Das Glück der kleinen Augenblicke - Thomas Montasser - E-Book

Das Glück der kleinen Augenblicke E-Book

Thomas Montasser

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Beschreibung

Es gibt diese Tage, die alles verändern. Einen solchen erlebt die Lektorin Marietta Piccini, als ihr ein herrenloses Manuskript in die Hände fällt. Es ist die Geschichte von Paul Swift, eines jungen Mannes, der durch eine kleine Unbedachtsamkeit alles Unglück der Welt auf sich gezogen hat. Was immer ihm aber widerfährt – er ist mit dem Talent gesegnet, stets das Gute darin zu sehen! Zunehmend fasziniert liest sie weiter und erkennt, dass der Held der Geschichte der unbekannte Autor selber ist! Marietta macht sich auf die Suche nach ihm und erlebt am Ende eine wunderbare Überraschung …

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www.piper.de

 

ISBN 978-3-492-97591-9

Piper Verlag GmbH, München August 2018

© Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, München und Wien 2017

Covergestaltung: U1 berlin/Patrizia Di Stefano

Covermotiv: Julia Davila/Arcangel Images und JuliaK/Getty Images

Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe

 

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Inhalt

Cover & Impressum

EINS

ZWEI

DREI

VIER

FÜNF

SECHS

SIEBEN

ACHT

NEUN

ZEHN

ELF

ZWÖLF

DREIZEHN

VIERZEHN

 

The Times, 15. August

 

Manuskript verloren!

Am Freitag, den 12. August, habe ich ein fast vollendetes Manuskript verloren. Falls Sie es gefunden haben, melden Sie sich bitte. Selbstverständlich werde ich Ihre Ehrlichkeit belohnen. Chiffre

EINS

Es gibt diese Tage im Leben, die alles verändern. Jeder erlebt sie, einige erkennen sie sogar. Bei manchen aber sind es Tage, an denen plötzlich jede Kleinigkeit von unvorstellbarer Bedeutung zu sein scheint. Einen solchen Tag erlebte – zumindest kam es ihr selbst so vor – Marietta Piccini in jenem denkwürdigen August vor einigen Jahren. Aber der Reihe nach.

Zunächst hatte der Wecker verschlafen. Aus irgendeinem Grunde hatte er drei Minuten zu spät geklingelt. Es waren die drei Minuten, um die sie verspätet an der Bushaltestelle angelangt war – um also den nächsten Bus nehmen zu müssen. Jenen Bus, in dem sie sich unvorsichtigerweise hinsetzte, ohne auf den Fleck zu achten, der auf dem Sitz war und nun unschön ausgerechnet dort an ihrem geblümten Kleid haftete, wo ein Fleck sich besonders beschämend ausnahm.

Als sie vor dem Verlag ankam, begann es gerade so rechtzeitig sturzflutartig und ohne jede Vorwarnung zu regnen, dass sie auf den wenigen Metern bis zum rettenden Hauseingang praktisch bis auf die Haut durchnässt war. Immerhin hatte sie ihre Tasche halbwegs vor Überflutung schützen können, indem sie sich darüber gekrümmt hatte. Das war ihr nicht nur der Tasche wegen wichtig, sondern mehr noch wegen des Inhalts: Sie trug nämlich in dieser Tasche die Ausbeute der Arbeit einer ganzen Woche, in der sie abends und bis spätnachts Manuskripte geprüft hatte.

Im Hausflur blieb sie einige Minuten stehen, um nicht alles vollzutropfen in den eher beengten Räumlichkeiten ihres Arbeitgebers oder vielmehr: Auftraggebers. Denn Marietta Piccini war nicht angestellt, sondern nur als freie Mitarbeiterin tätig – wie hätte sich ein so kleiner Verlag festangestellte Beschäftigte leisten können mit all den Abgaben und Steuern, die das bedeutete.

Das Türschild schimmerte matt im Halbdunkel. Millefeuille. Verlag für schöne Literatur stand in schwarzen Lettern auf der Messingtafel geschrieben. Die junge Lektorin atmete tief durch, fuhr sich noch einmal durchs nasse Haar und klingelte. »Die Tür ist nur angelehnt!«, rief jemand von drinnen. Also trat Marietta Piccini ein, ihre Tasche fest unter den Arm geklemmt. Heute würde sie es wagen. Heute würde sie …

»Ah, Miss Puccini!«, murmelte der Verleger, der an seinem Schreibtisch stand und sich über einige Probeandrucke gebeugt hatte, ohne zu ihr aufzublicken. »Ich habe Sie schon an der Melodie Ihrer Schritte erkannt. Setzen Sie sich, ich bin gleich fertig.«

Wer die Räume des kleinen, aber sehr feinen Millefeuille Verlags betritt, tritt ein in eine Welt, die man aus guten Gründen als untergegangen bezeichnen kann. Solche Verlage gibt es eigentlich nicht mehr – wenn man von jenem, übrigens gar nicht so alten, Unternehmen absieht, das Mr. John Thornton in einem Anfall leidenschaftlicher Liebe zur Literatur und hoffnungslosen Wahnsinns gegründet und seither gegen alle Wahrscheinlichkeit und Logik zu einem kleinen, aber kerngesunden Bücherhaus entwickelt hatte.

 

Die Geschichte der Literatur ist ja nicht nur die Geschichte der verlegten Werke, also all jener Bücher, die als solche den Leserinnen und Lesern vorgestellt wurden und mehr oder weniger ihr Publikum gefunden haben, die Begeisterung entfacht oder Empörung hervorgerufen, Menschen inspiriert oder verstört, neue Strömungen begründet oder alte endgültig überwunden haben. Nein, die Geschichte der Literatur ist auch die Geschichte all jener Werke, die nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt haben, die nicht zu Büchern wurden, sondern ungelesen in den Schubladen der verkannten Autoren verstauben und darauf warten, von deren Erben entsorgt zu werden – oder deren entsprechende Bestimmung sich schon erfüllt hat. Es sind ihrer weit mehr als die verlegten. Experten schätzen, dass von tausend geschriebenen Romanen einer veröffentlicht wird, bei den Erzählungen sind es noch weniger, von Gedichten ganz zu schweigen. Doch selbst diese ernüchternden Zahlen sind freilich nur die Spitze des Eisbergs, denn sie beziehen sich naturgemäß auf die Werke, deren Autoren überhaupt den Mut gefunden haben, sie bei Verlagen einzureichen, und die verrückt genug waren, ein Fünkchen Hoffnung zu hegen, ihr Opus könne einen Menschen auf diesem Erdenrund interessieren. Den Verleger zumindest.

Betrachten wir aber nur diese literarischen Schriften, so müssen wir, wenn wir ehrlich sind, häufig feststellen, dass manches, was kein Mensch lesen und schon gar keiner verlegen wollte, womöglich besser ist als jenes, was es zum Buch gebracht hat. Ja, es ist keineswegs so, dass besagtes Promille der Einsendungen, aus dem Bücher werden, unbestreitbar die Krone der literarischen Schöpfung wäre. Nicht von ungefähr sind wir ja stets aufs Neue von schwachen Büchern enttäuscht. Wie aber kommt es, dass manch gutes Buch nie erscheint, während so viel Unlesbares es in die Buchhandlungen und Feuilletons schafft?

Darüber hatte Marietta Piccini in langen Stunden nachgedacht. Nicht nur, weil es ihr Beruf war, die Spreu vom Weizen zu trennen. Doch obwohl sie sich tagtäglich mit dem Mysterium des Buchmarkts beschäftigte, hatte sie doch keine befriedigende Antwort gefunden. Fest stand für sie nur, dass die meisten Verlage nicht den Mut hatten, Neues auszuprobieren. Sie setzten auf Althergebrachtes, versuchten Erfolge anderer zu kopieren oder eigene Erfolge zu wiederholen. Wer in dieses Schema nicht passte, dem winkte kaum je eine Veröffentlichung.

Mr. Thornton war übrigens in dieser Hinsicht kein Vorwurf zu machen. Er hatte es immerhin gewagt, einen Verlag zu gründen, mit dem er Bücher verlegte, wie sie sonst kaum verlegt werden: schöne Bücher. Besondere Geschichten. Er probierte gelegentlich etwas Neues aus, manchmal mit Erfolg, manchmal, um sich eine blutige Nase zu holen. Aber natürlich kann ein Verleger seines Formats den Buchmarkt nicht revolutionieren. Dafür ist er zu klein, zu verschroben, zu speziell. Und die Buchhändlerinnen und Buchhändler, die seine Veröffentlichungen im Sortiment führen, gehören auch nicht zu den Beklagenswerten, die nichts wagen und stattdessen nur der Mode folgen.

Dennoch geschieht es – und es geschieht überraschend oft –, dass Miss Piccini ein Manuskript vorschlägt, von dem sie zutiefst überzeugt ist, und das dennoch nicht bei Millefeuille ins Programm kommt. Das sollte an jenem denkwürdigen Tag im August auf geradezu verwirrende Art anders sein.

»Nun«, sagte Mr. Thornton und nahm seine Brille ab, um sie an seinem Pullover zu putzen. Als er sie wieder aufsetzte und mit müden, aber freundlichen Augen auf die junge Lektorin blickte, schienen die Gläser eher noch trüber zu sein. »Setzen wir uns. Was haben Sie heute für mich?« Er trat zu der sehr einladenden Ecke seines Büros, in der er – umgeben von hohen Büchervitrinen – ebenso altertümliche wie gemütliche Sitzmöbel aufgestellt hatte. Alles wirkte gediegen, wie in einem traditionellen Club, wenn man davon absah, dass der Verleger (ob nun zum Befremden seiner Gäste oder aus purem Zufall) in den Vitrinen bevorzugt Werke der sogenannten Sittengeschichte verwahrte.

»Ähm … ja.« Miss Piccini räusperte sich und wählte den Sessel mit Blick auf das entzückende Programmkino auf der anderen Straßenseite, in dem man eine französische Komödie gab, einen Film über die Macht des Schicksals und die Ohnmacht der kleinen Fluchten eines in die Jahre gekommenen Herrenschneiders. »Ich habe heute etwas mehr mitgebracht. Es waren ein paar sehr interessante Stoffe unter den unverlangt eingesandten Manuskripten.«

»Interessante Stoffe oder interessante Texte?« Mr. Thornton hatte das Talent, seine Mitarbeiter sehr schnell zu durchschauen. Ihre kleinen Schwächen forderten seine Neugier heraus. »Beides«, antwortete Miss Piccini und Mr. Thornton lächelte milde. Ihre Schwäche war eine ausgeprägte Begeisterungsfähigkeit. Manchmal schien es ihm, als lese sie mehr in die Texte hinein, als tatsächlich darin stand. Aber vielleicht war das ja überhaupt eines der Geheimnisse genussvollen Lesens. Mr. Thornton griff nach seiner Pfeife, klopfte den Tabak etwas fester und zündete sie mit mehrmaligem Nicken an, was Miss Piccini als Aufforderung verstehen durfte, ihre Trouvaillen zu präsentieren. Sie nahm die Mappen mit den Manuskripten, Exposés und Textproben aus ihrer Tasche und schlug die erste auf.

Es hatte sich ein Ritual zwischen dem Verleger und seiner Lektorin herausgebildet, wonach er sich von ihr stets die ersten paar Absätze eines Textes vorlesen ließ, um den Klang des Werkes kennenzulernen, worauf dann Miss Piccini in wenigen Sätzen zusammenfasste, worum es in dem Manuskript ging und weshalb es ihr so überzeugend erschien. Sie räusperte sich also und begann mit ihrer übrigens sehr klaren Stimme und einem eher unklaren Akzent vorzulesen:

 

Es war schon spät, als Herr Seidelbast seine Arbeit beendete und – wie jeden Tag – die eingesammelten Bücher auf einen Stapel legte und seine Laterne darauf abstellte. Ich saß unter dem Dach des nahen Taubenhauses und sah ihm zu, wie er die Tische wischte und die Stühle kippte, damit sich kein Wasser darauf sammeln konnte, falls es in der Nacht regnete. Sebastian Seidelbast war sehr alt, vermutlich älter, als ich es mir zu der Zeit überhaupt vorstellen konnte. Er hatte in unserer Pension gearbeitet, solange ich mich erinnern konnte. Und jeden Abend hatte er die Bücher der Gäste eingesammelt, hatte sie gestapelt und seine Laterne darauf abgestellt, um noch die Tische zu wischen und die Stühle zu kippen. Jeden Abend, meine ganze Kindheit über. Bis zu jenem Tag, an dem er nach getaner Arbeit einen Stuhl wieder hinstellte und sich darauf setzte.

Er nahm die Laterne herab und stellte sie behutsam auf den Tisch neben sich. Dann zog er ein Buch aus seiner Jackentasche und begann zu lesen. Eine Weile beobachtete ich ihn noch. Doch irgendwann schlief ich ein. Das stete Rauschen der Wellen, der milde Sommerwind, das leichte Schaukeln des Taubenhauses, all das hatte mich müde gemacht und wiegte mich nun in eine traumbeladene Nacht, in der sich seltsame Dinge ereigneten und geheimnisvolle Gestalten auftauchten. Bis mich eine Flaumfeder, die mir vor die Nase geweht worden war, wachkitzelte. Ich rieb mir die Augen und blinzelte ins Dunkel. Herr Seidelbast war weg. Die Laterne aber war noch da. Und unter meinem Kopf lag, wie ich jetzt bemerkte, ein Buch. Sein Buch. Denn auch der Bücherstapel stand noch so auf dem Tisch, wie er ihn dort aufgerichtet hatte.

Verwirrt nahm ich das Buch zur Hand und versuchte zu entziffern, was auf dem Umschlag geschrieben stand. Doch da war außer einem Bild nichts zu erkennen: Es stellte einen Mann dar mit einem Hut, nein, eigentlich war fast nur der Hut zu sehen, von dem Mann erkannte man nur ein wenig weißes Haar. Auf diesem weißen Haar also saß ein weißer Hut. Auf dem Hut aber saßen zwei Kinder, gerade so groß, als wären sie Spatzen, die sich darauf niedergelassen hatten. Ein Mädchen und ein Junge, der etwas größer war, ganz so wie mein Bruder und ich. Eigentlich sahen die beiden wirklich aus, als wären es wir beide gewesen. Und der Junge deutete mit der Hand in die Ferne, als ob es dort etwas ganz Besonderes zu sehen gäbe. Zu gerne hätte ich gewusst, worauf der Junge zeigte. Ob es mir der Titel des Buches verraten würde? Neugierig schlug ich es auf. Doch es war zu dunkel in meinem Taubenhaus. Also kletterte ich heraus und setzte mich an den Tisch, gerade auf den Stuhl, auf dem vorhin noch Herr Seidelbast gesessen hatte. Die Laterne warf ihr weiches Licht in einem Kreis über Tisch und Stuhl und Buch. Der Wind hier draußen war etwas frischer und ich fröstelte, als ich das Buch erneut aufschlug und nun sehr deutlich in schönen Buchstaben las: Die Bibliothek der Träume.

 

Miss Piccini hielt inne. Über der Pfeife des Verlegers ringelten sich Rauchwölkchen gen Zimmerdecke. Eine kleine Weile saßen sie schweigend. Dann streckte Mr. Thornton die Hand aus und ließ sich das Manuskript geben. »Selten, dass wir hier über eine Geschichte in der ersten Person sprechen. Warum gibt es eigentlich so wenige Ich-Erzählungen? Ich habe den Eindruck, früher war das gebräuchlicher.« Er ließ den Blick über die ersten Seiten schweifen. »Der Ton gefällt mir«, murmelte er. »Die Erzählerin ist …?«

»Ein junges Mädchen, vielleicht zwölf Jahre alt.«

»Natürlich«, murmelte der Verleger verdrießlich. »Scheinbar kann niemand mehr Geschichten über Jungen erzählen. Sie wissen, dass wir kein Kinderbuchverlag sind.« Keine Frage. Eine Feststellung, natürlich.

Miss Piccini lächelte unsicher. »Das ist auch kein Kinderbuch«, erklärte sie. »Jedenfalls nicht nur.«

»Natürlich.« Und es klang wie eine Wiederholung. »Wer würde schon eine Geschichte schreiben, die nur für Kinder ist?« Ein leicht melancholischer Anflug wehte über seine Züge, dann legte er das Manuskript beiseite, hob leicht resignierend die Hände und nickte der Lektorin wieder zu.

Miss Piccini holte Luft und schlug die nächste Mappe auf. »Eine Novelle«, erklärte sie. »Ganz hübsch. Vielleicht ein wenig traurig …« Es klang wie eine Frage, doch da sie ein sachtes Lächeln die Züge des Verlegers umspielen sah, begann sie zu lesen.

 

Vierundzwanzig. Das musste es sein. Anne stand vor dem Gebäude, das sich wie ein müder Riese über die Straße erhob. Die Tür war blau gestrichen. Blau, wie die Hoffnung.

 

»Sagt man nicht, die Hoffnung sei grün?«, unterbrach Mr. Thornton.

»Das hat hier eine Bedeutung«, erklärte Miss Piccini und beeilte sich weiterzulesen.

Es war das Blau ihrer Kindheit, ja beinahe das Blau der Augen ihrer Mutter. Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Ob er sie erwartete? Ob er alleine war? Plötzlich durchfuhr sie ein stechender Schmerz. Was, wenn er ihr nicht verzeihen konnte?

 

Ein Brummen des Verlegers ließ sie innehalten. Sie kannte diese Reaktion. Er war nicht überzeugt. Weniger als das: Er mochte es nicht.

»Das ist der Anfang des Textes?«, fragte er denn auch.

»Ist es.«

»Hört sich an wie eine Stelle mitten aus der Erzählung. Hundert Informationen auf zehn Zeilen. Die Autorin kann das alles am Ende auffangen? Ich bin skeptisch.«

»Der Autor. Es ist ein junger Mann aus Cardiff. Ich weiß auch nicht. Soll ich mal die Umrisse der Erzählung schildern?«

Mr. Thornton schüttelte den Kopf. Wenn er in den vielen Jahren seines verlegerischen Daseins etwas gelernt hatte, dann war es, dass das erste Signal immer aus dem Bauch kommen musste. Fühlte sich ein Projekt nicht auf Anhieb gut an, dann durfte er es nicht machen. Also winkte er ab. »Lassen Sie nur, Miss Puccini. Wir können sowieso nicht alles machen. Für mich scheint das eher eine Geschichte zu sein, die zu einem anderen Haus besser passen wird.«

Die Lektorin widersprach nicht. Auch wenn es rational kaum erklärbar war, wie es einem Menschen gelingen sollte, anhand von fünf oder sechs Sätzen zu erkennen, ob ein Manuskript zu einem Verlag passte oder nicht, war es doch genau dieses Talent, das sie unter all den mysteriösen Talenten des John R. Thornton für das bemerkenswerteste hielt. Sie steckte die Mappe zurück in ihre Tasche und nahm Nummer drei zur Hand: Die seltsamen Wege des Mr. Anthony Black.

»Immerhin schon mal ein Titel, der neugierig macht. Bitte schön.«

Miss Piccini räusperte sich und begann – ein wenig leise, aber das mochte durchaus Absicht sein – zu lesen:

 

Im Grunde war Anthony Black ein friedfertiger Mensch. Er hatte keine übermäßig hohe Meinung von sich selbst und machte sich zu dieser Frage auch in Bezug auf andere Menschen nicht viele Gedanken. Obwohl er sich durchaus viele Gedanken machte! Umso mehr kränkte es ihn, dass es tagtäglich Menschen gab, die sich ihrerseits ein sehr eindeutiges Urteil über ihn bildeten, das sich mit einem Wort zusammenfassen lässt: »Vollidiot!«

Die meisten von uns haben sich schon öfter ein entsprechendes Urteil über einen Menschen wie Anthony Black gebildet. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn Mr. Black ist Busfahrer. Er fährt täglich auf derselben Route, aber zu wechselnden Schichten. Das war an dem Tag, an dem diese Geschichte beginnt, anders. Mr. Black war auf eine neue Route eingeteilt worden, eine, die er besonders gerne mochte, weil sie durch einen Reihe von schönen und nicht sehr stark befahrenen Straßen im Westen der Stadt führte, in denen alte Bäume ihren Schatten warfen und der Berufsverkehr sich in Maßen hielt.

 

Mr. Thornton sagte nichts, sondern streckte nur die Hand aus. Die Lektorin gab ihm das Manuskript, das nicht sehr dick war und auf dessen Titelblatt ein roter Doppeldeckerbus prangte. Er blätterte ein wenig darin herum. Dann legte er seine Pfeife weg und strich sich über den sorgsam gestutzten Bart. »Ein Exposé?«

»Ist dabei«, erklärte Miss Piccini. »Ganz hinten.«

Er blätterte nach hinten, überflog den kurzen Text, dann stand er auf und legte die Mappe auf seinen Schreibtisch. »Ich werde es lesen«, sagte er, als er wieder bei seiner jungen Lektorin war. »Haben Sie noch etwas für mich?«

Miss Piccini schüttelte etwas unsicher den Kopf. »Nein, das war es«, sagte sie. Aber natürlich entging ihr sein Blick nicht, der direkt in ihre Tasche zielte, in der sich zwei Manuskripte befanden: zum einen der Text, den sie wieder hineingeschoben hatte, zum anderen eine vierte, eine letzte Mappe, die mit einer Paketschnur auf geradezu altertümliche Weise zusammengebunden war. Mr. Thorntons Blick drückte eine verschärfte Neugier aus, fast schien es, als erwarte er die größte Überraschung von dem Stapel Papier, der ihm hier scheinbar vorenthalten werden sollte.

»Das, ähm … ist …«, begann Miss Piccini und brach ab. »Ja, also …« Sie seufzte. »Das ist eine seltsame Geschichte«, brachte sie schließlich hervor.

Mr. Thornton aber nahm wieder in seinem Sessel Platz und erklärte mit der größten ihm möglichen Süffisanz: »Sie wissen doch, wie sehr ich seltsame Geschichten liebe. Lassen Sie hören!« Er steckte sich seine Pfeife wieder zwischen die Zähne und versuchte sie erneut anzuzünden, allerdings vergeblich. Vielleicht war ja diese kleine Widerborstigkeit nichts weiter als eine vorweggenommene Reminiszenz an einen sehr besonderen Fall und eine gänzlich eigensinnige Geschichte.

ZWEI

Wie so oft hatte sich Marietta Piccini festgelesen. Sie hatte eigentlich nur für einige kurze Recherchen den großen Lesesaal der London Library aufgesucht, denn wie nicht anders zu vermuten war die junge Lektorin, die aus Gründen des Studiums nach London gegangen und dann aus Gründen der Liebe geblieben war, überaus gewissenhaft und ließ ihren Autoren keine Undeutlichkeiten und schon gar keine Ungenauigkeiten durchgehen. Zurzeit bearbeitete sie ein Manuskript für Raven Press, eine kurze Geschichte der Irischen See in Form eines verschollenen (und schließlich auf einem Leuchtturm im Norden der Isle of Skye aufgetauchten natürlich rein fiktiven) Logbuchs. Miss Piccini liebte solche Geschichten, in denen Phantasie und Realität auf traumtänzerische Weise ineinander verflochten waren. Allerdings schätzte sie es nicht, wenn an dem beschriebenen Ort nicht nur kein Leuchtturm stand, sondern ein Heizkraftwerk, oder wenn die handelnden Personen den falschen Akzent sprachen. Auch entsprach die Form des Logbuchs keineswegs den gebräuchlichen Formen von Logbüchern aus der betreffenden Zeit. Miss Piccinis unbestechliches Auge entdeckte jeden Mangel, jeden Makel, und sie suchte und fand auch meist Lösungen, die sie den Autoren gerne so verkaufte, dass diese das Gefühl hatten, sie seien selbst auf die Verbesserungsvorschläge gekommen. Denn es versteht sich von selbst, dass Marietta Piccini ein weiches Herz und alles Verständnis der Welt für die kleinen (und manchmal auch größeren) Fahrlässigkeiten der schreibenden Zunft hatte, von ihren Nöten ganz zu schweigen.

Dennoch war sie mit ihrer Arbeit an jenem Tag nicht zufrieden. Wichtige Werke, die sie hätte zurate ziehen wollen, waren nicht am Lager verfügbar, ihr Lieblingstisch im Lesesaal war besetzt – und in der Cafeteria hatte man sich – vermutlich aus Anlass irgendeines Jubiläums – dazu hinreißen lassen, eine Italienische Woche auszurufen. Das hieß: was Engländer eben für italienisch hielten. Und so sah sich Marietta Piccini in ihrer kleinen Pause, die sie sich täglich zwischen zwölf Uhr mittags und dreizehn Uhr gönnte, mit Strawberry-Tiramisu und Cream-Cappuccino konfrontiert. Gewiss Köstlichkeiten, aber für den italienischen Gaumen ungenießbar.

Die junge Lektorin beschloss, ihre Arbeit an diesem Tag im Freien fortzusetzen, denn es war einer der wenigen lieblichen Sommertage, die es in der Stadt gab, und gegenüber der Bibliothek lag ein bezaubernder kleiner Park, auf dessen Bänken sie zu lesen liebte. Während sie aber die Stufen vor dem Haupteingang der Library hinabstieg, entriss ein unerwarteter Windstoß ihr einen Stapel Papier und fegte ihn über den St. James’s Square. Verärgert hastete sie hinterher und sammelte die Blätter wieder ein. Schon war der Wind vorbei und die Sonne lächelte spöttisch auf Marietta Piccini herab, die sich auf die Stufen setzte und ihre Unterlagen sortierte. Waren noch alle Seiten vorhanden? Es dauerte eine Weile, bis sie sich sicher sein konnte, nichts zu vermissen. Sie atmete auf und lehnte sich – ihre Unterlagen mit beiden Armen fest an die Brust gepresst – an das schmiedeeiserne Gitter vor dem Portal, um für einen Moment die Augen zu schließen und das warme Licht ihr Gesicht umspielen zu lassen. Ein wenig fühlte es sich an wie am Strand von Cinqueterre, wo sie in ihrer Kindheit einige Sommer verbracht hatte. Nur dass natürlich der frische Duft des Meeres fehlte, während hier, mitten in der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs, beständig der Geruch von Auspuffgasen und in der Mittagssonne brütenden Müllbehältern in der Luft lag.

Plötzlich schob sich ein Schatten vor ihr Gesicht. Als sie die Augen öffnete, stand ein Herr vor ihr, vielleicht ein Mitarbeiter der Bibliothek, vielleicht ein Besucher, der ihr ein ganz und gar durchschnittliches Lächeln schenkte und sagte: »Entschuldigen Sie, Ma’am, ich glaube, das haben Sie auch verloren.« Worauf er ihr eine Mappe reichte, die Marietta Piccini im Gegenlicht zunächst gar nicht genau erkennen konnte. »Danke«, sagte sie und nahm sie an sich. Es war ein von grünem Karton umfasster Stapel Papier, der mit einer Schnur zusammengehalten wurde.

»Oh«, murmelte sie. »Das ist nicht …« Sie sah auf, doch der Mann war schon über den Platz und auf die andere Straßenseite geeilt, die Hand erhoben, um ein Taxi heranzuwinken. »Hallo?«, rief die junge Frau. »Sir! Das ist nicht mein … Hallo?« Es war zwecklos. Schon fädelte der Wagen in den plötzlich unerwartet dichten Verkehr ein und war wenige Augenblicke später um die Ecke der kleinen Parkanlage verschwunden.

»Aber es gehört mir nicht«, flüsterte Marietta Piccini.

Etwas ratlos stand sie auf den Stufen der London Library und sah sich um. Kein Mensch, der auch nur entfernt den Eindruck machte, als würde er etwas vermissen, gar suchen. Stattdessen ergoss sich eine Gruppe von Schülern durch das Portal auf den Gehweg. Zwei Studentinnen eilten kichernd die Treppe hinunter und über den Vorplatz. Ein einsamer Skater zog in einiger Entfernung seine halsbrecherischen Bahnen. Es würde Marietta Piccini nichts anderes übrigbleiben, als das Bündel an der Pforte zu hinterlegen. Sie stieg also die restlichen Stufen wieder hinauf und betrat das kühle, stille Gebäude erneut. Hinter ihr schloss sich lautlos die Tür und blendete all die Straßengeräusche aus. An den Schließfächern sortierten sich noch einige Besucher, die bis zur letzten Minute geblieben waren. Rasch durchquerte die junge Frau die Halle und eilte auf den Empfang zu. Doch die Glastür war bereits geschlossen – und auf dem Tisch der Aufsicht stand ein Schild: Closed for today.

Marietta Piccini versuchte zu erkennen, ob nicht doch noch jemand drinnen war, sie klopfte zur Sicherheit gegen das Glas und wartete noch einige Minuten. Als ihr aber klar wurde, dass offensichtlich niemand mehr auftauchen würde, dem sie die Mappe geben konnte, wandte sie sich um und verließ das Gebäude wieder.

Was tun? Sollte sie die Papiere zum allgemeinen Fundbüro bringen? Machte man das mit etwas, das offensichtlich keinen materiellen Wert hatte? Und würde es dort überhaupt jemand suchen?

Auf den Treppen blieb sie stehen und betrachtete das Konvolut. Es mochten vielleicht hundertfünfzig oder zweihundert Blatt sein, die fein säuberlich gestapelt von einer einfachen grünen Pappe umfasst und kreuzweise mit einer Schnur zusammengebunden waren, wie man sie zum Verschnüren von Paketen benutzte. Eine kleine Schleife thronte in der Mitte, die ihrerseits noch einmal verknotet worden war. Jemand hatte offensichtlich große Sorgfalt darauf verwendet.

Nun, vielleicht gab der Inhalt der Mappe Aufschluss über ihren Besitzer. Marietta Piccini zupfte an der Schnur und löste sie so behutsam wie möglich. Dann klappte sie die schon etwas abgegriffene Papphülle auf und setzte sich unwillkürlich auf den Stufen nieder. Für einen kurzen Augenblick hielt sie den Atem an. Denn offensichtlich war das, was ihr da durch puren Zufall in die Hände gefallen war, ein Manuskript: in der Tat etwa hundertfünfzig Seiten, kurioserweise sorgsam auf der Schreibmaschine getippt, mit einigen wenigen handschriftlichen Verbesserungen und Bemerkungen am Rand und einem etwas wirren Notizzettel am Ende, auf dem der Autor offenbar noch einige Ideen für Szenen skizziert hatte. Was nicht darin stand, war der Urheber dieses Textes. Stattdessen nur – in einer gefälligen Handschrift und etwas größer als der Text selbst – die Überschrift:

Das Glück der kleinen Augenblicke

 

Wie an jedem Samstag seit vier Jahren, fuhr Lilly mit dem Bus zu ihrem Vater. Seit zwei Jahren durfte sie die Strecke sogar alleine fahren. Vielleicht war es ihrer Mutter gar nicht so unangenehm gewesen, dass Lilly sich das gewünscht hatte. Irgendwie hatte sie erleichtert gewirkt. Die Fahrt war für Mama nicht schön gewesen, Lilly hatte das immer deutlich gespürt. Ihre Mutter war dann nervös gewesen, hatte wegen der kleinsten Kleinigkeiten geschimpft und einmal sogar vergessen, eine Fahrkarte zu lösen. Der Fahrer hatte es nicht bemerkt, aber hinterher hatte Mama ihr große Vorwürfe gemacht und Lilly hatte sich lieber entschuldigt. Das besänftigte ihre Mutter immer. Vor allem, wenn Lilly gar nicht schuld war.

Lilly wählte stets einen Platz am Fenster. Am liebsten saß sie dabei hinten, weil sie dann nicht nur nach draußen schauen, sondern auch die anderen Fahrgäste beobachten konnte. Einige von ihnen kannte sie schon, manche sogar seit langem. Denn sie hatte herausgefunden, dass auch am Samstag häufig dieselben Menschen mit dem Bus unterwegs waren. Auch wenn sie vielleicht gar nicht zur Arbeit gehen mussten. Da gab es zum Beispiel eine alte Dame, aus deren Handtasche immer der Stiel einer Schaufel lugte (jedenfalls ging Lilly davon aus, dass es eine Schaufel war) und die im Sommer gelegentlich sogar eine Gießkanne mit sich führte. Sie stieg jedes Mal an einer Haltestelle in Mayfair aus. Da der Bus wenig später an einem Friedhof vorbeifuhr, hatte sich Lilly überlegt, dass die Lady dort womöglich jemanden besuchte. So wie sie selbst gelegentlich mit ihrem Papa, wenn sie bei ihm war, an das Grab ihrer Großeltern in Camden fuhr. Und da sie immer alleine im Bus unterwegs war, mochte es wohl ihr verstorbener Mann sein. Lilly hatte einige Zeit überlegt, ob ihr die alte Frau leidtun sollte. Doch dann hatte sie sich dagegen entschieden: Sie sah eigentlich immer ganz zufrieden aus. Und einmal hatte sie ihr sogar zugezwinkert.

Auch eine junge Frau, fast eher noch ein Mädchen, nahm regelmäßig denselben Bus. Sie trug einen Geigenkasten bei sich und fuhr vermutlich zum Unterricht oder kam von dort und war auf dem Weg nach Hause. Sie hatte die zierlichsten Finger, die Lilly jemals gesehen hatte. Was lustig war, denn im Übrigen sah sie wenig zierlich aus, sondern war vielmehr ziemlich groß und auch ein bisschen dick. Vor allem hatte sie mehrere Tattoos, die man sehen konnte. Lilly fragte sich, ob sie auch welche hatte, die man nicht sehen konnte.

Der Busfahrer selbst war fast immer derselbe. Er erinnerte Lilly an das Lied Penny Lane, in dem ein Feuerwehrmann vorkam, den sie sich genauso vorstellte wie diesen Busfahrer: Er liebte es, sein Feuerwehrauto zu polieren, und trug in seiner Tasche stets ein Porträt der Queen. Das konnte sich Lilly bei Mr. Finch auch gut vorstellen. Dass er Mr. Finch hieß, wusste sie, weil gelegentlich eine Lady einstieg, die so alt aussah, dass es Lilly fast unmöglich erschien, so alt zu sein. Der Busfahrer kannte sie mit Namen und begrüßte sie stets mit stolzer Brust. »Good morning, Dame Cynthia.«

Dame Cynthia war offensichtlich etwas sehr Besonderes und ließ sich das auch dadurch anmerken, dass sie sich betont so gab, als sei sie absolut nichts Besonderes. »Guten Morgen, Mr. Finch. Ein schrecklicher Tag heute, nicht wahr? Aber Sie tun Ihre Pflicht, und Ihre schöne Droschke blitzt wie stets.« Dann ließ sie ihren Blick durch den Bus schweifen und setzte sich auf einen der vorderen Plätze, ihren Schirm neben sich platzierend, als wäre er ein lieber Bekannter, dem sie etwas Gutes tun wollte. Sie nannte den Bus tatsächlich immer »Droschke«, was Lilly amüsierte. Sie freute sich, wenn Dame Cynthia im selben Bus fuhr. Dann stellte sie sich immer vor, es wäre tatsächlich eine vornehme Kutsche, die von zwei prächtigen schwarzen Rössern gezogen wurde. Und die anderen Fahrgäste wären Lords und Ladys, und oben auf dem Dach säße die Dienerschaft und nutzte die Fahrt, um endlich die Zeit zu einem kleinen Plausch zu finden.

An jenem Tag aber, an dem sich diese Geschichte zutrug, war die alte Lady nicht da gewesen. Lilly zählte also nur den Busfahrer, die Dame mit der Schaufel und das Mädchen mit dem Geigenkasten zu ihren alten Bekannten. Und natürlich Mr. Swift. Sie hatte ihn so genannt, weil sie nicht wusste, wie er hieß, aber fand, dass dieser Name bestens zu ihm passte. Mr. Swift nämlich war ein mittelgroßer Mann mittleren Alters, meist gut, aber nicht außergewöhnlich gekleidet, das mittellange Haar manchmal bedeckt mit einem Hut, der aussah, als wäre er mit seinem Träger einer alten Fernsehserie entstiegen. Wenn er den Hut absetzte, war deutlich zu erkennen, dass sich sein Haar schon etwas lichtete. Aus seiner Brusttasche lugte der Bügel einer Brille. Lilly fragte sich, ob er sie nur zum Lesen brauchte oder ob er zu eitel war, sie in der Öffentlichkeit zu tragen.

Sie mochte Mr. Swift. Zwar hatte sie noch nie ein Wort mit ihm gewechselt, aber es war ihr aufgefallen, dass er stets sehr neugierig auf seine Umgebung blickte und dass dieser Blick stets ein freundlicher war. Stand der Bus im Stau, so schien sich Mr. Swift ganz einfach zu entspannen. Er schlug die Beine übereinander und legte den Kopf ein wenig in den Nacken, als würde er einem Konzert lauschen. Setzte sich jemand vor ihn, der stark roch, nach Knoblauch zum Beispiel, so umspielte ein amüsiertes Lächeln seine Lippen. Und als Lilly einmal versehentlich im Vorbeigehen auf seinen Fuß stieg, lupfte er nur kurz seinen Hut und beugte sich ein klein wenig vor. Als wäre er es gewesen, der umgekehrt ihr wehgetan hätte, und er müsste er sich bei ihr entschuldigen. Dabei zwinkerte er ihr mit einem Lächeln zu.

Selten kam es vor, dass Lilly nicht diesen Bus nahm, sondern einen später, was sie immer sehr bedauerte. Denn auch wenn dieser spätere Bus dieselbe Strecke fuhr, war es doch nicht so vertraut. Manchmal aber war es eben unvermeidlich. Manchmal bekam Mama es einfach nicht rechtzeitig hin, sie zur Haltestelle zu bringen. Weil die Frisur nicht saß, weil die Zigaretten alle waren oder weil sie länger hatte schlafen müssen. Manchmal war es vielleicht auch einfach, dass sie Papa ein wenig ärgern wollte, weil sie wusste, dass er an der Endhaltestelle wartete. Und manchmal stand Lilly dann schon fertig angezogen in der Tür, die Tasche mit Leo-Bär in der Hand, den Rucksack mit Schlafanzug und Zahnbürste auf dem Rücken, damit sie den 8.12-Uhr-Bus doch noch schaffte.

Wenn die Bank neben Mr. Swift frei war, setzte sie sich dorthin und beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Er blickte zum Fenster hinaus. Manchmal auch in ein Buch, das er stets in der Jackentasche trug. Auf dem Sitz neben sich hatte er seine Tasche. Gelegentlich holte er einige Papiere daraus hervor und sah sie aufmerksam durch, einen Bleistift in der Hand, mit dem er hier und da Anmerkungen machte. So wie an jenem Tag, an dem sein besonderes Talent, die Schönheit der Dinge und des Augenblicks zu sehen, mit einem Mal auf ganz neue Weise gefordert sein würde.

Lilly hatte es im allerletzten Moment geschafft, den Bus zu erwischen, und sich außer Atem auf einen Sitz fast ganz hinten fallen lassen. Sie setzte Leo-Bär so, dass er etwas sehen konnte, und winkte Mama noch einmal durchs Fenster zu, die sich allerdings schon abgewandt hatte und auf ihr Smartphone blickte. »Geschafft, Leo«, flüsterte sie und knöpfte den Schal des kleinen Bären auf, damit ihm nicht so heiß war. Denn wie fast immer war es sehr warm im Bus. Zwei Reihen vor Lilly saß die alte Dame mit der Schaufel, die Tasche auf den Knien, den Rücken sehr gerade, und trommelte leicht mit den Fingern auf den Griff des Vordersitzes. Und nebenan saß Mr. Swift, heute ohne Hut, aber mit seiner Aktentasche, aus der er eine grüne Pappmappe genommen hatte, darin ein Stapel blütenweißer Papiere. Er las. Und er merkte von Zeit zu Zeit etwas mit seinem Bleistift an. Zwischendurch beobachtete Lilly, wie er den Stift ganz leicht in der Luft bewegte, fast so wie ein Dirigent seinen Stab bei einer ganz besonders leisen, feinen Melodie. Lilly war einmal mit ihrem Vater in einem Konzert gewesen; der Dirigent hatte ihr am besten gefallen.