Eine himmlische Katastrophe - Thomas Montasser - E-Book + Hörbuch

Eine himmlische Katastrophe Hörbuch

Thomas Montasser

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Beschreibung

Ein altes Kloster in einem ebenso bezaubernden wie vergessenen Winkel im Burgund. Drei betagte Nonnen, die mehr schlecht als recht den Laden am Laufen halten. Und eine junge Frau, Louise, aus der Pariser Banlieue, die ein Talent hat, in Schwierigkeiten zu geraten. Die Schwestern sind allerdings keineswegs so harmlos, wie sie zunächst scheinen – und Lou hat noch ganz andere Qualitäten, als man ihr zugetraut hätte.

Was als Katastrophe beginnt, entpuppt sich schon bald als himmlische Fügung. Denn mit Lous Hilfe werden die drei Nonnen nicht nur all ihre finanziellen Probleme los, sondern auch noch im ganzen Land berühmt. Was leider für einige Irritationen bei den Dienstherren in Rom sorgt. Denn was um alles in der Welt bedeutet es, dass die Damen plötzlich als »Ein göttlicher Harem« durch die Lande tingeln?

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Zeit:4 Std. 57 min

Sprecher:Christina Puciata
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Thomas Montasser

Eine himmlische Katastrophe

Roman

Insel Verlag

Bleaumont

Unvorhergesehenes

Wann genau und wie sich die im Folgenden zu erzählende Geschichte entsponnen hat, lässt sich nicht mehr genau rekonstruieren. Vielleicht war es an Weihnachten, als plötzlich die Heizung ausfiel – und niemand wagte, Monsieur Bertin von seiner Familie wegzuholen. Vielleicht war es, als Schwester Sophie sich den Fuß brach und das Geld für ein Taxi nach Beaune oder Dijon fehlte. Womöglich war es aber auch erst, als in Schwester Madeleines Kräutergarten der Zauber der Blüte sich entfaltete und tausend Düfte die Luft parfümierten. Was sich sicher sagen lässt, ist, wo unsere Geschichte begann: in dem kleinen, vom Rest der Welt nie sonderlich beachteten, inzwischen aber völlig vergessenen Kloster Notre-Dame-de-Bleaumont, einem in die Jahre, um nicht zu sagen: in die Jahrhunderte gekommenen Weiler aus zwei charmanten, aber längst baufälligen Gebäuden, deren eines den Nonnen als Refektorium diente, während das andere Wirtschaftsräume, die Klosterküche und den Speisesaal beherbergte. Darüber thronte natürlich eine Kirche, die wie so häufig in mittelalterlichen Klöstern, dramatisch überdimensioniert war, und deren Turm stolz in den lieblichen Frühlingshimmel des Burgund ragte – wenn auch ohne Glockengeläut, denn aus Gründen der Baufälligkeit des Gemäuers wagte niemand mehr, die mächtige Glocke zu schlagen, der man – wie auch dem Kirchturm – einst aus längst unerfindlichen Gründen den Namen »Petit Frère« gegeben hatte.

In jenem Kräutergarten nun trug es sich eines schönen Sonntags im Mai zu, dass Schwester Madeleine von einem unbekannten Besucher überrascht wurde. Sie bemerkte, wie jemand plötzlich hinter ihr stand. Es muss an der Stelle erwähnt werden, dass es in Notre-Dame-de-Bleaumont eher unüblich, wenn nicht gar unwahrscheinlich ist, dass Dinge »plötzlich« geschehen. Das mag erklären, weshalb Schwester Madeleine sich erschrocken umwandte und mit ihrer Gießkanne auf die unerwartete Besucherin zielte, als wäre es eine Pistole, und dass ihr »Ja bitte?« für unbefangene Ohren eher nach einem »Hände hoch!« klang.

Die Besucherin schien davon indes keineswegs beeindruckt. Vielleicht war sie von ihrem gewöhnlichen Umgang her ein »Hände hoch!« viel eher gewöhnt als ein »Ja bitte?«. Schließlich war sie ein Geschöpf der Banlieue, eine junge Frau, die kaum weniger Schwarz an sich trug als die Schwestern, wenn auch mit deutlich weniger Stoff.

»Bonjour«, sagte sie und kaute auf ihrem Kaugummi herum, während ihr Blick skeptisch das alte Gemäuer musterte. »Ich suche Schwester Madeleine.«

»Bonjour, Mademoiselle«, erwiderte die Nonne, stellte die Gießkanne beiseite und wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab, die sie stets zur Arbeit im Kräutergarten trug. Sie trat auf die Besucherin zu. »Sie haben sie gefunden.«

»Ach … du bist meine Tante?«

»Deine Tante?« Schwester Madeleine betrachtete neugierig das Gesicht der jungen Frau und kam nicht umhin, eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem missratenen Bruder zu entdecken – aber auch einen irgendwie melancholischen Zug, der ihr das Mädchen spontan sympathisch machte. »Dann bist du Louise? Die Tochter von Serge?«

»Sieht so aus.« Der Kaugummi schien eine zwanghafte Angelegenheit zu sein.

»Was führt dich zu mir?« Schwester Madeleine reichte ihrer Nichte die Hand und zögerte, ob sie sie umarmen sollte, entschied sich dann aber dagegen, schon aus Angst, einer der zahlreichen Ringe und Haken, die der unerwarteten Besucherin an allen möglichen und unmöglichen Stellen aus der Haut ragten, könnte an ihrer Tracht hängen bleiben.

»Bof«, sagte Louise, und Schwester Madeleine sollte bald feststellen, dass dies offenbar ein Lieblingswort ihrer Nichte war. »Ich soll ein paar Tage hier bei dir bleiben.«

»Hier … bei mir … bleiben?« Es ist eine der schönen Eigenheiten des Klosterlebens, dass man sich – zumindest im fortgeschrittenen Alter – nicht sehr häufig in Ratlosigkeit üben muss. Weshalb der Chronist an dieser Stelle ein ausgiebiges Schweigen zu verzeichnen hat. »Aber ich weiß nicht …«, sagte schließlich die junge Frau, während ihr ungläubiger Blick wieder und wieder über die Risse in den alten Steinwänden des Wirtschaftsgebäudes und über das sich bedenklich senkende Schieferdach wanderte.

»Nun komm erst einmal herein zu uns und trink ein Glas Limonade«, schlug Schwester Madeleine vor und nahm ihre Nichte am Arm. Wie alt sie wohl sein mochte? Zwanzig? Zweiundzwanzig? Serge war ein Scheusal. Wie konnte er in seinem Alter …? Gut, er mochte zehn Jahre jünger sein als Madeleine. Und wenn das Mädchen jetzt zwanzig war, dann hätte er, nun gut, mit Mitte vierzig ‌… Aber dennoch! Er war ein Wüstling! Nun, das war ja auch nichts Neues. Serge war schon immer das schwarze Schaf der Familie gewesen.

»Habt ihr auch so was wie eine Cola da?«, warf das Mädchen ein und ließ sich – fast schien es, ein wenig widerstrebend – von der Nonne über die Schwelle des Klosters schubsen.

»Cola? Woher sollen wir denn Cola haben?«

»Na, wenn ihr Limo kauft, dann könnt ihr doch auch Cola kaufen, oder?« Louise blieb in dem düsteren Raum stehen, in den Schwester Madeleine sie gebracht hatte.

»Kaufen? Wer spricht denn von kaufen.« Ein leises Kichern entrang der schmalen Brust der Nonne. »Warte ab! Setz dich hier hin!« Sie zeigte auf den Lieblingsplatz von Schwester Agathe, oder vielmehr: Schwester Agathe selig. Denn die Mitschwester war zum Leidwesen der ganzen Klostergemeinschaft an Mariä Himmelfahrt entschlafen. Vor sechs Jahren.

»Bof«, sagte die junge Frau und warf sich auf die Sitzbank, die ächzte, aber ihre Pflicht tat, so wie alle in diesen Mauern, seit vielen Jahren. Klaglos und voll Gottvertrauen.

Es gibt nicht viele Landstriche auf dem Erdenrund, die der Herr hingebungsvoller gestaltet hat, als die Côte-d'Or, das Herzstück des schönen Burgund. Wenn auch seit Jahrhunderten vom Rest der Welt weitgehend unbeachtet, wissen die Burgunder, was sie an ihrer Heimat haben. Sie pflegen sie mit der liebevollen Nachlässigkeit, deren so nur die Franzosen fähig sind, und würdigen sie mit der nachlässigen Liebe verwöhnter Ehepartner, die sich entsprechender Gegenliebe sicher sind. Kein städtischer Moloch zerstört, keine infrastrukturellen Monster zerklüften die Landschaft, die in lieblichen Wellenbewegungen durch die Mitte des Kontinents fließt. Und in der Mitte dieser Mitte liegt ein kleiner Ort namens Bleaumont, der, ungeachtet seines Namens, nicht auf einem Berg, sondern in einem etwas abgelegenen Tal beheimatet ist, durch das einer jener zahllosen Bäche fließt, die wenige Kilometer weiter in die stolze Saône münden. Bleaumont besteht aus wenig mehr als einem Dutzend Gehöften, von denen die meisten dem Weinbau verschrieben sind, was den Besitzern in früheren Generationen großen Wohlstand bescherte und heute immerhin noch eine gewisse Anerkennung und den Trost eines selbstgezogenen guten Tropfens, mit dem sich auch kargere Mahle zu kulinarischen Highlights veredeln lassen.

Das Kloster Notre-Dame-de-Bleaumont liegt im hintersten Winkel dieses Örtchens, eher noch ein Stück weiter. Wer es nicht kennt, wird es niemals entdecken – ein Umstand, der zwar kein sorgenfreies, aber unbedingt ein stressfreies Leben gewährleistet. Die Schwestern freilich hätten gesagt: ein gottgefälliges Leben.

Während die Mönche, die vor Jahrhunderten das Kloster gegründet und bewirtschaftet hatten, noch Weinbau betrieben, hatten sich die Nonnen, die im fünfzehnten, manche behaupten auch im sechzehnten Jahrhundert in die heiligen Mauern einzogen, der Käserei gewidmet. Nicht, dass sie diese in auch nur annähernd so großem Stil betrieben hätten wie weiland die Mönche die Winzerei. Aber der Bleu de Bleaumont galt Kennern als eine herausragende Köstlichkeit – anderen Käsern jedoch als außergewöhnliches Ärgernis, da niemand das Rezept zu kopieren vermochte, in dem sich eine herbwürzige Kräuterkruste mit einem milden, aber charaktervollen Blauschimmel in sehr gleichmäßiger Struktur verband. Die einen sahen eindeutig Gottes wohlwollende Hand im Spiel, die anderen diagnostizierten schlicht Hexerei.

Schwester Agathe war die Siegelbewahrerin des klösterlichen Rezepts gewesen, und sie hatte dieses vertrauensvoll in Schwester Lucies Hände gelegt, ehe sie sich selbst vertrauensvoll dem Herrn überantwortet hatte. Es war mithin Schwester Lucies Ehre und Aufgabe, das Wissen vieler Generationen, die den Bleu de Bleaumont zur heimlichen Krone der Käserei entwickelt hatten, in die Zukunft zu tragen. Was weiter nicht schwierig gewesen wäre, hätte es nicht einen unerwarteten und zähen Widersacher gegeben. Dabei ist keineswegs die Rede von einer kapitalistischen Großmolkerei in der Umgebung oder einem missgünstigen Gourmetkritiker, der den Käse gewissermaßen mit der Feder exekutiert hätte, nein, die Rede ist von einem wahrhaft großen Gegner: dem Bleu de Bleaumont selbst. Hatte er sich Schwester Agathes Wirken hingegeben wie eine Kurtisane den kundigen Händen ihres Maître-de-Beauté oder – vielleicht der passendere Vergleich – die Orgel der Klosterkirche sich Schwester Sophies begnadeten Fingern, schien er sich vom ersten Moment an gegen Schwester Lucie zu sträuben. Vom Ansetzen der Molke über das Formen der kleinen Laibe bis hin zur Trocknung und Reifung der Rinde fehlten an allem zehn Prozent – was sich bei mindestens zehn unterschiedlichen Arbeitsschritten zu einem bestürzenden Ergebnis summierte. Das zumindest war der Verdacht der drei Nonnen, die lange darüber gegrübelt und beraten hatten, ohne dem Geheimnis des Misserfolgs letztlich auf die Spur zu kommen.

Entsprechend waren in der jüngeren Zeit die Verkäufe ziemlich zurückgegangen, was die notorische Finanznot der kleinen Gemeinschaft erheblich verschärfte. Denn außer dem Bleu de Bleaumont, den Kräutermischungen von Schwester Madeleine, der kargen Pacht des angrenzenden Klosterguts und den gütigen Gaben der wenigen, die dieses kleine Kloster überhaupt kannten und bereit waren, den Nonnen mit einer gelegentlichen bescheidenen Spende unter die Arme zu greifen, gab es keinerlei Einnahmequellen.

Gewiss, drei alte Damen benötigen nicht viel, zumal dann nicht, wenn sie ein Leben als Bräute Christi führen. Doch sind die kleinen Freuden, die ein Leben bei Gebet und Arbeit bietet, durchaus nicht zu unterschätzen. Und bei einem guten Glas Wein, einem von Schwester Brigittes berühmten Baguettes, etwas Käse und allabendlicher, mehr oder weniger geistlicher Hausmusik lässt sich ein im Übrigen kärgliches Dasein dennoch freudvoll und dankbar fristen.

Nur leider war Schwester Brigitte ebenfalls vor einigen Jahren himmelwärts gefahren und unter den verbliebenen Schwestern hatte sich keine gefunden, die nur annähernd vergleichbares Brot zu backen imstande war. Denn Schwester Brigitte und Schwester Agathe waren die bislang letzten in einer langen Reihe. Es schien, als hätte der Herr jahrhundertelang gesät und sich nun entschlossen, zu ernten: all jene zu sich zu rufen, deren Aufgabe im klösterlichen Alltag auf Erden erfüllt war. Jedenfalls blieb weitere Saat aus, sprich: Es kamen einfach keine jungen Frauen. Stattdessen starben die alten Schwestern weg. Und mit ihnen ging nicht nur vieles an Wissen und Wirken aus der Welt, es verschwand auch etwas anderes, was dem klösterlichen Leben ebenso segensreich wie unverzichtbar ist: Arbeitskraft. Die verbliebenen Schwestern kämpften, versuchten, all die Aufgaben zu erfüllen, die der Alltag mit sich brachte. Doch es führte kein Weg daran vorbei: Wenn in einem Kloster, wie klein es auch immer sei, nur noch drei Nonnen verblieben sind, von denen die mit Abstand jüngste vierundsiebzig Jahre zählt, dann muss man gewisse Abstriche machen. Die Erwartungen an das, was noch kommen mochte, wurden schlicht geringer. Was nicht bedeutete, dass man manches nicht erwartet hätte. Zum Beispiel den Brief aus Rom. Der kam keineswegs unerwartet. Und er war äußerst unwillkommen. Allerdings nahm zunächst einmal für geraume Zeit niemand von ihm Notiz.

Louise Prevost, von ihren Freunden Lou genannt, von besonders engen auch Loulou, hatte sich den Besuch der kleinen Abtei nicht ausgesucht. Hätte man sie gefragt (und es sprach ihrer Meinung nach Bände, dass man es nicht getan hatte), so wäre ihr Urteil klar und eindeutig gewesen: Zwölf Wochen Klosterleben, das ging gar nicht. Dazu brauchte sie nicht einmal eine sehr konkrete Vorstellung davon zu haben, was ein Aufenthalt im Kloster bedeutete (und sie hatte nicht einmal eine unkonkrete). Das wusste sie einfach. Denn so viel war auch ihr bekannt, im Kloster saßen alte Jungfern, die sich gegenseitig langweilten und so taten, als seien sie besonders gute Menschen. Dass sie von einem Ort namens Bleaumont noch nie gehört hatte, hatte bei ihr schon alle Alarmglocken schrillen lassen. Doch selbst unter Aufbietung all ihrer Phantasie (und davon hatte sie durchaus einige) hätte sie sich nicht vorstellen können, wie abgelegen dieser Ort war. Dass sie überhaupt hierher gefunden hatte, grenzte schon an ein Wunder. »Wo ist denn hier eigentlich das Zentrum?«

»Zentrum?«, fragte Schwester Madeleine verwirrt.

»Die City«, erklärte Lou. »Die Stadtmitte.«

»Oh!« Ein Lächeln erhellte Schwester Madeleines Gesicht. »Das ist natürlich wie in jeder Stadt die Hauptkirche.«

»Die Hauptkirche?«

»Notre-Dame in Paris, Westminster in London, der Petersdom in Rom …«

»Also in Rom ist es sicher nicht der Petersdom«, erklärte Lou lässig. Ihr erster Freund war Römer gewesen und hatte sie mal mit dorthin genommen. Nun gut, eigentlich waren sie getrampt. Und Gianni hatte dieses bescheuerte Faible für die Alten Römer gehabt und sie tatsächlich auf das Foro geschleppt. Was genau genommen der Anfang vom Ende ihrer Beziehung gewesen war.

»Da hast du vielleicht sogar recht, Louise«, sagte Schwester Madeleine überrascht.

»Lou«, sagte Lou.

»Bitte?«

»Ich heiße Lou. Meine Freunde nennen mich so.«

»Oh. Und ich darf dich auch so nennen? Wie schön.« Einige Handgriffe später stellte die alte Nonne Lou ein großes Glas mit einer trüben Flüssigkeit und ein paar gezackten Blättern darin auf den Tisch. »Bitteschön.«

Vorsichtig nippte die Nichte an dem Gebräu, während sie die Chancen überschlug, hier schneller wieder wegzukommen als nach unvorstellbaren zwölf Wochen.

»Und?«

»Hm?«

»Wie schmeckt dir meine Limonade?«

Lou nippte noch einmal, stellte überrascht fest, dass das Zeug schmeckte, und blickte erstaunt auf. »Die ist wirklich geil, Tante.«

»Madeleine.«

»Bitte?«

»Ich bin Schwester Madeleine. Meine Freunde nennen mich Madeleine.«

»Oh. Und ich darf dich auch so nennen? Cool.« Und tatsächlich mussten sie beide lachen: die alte Dame, die ihr Leben Gott verschrieben hatte, und die junge Frau, deren einzige Gewissheit im Leben war, dass sie ihres niemandem verschreiben wollte. Und doch waren genau diese gegensätzlichen Lebensentwürfe der Grund dafür, dass sie an diesem Ort zusammenfanden.

Schwester Madeleine setzte sich zu ihrer Nichte und faltete die Hände. »Nun erzähl mal, Lou. Was führt dich zu mir?«

Verblüfft ließ Lou ihr Glas sinken. »Das weißt du nicht?« Sie berechnete kurz im Kopf die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Tante den Anlass ihres Aufenthalts gar nicht erfahren würde. In dem Fall könnte sie mit dem nächsten Zug wieder abreisen. Doch wenn es rauskam, dann … »Ich hatte dir doch einen Brief geschrieben.« Was nur ein bisschen geschwindelt war, denn eigentlich hatte den Brief die Justizverwaltung geschrieben.

»Ach, ein Brief«, seufzte Madeleine lächelnd. »Vermutlich hat Schwester Sophie ihn noch gar nicht geöffnet. Oder er hängt im Postamt fest. Du musst wissen, dass wir hier nur sehr selten Post bekommen. Für die paar Briefe lohnt sich offenbar der Weg nicht. Und der Postbote weiß, dass bei uns die Uhren langsamer gehen.« Das glaubte Lou aufs Wort. »Was stand denn drin?«

»Bof. Egal. Jetzt bin ich ja hier«, erklärte Lou und beschloss, zumindest die Ankunft des Briefes abzuwarten. Vielleicht konnte sie ihn ja sogar abfangen oder sonst wie unschädlich machen.

»Und wie lange bleibst du?«

»Ich weiß nicht«, sagte Lou. »Vielleicht habt ihr gar keinen Platz für mich. Das ist ja ein ziemlich kleines … Kloster.«

»Keinen Platz? Machst du Witze? Bei uns sind in den letzten Jahren jede Menge Betten frei geworden.«

Hätte sie sich denken können, dass denen hier die Nonnen wegliefen. Lou konnte ein Grinsen nicht unterdrücken.

»Als Letzte ist Schwester Agathe gestorben.«

»Gestorben?« Und jetzt sollte sie sich in das Bett legen, in dem Schwester Agathe …

»Ja. Inzwischen leben wir hier nur noch zu dritt. Und wir können jede helfende Hand brauchen.«

»Helfende … Hand?« Lou blickte auf das leere Glas Limonade. »Ja«, murmelte sie zaghaft. »Klar.«

Schwester Madeleine nickte und legte lächelnd ihre schmale, alte Hand auf Lous. »Wie schön, dass du da bist. Die Mitschwestern werden sich freuen.«

Was die Tante als Mitschwestern bezeichnet hatte, erinnerte Lou eher an eine Art Freakshow. Neben ihrer Tante lebten in dem alten Gemäuer noch Schwester Sophie, die optisch an ein Walross erinnerte, in einem Rollstuhl saß, der aus dem vorletzten Jahrhundert stammen musste, und die sich überaus respektheischend gab – und Schwester Lucie, die aussah, als ernähre sie sich ausschließlich von Zitronen, so verkniffen und sehnig trat sie Lou gegenüber. Immerhin fand die junge Frau aus Grigny es ziemlich abgefahren, dass der Nonne, deren Alter sie irgendwo zwischen achtzig und scheintot ansiedelte, ein Zahn fehlte, und zwar an prominenter Stelle. Diese Lücke zeigte Schwester Lucie offenbar ausgesprochen gerne, denn wenn sie auch nur die Andeutung einer scherzhaften Bemerkung erahnte, breitete sich das breiteste Lächeln über ihr Gesicht. Man hätte sie als Mischung aus Mutter Theresa (die Lou nicht kannte) und Don Camillo (den sie ebenso wenig kannte) bezeichnen können. Und das war sie auch: eine patente, von Frömmigkeit wie von Listigkeit und Sanftmut erfüllte Frau, die sich keine Minute die Frage stellte, ob ihr Lebensentwurf der richtige gewesen war.

Diese drei also bemühten sich mehr oder minder erfolgreich, alles am Laufen zu halten, wohl wissend, dass ihnen entweder der Ruf Gottes die Arbeit abnehmen würde – oder ein Wunder. So oder so war es nur noch eine Frage von wenigen Jahren, bis die kleine Abtei endgültig ihr geistliches Leben aushauchte.

»Und das«, sagte Schwester Madeleine und deutete auf Lou, »ist meine Nichte Louise, das heißt: Lou. Sie ist gekommen, um ein paar Tage bei uns zu bleiben.«

Zwei Paar Augen starrten sie unverhohlen an und taxierten auch die Tattoos und Piercings an Lous Armen und ihrem Hals. Jetzt wüsstet ihr wohl gerne, wie weit die noch gehen, dachte sie ein bisschen angefasst, ein bisschen amüsiert. Klar, so was hatten die Ladies hier noch nie gesehen.

»Ich dachte«, erklärte Schwester Madeleine weiter, »wir könnten ihr die Zelle von Schwester Claire geben.«

Die beiden Mitnonnen nickten, während Schwester Madeleine ihrer Nichte unauffällig einen kleinen Schubs gab.

»Ähm, ja«, sagte Lou. »Hallo. Ich bin Lou. Freue mich, Sie kennenzulernen.« Das war gelogen.

»Hast du nur das als Gepäck?«, wollte Schwester Sophie wissen und deutete auf Lous kleinen Rucksack mit den Totenkopfbuttons.

»Soll ja nicht für lange sein.«

»Gut. Das passt zu unseren Regeln.«

»Regeln?« Lou hätte nicht gewusst, ob sie es ausgesprochen oder nur gedacht und ob es wirklich so alarmiert geklungen hatte, wie sie es empfand. Jedenfalls musste die Matrone im Rollstuhl nicht Luft holen, um zu erklären: »Wir legen Wert auf Keuschheit, Armut und Demut. Auch bei unseren Gästen.« Sie seufzte. »Auch wenn wir nur selten welche beherbergen.«

Kann ich mir denken, dachte Lou. Bei den Regeln.

»Das fängt damit an, dass man sich von all dem Tand freimachen sollte, den die Menschen heute so mit sich schleppen. Es braucht nicht viel, um ein erfülltes Leben zu führen. Das meint Armut. Und du wirst schnell feststellen, dass damit nicht Verzicht gemeint ist, sondern Konzentration. Konzentration auf das Wesentliche.«

»Kein Problem«, sagte Lou und schob sich einen neuen Kaugummi zwischen die Zähne. »Bisschen Wäsche und mein Handy reichen völlig. Mehr brauch ich nicht.«

»Wie schön«, entgegnete Schwester Sophie, und Lou meinte, ein seltsames Lächeln um ihre Mundwinkel zucken zu sehen. Machte sich die Alte über sie lustig?

»Demut«, sagte die Nonne und hob den Zeigefinger (Lou war versucht, an die Decke zu blicken, ließ es aber dann; sie wollte es sich nicht gleich mit den Nonnen verscherzen). »Das meint, dass du dich nicht wichtig nehmen sollst. Wer sich selbst zu wichtig nimmt, versündigt sich an der Welt.«

»Könnte von meiner Sozialarbeiterin stammen«, murmelte Lou.

»Bitte?«

»Nichts.« Lou zuckte mit den Achseln. »Und was ist das mit der Keuschheit?«

»Keuschheit fällt hier draußen nicht schwer.« Schwester Sophie verschränkte die dicken Finger ineinander und nickte zum Zeichen, dass alles Wichtige gesagt war – bis ihr einfiel, dass es noch ein paar ganz praktische Regeln gab: »Wir stehen um fünf Uhr auf. Du kannst dich aber nach dem Morgengebet noch einmal schlafen legen. Frühstück gibt es um sieben Uhr, zu Mittag essen wir um halb zwölf.«

»Mittag oder Frühstück?«

»Wie gesagt: Frühstück um sieben. Halb sechs Uhr Abendmahl. Wir essen immer gemeinsam. Eine von uns liest dann aus der Heiligen Schrift.« Ein schelmischer Ausdruck huschte über Schwester Sophies Gesicht. »Es wäre schön, wenn du das heute übernimmst.«

»Lesen?«

»Ja. Aus der Heiligen Schrift.«

»Aha. Und aus welcher?«

Schwester Madeleine legte ihr die Hand auf die Schulter. »Es gibt nur eine, Kind.«

Lou zuckte die Achseln. »Das sagt Abdollah Sabedi auch immer.«

»Wer?«, wollte Schwester Sophie wissen.

»Der Imam bei uns im Viertel.«

»Es wird sicher lustig mit dir«, erklärte jetzt Schwester Lucie, die bisher geschwiegen hatte, und zeigte ihre Zahnlücke.

»Bof. Mal sehen.«

Es roch in der Zelle, als hätten sie Schwester Claire gerade erst hinausgetragen. Immerhin gab es ein winziges Fenster, das sich unter Aufbietung aller Kräfte sogar einen Spalt breit öffnen ließ. Ansonsten gab es nicht viel. Schwester Sophie hatte nicht übertrieben. Nur ein Bett mit sensationell harter Matratze, ein Nachttischchen (mit Bibel), ein Tisch mit Kerzenständer (aber ohne Kerze), ein Stuhl, ein Kruzifix an der Wand. Aber kein Sofa, kein Bild, keinen Teppich, keine Kissen. Keine Farbe, nichts Gemütliches. Keinen Fernseher! Vor allem aber, und das bemerkte Lou erst, als ihre Tante diskret die Tür hinter sich geschlossen und sie allein gelassen hatte: kein Internet.

Lou prüfte die Einstellungen ihres Smartphones. Nicht mal ein Netz war in diesem Kabuff zu bekommen. Sie würde in den Garten gehen müssen, um mit der normalen Welt Kontakt aufzunehmen. Seufzend warf sie ihre Tasche auf das Bett, streifte Chucks und Socken ab, zum Glück war es warm. Sie würde sich frisch machen und dann schauen, ob es hier noch etwas anderes gab als Sterbenslangeweile und Totenstille.

Immerhin hatte ihr Schwester Lucie ein Handtuch gegeben. Rau, kratzig und verwaschen, aber, wie Lou feststellte, nach irgendetwas duftend, was sie mochte. Sie nahm es unter den Arm und spazierte barfuß über den Flur. Im Vorbeigehen hatte die Tante ihr die Tür gezeigt, hinter der die Badezimmer lagen. Ganz sicher war sie sich nicht mehr, welche der vielen Türen es gewesen sein mochte. Aber schließlich entdeckte sie die Waschräume. Weiße Kacheln zierten Boden und Wände, viele geborsten, manche verschollen. Mehrere Waschbecken ragten nebeneinander in den Raum. Rechter Hand mühte sich eine karge Abtrennung um etwas Intimsphäre. Dachte Lou zumindest. Sie zog ihre schwarze Jeans und ihr schwarzes T-Shirt aus, streifte den Slip ab, hängte den BH über die Trennwand und stellte sich unter die Dusche. Es dauerte eine Weile, bis Wasser kam, mehrmals musste Lou den Hahn auf- und wieder zudrehen, bis es endlich immer deutlicher in der Leitung gurgelte.

Den Schrei hatte man vermutlich durchs ganze Burgund gehört. Innerhalb von Augenblicken folgte ein weiterer Schrei, leiser zwar, aber nicht minder schockiert. Vielleicht wäre es allen Beteiligten weniger peinlich gewesen, wenn nicht Monsieur Bertin gerade in nächster Nähe versucht hätte, eine schadhafte Heckenschere wieder in Gang zu bringen. So war er schnellstens vor Ort. Und das Fenster, das nur angelehnt war, stellte kein Hindernis dar.

Es gibt verschiedene Deutungen, was den zweiten Schrei anbelangt. Der erste, da sind sich alle einig, war das Ergebnis einer Verkettung verschiedener Umstände: eines falschen Selbstverständnisses von Coolness, einer nicht funktionierenden Heizung und der Tatsache, dass der Duschstrahl erst ein wenig Anlauf brauchte, dann aber umso kräftiger – und vor allem: eiskalt – auf Louise Prevost herabschoss.

Den zweiten Schrei sah Schwester Sophie eindeutig in der Tatsache begründet, dass Monsieur Bertin selten eine nackte junge Frau zu Gesicht bekam. Eine Art galanter Schreck also. Monsieur Bertin indes bestand darauf, dass ihn der Gesichtsausdruck Louises zu Tode erschreckt habe, der Rest der jungen Frau sei von seiner Warte aus gar nicht zu sehen gewesen. Schwester Madeleine hatte eine andere Theorie. Das mochte damit zu tun haben, dass sie als Erste vor Ort war und ihre zitternde Nichte noch in jenem Zustand sah, in dem Gott sie erschaffen hatte. Das heißt, nicht nur Gott, sondern auch ein oder mehrere Mitschöpfer, denen man weder Kunstfertigkeit noch Skrupellosigkeit absprechen konnte. Lous Körper war nämlich keineswegs nur an den Armen »verziert«. Vom sich über beide Schulterblätter erstreckenden Adler bis zum Totenkopf auf der rechten Po-Backe war ihre Nichte ein Gesamtkunstwerk in schillernden, wenn auch hauptsächlich düsteren Farben. Um ihre linke Brust wand sich eine Schlange und über dem Bauchnabel bildeten einige Piercings ein funkelndes Blutmal. Wem von allen Beteiligten es peinlicher gewesen war, das lässt sich rückblickend nicht ermitteln. Zweifellos versank Monsieur Bertin vor Scham im Erdboden. Wenn seine Frau von dem Vorfall erfuhr, nicht auszudenken! Von seinen Freunden, die er am selben Abend in der Poste