiosendung zu Gast war, behauptete, der Mensch sei seiner wahren Natur dann am nächsten, wenn er ein klein wenig aufgebe. Dass Verwirrung etwas Befreiendes an sich haben könne und man dadurch Dinge ehrlicher beurteile. Ich weiß noch, wie ich damals dachte, dass man anscheinend mit jeder Art von Verzweiflung Geld machen konnte. Aber jetzt ist meine eigene Situation so schlimm, dass ich selbst willens bin, all meine Hoffnungen in einen haltlosen Sinnspruch zu setzen, der mit verschnörkelter Schrift auf einen Kieselstein geschrieben wurde. Irrtümer sind Tore zu neuen Entdeckungen. Tore. Oh mein Gott!
Ich gehe ins Badezimmer. Im Abfluss liegt ein dickes Haarbüschel. Meinem Arzt zufolge ist es nicht ungewöhnlich, nach einer aufreibenden Trennung unter Haarausfall zu leiden. Es dauere etwa sieben Monate, bis der Schock die Haarfollikel erreiche, dann fielen einem die Haare aus.
Ich futtere Vitamin B5, Zink und Biotin, aber vielleicht haben meine Follikel jegliche Nahrungsaufnahme blockiert, denn ich kann noch immer keine Besserung feststellen. Meine Haare fallen einfach weiter aus. Ich nehme ein Paar altersschwache Plastikhandschuhe aus dem Putzschrank, Natronlauge und Seife, knie mich hin und lege los.
Zuerst lese ich die Büschel mit Toilettenpapier auf. Es sind nicht gerade wenige. Sie zeugen von viel zu vielen Tagen und Wochen voller Schuldgefühle, Grübeleien, Traurigkeit. Und Verwirrung. Nachdem ich mit der Badewanne fertig bin und die Ränder ordentlich entfernt habe, mache ich mich an die Kühlschranktür und den Handgriff. Man vergisst leicht, die Handgriffe von Schränken zu säubern. Handgriffe gehören zu den schlimmsten Bakterienherden.
Unsanft ziehe ich die Glasböden heraus, spüle sie im Spülbecken mit heißem Wasser und bearbeite sie mit der Wurzelbürste, bis die Küche so gesättigt von Dampfschwaden ist, als hätte ich eine Gesichtsreinigung mit Bedampfer gemacht. Jetzt können alle Unreinheiten aus meiner Haut entweichen. Vielleicht sogar aus meinem ganzen Wesen.
Im letzten Jahr habe ich mich kaum einmal selbst im Spiegel angesehen. Nur rasch aus den Augenwinkeln durch die Duschschwaden. Es ist, als ertrüge ich mein jetziges Aussehen nicht; als wollte ich nicht feststellen, ob es sich verändert hat. Ob der Kummer und der Schock wohl Spuren in meinem Gesicht hinterlassen haben? Ob man es in meinen Augen, an neuen Fältchen erkennen kann? Ich möchte es nicht wissen. Man kann sich nicht immer im Leben ehrlich in die Augen sehen.
Ich trinke zwei große Gläser eiskaltes Zitronenwasser und ziehe mir einen Pullover an. Eriks kleine Hinterlassenschaften liegen immer noch überall in der Wohnung herum. Ich war einfach noch nicht in der Lage, sie zu beseitigen. Die Muschelhalskette auf der Schlafzimmerkommode. Das Eishockeyspiel im Bücherregal. Einige Unterhosen und Unterhemden in den Schubladen. Ein Kabel für den Synthesizer. Unbedeutende Kleinigkeiten, aber dass ich sie als Staubfänger habe liegen lassen, verrät meinen Unwillen, mich überhaupt zu bewegen. Wie ein verängstigtes Tier habe ich mich viel zu lange in Schockstarre befunden.
Es ist an der Zeit, wieder einen Schritt zu machen. In welche Richtung, ist egal.
Die Pension lag oberhalb des Strandes am Hang hinter Kiefernbäumen, die vor dem Flugsand schützen sollten. Ursprünglich hatte man diese Gegend für wertlos gehalten. Das einzig Wertvolle war der Seetang, den die Brandung im Herbst ans Ufer warf und mit dem die Bauern ihre Felder düngten. Nach und nach aber erfreute der Strand sich der Beliebtheit der Gäste, die sich hier in Malen erholten, eine Trinkkur machten und die frische Waldluft genossen. Mittlerweile war der kilometerlange Sandstrand ein größerer Touristenmagnet als die ländliche Umgebung.
Die Pension selbst war im späten neunzehnten Jahrhundert erbaut worden, als die Eisenbahn hierherkam. In den Dreißigerjahren hatte sie fließend Wasser erhalten und einige Zimmer modernisiert, ansonsten war so gut wie alles beim Alten. Im Speisesaal lag Eichenparkett. Die zierlichen Möbel stammten aus Dänemark. Ab und an wurde samstags zum Tanz mit einem Mietorchester aufgespielt. Letztes Mal, als Dollar-Nisse zu seinem fünfzigsten Geburtstag ein großes Fest gegeben und dafür Wickmans Cocktailquartett bestellt hatte. Veronika hatte mit gestärkter Schürze Schnittchen serviert.
Das Frühstück wurde den Gästen immer zwischen halb neun und zehn Uhr serviert. Bis dahin musste Veronika warme Hafergrütze, Eier und Brotscheiben bereitgestellt haben. Kaffeetassen und Teebeutel. Milch- und Fruchtsaftkännchen. Butter und Käse und selbst gemachte Leberpastete. Immer dasselbe. Nach dem Frühstück mussten die Tische wieder abgeräumt und alles für den Mittagsimbiss hergerichtet werden, der üblicherweise aus einer Suppe oder einer Fruchtkaltschale bestand. Manchmal gab es auch einen herzhaften Pfannenkuchenauflauf. Viele Pensionsgäste hatten Vollpension gebucht und nahmen es mit der Uhrzeit sehr genau.
Es wurde auch nie irgendetwas weggeworfen. Möbel, Porzellan, Kochtöpfe, Garderobenhaken, Bettwäsche, Schuhlöffel und Gartenmöbel waren immer noch dieselben, seit Veronikas Mutter den Pensionsbetrieb übernommen hatte. Veronikas Mutter hatte früher als Kaltmamsell gearbeitet, aber sofort zugegriffen, als man ihr vor sechs Jahren die Pachtung der Pension angeboten hatte, die während der Saison nur drei Monate geöffnet war. Das Winterhalbjahr verbrachten Veronika und ihre Mutter in ihrer Wohnung in Malmö. Dort übernahm ihre Mutter Näharbeiten und arbeitete nebenher in der Küche des Hotel Savoy. Ihr gefiel der Ortswechsel.
Die Stammgäste wiederum verabscheuten Veränderungen. Alles sollte so sein wie im Jahr zuvor. Und so stand der Schirmständer aus Messing mit denselben schwarzen Regenschirmen genau dort, wo er immer gestanden hatte – neben der Eingangstür. Auch die Eisenbetten hatte man nie woanders hingestellt. Einige Matratzen waren – allerdings erst, nachdem sie immer mehr an Hängematten erinnerten – gegen neue derselben Marke ausgetauscht worden. Die weißen gehäkelten Tagesdecken knisterten, wenn sie aus dem Winterschlaf geweckt wurden. Die cremefarbenen Spitzengardinen hatte die Schwägerin des vorigen Pächters genäht.
Sogar die dicken Socken aus dem blau gestrichenen Korb unter der Hutablage in der Eingangshalle waren nach wie vor dieselben. Sie wurden vor ihrem erneuten Gebrauch noch nicht einmal gewaschen, höchstens ein klein wenig draußen gelüftet. Man hatte die Gegenstände, die man hatte. Sie einfach so zu ersetzen, wäre partout zu einfach gedacht. Denn diese Dinge waren mit viel Aufwand erschaffen worden und symbolisierten Nachhaltigkeit und Wertigkeit. Fing man erst an, daran herumzudoktern und einzelne Bestandteile zu ersetzen, wäre der gesamte Eindruck ein anderer. Über manche Gegenstände ärgerte man sich, aber sie gegen etwas Neues auszutauschen, kam nicht infrage. Und dennoch war alles stilistisch, beinahe wie aus einem Guss. Schlicht. Ungekünstelt. Zweckdienlich. So als hätten sämtliche Dinge ihre persönlichen Eigenheiten für das große Ganze aufgegeben. Und Veronikas Mutter besaß eine einzigartige Begabung, allem etwas Stilvolles und Heimeliges zu verleihen. In der Pension wurden schmackhafte Mahlzeiten gekocht. Alles war sehr reinlich. Die Betttücher wurden in kochend heißem Wasser gewaschen und von Fräulein Björk, die unweit der Pension wohnte, kalt gemangelt.
Viele aus Veronikas Verwandtschaft waren Geschäftsleute, wenngleich auf bescheidenem Niveau. So importierte ihr Onkel Saatgut für eine große Gärtnerei und reiste in der Welt umher, um Preise auszuhandeln und Geschäftskontakte zu diversen Erzeugern zu unterhalten. Er war in Amerika gewesen und voll des Lobes über veredeltes Saatgut und Maiskolben so groß wie Limonadenflaschen. Veronikas Großvater hatte einst ein Milchgeschäft besessen. Veronika erinnerte sich heute noch an den süßen Geruch und die drallen Verkäuferinnen in gestärkten weißen Schürzen und Hauben, die die weiße Milch aus den Milchkübeln hinter dem Tresen abfüllten. Mittlerweile aber waren ihr Großvater und ihr Vater tot. Trotzdem kamen ihre Mutter und Veronika gut zurecht. Man musste im Leben weiterkommen. Und wenn man selbst nicht wusste, wie, musste man andere darüber entscheiden lassen, die es besser wussten. So hatte Veronikas Mutter Veronika zum Herbst in der Haushaltsschule in Malmö angemeldet, es war eine zweijährige Ausbildung und eine gute Grundlage für so manches. Nicht zuletzt für die Aufgaben als Ehefrau und Mutter.
Veronika dagegen wusste nicht so recht, was sie eigentlich werden wollte.
Sie wusste ja noch nicht einmal, wer sie war.
Signe war natürlich schon aufgestanden, kochte Eier und schnitt in der Küche Brot auf, zusammen mit Sölve, dem flinken Faktotum der Pension. Sölve war Junggeselle und früher selbst einmal Gast der Pension gewesen, half mittlerweile aber mit. Er war kein schlauer Kopf, konnte aber Stecker ersetzen, Gartenmöbel reparieren und aus dem Erdkeller Limonadenkästen heraufschleppen.
Signe plapperte unentwegt, es war anstrengend, ihr länger zuzuhören. Verließ man die Küche, dudelte sie wie ein Radio einfach weiter. Sowie jemand in ihre Nähe kam, legte sie los. An wen sie sich dabei richtete, war ihr egal. Wenn sie einmal Luft schöpfte, musste man sich beeilen, einen Satz unterzubringen, sonst hatte man keine Chance. Sie erzählte im Wesentlichen immer dasselbe: wie geschickt sie doch sei, dass sie im Nullkommanichts eine Suppe kochen könne, dass sie sämtliche Lebensmittel verwerte und sie nicht wie manch andere Köchin – sie würde sich natürlich nicht erdreisten, Namen zu nennen – einfach entsorge. Sie liebte es einfach, zu reden und sich plappern zu hören, während sie eifrig mit ihren Händen ihren Beschäftigungen nachging. Sie hatte kurze, dicke Finger, die immerzu halb geöffnet waren, als wollten sie einen Kuchen aus dem Ofen holen oder eine Milchflasche ergreifen.
Veronikas Mutter stand nie still und setzte sich nie. Sie aß sogar im Stehen, neben der Spüle, damit sie nach dem Essen gleich den Teller spülen und wegräumen konnte. Sie nahm sich selbst nur ungern etwas frisch Zubereitetes, sondern aß die Reste von den Tellern. Das war effektiver, dann gab es nicht so viel zu spülen. Selbst wenn sie Lippenstift auflegte und die Frisur richtete, geschah dies stets in Eile.
»Sie hetzt zu viel herum«, sagte Signe immer. »Deine Mutter hetzt viel zu viel herum.«