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Liebe in schwierigen Zeiten - Es begann im Sommer 1913 Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle. Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen. Doch wir schreiben das Jahr 1913, und bald wird der Geliebte zu den Feinden zählen …
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Seitenzahl: 847
Heidi Rehn
Der Sommer der Freiheit
Roman
Knaur e-books
Es begann im Sommer 1913
Selma ist die Tochter einer angesehenen Zeitungsverlegerfamilie und fährt mit ihrer Familie wie jedes Jahr in die Sommerfrische nach Baden-Baden. Man genießt das elegante Ambiente, die Konzerte und Bälle, Selma hat gerade – zum Entsetzen der Mutter! – das Autofahren gelernt und wartet ungeduldig auf die Ankunft ihres Verlobten Gero. Da lernt sie bei einem Ausflug ins nahe gelegene Elsass den französischen Fotografen Robert kennen – und es ist um sie geschehen.
Doch wir schreiben das Jahr 1913, und bald wird der Geliebte zu den Feinden zählen …
Für Meta – ein Hoch auf eine ganz besondere Freundschaft!
Wenn man nicht hat, was man liebt,
muss man lieben, was man hat.
(Französisches Sprichwort)
Man kann viel, wenn man sich nur recht viel zutraut.
(Wilhelm von Humboldt)
Wieder einer jener Sommer, in denen entweder alles möglich oder zu ewigem Stillstand verdammt war. Selma liebte dieses Gefühl banger Erwartung zu Beginn der vierwöchigen Sommerfrische. Gleich nach dem Frühstück begann sie, das Hotel Bellevue wieder in Besitz zu nehmen. Neugierig, was sich seit ihrem Besuch im Vorjahr verändert hatte, strich sie durch die wie ausgestorben daliegenden Korridore. Im ersten Stock begegnete ihr ein Zimmermädchen, das ihr noch vom letzten Aufenthalt her bekannt vorkam. Dagegen schien der Liftboy im zweiten Stock erst wenige Wochen in seiner goldbetressten Livree zu stecken, derart stolz wölbte er die schmale Jünglingsbrust heraus. Eine schwarz gekleidete, erschöpft wirkende Gouvernante kreuzte im dritten Stock ihren Weg. Offenbar hatte sie es gerade aufgegeben, ihren aufmüpfigen Schützlingen hinterherzurennen. So nah unter dem Dachgeschoss staute sich selbst um diese Stunde schon die Augusthitze, was einem bei kleinster Anstrengung den Schweiß auf die Stirn trieb. Selma schätzte sich glücklich, eine luftig-locker fallende Tunika über dem knöchellangen Plisseerock gewählt zu haben.
Sie passierte die Hintertreppe, die zum Speicher hinaufführte. Am Treppenabsatz angekommen, zögerte sie einen Moment, ob sie sich noch einmal zu den geheimnisumwitterten Turmspitzen an den vier Ecken des riesigen Hotelpalastes schleichen sollte. Erst wenige Jahre waren vergangen, seit sie dort oben mit ihrem drei Jahre jüngeren Bruder Grischa aufregendste Abenteuer erlebt hatte. Sie war eine wahre Meisterin im Erfinden spannender Geschichten gewesen. Ein Blick in die Gesichter der anderen Hotelgäste hatte ihr genügt, um sich vor Grischas staunenden Augen auf dem Speicher in die märchenhaft schöne, aber bleichgesichtige Gattin des mürrischen Bankdirektors vom Nachbartisch zu verwandeln. In Wahrheit handele es sich natürlich um eine russische Prinzessin, die in Baden-Baden ihre Liebe zu einem polnischen Fürsten entdecke, hatte sie versucht, Grischa glauben zu machen. Leider hatte er nicht annähernd ihre Leidenschaft für diese Art von Abenteuern geteilt und sich als Liebhaber sehr tolpatschig angestellt. Ein linkisches Tête-à-Tête unter Geschwistern aber war allemal besser gewesen, als stundenlang mit den Eltern über die Lichtentaler Allee flanieren und artig vor den anderen Gästen posieren zu müssen.
Albernes Kichern aus Richtung des Speichers verrieten die geflohenen Schützlinge der Gouvernante. Offenbar erlitten sie gerade dasselbe Schicksal wie Grischa und sie damals. Selma wünschte den Gören, für einige Stunden unentdeckt von den anderen Erwachsenen zu bleiben.
Über die Haupttreppe begab sie sich auf den Weg nach unten. Die dicken Teppiche in den Fluren und über den Treppenstufen verschluckten ihre Schritte. Der Geruch nach reinigenden Seifen, schweren Parfums, dicken Zigarren und verschwenderischem Blumenschmuck, wie er in dieser Mischung nur Häusern wie dem Bellevue zu eigen war, wehte durch das weite Treppenhaus. Für Selma verhieß er heimkommen in eine Welt, die ihr von frühester Kindheit an vertraut war und die Jahr für Jahr dasselbe Programm bereithielt.
Sobald sie beim Nachmittagstee im Gartenpavillon die übrigen Hotelgäste kennenlernen würde, konnte sie abschätzen, was in den nächsten vier Wochen zu erleben war. Anders als ihre Eltern fühlte Selma sich noch viel zu jung, um die Sommerfrische in der trägen Eintönigkeit immer gleicher Tagesabläufe zu verbringen. Sollte sich kein ähnlich gesinnter Hotelgast passenden Alters finden, wäre da immer noch Grischa, mit dem sie sich beim Tennis, Croquet oder gar den Rennen im nahen Iffezheim vergnügen konnte. Wie jedes Jahr würde es sich das Hotelierspaar des Bellevue, Lilly und Rudolf Saur, nicht nehmen lassen, aussichtsreiche Bekanntschaften zwischen den Gästen zu stiften. Gerade ein Fräulein im heiratsfähigen Alter wie Selma, das obendrein als gute Partie galt, stand hoch im Kurs. Versonnen lächelnd hob sie die linke Hand, betrachtete den Brillantring, den Gero ihr zur Verlobung an Neujahr geschenkt hatte. Schon jetzt freute sie sich auf den verdutzten Blick von Lilly Saur, sobald sie ihn in der Sonne funkeln sah. Mit dem aus Ostpreußen stammenden Gutsbesitzersohn Gero von Sudloff hatte sie eine hervorragende Wahl getroffen. Soeben war er zum Sozius einer angesehenen Rechtsanwaltskanzlei am Charlottenburger Kurfürstendamm, dicht vor den Toren Berlins, avanciert. Außerdem verstand er sich bestens darauf, verbotene Begierden in ihr zu wecken. Sie errötete, lag doch ihr letztes Beisammensein keine zwei Tage zurück.
»Hoppla!« Sie stolperte und stieß gegen etwas Weiches. Als sie aufsah, fand sie sich in den Armen eines erschreckend gut aussehenden, dunkelhaarigen Mannes. Seine nahezu schwarzen Augen funkelten vergnügt, die schön geschwungenen Lippen unter dem dünnen Oberlippenbart waren zu einem amüsierten Lächeln gespitzt. »Excusez-moi, mademoiselle.« Seine dunkle Stimme in dem wundervoll harmonischen Französisch traf sie ins Mark.
»Pardon, monsieur.« Zu ihrem Bedauern ließ er sie viel zu schnell wieder los und verabschiedete sich mit einem knappen Nicken. Hastig strich sie die weich fallende Seide ihrer cremefarbenen Tunika glatt, prüfte den Sitz der Frisur und schritt mit einem huldvollen Nicken quer durch die Eingangshalle zum Gartensalon.
Wie schon in den dämmrigen Korridoren und der Halle, so herrschte auch in dem zum Kurpark gelegenen Salon gähnende Leere. Lediglich das Zwitschern des gelbgrünen Kanarienvogels in dem Vogelbauer nahe der Terrassentür hieß Selma willkommen. Die Sonne schickte sich gerade an, um die Ecke des Südflügels zu spitzen. Zur Mittagsstunde würde sie von der Lichtentaler Allee aus das stattliche Anwesen inmitten seiner großzügigen Parkanlage mit goldenem Licht fluten. In Erwartung der großen Hitze waren die gelb-weiß gestreiften Markisen vor den bodentiefen Fenstern halb heruntergezogen. Durch die offene Terrassentür strömte süßer Rosenduft aus der benachbarten Gönneranlage herein, von der Oos wehte ein angenehm kühler Lufthauch in den halbrunden Vorbau.
»Dich haben sie wohl ganz vergessen«, begrüßte Selma den Vogel. Zu ihrer Verwunderung hatte er sich ganz auf die zum Garten zeigende Seite geflüchtet. Eine Kralle an den Gitterstäben, mit der anderen auf der fingerdicken Stange balancierend, reckte er sich voller Sehnsucht dem allmählich über den Baumwipfeln aufziehenden Sonnenball entgegen. Schließlich setzte er zu einem lang anhaltenden Pfeifton an, der vom Garten her nicht weniger sehnsüchtig beantwortet wurde.
»Gräm dich nicht. Hier drinnen hast du alles, was du zum Leben brauchst, und musst nicht einmal um dein Futter bangen.«
Lockend streckte Selma den Finger durch die Stäbe, pfiff dazu eine sich nach oben schraubende Melodie ähnlich der, die der Vogel bei ihrem Eintreten angestimmt hatte. Langsam drehte er den Kopf, ruckte einige Male vor und zurück und stimmte freudig in das Trällern ein. Aufgeregt begann er auf seiner Käfigstange hin und her zu trippeln. Durch die weit geöffnete Tür war das Antworten erneut zu hören.
»Armes Kerlchen«, murmelte Selma. »Offenbar hältst du nicht viel von deinem goldenen Käfig.«
Schon hatte sie die Käfigtür geöffnet. Für einen Moment verstummte der Kanarienvogel, legte das Köpfchen schief, schien sie Rat suchend anzuschauen. Das Zwitschern im Garten wurde lauter. Flugs hüpfte er auf die Querstange vor der Käfigtür, schwang zwei-, dreimal probehalber seine Flügel und flatterte dicht an Selmas lachendem Gesicht vorbei auf die offene Tür zu.
Sein Flügelschlag war erschreckend unruhig. Es dauerte einige bange Augenblicke, bis er den winzigen Körper ausbalanciert hatte, um den üppig blühenden Rhododendron beim Terrassenaufgang zu erreichen. Atemlos machte er Station. Flugs hechtete eine mehrfarbig gestreifte Katze aus dem Dickicht. Ein einziger Hieb mit der Pfote genügte ihr, um den grell leuchtenden Vogel zu erlegen.
Entsetzt schrie Selma auf.
»Zu spät, Liebes«, hörte sie die tiefe Stimme von Großmutter Meta aus einem der gepolsterten Rattansessel. Gemächlich erhob sie sich und kam auf sie zu. Rhythmisch klackte ihr schwarzer Gehstock über den schwarz-weiß gefliesten Steinboden des Gartensalons. »Auch wenn sich alle nach der Freiheit sehnen, ist sie nicht für jeden geschaffen. Man muss schon etwas mit ihr anzufangen wissen, sonst beschert sie eher Leid denn Freude.«
»Das sagst ausgerechnet du, Großmama? Ich dachte, in deinen Augen ist die Freiheit gerade für uns Frauen das Erstrebenswerteste.«
Erstaunt schaute Selma sie an. Die zierliche Großmutter reichte ihr kaum bis zur Schulter. Trotz ihres Hüftleidens legte sie großen Wert auf eine aufrechte Haltung. Das dunkelviolette Kostüm und das sorgfältig frisierte silbergraue Haar betonten ihre Würde, zählte sie inzwischen doch schon stolze fünfundsechzig Jahre.
»Gerade weil ich die Freiheit über alles liebe, weiß ich, wie wichtig es ist, sie nicht nur großmütig zu verschenken. Zuerst sollte man den Beschenkten in ihrem Gebrauch unterrichten, sonst endet sie im Desaster.«
Selma trat auf die Terrasse und streckte mit geschlossenen Augen das Antlitz der Sonne entgegen. Sie dachte an Gero, das ziellose, unstete Leben, das sie in Berlin führte. Zugleich tönte ihr die angenehme Stimme des Franzosen im Ohr. Wie wenig wusste sie mit der Freiheit anzufangen, die sie kühn hinter dem Rücken der Eltern für sich in Anspruch nahm. Wenn sie doch wenigstens ihr unbedarftes Handeln von vorhin rückgängig machen und den Vogel vor dem grausamen Tod in der ungewohnten Freiheit bewahren könnte!
Aufbruch
Eine leichte Brise bauschte die Gazegardinen vor den offenen Fenstern zu hauchzarten Säulen. Einen Atemzug später flatterten sie im auffrischenden Wind weißen Fahnen gleich ins Innere des Salons. Auf ihren durchscheinenden Schleppen strömte der verheißungsvolle Geruch nach Sommer und Aufbruch herein, ging mit den süßen Damenparfums, der staubtrockenen Teppichluft und den bitteren Kaffeedämpfen, die im Salon hingen, ein atemberaubendes Gemisch ein.
Langsam ließ Selma die Zeitschrift sinken, lehnte den Kopf in den Nacken und hing einem verführerischen Gedanken nach. Warme Sonnenstrahlen kitzelten sie auf der Nasenspitze. Sie kuschelte sich gegen die Lehne der Chaiselongue, bettete die ausgestreckten Beine auf das Fußteil des Möbels und wippte die Zehen in der Luft. Der einschläfernde Rausch des endlosen Augustvormittags umfing sie. Auf seinen Schwingen entfloh sie dem Damensalon des Bellevue mit seinem munteren Stilgemisch aus samtrot gepolsterten Barocksesseln, zierlichen Louis-Seize-Tischen und dem gediegenen Empire-Sekretär in eine nüchtern-modern eingerichtete Junggesellenwohnung am Savignyplatz in Charlottenburg. Geros Stimme drang so verführerisch an ihr Ohr, als säße er neben ihr auf dem Sofa. Ebenso wirklich fühlte sie die Haut seiner glattrasierten Wangen auf den ihren, meinte zu spüren, wie sich seine Hände an ihren Hals legten, mit den Fingerkuppen zärtlich die Linien der Adern nachfuhren. Ach, mochte dieser Augenblick zur Ewigkeit werden! Ein vernehmliches Räuspern schreckte sie auf. Hastig befreite sie sich aus den Fängen des Seidenschals, den der Wind ihr um die Brust geschlungen hatte. »Das wurde soeben für Sie abgegeben.«
Als sie das Antlitz hob, erspähte sie dicht vor ihrer Nase ein Serviertablett. Es dauerte eine Weile, bis sie gewahr wurde, was ihr auf der im Sonnenlicht funkelnden Silberplatte präsentiert wurde: eine langstielige rote Rose und ein Kuvert aus dickem, handgeschöpftem Büttenpapier. Auf Anhieb erkannte sie darauf die großzügig geschwungenen Schlingen von Geros Handschrift. Röte huschte über ihre Wangen. Undenkbar, diesen Brief in Gegenwart des Obers zu öffnen. Voller Unbehagen spürte sie Metas und Heddas Blicke, die jede ihrer Bewegungen aufmerksam verfolgten. Selma ahnte, was Gero ihr schrieb, schließlich war das nicht der erste Brief, der sie nach ihrem verzehrenden Abschied voneinander letzte Woche erreichte. Für das Wochenende hatte er seinen Besuch in Baden-Baden angekündigt. Allein der Gedanke, dass er sich, ›um den Anstand zu wahren‹, wie er sich mit schelmischem Lächeln ausgedrückt hatte, im Maison Messmer einquartiert hatte, färbte ihre Wangen noch kräftiger ein. Gero und Anstand, das waren zwei Begriffe, die in ihr eine ganz besondere Spannung erzeugten.
Geziert griff sie nach der Rose, streichelte mit den zart duftenden Blättern an ihren Lippen entlang, bevor sie endlich auch den Brief in die Hand nahm. In einer lässigen Drehung legte sie ihn betont achtlos auf den Beistelltisch, bettete die Rose obenauf. Einstimmig seufzten Mutter und Großmutter. Die daraus herauszuhörende Enttäuschung war Selma eine innere Genugtuung. Als der Ober mit dem Tablett in der Hand vor ihr verharrte, fragte sie leicht gereizt: »Sonst noch etwas?«
»In der Auffahrt wartet ein …«, setzte er in seiner näselnden Stimme an, um sofort wieder mit hochgezogener Augenbraue innezuhalten. Grischa stürzte in den Salon, riss sich noch im Laufen den flachen Strohhut vom Kopf und rief ausgelassen: »Schwesterherz, du glaubst nicht, was vor dem Eingang vorgefahren ist!«
»Christian, bitte!«, versuchte Hedda den Achtzehnjährigen zur Räson zu bringen. Pikiert richtete sie sich halb aus dem roten Lesesessel auf, schüttelte vorwurfsvoll den frisch frisierten Kopf. Ihr goldblondes Haar war so kunstvoll aufgesteckt, dass Selma um jede Strähne bangte, die sich daraus löste.
»Übermut ist das Vorrecht der Jugend, mein Kind«, warf Meta ein. Selma musste gar nicht erst zu ihr hinüberspähen. Allein aus dem Klang der für eine Frau ungewöhnlich tiefen Stimme war das Schmunzeln herauszuhören, das die Worte auf Metas lebhaftem, von Falten eher interessant denn alt gezeichnetem Gesicht begleitete.
»Lass mich raten, Kleiner. Wie viele Versuche habe ich?« Huldvoll erhob sich Selma von dem roten Samtsofa, schlenderte dem Bruder entgegen, kostete dabei Mutter Heddas empörtes Luftschnappen genüsslich aus. Sicher klappte ihr bei Selmas Anblick gerade die Kinnlade herunter, während Meta anerkennend nickte. Genau darauf hatte Selma es angelegt, als sie nach dem gemeinsamen Frühstück im Wintergarten das biedere weiße Leinenkostüm mit dem einschnürenden Korsett gegen den knöchellangen Hosenrock und die locker fallende Tunikabluse im Paul-Poiret-Stil ausgetauscht hatte. Gero hatte ihr die Kombination geschenkt, nachdem sie die neuesten Zeichnungen des Pariser Modeschöpfers in der Dame so begeistert hatten. Der weich fließende Stoff in sattem Violett umschmeichelte ihre grazile Figur, das anschmiegsame Hüftmieder schenkte ihr grenzenlose Bewegungsfreiheit und verschwenderisch viel Luft zum Atmen. Die Absätze ihrer cremefarbenen Spangenschuhe versanken im weichen Teppichflor. Die Lautlosigkeit der Schritte erinnerte sie an ein Schweben auf Wolken. Schwungvoll schlang sie sich den farblich auf die Schuhe abgestimmten Seidenschal um den Hals. Einzig, dass die Mutter so lange gebraucht hatte, bis ihr die Provokation auffiel, trübte den Triumph ein wenig. Schließlich saßen sie schon seit gut einer halben Stunde im Damensalon zusammen.
»Wie viele Versuche brauchst du, Schwesterherz?« Grischa legte den Kopf schief, musterte sie unverhohlen. Ihr unkonventioneller Aufzug schien ihm zu gefallen. Der Ober hüstelte vernehmlich in die Faust, bis Grischa begriff und zur Seite trat, um ihn durch die doppelflügelige Tür hinauszulassen.
»Hab Erbarmen mit mir zartem Geschöpf, mein Held!« Übertrieben matt sank Selma an Grischas trotz frisch überstandenem Abitur noch immer erschreckend schmale Pennälerbrust.
»Welches Parfum rieche ich da?« Unter gespielter Empörung zuckte sie zurück und wedelte sich Luft zu. Liebevoll strichen die Fingerkuppen ihrer linken Hand über Grischas glatte Wange. Aufmerksam musterte sie das fein gezeichnete Gesicht, dem noch jede charakterliche Prägung fehlte.
»Vertrau dem Rat deiner großen Schwester: Für eine Dame ist der Duft zu schwer, für einen Herrn von Welt zu süß. Sollte deine Wahl auf einem väterlichen Rat beruhen, denk daran, unser lieber Herr Vater befindet sich in solchen Dingen leider nicht mehr auf der Höhe der Zeit. Gero wird dir gern behilflich sein, ein weltmännischeres Rasierwasser auszuwählen. In wenigen Tagen trifft er hier ein, dann könnt ihr einen Bummel durch die Läden unternehmen.«
»Danke für das Angebot, aber ich komme bestens klar.« Entschieden schob Grischa ihre Hand fort, schleuderte die Kreissäge lässig auf einen Sessel und verschränkte die Hände hinter dem Rücken.
»Wie gedankenlos von mir! Mit dem Abitur in der Tasche bist du natürlich längst groß.« Belustigt musterte Selma ihn weiter. Sein Gebaren war ein einziges Nacheifern Geros. Das bartlose Kinn in die Luft gereckt, die blassen Lippen gespitzt sah er sie herausfordernd an. Ebenso wie die Geste war ihm der dunkle Anzug mindestens eine Nummer zu groß. Das feine englische Tuch schlotterte ihm um die schlaksigen Gliedmaßen, der Kragen des weißen Seidenhemds war eine Spur zu weit, und die Krawatte saß leicht schief. Rührung bemächtigte sich Selmas. Nur eine Frage der Zeit, bis der kleine Bruder diese Missgriffe hinter sich lassen und erwachsen sein würde. Schneller, als ihr lieb sein konnte, würde sie nicht nur der Körpergröße wegen zu ihm aufschauen.
»Erspare mir das anstrengende Raten«, bat sie. »Verrat mir bitte gleich, was in der Hotelauffahrt Spektakuläres vorgefahren ist. Eine Dampflok wird es kaum sein. Das hätten wir längst mitbekommen.«
»Mit einem Gefährt bist du nah dran.« Grinsend verschränkte er die Arme vor der Brust. »Mehr verrate ich nicht. Schließlich will ich deinem Liebsten nicht den Spaß verderben.«
»Gero steckt dahinter? Das hätte ich mir denken können.« Nachdenklich tippte Selma den rechten Zeigefinger gegen die Lippen und fügte mehr zu sich selbst als zu Grischa hinzu: »Eine große Überraschung, eine Rose und ein Brief, das kann nur eines bedeuten.«
»Was? Er hat dir auch einen Brief geschickt? Los, mach ihn auf! Da wird Genaueres drinstehen.« Ungeduldig schob Grischa sie beiseite, um nach dem Brief zu suchen.
»Halt!« Sie packte ihn am Arm. »Du wirst doch nicht etwa meine Briefe lesen wollen? Dafür bist du leider noch zu klein.«
»Selma!«, mahnte Hedda. »Es gehört sich nicht, den Brief seines Verlobten beiseitezulegen. Man könnte denken, er interessiere dich nicht. Dabei ist Gero von Sudloff ein …«
»Wir alle wissen, wer Gero ist und wie Selma und er zueinander stehen. Schließlich sind sie seit Neujahr verlobt.« Meta stand auf, trat zum Sessel ihrer Tochter und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Bei den beiden brennt gewiss nichts mehr an. Selma kann ruhig …«
»Mutter!«, rief Hedda und schob Metas Hand weg. Von der heftigen Bewegung löste sich eine Strähne aus ihrer aufgesteckten Frisur. Unwillkürlich warf sie den Kopf nach hinten, strich mit den Fingern das Haar aus der Stirn. Einen Augenblick länger als nötig beließ sie die Hand gedankenverloren am Hinterkopf. Selma war fasziniert. Der Ausbruch verlieh der Mutter einen Anflug von Verwegenheit, der viel besser zu ihr passte als das Strenge, Beherrschte, auf das sie so viel Wert legte.
»Keine Sorge, Mama, natürlich lese ich Geros Brief sofort, ganz so, wie es sich für eine anständige Verlobte geziemt.« Aufmunternd lächelte sie der Mutter zu und ging zu dem kleinen Tisch neben dem roten Sofa, nahm den Umschlag und erbrach das Siegel. Voll banger Erwartung, was ihr der Liebste schreiben würde, faltete sie den Bogen auseinander.
Die dunkle Tinte mit Geros weit ausschweifender Schrift beherrschte die ganze Seite. Selmas Herz schlug schneller. Allein der Schwung, den das großzügig hingeworfene S ihres Namens gleich zu Beginn der ersten Zeile aufwies, erinnerte sie an seine stürmischen Umarmungen. Sie zwang sich, jedes Wort auszukosten wie die zärtlichen Berührungen, mit denen er letztens jeden einzelnen Zentimeter ihres liebeshungrigen Körpers in die Sommerfrische verabschiedet hatte. Anders, als sie es den Eltern erzählt hatte, waren Gero und sie an jenem Abend in Berlin nicht mit Freunden ins Adlon gegangen, sondern hatten die Stunden bis zum Morgengrauen allein in seiner Wohnung verbracht. Und das nicht zum ersten Mal, seit sie sich vor fast einem Jahr auf einem Ball im Admiralspalast kennengelernt hatten. Dennoch war jene heiße Julinacht zu einer ganz besonderen geworden, die er in jedem seiner Briefe immer wieder aufs Neue heraufbeschwor. »Selma, Darling, über alles Geliebte«, begann er noch recht unverfänglich, um gleich in der nächsten Zeile deutlicher zu werden: »Leidenschaftliche Gefährtin unersättlicher Stunden zwischen knisternder Vorfreude, anschwellendem Begehren und unersättlichem Verlangen.«
Erneut hielt Selma inne, presste das Blatt gegen die Brust. Wie liebte sie diese Widersprüchlichkeit Geros! Nach außen gab er stets den formvollendeten Gentleman, tief in seinem Innern aber loderte ein Feuer, das noch viele, ganz besondere Überraschungen verhieß. Sie hob den Blick zur Decke. Für einen Moment war ihr, als könnte sie dort oben in jenen Spiegel blicken, der sich schräg über seinem Bett neigte, um ihren Liebestaumel in den besagten Stunden vor ihren eigenen Augen zu entblößen. Zum Glück war es eine Täuschung, hervorgerufen durch das unschuldige Spiel des Windes mit den Vorhängen, das die goldenen Sonnenstrahlen zu lüsternen Gestalten verwob.
Sie wandte sich halb zur Wand, um den anderen weder einen Blick auf ihr erhitztes Gesicht noch auf Geros entlarvende Zeilen zu gewähren. Die aufsteigende Ungeduld wie auch die Verlegenheit ließen sie die weiteren Sätze nur mehr durch einen Schleier wahrnehmen. Formulierungen wie »Tal der Sehnsucht«,»Klippen der Leidenschaft«,»Meer unendlicher, seliger Ekstase« und »Hafen der Wonne, in dem wir bis zur nächsten Flut der Begierde vor Anker gehen« tanzten in einem höchstes Verzücken versprechenden Rhythmus vor ihren Augen. Dem aber sollte sie sich zu dieser Stunde und in dieser Gesellschaft besser nicht hingeben. Mütter und Brüder mussten nicht alles wissen, erst recht nicht, was den wahren Stand der Verlobung ihrer Tochter beziehungsweise Schwester anbetraf. Gierig verschlang sie die nächsten Zeilen. Bald machte die Erregung jedoch bitterer Enttäuschung Platz. Inmitten der innigsten Liebesschwüre sagte Gero seinen für das kommende Wochenende avisierten Besuch in Baden-Baden ab. Als Trost schicke er gleichzeitig mit dem Brief seinen roten Audi, damit sie auch ohne ihn die geplanten Ausflüge unternehmen könne. Selma schnappte nach Luft. Was sollte sie davon halten? Statt des Geliebten kam nur sein Auto!
Sie ließ das Blatt sinken, starrte ins Leere. Hatte Gero jetzt, da sie ihm alles gegeben hatte, was eine Frau einem Mann geben konnte, schon genug von ihr? Oder war sie ihm letztens doch zu nahegekommen? Ein Detail jener Nacht stand ihr plötzlich vor Augen, ihr Herz schlug schneller. Zum ersten Mal hatte Gero ihr gestattet, seinen Körper bis in die verborgensten Winkel zu erkunden. In der linken Leistenbeuge war sie auf eine langgezogene Narbe gestoßen, die er voller Abscheu den »hässlichen Wulst« genannt hatte. Sein älterer Bruder trüge dafür die Verantwortung, hatte er ihr verschämt eingestanden. Der habe immer schon Freude daran gehabt, ihn zu demütigen. Sogleich hatte er sie durch ein drängendes Liebkosen ihrer Brüste von der Narbe ablenken wollen. Ein Schauder erfasste sie, wenn sie daran dachte, wie sie sich trotz der verheißungsvollen Berührungen nicht hatte beirren lassen. Ganz behutsam war sie mit der Zungenspitze dem Verlauf der Narbe bis in die tiefsten Abgründe seines Schenkels und von dort in die sich aufbäumende Mitte zwischen seinen Beinen gefolgt. Das plötzliche Aufflammen einer nie zuvor gekannten Lust hatte ihn letztlich mit dem Makel versöhnt. Die Erinnerung beruhigte sie wieder. Wie hatte sie nur auf die törichte Idee verfallen können, zu glauben, dass Gero ihr der Entdeckung seiner Narbe wegen zürnen könne? Natürlich hielt ihn allein die viele Arbeit in der Kanzlei von der Reise nach Baden-Baden ab. Dabei verging er vor Sehnsucht nach ihr. Die Leidenschaft, die aus seinen Zeilen sprach, bewies das.
»Was schreibt Gero denn so Aufregendes, Schwesterherz? Du bist ja rot wie eine Tomate!«
Grischas Stimme schreckte sie auf. Entsetzt fuhr sie herum, versuchte, Geros Brief seinen neugierigen Blicken zu entziehen. »Was fällt dir ein, mir über die Schulter zu schielen? Hast du noch nie etwas vom Briefgeheimnis gehört?« Spielerisch schlug sie nach ihm. Die Versuchung war groß, mehr Kraft als nötig in die Kabbelei zu legen, um sich so Luft über die Enttäuschung zu verschaffen.
»Darf ich deinen Brief lesen, wenn ich dir meinen zeige?«, fragte Grischa augenzwinkernd.
»Du hast auch einen Brief bekommen? Von wem? Gib her!« Erfreut über die Ablenkung verstaute sie Geros Brief im eckigen Ausschnitt ihrer Tunika und streckte Grischa die Hand entgegen.
»Natürlich habe ich einen Brief bekommen. Und du errätst niemals, von wem.« Flink zog er ein weißes Kuvert aus der Innentasche seines Jacketts und hielt es mit ausgestrecktem Arm weit über ihren Kopf.
»Ach, was geht mich das an«, tat sie desinteressiert. »Harmlose Kindereien. Entweder dichtet dir die kleine Rothaarige, die abends zwei Tische weiter von uns sitzt, alberne Verse, oder die fesche Blonde, die von ihren dicken Brüdern bewacht wird wie die englischen Kronjuwelen, gesteht dir den Verlust ihrer Unschuld.«
»Deine verdorbene Phantasie möchte ich haben!« Er tat entsetzt, nahm zu ihrer Freude den Arm jedoch wieder herunter und wedelte mit dem Kuvert dicht vor ihrer Nase herum. Dabei entdeckte sie die maschinengetippte Adresse und den amtlichen Stempel. »Kein Liebesbrief? Oh wie schade!«
»Viel besser!« Grischas Antlitz rötete sich, seine hellblauen Augen blitzten. Als er den Umschlag öffnete, nahm er unwillkürlich Haltung an und begann mit betont tiefer Stimme vorzulesen: »Sehr geehrter Herr Rosenbaum, wir geben uns die Ehre, Ihnen mitzuteilen, dass Ihrem Antrag, als Einjährig-Freiwilliger in die Königlich-Preußische Fliegertruppe einzutreten, vorläufig stattgegeben wurde. Um die dafür notwendige Ausbildung anzutreten, finden Sie sich zum nächsten Ersten in der Fliegerschule Döberitz ein.«
»Knorke!«, krächzte Selma. Die unverhoffte Nachricht brachte sie auf andere Gedanken. »Mein kleiner Bruder wird ein großer Flieger! Nein, das steht nicht so da. Das kann ich nicht glauben. Gib zu, das hast du dir gerade aus den Fingern gesogen.«
»Also gut, es steht nicht wortwörtlich so da, aber so ähnlich.« Mit zitternden Fingern faltete er das Schreiben wieder zusammen. »Natürlich ist das alles viel umständlicher formuliert, und fürs Erste bin ich auch nur vorläufig dem Flughafen Döberitz zugeteilt, weil man als Einjähriger nicht gleich zum Flieger ausgebildet wird. Dazu muss ich mich wohl länger verpflichten. Überhaupt wird meine Eignung als Pilot erst noch getestet. Aber alles in allem bin ich in die Fliegertruppe aufgenommen und werde in weniger als drei Wochen meine Ausbildung beginnen.«
»Ich bin stolz auf dich.« Selma nahm sein Gesicht zwischen die Hände und küsste ihn abwechselnd rechts und links auf die Wangen. Gnädig ließ er sie gewähren.
»Willst du tatsächlich in ein Flugzeug steigen und dich in die Lüfte erheben?« Heddas Begeisterung klang verhalten. »Wenn du schon als Einjähriger dienst, warum mussten es ausgerechnet die Flieger sein?«
»Freu dich doch, mein Kind!«, schaltete sich die Großmutter ein. »Wenn er in Döberitz seinen Dienst ableistet, bewahrt ihn das davor, auf fragwürdige Militärmissionen Richtung Balkan oder Osmanisches Reich geschickt zu werden, von Algerien ganz zu schweigen. Andererseits beweist er seine Verantwortung und drückt sich nicht vor dem Militär. Sein Vater wird das zu schätzen wissen. Schließlich hat er soeben als braver Zentrumsabgeordneter die vom Reichskanzler eingebrachte Wehrvorlage mit verabschiedet. Wie sähe es aus, wenn sich also ausgerechnet sein Sohn der Pflicht entzöge?«
Selma war sich nicht sicher, wie ernst die Großmutter das meinte. Aus ihrer Abneigung den Plänen der Regierung gegenüber, die militärischen Streitkräfte weiter auszubauen, hatte sie nie einen Hehl gemacht.
»Ich freue mich, dass ihr meine Pläne gutheißt.« Grischa strahlte übers ganze Gesicht. »Vater ist übrigens einverstanden. Natürlich habe ich ihn schon vor geraumer Zeit eingeweiht. Ihm habe ich den Brief als Erstem gezeigt.«
Hedda schluckte schwer, Meta schüttelte den Kopf. Selma rang einen Anflug von Eifersucht nieder. Bislang war immer sie die Erste gewesen, mit der er sich über seine Zukunftspläne beraten hatte.
»Jetzt wird es aber höchste Zeit für deine Überraschung, Schwesterherz!«, rief er übermütig.
»Stimmt, Liebes, du hast uns alle lang genug auf die Folter gespannt.« Meta lächelte Selma zu, während Hedda beleidigt anmerkte: »Wollen wir hoffen, deine Neuigkeit erfüllt uns mit ähnlichem Stolz wie die deines Bruders.«
»Ach, liebe Mama, du weißt doch, wie schwer es mir fällt, deinen hohen Ansprüchen zu genügen.« Der leichte Ton, in dem Selma das sagte, fiel ihr in Wahrheit sehr schwer. Um sich nichts anmerken zu lassen, schlug sie rasch vor: »Lasst uns nach draußen gehen, da wartet wirklich eine große Überraschung auf uns.«
Behutsam hakte sie die Großmutter unter. Artig tat Grischa es ihr nach, und so schritten sie mit Meta zwischen sich nach draußen. Hedda blieb nichts anderes übrig, als ihnen ins Foyer und von dort in die Auffahrt vor dem Haupteingang zu folgen.
Dort war tatsächlich Geros knallroter Audi Typ C mit offenem Verdeck vorgefahren. Ein junger, schnauzbärtiger Chauffeur in grauer Livree stand daneben und grüßte, sobald Selma mit Meta, Grischa und Hedda vor den Wagen trat. In gebührendem Abstand hatten sich einige Neugierige versammelt und musterten das Auto mit großen Augen. Voller Bewunderung nickte eine ältere, grauhaarige Dame, während ihr ein halbwüchsiger Junge andächtig die technischen Details des Wagens zuflüsterte. Selma schmunzelte, als sie Satzfetzen wie »ein Vierzylinder mit fünfunddreißig bis vierzig PS«, »fast hundert Stundenkilometer Spitze« sowie »zweimal schon Sieger beim Alpenrennen in Österreich« vernahm. Vor Aufregung überschlug sich die Stimme des pickeligen Jungen.
»Was soll das bedeuten, Selma?«, fragte Hedda und schenkte den Umstehenden einen beunruhigten Blick. Auf diese Art Aufmerksamkeit zu erregen, gefiel ihr nicht. Zum Glück zerstreuten sich die Neugierigen rasch, auch der Chauffeur verschwand auf einen Wink Grischas hin ins Innere des Hotels. Lediglich der Halbwüchsige verharrte noch, bis ihn die ältere Dame energisch am Ärmel zupfte und nach einem entschuldigenden Blick zu Hedda zurück ins Bellevue zerrte.
»Willst du etwa jetzt zu einer Autotour aufbrechen?«, fragte Hedda, sobald sie allein vor dem Auto standen. »Wohin ist der Chauffeur verschwunden? Zuerst müssen wir …«
»Selma gratulieren«, fiel Meta ihr freudestrahlend ins Wort. »Dann hast du es also geschafft, Liebes? Ich bin so stolz auf dich!«
Anerkennend tätschelte sie Selmas Arm, während Hedda erblasste und entgeistert krächzte: »Was heißt das? Wozu sollen wir ihr gratulieren?«
»Zum Führerschein natürlich!«, platzte Grischa heraus.
»Was?« Hedda begriff noch immer nicht, fasste sich an den Hals, schaute vorwurfsvoll zwischen Meta und Grischa hin und her, starrte schließlich Selma fassungslos an. »Heißt das …?«
»Ja, genau, liebe Mama, das heißt es: Ich bin seit einigen Wochen stolze Inhaberin eines Führerscheins und darf dich ganz allein mit diesem wundervollen Auto chauffieren.«
»Das ist nicht dein Ernst! Wie kommst du überhaupt dazu? Und woher stammt dieses Auto? Wem gehört es?«
»Eins nach dem anderen, liebe Mama.« Beruhigend legte Selma ihr den Arm um die Schultern. »Bevor wir nach Baden-Baden aufgebrochen sind, habe ich die Fahrprüfung abgelegt. Gero hat mich dabei tatkräftig unterstützt und mich tagelang mit seinem Audi üben lassen. Das hier ist übrigens sein Wagen. Grischa und Großmutter haben mich ebenfalls sehr ermutigt.«
»Heißt das, dein Verlobter wie auch die beiden hier wussten von Anfang an Bescheid, und nur mir hast du kein Sterbenswort verraten? Ich bin deine Mutter. Mir hättest du als Erste davon erzählen müssen!« Hedda rang um Fassung, bevor sie sich erschöpft erkundigte: »Was sagt dein Vater dazu?«
»Noch weiß er es nicht. Aber wenn er nachher erst einmal neben mir im Auto Platz genommen …«
»Was soll das schon wieder? Du glaubst doch nicht im Ernst, dein Vater stiege in den Wagen deines Verlobten und ließe sich von dir durch Baden-Baden chauffieren?«
»Warum nicht?«, warf Grischa ein. »Der Audi ist genau richtig für die Gegend. Wie kein anderer Wagen ist er für Touren in die Vogesen oder auf den Feldberg geschaffen. Mit exakt diesem Modell hat August Horch die letzten Rennen durch die Alpen gewonnen.«
Fassungslos schüttelte Hedda den Kopf, Meta dagegen strahlte bei jedem Wort ihres Enkels mehr. »Phantastisch!«, rief sie in ihrer dunklen Stimme und klatschte Beifall. »Gero weiß genau, was eine Frau wie Selma braucht. Er gefällt mir immer besser, trotz seiner konservativen Ansichten.«
»Freu dich doch einfach mit mir, allerliebste Mama.« Selma fasste Hedda an den Händen. »Gero weiß, wie gern ich fahre, und deshalb will er mich mit dem Auto trösten, weil er seinen Besuch am Wochenende absagen muss.«
»Er schickt dir ein Auto als Entschädigung, weil er nicht kommt?« Heddas Miene verfinsterte sich. »Das ist doch …, nein, Selma, das kannst du nicht … Das geht nicht.«
»Ist Gero nicht wundervoll?«, überging Selma den Einwand, der schmerzlich die düsteren Gedanken von vorhin zu wecken drohte. »Stell dir nur vor, Mama: Für den Rest unserer Ferien habe ich seinen Wagen! Du musst zugeben: Ein Auto ist in Baden-Baden wirklich praktisch. So bleibe ich in Übung und kann die Gegend erkunden. Das lenkt mich wunderbar von seinem Fernbleiben ab.«
»Wie kannst du nur, Selma! Solche Geschenke nimmt man nicht an, solange man nicht miteinander verheiratet ist.« Hedda entzog ihr die Hände und fügte verbissen hinzu: »Davon abgesehen chauffiert eine Frau nicht selbst.«
»Warum nicht?« Verständnislos sah Meta ihre Tochter an. »Wie Selma bereits mehrfach betont hat, ist das Auto kein Geschenk, sondern nur eine Leihgabe, damit sie das frisch Erlernte fleißig übt. Und was das Chauffieren von Frauen anbetrifft, ist dir wohl völlig entgangen, dass die erste Person, die sich je einer Führerscheinprüfung unterzogen hat, die französische Herzogin Anne d’Uzès war. Bei uns in Deutschland hat sich vor vier Jahren mit Amalie Hoeppner ebenfalls eine Frau als Erste mit dem Führerschein schmücken dürfen. Davon abgesehen haben wir das Autofahren Bertha Benz verdanken. Ohne sie hätte ihr Gemahl wohl kaum …«
»Schon gut, Mutter, schon gut«, winkte Hedda ab.
»Übrigens ist Anne d’Uzès auch die erste Person gewesen, die wegen zu schnellen Fahrens eine Strafe zahlen musste.«
Meta schmunzelte. Einen Moment sonnte sie sich in Heddas Verblüffung. Selma empfand bereits einen Anflug von Mitleid mit der Mutter. Meta aber war noch nicht fertig. »Moderne Frauen wie Selma haben es nicht nötig, ein Leben lang brav darauf zu warten, bis einer der Herren sich dazu bequemt, sie dorthin zu bringen, wohin sie wollen. Es war eine sehr kluge Entscheidung von ihr, die Fahrprüfung abzulegen. Gero verdient meine Hochachtung, sie dabei unterstützt zu haben. Bislang habe ich ihn gar nicht für derart modern gehalten. Da sieht man mal wieder, was dabei herauskommt, wenn man voreilig seine Schlüsse zieht, selbst bei einem Deutschnationalen wie ihm.«
»Bislang habe ich ihn für beruhigend konservativ gehalten. Ich bin gespannt, was Joseph dazu sagt.« Nach wie vor zeigte sich Hedda wenig begeistert.
»Vater wird das Auto mögen, vor allem, wenn ich ihn damit herumfahre«, warf Selma ein.
»Was werde ich mögen? Und wieso wirst du mich in der Gegend herumfahren?« Unerwartet stand Joseph Rosenbaum neben ihnen und sah fragend in die Runde. Wie immer wirkte er in seinem figurbetonten, weit über das Gesäß reichenden und bis zum Hals hochgeschlossenen Sakko etwas aus der Zeit gefallen. Seine dunkle Krawatte stammte eindeutig aus der vorletzten Saison, ebenso die schmalen Hosen und die Schuhe. Kinn und Backen zierte ein stark angegrauter Bart, als gelte es, mit der üppigen Fülle im Gesicht das karge Haupthaar zu ersetzen. Als er den Strohhut vom Kopf nahm, zeichnete sich auf der schweißglänzenden Stirn der Streifen des Hutbands ab. Verwirrt zwinkerte er mit den grauen Augen, kramte mit der rechten Hand in der Seitentasche, um die Brille herauszuziehen. Kaum hatte er sie aufgesetzt, hellte sich seine Miene auf. Unter dem linken Arm klemmte eine Zeitung, natürlich die eigene, die er sich Tag für Tag aus Bonn in die Sommerfrische schicken ließ. Es bestand kein Zweifel, dass es ihn mehr danach drängte, sich seiner Lektüre zu widmen, als Genaueres über die Aufregung in seiner Familie zu erfahren.
»Gero von Sudloff hat deiner Tochter sein Auto geschickt.« Von neuem kochte die Empörung in Hedda hoch, und ihre Stimme bebte.
»Schön«, lautete Josephs knapper Kommentar. Gedankenverloren musterte er das Auto und wandte sich bereits zum Gehen ab, bevor er nachsetzte: »Wie ich ihn kenne, hat er auch dafür gesorgt, dass sie es fahren kann.«
»Du sagst es, Papa!« Selma lief zu ihm, schmiegte sich an seinen Arm. »Mama macht sich wieder einmal viel zu viele Sorgen. Dabei ist und bleibt Gero verantwortungsvoll. Genau deshalb wünscht ihr ihn euch doch zum Schwiegersohn.«
»Nicht nur deshalb«, knurrte Joseph und nahm die Zeitung in die Hand, ein deutliches Zeichen, dass er zum Lesen ins Foyer verschwinden wollte.
»Was ist jetzt, Schwesterherz?« Grischa wurde ungeduldig. »Unternehmen wir noch eine Spritztour oder nicht?«
»Von mir aus gern! Wer mitkommen will, ist herzlich eingeladen.« Munter schlang Selma sich den Schal um den Hals, schaute zwischen Vater, Mutter und Großmutter hin und her. Joseph war bereits ganz mit seiner Zeitung beschäftigt, Hedda würdigte sie keines Blickes, und die Großmutter winkte ab. »Vergnügt ihr beiden euch erst einmal allein. Hedda und ich gehen lieber in den Gartensalon. Mir scheint, eure Mutter braucht ein wenig Ablenkung, um sich von dem Schreck zu erholen.«
»Danke, dass du dich um sie kümmerst, liebe Großmama. Vielleicht gelingt es dir, sie mit dem Vorlesen des neuen Rosalie-Goldstein-Romans auf andere Gedanken zu bringen. Der erste Teil ist in der aktuellen Ausgabe der Dame abgedruckt.«
»Oh, da bin ich aber gespannt, was die Goldstein wieder so schreibt.« Belustigt spitzte Meta den Mund.
»Ich bin vollauf begeistert. Wieder trifft sie den richtigen Ton für eine spannende Geschichte. Genau so, wie wir Frauen von heute es gern lesen. Sie muss toll sein. Ich würde sie gern einmal kennenlernen.« Verschwörerisch zwinkerte sie der Großmutter zu.
»Eins nach dem anderen, mein Kind. Probier du erst einmal den Wagen aus, damit du dich bei Gero für die Leihgabe bedanken kannst.« Vielsagend lächelnd tat Meta, als scheuchte sie sie mit der Hand fort.
»Darauf freue ich mich schon jetzt!«, rief Selma und schob Grischa zum Auto.
Seit Gero ihr vor einer Woche das Auto geschickt hatte, nutzte Selma es täglich, um die Umgebung Baden-Badens Straße für Straße zu erobern. Sie bedauerte zwar nach wie vor sehr, die Touren ohne ihn machen zu müssen, doch Grischa gab sich rührend Mühe, sie darüber hinwegzutrösten, auch wenn ein Bruder den Liebsten natürlich nicht annähernd ersetzen konnte. Die Eltern, allen voran Mutter Hedda und erst auf ihr nachdrückliches Drängen hin auch Vater Joseph, zeigten sich weniger begeistert von den Spritztouren der Geschwister. Selma verstand es jedoch, sich über alle Bedenken mit einem schlichten Hinweis à la »Mein zukünftiger Gemahl will es so« hinwegzusetzen. Zudem unterstützte Meta sie in ihrem Drang nach Freiheit.
Tag um Tag fraßen Grischa und sie mit dem knallroten Audi die Kilometer. Im Norden waren sie bereits bis Heidelberg gekommen, hatten der majestätischen Schlossruine einen Besuch abgestattet, im Süden Freiburg und sein beeindruckendes Münster besucht. Jenseits des Rheins waren sie in Colmar und Kayserberg gewesen. Grischa lag ihr in den Ohren, sich endlich in die Vogesen oder wenigstens in den Schwarzwald zu wagen. Außerdem standen Straßburg, Mühlhausen und Basel auf seiner Wunschliste, bevor er nach Berlin zurückmusste, um seine Fliegerausbildung anzutreten. Ins Gebirge aber traute Selma sich noch nicht. Erst wollte sie den Wagen besser kennenlernen.
Um sich ihres Wohlwollens zu versichern, kurbelte Grischa jedes Mal bereitwillig vor dem Losfahren den Motor an und kümmerte sich in den Apotheken entlang der Strecken um Benzin und Öl. Natürlich entging ihr nicht, wie aufmerksam er sie beim Schalten und Fahren beobachtete. Längst war die Frage überfällig, ob er sich auch einmal hinters Lenkrad auf der rechten Seite des Wagens setzen und das Chauffieren ausprobieren durfte.
An diesem Tag wollten sie Karlsruhe ansteuern. In den letzten Jahren waren sie so oft mit dem Vater dort gewesen, dass der Ausflug längst als fester Bestandteil der Sommerfrische galt. Obwohl Selma den Besuch beim Riesensalamander im Naturkundemuseum bereits mehrfach angemahnt hatte, hatte Joseph beim Frühstück überraschend abgelehnt, sie beide zu begleiten.
»Wahrscheinlich traut er deinen Fahrkünsten nicht«, kommentierte Grischa mit einem spöttischen Grinsen, sobald er links neben ihr auf dem Beifahrersitz Platz nahm. »Oder er befürchtet, dass das Fahren in einem so auffälligen roten Auto einem gestandenen Zentrumspolitiker wie ihm als Überlauf ins feindliche Lager ausgelegt wird.«
»Ich glaube, inzwischen reizt ihn das Nachmittagskonzert vor dem Konversationshaus eindeutig mehr. Karlsruhe kennt er zur Genüge.«
»Das Repertoire des Kurorchesters ebenso, genau wie die Roben der vornehmen Herrschaften, die sich dort jeden Tag nach dem Spaziergang in der Lichtentaler Allee einfinden.«
»Vielleicht ist er einfach nur müde«, lenkte Selma ein. »Die letzten Monate im Reichstag waren aufreibend für ihn. Mehr als wir alle hat er sich einige faule Wochen verdient.«
Mit angespannter Miene lenkte sie den Wagen aus der großzügig geschwungenen Hotelauffahrt zur Ludwig-Wilhelm-Straße und wenig später an der Russischen Kapelle vorbei auf die verkehrsreiche Lichtentaler Straße nordwärts durch die Stadt. Endlich brausten sie auf freier Strecke parallel zur Bahnstrecke an Oos und dem Flughafen vorbei, und Selma konnte das Fahren bei offenem Verdeck in vollen Zügen genießen. Der Fahrtwind zerrte an der Lederkappe, ließ den Schal Engelsflügeln gleich um den Hals flattern. Kühn trat sie aufs Gaspedal, bis die Landschaft nur so an ihnen vorbeiflog. Die Bäume entlang der Chaussee verschmolzen zu einem breiten, braungrünen Band, in das die hell aufblitzenden Lücken zwischen den Stämmen ein unregelmäßiges Streifenmuster woben. Die Wipfel der Ulmen und Weiden entbehrten jeglicher Erhabenheit, hatte sich doch der Himmel bedrohlich niedrig über sie gebettet. Das unbekümmerte Blau der letzten Wochen war einem zwielichtigen Weißgrau gewichen. Letzte Sonnenstrahlen kämpften sich durch das Gewölk, verstärkten die Schwüle, die seit den Mittagsstunden auf den Rheinauen lastete.
Bis zum Horizont dehnte sich die Straße. Selma liebte die Strecke. Trotz der von Grischa gepriesenen Geländegängigkeit fuhr sie den Audi am liebsten in der Ebene aus. Den rauschenden Wind um den Kopf zu spüren, versetzte sie in Hochstimmung. Mit einem Mal war ihr zum Singen zumute. Lauthals schmetterte sie los: »Fräulein, könn’n Se linksrum tanzen? / Linksrum tanzen? Linksrum tanzen? / Linksrum tanzen wir!« Fröhlich hupend betonte sie den Dreivierteltakt, riss mit jedem »Linksrum« auch das Lenkrad in die Richtung, fuhr lustige Schlangenlinien. Als ihnen ein Fahrzeug nicht minder schnell als sie selbst entgegenbrauste, wich sie erst im letzten Moment zur Seite. Das verärgerte Hupen und die empört in die Luft gereckte Faust des Fahrers nahm sie als Kompliment für die Kunst, die Nerven behalten zu haben. Zu ihrem größten Vergnügen bemerkte sie aus dem Augenwinkel, wie Grischa sich an den Haltegriffen festklammerte und den Blick starr nach vorn richtete. Sein Gesicht war eindeutig blasser als beim Losfahren. Um ihn zu necken, schwenkte sie zu einem noch größeren Bogen aus.
»Für einen angehenden Flieger sitzt dir das Herz eindeutig zu tief«, rief sie ihm über den dröhnenden Motorenlärm hinweg zu und sang lauthals weiter: »Fräulein, könn’n Se linksrum tanzen? Linksrum …«
»Wenn du das Lenkrad nur nicht immerzu im Takt herumreißt, halte ich das noch gut eine Weile aus«, schrie er zurück.
»Ist dir etwa schlecht?« Selma richtete den Wagen wieder gerade aus und verlangsamte das Tempo. Der Motor wurde leiser. »Gib bitte rechtzeitig Bescheid, bevor du mir das gute Leder beschmutzt.«
Als er ihr mit einem verärgerten Winken bedeutete, wieder auf die Straße statt auf ihn zu blicken, fragte sie scheinheilig: »Wäre dir Folgendes vielleicht lieber?« Eher er antworten konnte, legte sie in tieferer Tonlage los: »Die Männer sind alle Verbrecher / Ihr Herz ist ein finsteres Loch. / Hat tausend verschiedne Gemächer. / Aber lieb, aber lieb sind sie doch.«
»Wenigstens fährst du dazu keine Kurven mehr«, rief Grischa und lockerte seine Finger am Griff.
»Keine Angst, ich passe gut auf dich auf, mein Kleiner.« Sie musste schalten, weil ein Motorrad mit Sozius vor ihnen in Sicht kam. Das Gefährt fuhr in der Straßenmitte. Selma hupte. Erst als sie dicht auffuhr, wich der Fahrer zum Straßenrand aus. Winkend und hupend raste sie an ihm vorbei. Als sie den in eine dicke Lederjacke vermummten Fahrer und die weitaus kleinere Gestalt auf dem Beiwagen erblickte, kam ihr eine neue Idee. Nach dem Überholmanöver hielt sie sich betont rechts, nahm die linke Hand vom Lenkrad und tätschelte Grischa das Knie, während sie trällerte: »Wenn der Bräutgam mit der Braut mal etwas voooorhat …«
Die Vokale des letzten Wortes dehnte sie länger als nötig, senkte zugleich die Stimme und betätigte abermals die Hupe. »Schau nicht so verkniffen, Brüderchen. Beim Fliegen wirst du weitaus größere Kapriolen überstehen müssen. Sing einfach mit, dann geht es dir rasch besser.«
Sie schaffte es sogar, ihm die linke Hand an die Wange zu legen und mit der rechten weiterzulenken. Erneut stimmte sie den Text des letzten Schlagers an, legte die Hand wieder aufs Lenkrad, trommelte mit den behandschuhten Fingern aufs Holz: »Wenn der Bräutgam mit der Braut mal etwas vooorhat, / Setzt er sich ganz einfach mit ihr aufs Moootorrad / Und so sausen sie hinaus mit froher Miene / irgendwo aufs Land, ins frische, duftige Grüne …«
»Ich habe heute früh wohl das Falsche gegessen«, versuchte Grischa sich in einer Erklärung. »Zum Glück ist dein Musikrepertoire unerschöpflich. Damit bringst du mich auf andere Gedanken. Leider kann ich beim Singen nicht mithalten. Ich komme nicht so oft in eine Operette wie du.«
Langsam kehrte die Farbe auf seine Wangen zurück. Das ruhigere Fahrtempo wie auch das sanfte Geradeausfahren behagten ihm sichtlich mehr.
»Das sollten wir schleunigst ändern. Wenn du erst einmal beim Regiment bist, wirst du keine Gelegenheit mehr haben. Vielleicht steht im Badener Theater etwas Passendes auf dem Programm. Am besten erkundigen wir uns heute Abend bei Lilly Saur. Oder wir fahren woandershin. Zum Glück sind wir jetzt mobil.«
»Mama wird entsetzt sein.«
»Warum? Weil ich nachts Auto fahre? Stell dir vor, der Wagen hat sogar Licht.«
»Wie gut! Ich hatte schon befürchtet, beim Einsetzen der Dämmerung die Fackeln schwenken zu müssen«, erwiderte er lachend.
»Verschrei es nicht. Ordentlich dämmerig wird es gerade, dabei ist es mitten am Tag.« Sie äugte nach oben. Tatsächlich zog über den Spitzen der Ulmen und Eschen düsteres Gewölk auf. Das silbrige Schimmern der Weiden war verschwunden. In der Ferne grollte Donner. Das Tuckern des Automotors erklang wie eine zaghafte Antwort darauf.
»Wenigstens hat dein Auto ein Dach.« Er zeigte ins Heck, wo die Plane ordentlich zusammengefaltet auf ihren ersten Einsatz wartete.
»Der Audi ist eben für alle Wetterlagen gerüstet«, erklärte sie knapp und schaltete. »Hast du Angst vor Ärger mit Mama, wenn ich dir vor dem Beginn deiner trüben Armeetage noch ein bisschen Abwechslung im Theater biete?«
»Du weißt, was sie von deiner Liebe zu Operetten hält. Die verderben ihrer Ansicht nach den Charakter.«
»Oh, verderben will ich dich lieber nicht, mein Kleiner!«
»Ach, was soll’s! Lass uns gehen, auch wenn Mama vor Wut schäumt. Solange du mich nicht in Das Autoliebchen oder Die keusche Susanne schleppst, wird es zu ertragen sein.«
»Was hast du dagegen? Die Musik von Jean Gilbert ist doch sehr eingängig. Wenn es dir lieber ist, können wir uns natürlich auch eine Operette von Franz Lehár oder Johann Strauß heraussuchen. Ich bin offen für alles, solange es Spaß macht.«
»Das glaube ich dir aufs Wort! Schließlich sehe ich ja, womit du den lieben langen Tag dein Hirn fütterst.«
»Ich bin eben ein Mädchen. Für mich hat es nur für die Höhere-Töchter-Schule gereicht. Den Tacitus haben sie uns gerade noch lesen lassen, die Sappho aber hat man uns leider vorenthalten. Diese Schmach prägt fürs Leben. Deshalb vergnügen wir Frauen uns mit seichten Operetten oder greifen zu Zeitschriften wie der Dame, um uns die Welt erklären zu lassen. Frag Großmama, die wird dir das bestätigen.«
»Was bleibt ihr anderes übrig!«
Ein Pferdefuhrwerk weiter vorn auf der Straße erforderte ihre Aufmerksamkeit. Gemächlich trotteten die beiden Gäule über die Chaussee, der Fuhrmann kauerte mit rundem Buckel auf seinem Bock und machte keine Anstalten, zur Seite auszuweichen, damit Selma überholen konnte. Während sie das Tempo verlangsamte, reckte sie den Hals, um ihre Chancen, doch noch vorbeizufahren, auszuloten. Abermals nahm sie die linke Hand vom Lenkrad, betätigte den Schalthebel. Die Kupplung machte ein abscheuliches Geräusch. Erschrocken verzog sie das Gesicht, wartete beunruhigt, bis der Motor wieder gleichmäßiger tuckerte. Seufzend beschloss sie, sich vorerst hinter dem Fuhrwerk zu halten. Der Wind frischte auf, blähte die Plane über der Ladung auf. Selma meinte, Strohballen darunter zu erspähen. Das Donnergrollen im Westen wurde lauter, die dunklen Wolken türmten sich immer bedrohlicher über den Baumwipfeln auf.
»Was würde Rosalie Goldstein wohl dazu sagen, wenn Großmama Meta Kayserberg Zeitschriften wie die Dame ablehnte?«, knüpfte Grischa an das eben Gesagte an. »Sie scheint eine Frau zu sein, die mit der Zeit geht. Gerade noch rechtzeitig hat sie sich mit ihren Romanen aus biederen Zeitschriften wie der Gartenlaube in modernere retten können.«
»Du weißt es also?«
»Was?«
»Ach, tu nicht so scheinheilig und sag schon: seit wann?« Jetzt erlaubte sich Selma doch einen neugierigen Blick zur Seite. Als sie die vergnügte Miene des Bruders unter der braunen Schirmmütze und der breiten Brille gewahrte, schmunzelte sie. In der Autofahrermontur wirkte er männlich, seine bartlosen Wangen fielen kaum auf.
»Auch wenn ich bislang nur ein unreifer Pennäler gewesen bin, den man mit Latein und Griechisch gefüttert hat, so habe ich trotzdem was vom Leben mitbekommen und weiß seit langem, dass unsere hochverehrte Großmama unter Pseudonym Unterhaltungsromane schreibt.«
»Wie findest du das?«
»Willst du das wirklich wissen?«
»Aber klar! Von einem, der Platon und Caesar im Original lesen und die Verse der Odyssee im Schlaf auswendig aufsagen kann, muss ich einfach erfahren, wie das Œuvre der Rosalie Goldstein einzuschätzen ist.«
Die Gelegenheit, doch noch an dem Fuhrwagen vorbeizuziehen, schien plötzlich günstig. Unternehmungslustig schickte sie sich an, nach links auszuschwenken, wollte gerade aufs Gaspedal treten, da schreckte sie von hinten empörtes Hupen auf.
»Achtung! Ein Auto!«, rief Grischa.
»Beruhig dich«, brummte sie und trat auf die Bremse. Flink lenkte sie wieder nach rechts, ließ den ungeduldigen Fahrer vorbei. Kopfschüttelnd sah der Mann aus seinem schwarzen Adler zu ihnen herüber. Unter Mütze und Brille war lediglich der dunkle Bart zu erkennen. Trotzdem meinte Selma, ein Staunen auf seinem Antlitz zu entdecken, als ihm klarwurde, dass eine Frau am Steuer des Audis saß. Lässig hob sie die Hand und winkte, eine Geste, mit der er noch weniger gerechnet hatte. Erst als der Kutscher empört die Peitsche durch die Luft knallen ließ, weil seine Pferde durch die Autos dicht neben und hinter ihnen nervös wurden, besann er sich und brauste davon. Selma nutzte die Gelegenheit und startete ihr Überholmanöver ebenfalls von neuem. Vom Aufheulen des Motors erblasste Grischa abermals, klammerte sich fest, bis sie an dem Fuhrwerk vorbei waren und wieder gemächlich in der Fahrbahnmitte fuhren.
»Also, wo waren wir stehengeblieben?«, erkundigte sich Selma. »Du wolltest mir noch sagen, wie du Großmamas Romane findest.«
»Einfach großartig!«, stieß er aus, löste die Hände von den Griffen und sackte zurück auf die Lederbank. »Es ist einfach großartig, wie sie das macht. Wenn man bedenkt, was sie schon alles hinter sich hat, kann man nur den Hut vor ihr ziehen.«
»Du meinst, nach allem, was sie mit ihrem Mann, dem honorigen Professor Kayserberg, einst durchgemacht hat.«
»Immerhin musste sie sich und ihre Tochter nach seinem Selbstmord ganz allein durchbringen.«
»Und seine riesigen Schulden zurückzahlen. Ein notorischer Spieler wie er hat selbst nach der Schließung sämtlicher Spielbanken noch genug Möglichkeiten gefunden, alles Geld durchzubringen.«
»So ist das wohl, wenn ein Mathematiker dem Irrtum erliegt, den Zufall beim Roulette mittels kühler Berechnung ausschalten zu können.«
»Merkwürdig, dass Großmama nach wie vor an Orten wie Baden-Baden hängt. Hier hat doch ihr Unglück erst seinen Lauf genommen.«
»Vielleicht kommt sie gerade deshalb immer wieder hierher und schwelgt in Erinnerungen.«
»Oder findet neue Anregungen für ihre Romane.«
Sie lachten beide.
»Du solltest auch anfangen, Zeitschriften zu lesen«, fing Selma nach einer Weile wieder an. Die dräuende Gewitterstimmung und die gottverlassene Straße behagten ihr wenig. Bis Karlsruhe war es noch ein gutes Stück. Sie hoffte, es noch vor Ausbruch des Unwetters zu schaffen. Wenn sie Glück hatten, fanden sie eingangs der Stadt eine Schmiede oder eine Autowerkstatt, in der man ihnen beim Aufklappen des Verdecks behilflich sein konnte. Bislang waren sie nur bei schönem Wetter gefahren und hatten das Verdeck kein einziges Mal ausprobiert. Zu allem Überfluss bildete sie sich ein, seit einiger Zeit ein Stottern aus dem Motor zu vernehmen.
»Wenn du erst einmal in der Fliegerschule bist, wirst du kaum noch richtige Bücher in die Hand nehmen«, plauderte sie weiter, um sich abzulenken. »Dazu hast du dort zu viel anderes im Kopf. Die Illustrierte Zeitung könnte dir gefallen. Darin findest du hervorragende Fotografien. Wirklich erstaunlich, was da mittlerweile möglich ist. Da können die Bonner Neueste Nachrichten mit ihrer altbackenen Aufmachung kaum mithalten.«
»Lass das mal nicht Papa hören. Er kaut noch an der Nachricht, dass ich Flieger werden und nicht sein Lebenswerk im Rheinland übernehmen will.«
»Das ist ihm kaum zu verdenken. Immerhin bist du seit vier Generationen der erste männliche Spross, der nicht in die Fußstapfen seiner Vorväter zu treten gedenkt.«
»Schade, dass dein holder Gero auch nicht so recht fürs Zeitungsgeschäft taugt.«
»Dafür wird sich Vetter Erwin umso mehr freuen«, warf Selma ein. »Er hat es sich auch redlich verdient, den Verlag eines Tages ganz offiziell zu übernehmen. Seit Vaters Eintritt in die Berliner Politik hält er in Bonn die Fahne für die Familie hoch. Ohne ihn hätte der Verlag längst dichtmachen müssen.«
»Wie schön zu hören, dass du auf einmal ein Loblied auf unseren langweiligen Vetter anstimmst. Könnte es sein, dass du fürchtest, sonst dein Dasein als Verlegersgattin am Rhein fristen zu müssen, statt an der Spree bei wichtigen gesellschaftlichen Ereignissen die Nase vorn zu haben?«
Amüsiert trommelte Grischa mit den Fingern auf die Kante der Beifahrertür.
»Was redest du da für einen Unsinn?« Empört schüttelte sie den Kopf, versuchte zugleich, das lauter werdende Brummen des Motors als bloße Einbildung abzutun. »Gero würde niemals nach Bonn gehen, um den Verlag zu übernehmen. Gerade ist er in seiner Kanzlei zum Partner avanciert.«
Ein entsetzlich lautes Stottern unter der Haube schien ihre Aussage zu unterstreichen. Die Geschwister wechselten erschrockene Blicke. Dann aber wurde das Motorengeräusch wieder gleichmäßiger. Erleichtert beschleunigte Selma wieder.
»Vater könnte den Verlag genauso gut verkaufen«, fuhr Grischa fort. »Hugenberg kratzt schon begierig an den Türen, um ihn sich einzuverleiben. Man munkelt, er will ganz groß ins Verlagsgeschäft einsteigen.«
»Das befürchte ich weniger«, winkte Selma ab, während sie am Horizont beruhigt die ersten Umrisse von Karlsruhe ausmachte. Rechtzeitig vor Einsetzen des Regens würden sie also ins Trockene gelangen. »Hugenberg sitzt bei Krupp fest im Sattel, das würde er doch nicht eines kleinen Zeitungsverlags wegen aufgeben. Außerdem hat er mit seinem Alldeutschen Verband wirklich genug zu tun. Das passt so gar nicht in die Linie, die die Bonner Neuesten Nachrichten seit Jahrzehnten verfolgen. Ich bin mir sicher: Bevor Vater den Verlag an einen wie ihn verkauft, legt er eher sein Reichstagsmandat nieder und geht zurück an den Rhein.«
»Warten wir es ab.«
Erstaunt warf Selma ihm einen Blick zu. Während sie noch seine Miene zu deuten versuchte, muckte der Motor abermals. Aus der Motorhaube drang Qualm. Das ehedem so gleichmäßige Tuckern ging in holpriges Stottern über. Mit Schalten, Gasgeben oder Bremsen richtete sie kaum mehr etwas aus. Nach einem lauten Knall erstarb das Motorbrummen, und der Wagen lief langsam aus. Starr vor Schreck umklammerte Selma das Lenkrad.
Grischa fasste sich als Erster. Flink schwang er die langen Beine aus dem Auto, stürzte zur rauchenden Motorhaube und öffnete sie todesmutig. Sofort nebelte der dichte Qualm ihn ein. Selma hörte ihn husten und keuchen, sah, wie er wild mit den Händen durch die Luft wedelte, um sich eine klare Sicht zu verschaffen. Endlich erwachte auch sie aus der Starre und schälte sich aus dem Wagen. Bangen Herzens trat sie zu Grischa, um vorsichtig über seine Schulter in den Motorraum zu äugen. »Ist es schlimm?«
»Keine Ahnung.« Grischa richtete sich auf. »Zum Glück hatten wir gerade freie Bahn. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ein anderes Auto dicht vor uns aufgetaucht wäre.«
»Ich weiß nicht, ob das wirklich unser Glück ist. Jetzt ist auch keiner da, der uns helfen kann«, erwiderte sie und spähte suchend die gähnend leere Straße hinauf und hinunter. Ein beeindruckender Blitz zuckte über den Himmel, kurz darauf krachte ein ohrenbetäubender Donner durch die Luft.
»Hast du eine Ahnung, was wir tun müssen? Als angehender Flieger solltest du von Motoren Ahnung haben.«
»Hast du das nicht bei deiner Führerscheinprüfung gelernt? Zumindest über das Verhalten bei den gängigsten Pannen hätte man dich unterrichten müssen. Oder hat Gero ausgerechnet daran geknausert, als er dir die Fahrerlaubnis spendiert hat?«
»Hältst du Gero etwa für geizig?« Böse funkelte sie ihn an, dann aber siegte die Vernunft. »Lass gut sein, Kleiner, und hilf mir lieber, das Verdeck zu schließen. Gleich beginnt es, kräftig zu schütten. Es wäre gut, dann wenigstens im Trockenen zu sitzen.«
Schon lief sie nach hinten und machte sich an der Plane zu schaffen. Wieder grollte der Donner, dieses Mal noch lauter und näher als vorhin. Der Wind frischte auf. Zusehends wurde es dunkler. Eine unheimliche Stille senkte sich über die Rheinauen, verdrängte Vogelzwitschern und Insektengebrumm. Hastig zerrte Selma an der Wagenplane.
»Kann man Ihnen helfen?« Ein Wagen hielt dicht hinter ihnen. Selma wandte den Kopf. Über der Aufregung, das Verdeck nicht öffnen zu können, hatte sie das näher kommende Motorgeräusch völlig überhört. Grischa musste es ähnlich ergangen sein, wie sein verdutzter Gesichtsausdruck verriet. Eine junge Frau in weiten Knickerbocker aus leichtem, beigefarbenem Baumwollstoff und passendem kariertem Reiterjackett kletterte hinter dem Steuer des Autos heraus. Aufgrund seiner schmalen Form und den hintereinander angeordneten Sitzen war das Modell gleich als Wanderer »Puppchen« zu erkennen. Die Frau kam direkt auf sie zu, zog sich noch im Gehen die Lederkappe vom Kopf, schüttelte eine halblange dunkelblonde Mähne auf und setzte die unförmige Brille ab. So farblos die grauen Augen im ersten Moment wirkten, so sehr fesselte der entschlossene Blick, mit dem sie die Welt ins Visier nahmen. Selma sah erstaunt, wie jung die Frau war. Sie schätzte sie höchstens auf Grischas Alter. Die kräftige Stimme wie auch das entschiedene Auftreten passten jedoch weder zu ihrer Jugend noch zu ihrer zierlichen Statur.
»Darf ich?«, erkundigte sich die Fremde und legte ohne Umschweife Hand an, um mit wenigen Griffen die Plane vom Verdeck zu lösen und aufzuklappen. »Sie machen das wohl zum ersten Mal. Ziehen Sie es hier einfach weiter herunter. Sehen Sie, am besten so«, wies sie Grischa an und zeigte ihm, was zu tun war. Flink ging sie um das Auto herum und erledigte den Rest auf Selmas Seite. Dabei fiel ihr Blick auf die offene Motorhaube.
»Haben Sie eine Panne?« Schon streifte sie die Handschuhe von den Fingern, warf sie achtlos auf die Sitzbank, verfuhr mit Brille und Lederkappe ebenso und beugte sich über den offenen Motorraum. Selma und Grischa warfen sich einen fragenden Blick zu.
»Meine Tochter kennt sich aus«, ertönte eine Bassstimme. Sie gehörte dem Herrn, der eben noch auf dem hinteren Sitz des dunkelgrün lackierten Puppchens ausgeharrt hatte und nun neugierig zu Selma und Grischa trat. »Gestatten Sie, dass ich uns vorstelle: Ich bin Otto Weißkirchner aus Metz, Inhaber der Maschinenfabrik Weißkirchner & Sohn, und das an Ihrem Motor ist meine Tochter Constanze, die inzwischen weitaus mehr als nur den Sohn in unserer Firma ersetzt. Wahrscheinlich hieße sie besser Weißkirchner & Tochter, aber bislang habe ich die Umbenennung gescheut. Doch das ist eine andere Geschichte, mit der ich Sie keinesfalls behelligen will. Vertrauen Sie meiner Tochter. Sie weiß, was sie tut, wenn sie einen Motor vor sich hat. Von klein auf versteht sie sich auf die Eigenarten dieser Wunderwerke der Technik und hat das Hantieren mit Schraubenzieher und Schmieröl dem Spielen mit Puppen vorgezogen.«
Er lüpfte seinen Hut und deutete eine leichte Verbeugung an. Erst dabei wurde Selma bewusst, dass er weder die übliche Ledermütze noch eine Autobrille trug. Entsprechend zerzaust stand das graue Haar wie auch sein Backenbart in alle Richtungen ab. Das wenige, was von den Wangen sichtbar war, war stark gerötet. Umso mehr stach auch bei ihm der besitzergreifende Blick der grauen Augen hervor. Ansonsten hatte er wenig mit seiner Tochter gemein. Abgesehen vom breiten Schädel, dem kurzen, dicken Hals und der untersetzten Figur hob er sich auch durch seine schwerfälligen Bewegungen von ihr ab.
»Mein Name ist Grischa Rosenbaum, und das ist meine Schwester Selma«, stellte Grischa sie vor. »Wir sind derzeit Gäste in Baden-Baden und wollten heute …«