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Eine kleine Buchhandlung im Londoner Stadtteil Mayfair. Mrs. Annetta Robington hat sich in einem faszinierenden Buch über Pinguine festgelesen und darüber die Zeit vergessen. Beim Verlassen des Ladens macht sie plötzlich eine unglaubliche Entdeckung: Der Buchhändler ist ein Pinguin! Der alte Herr dementiert, gibt dann aber doch zu: Ja, er ist ein Pinguin – einer von vielen, die meist unerkannt unter den Menschen leben.
Ein Cellist mit buschigen Augenbrauen, ein Portier in vollendeter Haltung, ein Opernbesucher im Frack … Nun sieht Mrs. Robington allerorten Pinguine.
Als das Geheimnis der liebenswerten Species aufzufliegen droht, ist Mrs. Robingtons große Stunde gekommen. Mit einem raffinierten Plan setzt sie alles daran, die Vögel zu retten …
Eine herzerwärmende Geschichte mit zauberhaften Illustrationen von Isabel Pin in Geschenkbuchausstattung.
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Seitenzahl: 139
Thomas Montasser
Der Sommer der Pinguine
Roman
Mit Illustrationen von Isabel Pin
Insel Verlag
Der Sommer der Pinguine
»Es wäre vieles leichter auf der Welt, wenn die Menschen nicht nur immer das sehen würden, was sie sehen wollen.«
Rufus Gladstone
Diese Geschichte trug sich vor nicht allzu langer Zeit in London zu, und zwar an einem schönen Spätsommertag. Es war die sogenannte Last Night of the Proms, also jener Abend, an dem die Saison der traditionellen Promenadenkonzerte zu Ende geht und damit auch die sehr kurze Zeit, in der sich die Londoner wie Italiener fühlen – auf sehr englische Art natürlich.
Genau genommen nahmen die Ereignisse ihren Anfang bereits tags zuvor, als Mrs. Annetta Robington, eine Geographielehrerin aus Great Missenden – das im Gegensatz zu seinem Namen eher ein sehr kleines Örtchen ist –, auf ihrem Weg vom British Museum zum Hyde Park der Versuchung nicht widerstehen konnte, eine kleine Buchhandlung im ebenso lebhaften wie bezaubernden Stadtteil Mayfair zu betreten. Sie hatte die Entfernungen in London unterschätzt. Wer die Laufwege von Great Missenden gewöhnt ist, sieht sich in einer Stadt wie London plötzlich mit sehr abweichenden Dimensionen konfrontiert.
Es war aber nicht allein die Hoffnung auf einen Augenblick des Ausruhens in der kühlen Stille eines offensichtlich gepflegten und kultivierten Ladens, es war auch die Neugier. Der Buchhändler schien ein natürliches Gespür für Mrs. Robingtons Interessen zu haben: So gut wie jedes Buch, das er in der Auslage präsentierte, hätte sich auch in Mrs. Robingtons kleiner Bibliothek befinden können. Von Darwins letzte Reise über Sibirischer Sommer bis hin zu Die souveräne Lehrerin. Ein seltsam vielseitiges und, wie es Mrs. Robington in den Sinn kam, als sie über die Schwelle trat, vieldeutiges Sortiment.
Das Dämmerlicht des Ladens und die plötzliche Ruhe, als die Tür mit leisem Klingeln hinter ihr zusank, bewirkten ein leichtes Schwindelgefühl bei der Kundin, die wir uns als Frau mittleren Alters vorstellen dürfen, deren energischste Jahre vielleicht schon hinter, während die besten zweifellos noch vor ihr lagen – doch das ahnte sie zu diesem Zeitpunkt freilich nicht. Aus den Augenwinkeln registrierte sie den Buchhändler, der hinter der Ladentheke und einer Kasse kaum zu sehen war, ihr aber einen freundlichen Gruß entbot.
Genussvoll sog Mrs. Robington die nach Papier und Druckerschwärze riechende Luft ein und spürte einen leichten Kitzel in den hinteren Gehirnarealen. Hatte das jemals schon jemand untersucht? Gab es dort in der Nähe des Stammhirns eine Region, die auf den Duft von Büchern ganz besonders intensiv reagierte? Seufzend stieß sie die Luft wieder aus, bemerkte, wie sich eine angenehme Kühle über ihre nackten Arme breitete, und wandte sich den Tischen und Regalen zu, auf denen all die verlockende Literatur präsentiert wurde, die ein offenbar ebenso belesener wie empathischer Buchhändler für seine Kunden in diesem entzückenden Ladenlokal zusammengestellt hatte. Man konnte aus der Auswahl manche Vorliebe des Inhabers herauslesen, die Liebe zur nordischen Literatur etwa, ein Faible für Werke aus der beginnenden Neuzeit, Kulinaria, die sich mit den diversen Arten, Fisch zuzubereiten, beschäftigten – und ein ganzes Regal mit Büchern über den Lebensraum Antarktis, wie Mrs. Robington mit einer Mischung aus Erstaunen und Neugier feststellte.
Langsam wich die Erschöpfung des langen Fußmarsches an diesem heißen Tag der Erquickung, die eine gut geführte Buchhandlung jederzeit zu spenden fähig war. Erfrischt von der Vielfalt der literarischen Verlockung, setzte sich Mrs. Robington auf einen der Hocker, um sich ganz in die Botanik der ostafrikanischen Inseln, die Erzählungen von Henry James, die Memoiren einer siamesischen Konkubine und zuletzt einen Bildband mit historischen und zeitgemäßen Fotografien von Pinguinen in bisweilen unfassbar detaillierten Aufnahmen zu vertiefen. Sie vergaß Zeit und Raum. Erst als die Dämmerung nach draußen übergegriffen hatte, schreckte sie hoch und blickte auf die Uhr. Der Zug nach Aylesbury, den sie hatte nehmen wollen, war längst abgefahren, der nächste würde wegen der unvermeidlichen Eisenbahnerstreiks erst in gut zwei Stunden gehen. Wenn überhaupt. Sie räusperte sich, stand auf und strich ihr Kleid glatt. Vor ihr lag ein Stapel Bücher, in denen sie gelesen hatte und der sie nun anhänglich betrachtete. Die konnte sie keinesfalls alle mitnehmen. Erstens hatte sie nicht genug Geld bei sich und zweitens hätte sie nicht gewusst, wie sie sie alle transportieren sollte. Nun gut, aber zumindest ein oder zwei davon sollte sie kaufen, nun da sie so lange die unaufdringliche Gastfreundschaft des Buchhändlers genossen hatte. Nachdem sie ein wenig mit sich gerungen hatte, trug sie einen leichten Sommerroman über ein Wochenende am Comer See und einen ziemlich voluminösen Band mit antiken Landkarten zur Kasse und legte die beiden Bücher auf die Theke. »Die hätte ich gerne«, sagte sie und stutzte. »Ich … ich …« Konnte es wirklich sein? Oder spielte die Atmosphäre dieser verwunschenen kleinen Buchhandlung noch mit ganz anderen Arealen ihres Gehirns? Mrs. Robington war niemand, der an Elfen und Trolle glaubte. Nie gewesen. Im Gegenteil: Als Angestellte im öffentlichen Dienst des Vereinigten Königreichs war sie dem Übersinnlichen eher wenig zugeneigt und überhaupt eine durch und durch rationale Person. Worauf sonst hätte man ein Weltreich bauen können, wenn nicht auf die Zuverlässigkeit und den Realismus der Engländer.
Und doch: Was sie sah, ließ sich beim besten Willen nicht mit den Gesetzen der Wirklichkeit vereinbaren und konnte nur damit zusammenhängen, dass sich die eindrucksvollen Fotografien der Bewohner von Grahamland und den Südlichen Shetlands in ihre Netzhaut eingebrannt hatten. »Pinguine gibt es nur am Südpol«, flüsterte sie und schloss für einen Moment die Augen. Wenn sie sie wieder öffnete, würde alles verschwunden sein, das Trugbild würde sich auflösen und dahinter würde ein netter älterer Herr sichtbar, dessen leicht angeknittertes weißes Hemd in einem dunklen Tweedjackett steckte und von einer schlecht sitzenden Fliege mit Paisleymuster zusammengehalten wurde.
»In der Tat, ein weit verbreiteter Irrtum«, murmelte der Buchhändler und griff nach den beiden Werken, die vor ihm lagen. »Diese hier?«
»Wie bitte?«
»Diese Bücher?«
»Nein, ich meine das, was Sie zuvor sagten: ein weit verbreiteter Irrtum.« Fassungslos starrte Mrs. Robington den Buchhändler an.
»Ein Scherz, nichts weiter«, erklärte er. Doch die zarten Federn seiner Brauen zitterten bei diesen Worten, und das tiefe Schwarz seiner Augen schien ihren Blick zu fliehen.
»Aber Ihr Federkleid«, stotterte die Lehrerin und deutete unsicher auf seine Brust.
»Alfred Twickenham, Schneider in der achten Generation. Savile Row Nr. 14.«
»Und die Spitzen an den Ohren …«
»Jenson’s Hair Cut. 12 Pfund 50 – ohne Trinkgeld.« Der Buchhändler klopfte auf die Bände, die immer noch vor ihm lagen. »Sie zahlen bar?«
»Gewiss«, hauchte Mrs. Annetta Robington, die es nicht glauben mochte. Doch die ebenso souveräne wie trockene Reaktion des Gentleman ließ ja wohl keinen Zweifel daran, dass ihr Geist ihr einen Streich gespielt hatte, dass sie ihrer eigenen Phantasie erlegen war. Sie lächelte entschuldigend und reichte dem Pinguin eine Zwanzigpfundnote, verzichtete auf das Wechselgeld und verließ den Laden mit sehr gemischten Gefühlen.
Als die Tür hinter ihr zuschwang, blickte sie noch einmal zurück und betrachtete den alten Mann hinter seiner Kasse. Eine eigenartige Besorgnis schien sich in seiner Miene widerzuspiegeln. Ein kummervoller Zug lag über seiner Stirn und um seinen Schnabel.
*
Antike Landkarten laden dazu ein, die Welt mit den Augen unserer Vorfahren zu sehen. Länder, Städte und Flüsse, Meere lernen wir unter fremdartig klingenden Namen kennen, Mittelpunkte, Achsen und Dimensionen erscheinen in ganz anderem Licht. Jerusalem ist vielfach der Nabel der Welt, Indien und die britischen Inseln gleichen sich in ihrer Größe und Brasilien hat die Form eines spanischen Fächers oder wahlweise die einer prallen Papaya. Stundenlang konnte Mrs. Annetta Robington sich in der Betrachtung solcher historischer Aufzeichnungen verlieren. Während ihre übrigens sehr zarten Fingerspitzen sacht über die faksimilierten Holzschnitte, Stiche und Radierungen glitten, lasen ihre Lippen lautlos die geheimnisvollen Bezeichnungen von Bergen und Tälern, Regionen, Völkern und Stämmen. Und aus einem südländischen Spätnachmittag wurde ein britischer Abend: Die Bäume des Hyde Park hatten die Sonne verschluckt und den Mond an den noch milchigen Himmel geschickt, der über den Laternen stand und fragend auf die Besucherin aus Great Missenden herabblickte. Unwillkürlich ergriff ein Schaudern unsere Heldin. Wie spät mochte es sein? Halb sieben? Sieben? Es war, wie sie beim Blick auf die Armbanduhr, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, feststellte, halb acht. Normalerweise kein Problem mit den Chiltern Railways. Wegen der seit Wochen dauernden Streiks aber an jenem Tag zu spät für einen Zug nach Hause.
Mrs. Robington gehörte nicht zu den Menschen, die sich über Dinge grämten, die sie nicht ändern konnten. Im Altertum wäre sie vermutlich Stoikerin geworden. So hatte sie sich dafür entschieden, jungen Menschen ein Bild von der Welt beizubringen, was letztlich auf das Gleiche hinauslief. Da nun also Great Missenden an diesem Abend nicht mehr zu erreichen sein würde, musste sie wohl oder übel die Nacht in London verbringen. Sie klappte die Karte des Achämenidischen Imperiums zusammen, um sich auf die Suche nach einer Herberge zu machen, als ihr wieder der Buchhändler in den Sinn kam, ja mehr noch: Sie sah ihn geradezu vor ihrem inneren Auge, so deutlich, als stünde er vor ihr in seinem Anzug von Alfred Twickenham und mit seinem Haarschnitt von Jenson’s. Doch vermochte solcherlei Ausstattung einen Menschen zum Ebenbild eines Pinguins zu machen? Wäre nicht dieser besorgte Blick gewesen, den er ihr hinterhergeschickt hatte, vielleicht hätte Mrs. Annetta Robington es für eine Laune ihres allzu angeregten Geistes gehalten, zwischen all den Büchern, im Duft des Ladens an diesem warmen Spätsommerabend, an dem sie vielleicht etwas zu viel gelaufen war und etwas zu wenig gegessen hatte. Doch die Besorgnis hatte nicht ihr gegolten, nein, es war eine andere Art von Kummer gewesen, etwas wie: Angst?
Während ihr all dies durch den Kopf ging, fand sie sich – wenig überraschend – unvermittelt vor dem Buchladen wieder, in dem der alte Mann gerade im Begriff war, sein Tagwerk zu beschließen. Und während er mit einem geradezu antik wirkenden Schlüsselbund zur Tür gewatschelt kam, tauchte die Geographielehrerin aus der Provinz vor ebenderselben auf und beeilte sich, noch rasch hineinzuschlüpfen.
»Ma’am, es war ein langer Tag«, sagte er verdrießlich. »Es tut mir überaus leid, aber wir müssen nun schließen.«
»Natürlich, Sir«, erwiderte Mrs. Robington. »Ich werde auch gleich wieder weg sein. Nur eine Frage noch.«
Der alte Buchhändler blieb an der Tür stehen, den Schlüsselbund überdeutlich in seiner Flügelspitze präsentierend.
»Es gibt sie noch anderswo, richtig?«, sagte Mrs. Robington.
»Pardon?«
»Pinguine. Nicht nur am Südpol.« Ihre Augen blitzten ihn an, durchleuchteten ihn förmlich. Wenn einmal etwas Mrs. Robingtons Neugier geweckt hatte, so ruhte sie erst, wenn sie das Geheimnis ergründet hatte.
Der alte Buchhändler sog scharf die Luft ein, blickte vorsichtig durch die Tür nach draußen und zog dann die lästige Besucherin weiter in den Laden, nicht ohne die Tür hinter sich abzusperren. »Setzen Sie sich«, seufzte er und deutete auf einen Hocker neben der Theke.
»Also habe ich recht?«, fragte Mrs. Robington wenige Augenblicke später, als sie dem faszinierenden Wesen gegenübersaß. »Sie sind ein Pinguin.«
»Vergessen Sie es, Ma’am«, entgegnete der Buchhändler. »Es ist besser, wenn Sie nicht weiter darüber nachdenken. Tun Sie einfach, als wäre es Ihnen gar nicht in den Sinn gekommen.«
»Aber warum? Ich meine … Wie kann es sein?«
Der alte Mann zuckte mit den Schultern oder vielmehr: dem Teil seines Körpers, wo Schultern gewesen wären. »Nun, sie leben überall. Pinguine. Sie haben sich nur gut angepasst. Aber heute finden Sie Pinguine in Marrakesch ebenso wie in Basel, Melbourne oder Toronto.«
»Aber … Ich meine: in einem Buchladen?«
»Gut, sicher nicht in dem Sinne überall, dass Sie nun im Fußballstadion auf Pinguine treffen würden. Oder unter Handwerkern. Überhaupt, wir sind handwerklich eher weniger begabt«, erklärte der alte Buchhändler und wackelte entschuldigend mit den Flügelspitzen. »Spheniscidae, müssen Sie wissen, sind – wie im Grunde alle Raubtiere – von hoher Intelligenz …«
»Raubtiere?« Mrs. Robingtons betroffene Miene ließ den Buchhändler trotz aller Sorge schmunzeln.
»Gewiss«, erklärte er. »Haben Sie noch nie gesehen, wie sich Pinguine pfeilschnell unter Wasser bewegen? Sie sind jedem Fisch an Eleganz, Körperkraft und Schnelligkeit weit überlegen. Nun gut, fast jedem Fisch. Natürlich sind Pinguine Raubtiere. Und als solche raffinierte Strategen und Taktiker. Nicht umsonst wurde das Schachspiel von einem meiner Vorfahren im Jahre … aber das führt zu weit. Jedenfalls hat das zur Folge, dass sich die Spheniscidae vor allem in den intellektuellen Disziplinen, in Kultur und Politik besonders verbreitet haben. Sie finden heute kaum noch einen Atomphysiker, der nicht schon unter den Füßen seines Vaters hochkomplexe Gleichungen gelöst oder entworfen hat. Haben Sie sich noch nie gefragt, warum Napoleon so klein war? Oder warum man Mozarts Grab nie gefunden hat?«
»Sie meinen, die beiden …«
Der alte Buchhändler nickte bedeutungsvoll. »Die Mona Lisa – Leonardo hat es meisterlich verstanden, die wahre Identität der Gioconda zu verschleiern. Der zarte Schleier ist natürlich ein Symbol. Das geheimnisvolle Lächeln …«
»Die Mona Lisa war eine Sphenisci …?«, hauchte Mrs. Robington. »Und Leonardo am Ende auch?«
»Nein.« Der Buchhändler winkte ab. »Er war nur ein Mensch. Wenn auch ein ganz besonderer, da sind sich Menschen und Pinguine ausnahmsweise einig.«
»Entschuldigen Sie, wenn ich so aufdringlich bin«, sagte Mrs. Robington und blickte verlegen zu Boden. »Aber das alles verblüfft mich über die Maßen. Und ehrlich gesagt …«
Die Brauen des alten Buchhändlers hoben sich belustigt. »Ehrlich gesagt was? Ehrlich gesagt, können Sie es nicht so recht glauben?«
Die Lehrerin vom Lande zögerte. »Ich finde nur … nun ja, Pinguine, die gibt es doch eigentlich vor allem …«
»Im Zoo?«
Sie nickte.
Auch der alte Buchhändler nickte. »Verstehe«, sagte er. »Und Sie denken, wenn Pinguine sprechen könnten, würden sie nicht im Zoo landen.«
»Ist es nicht so?«
»Nun, es ist eine zutiefst menschliche Betrachtungsweise. Sehen Sie es doch einmal umgekehrt: Wenn Sie sich an den Südpol entführt fänden, könnten Sie dann mit den dort lebenden Arten kommunizieren?«
»Äh, nein, ich nehme an, das könnte ich nicht.«
»Eben. Die Pinguine, die Sie in den menschlichen Zoos finden, stammen alle aus ihrem natürlichen Habitat oder sind – von der menschlichen Gesellschaft abgeschottet – in Gefangenschaft unter ihresgleichen aufgewachsen. Man hat sie verschleppt und isoliert gehalten. Einige wenige haben es dennoch geschafft, eine menschliche Sprache zu lernen. Doch das hört und versteht natürlich nur der jeweilige sogenannte Tierpfleger. Wenn er sich dann mit den Tieren unterhält, als sei es das Normalste von der Welt, dann hält man ihn für ein Genie. In Wirklichkeit sind es die gefangenen Pinguine, die durch ihr Sprachtalent eine schier unüberwindbare Mauer durchbrochen haben. Und das ist auch der Grund, weshalb Sie dies alles, unser Gespräch, Ihre Beobachtungen, Ihre Schlussfolgerungen und alles, dringend schnellstens vergessen sollten! Es ist zu gefährlich. Nicht für Sie natürlich. Aber für mich … und für meine Artgenossen.« Damit zückte der alte Mann wieder seinen Schlüsselbund und deutete zur Tür. Es war nicht zu übersehen, dass er aufgewühlt und das Thema nicht weiter zu verfolgen gewillt war.
Mrs. Annetta Robington stand auf und nickte. »Ich verstehe, was Sie mir sagen wollen, Sir«, flüsterte sie. »Und es tut mir sehr leid, was mit Ihren Artgenossen geschehen ist. Ich kann mich nur im Namen der Menschheit für das Unrecht entschuldigen.«
Der alte Buchhändler seufzte und schenkte ihr einen gütigen Blick. »Das müssen Sie nicht, Ma’am. Das müssen Sie nicht. Ich weiß auch gar nicht, ob die Menschheit Ihnen das nötige Mandat dazu erteilen würde.«
Mrs. Robington musste lachen. Der gute Mann war wirklich nach ihrem Geschmack. »Verraten Sie mir nur eines«, sagte sie. »Wie gelingt es Ihnen, zwischen all den Menschen unerkannt zu leben?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte der Buchhändler. »Die meisten Menschen sehen nur, was sie erwarten. Aber die Welt ist doch viel mehr als nur das Erwartbare, nicht wahr?«
»Aber ich habe Sie doch auch erkannt«, erwiderte Mrs. Robington, wenig überzeugt.
»Nun, Sie sind eben eine Ausnahme.« Eine Feststellung, der nicht gut zu widersprechen war. Einen Moment musterte der Buchhändler die Kundin mit kaum verhohlener Süffisanz, dann wandte er sich um und griff aus einem Fach hinter der Theke ein Exemplar des (übrigens auch antiquarisch so gut wie nicht mehr erhältlichen) Klassikers Die Entdeckung des Menschen von P. G. Iceberger. »Wenn Sie erlauben, würde ich Ihnen dieses Buch hier gerne ans Herz legen«, sagte er und reichte es Mrs. Robington.
Mit einer Mischung aus Neugier und Zurückhaltung nahm sie es in die Hand und schlug es auf. Menschliches, allzu Menschliches. Sie hatte nicht mehr sehr viel Bargeld bei sich, und es galt, noch eine Unterkunft für die Nacht zu finden. Amundsens Rettung durch die Könige des Eismeers. In London konnte das teuer sein. Verkannt, verschleppt, verleumdet – Pinguine in der Gewalt des Menschen. Wer wusste, welche Ausgaben sonst noch auf sie zukamen. »Was soll es denn kosten?«
»Lesen Sie es und bringen Sie es mir wieder«, sagte der Buchhändler, während er sein Brustgefieder glatt strich. »Es ist unverkäuflich.«