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Eine faszinierende Reise durch das Heilige Land – und ein uraltes Orakel … Wir schreiben das Jahr 1252, Shiraz zur Zeit der Rosenblüte: Getrieben von einem mysteriösen Orakel macht sich der französische Ritter Jean d'Eron auf, seinen alten Freund, den berühmten Gelehrten Saadi, in dessen Heimat Persien zu finden. Ihr Wiedersehen wird zu einem Fest der Erinnerung, denn es war Saadi, an dessen Seite Jean vor Jahrzehnten durch das Heilige Land reiste. Gemeinsam kehren der Kreuzfahrer und der Weise zurück in eine Welt voller Geheimnisse – denn Jean wurde einst ein mysteriöses Orakel zuteil, das ihn nie wieder losließ: »Das Glück und das Unglück deines Lebens werden dir widerfahren in den verbotenen Gärten.« Ob seine Rückkehr in die nach Rosen duftende Stadt endlich die ersehnten Antworten bringen wird? Die mitreißende Geschichte einer außergewöhnlichen Freundschaft im alten Persien – ein opulenter historischer Abenteuerroman für Fans von Jens J. Kramer, Noah Gordon und Elif Shafak.
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Seitenzahl: 571
Über dieses Buch:
Wir schreiben das Jahr 1252, Shiraz zur Zeit der Rosenblüte: Getrieben von einem mysteriösen Orakel macht sich der französische Ritter Jean d'Eron auf, seinen alten Freund, den berühmten Gelehrten Saadi, in dessen Heimat Persien zu finden. Ihr Wiedersehen wird zu einem Fest der Erinnerung, denn es war Saadi, an dessen Seite Jean vor Jahrzehnten durch das Heilige Land reiste. Gemeinsam kehren der Kreuzfahrer und der Weise zurück in eine Welt voller Geheimnisse – denn Jean wurde einst ein mysteriöses Orakel zuteil, das ihn nie wieder losließ: »Das Glück und das Unglück deines Lebens werden dir widerfahren in den verbotenen Gärten.« Ob seine Rückkehr in die nach Rosen duftende Stadt endlich die ersehnten Antworten bringen wird?
Über den Autor:
Thomas Montasser, Jahrgang 1966, beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Kunst und Kultur des Orients und vor allem Persiens. Er ist Autor zahlreicher Romane, die in viele Sprachen übersetzt wurden. Mit seiner Familie lebt er in München, wo er als Literaturagent tätig ist und namhafte Autoren betreut.
Bei dotbooks veröffentlichte der Autor »Ein zauberhafter Buchladen« und »Die verbotenen Gärten von Shiraz«.
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eBook-Neuausgabe Oktober 2024
Dieses Buch erschien bereits 2001 unter dem Titel »Die verbotenen Gärten« im Claassen Verlag.
Copyright © der Originalausgabe 2001 by Claassen Verlag GmbH
Copyright © der Neuausgabe 2024 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Wildes Blut – Atelier für Gestaltung Stephanie Weischer unter Verwendung mehrerer Bildmotive von © shutterstock
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (mm)
ISBN 978-3-98952-352-4
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Thomas Montasser
Die verbotenen Gärten von Shiraz
Historischer Roman
dotbooks.
Für Mariam,
die Blüte im Rosengarten meiner Seele
Nach Jahren noch wird dieses Werk ja leben,
wenn einst von uns kein Stäubchen mehr besteht!
Darin soll sich ein Bild von uns erhalten:
wohl seh ich, wie das Leben schnell vergeht.
Vielleicht, dass für den Derwisch aus Erbarmen
ein Einsichtsvoller einst zum Himmel fleht!
SAADI
»Das Glück und das Unglück deines Lebens werden dir widerfahren in den verbotenen Gärten. Leben und Tod werden dir begegnen in den verbotenen Gärten.« Für einen Augenblick war die Welt stumm. Nur diese Worte hörte ich im milden Licht des Nachmittags. Wer immer dies zu mir gesprochen hatte, verbarg sich hinter einer Wand aus Blattwerk, die mich an die reich verzierten Decken im Palast des Sultans erinnerte. Doch ich ahnte, wessen Wort mir in dieser müßigen Stunde galt, und ich spürte, dass darin Gefahr lag. Mein Blick glitt am Geäst entlang, suchte Einlass in die Tiefe, aus der die Stimme zu mir gedrungen war, leise, zierlich fast, und doch so nah, als hätte mir jemand die Worte ins Gesicht gehaucht.
»Es ist nicht nötig, dass du mich siehst«, fuhr sie fort, bewegte sich dabei aber, so dass ich ihren Schatten erkannte und sie mit verschleiertem Blick verfolgen konnte. Ich lauschte eine Weile, ehe mich meine Neugier zu einer Entgegnung zwang: »Ist es nötig, dass ich spreche?«
»Vielleicht ist es nötig, wer weiß? Doch es kann tödlich sein. Du bist in den Haram des Sultans eingedrungen. Kein Fremder darf seinen Fuß in diese Gärten setzen. Und kein Mann außer dem Herrscher der Gläubigen.«
Die Erkenntnis, dass ich in die verbotenen Gärten des Sultans geraten war, legte sich kettengleich um mich, fesselte mich, schnürte mir den Atem ab. Ich war gelähmt, Zunge und Leib versagten mir die Dienste. Mit einem Mal wurde dieses Paradies zur Schlangengrube.
»Du wusstest das nicht?«, fragte sie ungläubig. Offenbar hatte sie meine Verwirrung bemerkt. »So hast du keinerlei Vorkehrungen zu deiner Sicherheit getroffen? Ich ahnte es.« Sie trat hinter dem Strauch hervor. Ich kannte ihr Gesicht nicht, denn es war bei unserer ersten Begegnung, anders als jetzt, verschleiert gewesen. Doch ich erkannte sie an ihrer Stimme und an der Art ihrer Bewegungen. Wie meine Mutter, in dem Augenblick als sie das Schicksal unserer Familie und meine Absicht fortzugehen erkannte, legte sie ihren Blick über mich und sprach, einem langen, liebevollen Seufzer gleich: »Dein erster Schritt in diesen Palast, den ich aus den Fenstern des Harams beobachten konnte, dein erstes Wort im großen Saal der Zitadelle, das ich hinter den Vorhängen hören konnte, dein erster Blick auf meine Hüften, den ich spüren konnte, als hättest du sie berührt, alles an dir lässt erkennen, dass das Verbotene dein Schicksal ist. Das Verbotene aber verbirgt sich im Reich der Gläubigen in diesen Gärten, die dich anziehen, ohne dass du es wünschst.« Ein sachter Wind glitt durch die Zweige und trug andere Geräusche zwischen uns, das Schreien von Kindern, das Lachen von Frauen, ein fernes Stöhnen. So rein war die Luft, dass mir war, als befänden wir uns auf dem Gipfel eines Berges und rund um die Mauern des Palastes stürzten steile Wände in die Tiefe.
»Dein Spiel war mutig. Selbst der Sultan hätte wohl verstanden, wenn du seinen Wunsch ausgeschlagen hättest, das Spiel der Könige gegen ihn auszutragen. Doch dein Weg führt dich in Gefahren, wo Leben und Tod auf dich warten. Ich habe es gesehen: Leben und Tod, Glück und Unglück erwarten dich in den verbotenen Gärten. Sieh dich vor, damit du in den Stunden der Wahrheit stark bist.«
Jedes Haar an meinem Körper brannte, als ich alle meine Kräfte sammelte und mich hochriss, um der dunklen Prophezeiung ein Ende zu bereiten. »Was immer du gesehen hast, es ficht mich nicht an«, versuchte ich meiner Stimme einen festen Ton zu geben. »Zu glauben, Gott wolle mir durch eine Sklavin ein Zeichen senden, ist Hoffart. Mein Schicksal liegt in Seiner Hand. Alle Zeit und an jedem Ort. Ich werde wie jeder Rechtgläubige demütig erwarten, was Gott mir an Prüfungen auferlegen und an Gnade erweisen will.«
»Wa Allah, der Glaube und die Demut allein werden dir bei allem, was dein Schicksal ist, helfen, und Er wird dir letztlich wohlgesonnen sein. Doch in diesem Augenblick, Fremder, lass mich dem Einzigen und Erhabenen, lass mich Ihm zur Hand gehen und dich vor den Wächtern des Sultans retten. Denn kurz ist die Zeit, die uns bleibt, ehe dein Leben verwirkt ist. Noch kann es dir gelingen, diese Gärten zu verlassen.« Sie gab mir ein Zeichen, ihr zu folgen, und führte mich auf schmalen Pfaden in einen Teil des Palastes, der von der Stadt abgewandt liegen musste. Keine Seele begegnete uns, keine Stimme drang an mein Ohr, es schien ein verfluchter Ort zu sein, denn selbst die Pflanzen wichen zurück und drängten sich an die Mauern und Rinnsale, die den Weg kreuzten. Schließlich gelangten wir an einen Pavillon, nicht größer als die Klause eines Einsiedlers in den Wäldern meiner Heimat. Dort gab Schirin mit einem Mal den Weg frei und wies mich an, durch eine kaum erkennbare schmale Pforte zu gehen, die auf einen roh gemauerten, überdachten Pfad führte. Dunkel und nur von gelegentlichen Lichteinlässen erhellt, erstreckte sich ein langer, sich sacht neigender Weg vor mir, dessen Düsternis mich an den Kerker von Tripolis erinnerte. »Nimm diesen Weg«, hörte ich die reine Stimme meiner Kassandra hinter mir rufen. »Er wird dich ans Licht führen.« Als ich mich umwandte, war sie verschwunden.
»Siehst du dies Mädchen dort?«, fragte Saadi. »Sie ist das Leben.« Er wies mit müder Hand über den Platz auf eine junge Frau, die eben aus dem Bazar getreten war und sich den seidenen Schleier, der leicht über ihrem Kopf lag, zum Schutz gegen die Sonne ein wenig tiefer in die Stirn zog. Mir war, als ginge von dieser Gestalt, die sicherlich fünfzig Schritte oder mehr entfernt war, ein süßer Duft aus, der sich mit der geschmeidigen Luft von Schirâz verband. »Sieh ihren Leib«, sagte Saadi. »Er gebiert die Erben der Welt. Sieh ihre Brüste, wie sie sich beim Gehen wiegen. Sie gießen den zarten Spross und verleihen ihm Kraft.« Er sog genüsslich den Duft des Kaffees ein und senkte kaum merklich die Stimme, als er fortfuhr: »Betrachte diese Hüften, die auch dem alten Mann noch Lebenssaft entlocken und das Herz des Jünglings in Aufruhr versetzen. Würdest du dieses zierliche Weib zu Hause hören, sei versichert, sie wäre es, die den Dingen ihren Lauf verleiht, während ihr Mann auf dem Teppich sitzt, seine Großtaten preist und sich den Bart zaust.«
Das Mädchen verschwand flinken Schritts zwischen bunt beschürzten Leibern, und ich bedauerte, dass ich sie zum ersten und gewiss auch zum letzten Mal gesehen hätte an diesem herrlichen Tag, den der Weltenschöpfer hatte werden lassen.
Der Duft dieser Stadt hatte mich zu Saadi geleitet. Letztlich waren es die Rosen gewesen, die verhindert hatten, dass ich den falschen Weg einschlug. Denn von diesen Rosen hatte mir Saadi erzählt, als wir uns zum ersten Mal begegnet waren, immer wieder. »Schirâz ist ein Rosengarten«, hatte er gesagt. »Schirâz ist die Blüte der Erde. Bei allen Städten, bei allen Län- dem, die ich gesehen habe, ist die Stadt des Löwen die Mitte aller Schönheit.«
Es sollte Jahrzehnte dauern, Reiche sollten vergehen und entstehen und Tausende gläubiger Seelen sterben, ehe ich Schirâz kennen lernen und Saadi wieder sehen durfte. Die Welle des Lebens trug mich weit hinaus in die Ferne und allzu kurz nur zurück in die Heimat, wo ich verloren fand, wohin zurückzukehren ich geträumt hatte. So war ich gestern in der kurzen Dämmerung des Fars über den Hügel geritten und hatte sie erblickt, die Perle des Morgenlandes, die Quelle der Weisheit, die Stadt aller Städte: Schirâz, die Heimat des Mosleh ad-Dîn Saadi, des größten Dichters seiner Zeit, des Weisen, der wie ein Heiliger verehrt wurde – am sechsten Tag des Monats Farwardîn durfte ich seine Welt endlich betreten.
»Wa Allah!«, sagte ich. »Du hast Recht, mein Freund. Doch sieh selbst: Dieser junge Mann dort drüben, dessen Arme einen Stier zähmen könnten, dessen Beine eine Gazelle fangen und dessen Lenden ein ganzes Volk zeugen könnten. Ist er nicht ebenso das Wunder der Schöpfung, ist er nicht Leben wie dies Mädchen?«
Saadi sah gar nicht hin. Er blickte in seine Schale, in der sich nur noch ein dunkler Satz von Kaffee befand, und brummte lächelnd: »Natürlich, mein Freund. Er hat Arme, stark, um ein Dutzend Tataren zu erschlagen, Beine, die siebenmal die Mauern von Antiochia erstürmen würden, und Lenden, die eine Armee zeugen könnten. Vielleicht hat er sogar noch das Herz, die neuesten Waffen zu erfinden, so wie es die Franken getan haben, seit sie gegen die Gläubigen in den Krieg gezogen sind. – Aber sag, ist das Leben? Sieh mich an: Bin ich Leben? Nein, alter Freund, wir kommen auf die Welt, um zu sterben. Für Allah und den Glauben, wenn wir glücklich sind, aber doch, um zu sterben. Jede von uns armen Kreaturen.«
Saadis Trübsinn war noch nicht gewichen, obwohl die vergangene Nacht das Licht der Hoffnung wieder in mir entzündet hatte ...
»Du schweigst, mein Freund. Warum? Warum tust du mir das an, wie habe ich dich gekränkt? Ich bringe dir eine Reise dar, die zwei Jahre meines Lebens gekostet hat. Ich werfe mich in den Staub vor dir, trage die Kleidung deines Volkes, spreche mit der Zunge deines Propheten zu dir, bin dem Ruf gefolgt, der durch die Welt hallt – und finde doch nur dein Schweigen?« Da saß er vor mir, Saadi, der Mann, mit dem ich die dunkelsten Stunden meines unwürdigen Lebens verbracht hatte. Der Mann, der mir in tiefster Finsternis das Licht und in größter Trauer die Hoffnung gewesen war. Und er schwieg. Schwieg nach Jahren der Trennung. Schwieg nach all den Geschehnissen zwischen unseren Völkern. Blickte sanften Auges geradewegs durch mich hindurch. Saadi sah wohl meine Tränen, aber er fühlte sie nicht. Längst schon hatten mich zwei Frauen aus seinem bescheidenen Hause an den Schultern gefasst, um mich sanft von ihm wegzuziehen. Nur mühsam konnten sie dies Unternehmen zum Erfolg bringen. Als ich mich schließlich fortführen ließ und, keines Wortes mehr fähig, meine müden Glieder auf ein prächtiges Kissen bettete, setzte sich, züchtig mit dem Tuch bedeckt, Saadis älteste Frau Mehrbânu an meine Seite und seufzte mehr, als sie sprach: »Dies Leid ist schon vor mehreren Wochen über uns gekommen. Saadi, unser Leben, spricht nicht mehr, nicht mit Euch und auch nicht mit uns. Er will seine Gedanken nicht mehr mit uns teilen.«
»Warum, im Namen des Allmächtigen? Wie kann er seine Lippen verschließen, an denen so viele Menschen hängen?«
»Zu viele vielleicht, o Herr. Ich weiß es nicht. Ich bin nur eine alte Frau, deren Kraft nicht mehr reicht, in ihm die Lebensgeister zu erwecken. Mein Geist ist zu klein, als dass sich seiner an ihm messen wollte. Mein Mut zu gering, um noch große Taten zu vollbringen. Allah hat beschlossen, seine Lippen zu versiegeln. Uns steht es nicht zu, diesen Beschluss zu ändern.«
Ihre Stimme erstarb in einem leisen Schauer, der durch ihren kleinen, gekrümmten Körper lief. Ich bin sicher, er war begleitet von heftigen Tränen, doch konnte ich ihr Gesicht, das vom Halbdunkel des Raumes und einem locker umgeworfenen Kopftuch bedeckt war, nicht genau sehen. Ärger durchflutete mich. Ich wollte nicht wahrhaben, dass dieser Entschluss meines greisen Freundes endgültig war. Nun schwieg auch ich. Tausend Gedanken und Erinnerungen durchschossen mein Herz auf der Jagd nach der Erkenntnis, wie dieses Schicksal zu ändern sei. Saadi, mein Freund, spricht nicht mehr. Ich erinnerte mich an eine Begebenheit vor vielen Jahren. Saadi saß stolz auf seinem Pferd. Wir hatten die Stadtmauern von Damaskus hinter uns gelassen, um in die Berge zu reiten und für einige Stunden aus der Umklammerung der Stadt zu entkommen, und die Sonne stand noch nicht hoch am Himmel, als wir am Wegesrand einen jungen Mann sitzen sahen, der freudestrahlend seine wunden Füße rieb und uns überschwänglich begrüßte: »Allah sei mit Euch, Reisende, an diesem glücklichen Tag. Wer immer Ihr seid, preist Ihn und freut Euch an Seiner Pracht, atmet dies Leben, das Er mir heute neu geschenkt hat!« Er stand auf und begann zu tanzen und zu singen:
»In jedem Augenblick vergeht ein Lebenshauch;
Kaum hast du ihn bemerkt, ist er dahin wie Rauch!
Konntest dreißig Jahre sorglos leben,
Und dich am Ende eines einzgen Tages doch begeben?
Dem Dummen Schande, der den Tag nicht ehrt –
Das Paradies sei ihm auf Erden wie im Jenseits auch verwehrt!«
Ich drehte mich zu meinem alten Freund Saadi um, kniete mich vor ihn hin, als wollte ich ein Gebet an ihn richten, und begann, ihn an diese Begebenheit zu erinnern. »Du entsinnst dich des jungen Mannes, den wir einst auf dem Weg von Damaskus hinauf in die Berge gesehen haben. Er sprach und sang uns das Lob des Allmächtigen und lehrte uns, den Tag zu ehren, den Er uns schenkt. Jeden Tag unter dieser Sonne. Der Weltenschöpfer hatte ihm das Leben neu geschenkt, da dieser junge Heißsporn vom Statthalter in Damaskus zum Tode verurteilt worden war. Ich habe mich oft seiner erinnert, du dich sicher auch. Bruder, geliebter Freund, jetzt, wo wir noch sprechen können, brich dein Schweigen, tu’s um deinen und meinetwillen. Wenn morgen dich der Todesengel ruft oder mich, wird dich das Schicksal zwingen, deine Lippen für den Rest der Zeiten zu verschließen.«
Eine junge Frau trat hinter mich und versuchte mich erneut zur Seite zu ziehen. Ich ließ sie nicht gewähren. Sie sprach mit ungewöhnlich tiefer Stimme, deren Reinheit und Heiterkeit meine Erinnerung an Saadis Stimme lebendig werden ließ: »Fremder, wer immer du seist. Wir verstehen dein Bemühen und achten es. Wir wissen, dass du nicht ungebührend und respektlos sein willst. Und doch – mein Vater ist zu dem Entschluss gekommen, den verbleibenden Teil seines Daseins auf Erden dem Dienst an Allah zu weihen und Stillschweigen zu wahren. Du selbst bist ein reifer Mann und weit gereist, wie ich sehe. Hast der Völker und Länder zahlreiche kennen gelernt. Würde es nicht auch dir zur Ehre gereichen, Saadis Entschluss zu teilen und dich auf den Pfad der Zurückgezogenheit und des Schweigens zu begeben?«
»Ihr seid Saadis Tochter?«
Sie musste mein Erstaunen erkannt haben, denn sie trat einen Schritt zurück, um ihre Würde wiederherzustellen. »Allah hat mir die Güte erwiesen«, sagte sie und beugte nur unmerklich ihr jugendliches Haupt. »Doch wer seid Ihr?«
»Saadi weiß es. Ihr sollt es von ihm erfahren. Denn, bei all meiner Verehrung und bei unserer alten Freundschaft: Kein Wort mehr wird über meine Lippen kommen und mein Fuß wird sich nicht mehr von dieser Stelle rühren, ehe er nicht geredet hat, wie es Brauch und Tugend ist. Denn es ist nicht recht, des Freundes Herz zu verletzen. Doch es ziemt sich wohl, einen unbedachten Eid ungeschehen zu machen.« Ich senkte mein Gesicht nahe hin zu Saadis ruhigen Zügen und blickte ihm in die von Klugheit sprühenden Augen. »Der junge Mann damals, erinnerst du dich, warum er überlebt hat? Der Statthalter hatte ihn begnadigt. Auf dem Weg zum Richtblock hatte er Gott gelästert und den Padeschah. Der Sultan, der zu weit entfernt saß, um zu verstehen, fragte seinen Wazir, was der Verurteilte da rufe. Und der erwiderte: Er lobt Allah und Euch und sagt, dass Gott mit denen ist, die ihren Zorn überwinden und Vergebung mit den Menschen üben. Darauf begnadigte der Sultan den Verurteilten. Ein anderer jedoch, der die wahren Worte des Missetäters verstanden hatte und sie dem Sultan kundtat, fiel bei ihm in Ungnade. Denn dem Sultan war die Lüge, die Gutes stiften wollte, lieber als die Wahrheit, die dem bösen Herzen entsprang.«
Saadi hob nun den Blick, sah mir ebenfalls geradewegs in die Augen und seine Lippen taten sich auf. »Die falsche Tat im richtigen Sinne ist Gott wohlgefälliger als die richtige Tat im falschen Sinne?«
»Du sagst es«, lachte ich und konnte meine Tränen nicht mehr zurückhalten. Saadi aber beugte ungerührt das Knie, stand erstaunlich leichtfüßig auf, nahm mich am Arm und schob mich sanft mit sich ins Freie.
»Du bist ein wahrer Sufi! Es war schon immer ein Genuss, mit dir die Klinge des Geistes zu kreuzen«, sprach er mit einem Lächeln vor sich hin, während ich noch unfähig war, meine Zerknirschung hinunterzuschlucken. Draußen hatte sich die Dunkelheit gänzlich über die aufblühende Stadt gesenkt. Die Muezzins waren verstummt, die Gebete waren gewiss in den meisten Häusern und Höfen gesprochen. Vom Wind aus allen Richtungen herbeigetrieben, umschwirrten uns Geräusche mannigfacher Art. Doch nichts vermochte den Klang von Saadis Stimme, den ich so lange vermisst hatte, aus meinem Ohr zu verbannen.
»Sieh, mein Freund, es besuchten mich Tag für Tag hundert Gäste, denen ich bereitwillig eine Schale Kaffee anbot, mit denen ich nicht selten meinen Gebetsteppich teilte und die oft genug unter meinem Dach Zuflucht vor der Nacht fanden. Ich gab dies gerne und gebe es immer noch, wo Allah mir eine Gelegenheit dazu schenkt. Vor einigen Monden allerdings lernte ich eine Gruppe junger Männer kennen, die ich – Allah sei gepriesen für diese Gunst – seither nicht mehr gesehen noch beherbergt habe. Ihr Anführer, Rokne ad-Dîn Sahaf, ein eitler Pfau, öffnete mir die Augen. Nachdem ich weit über Mitternacht hinaus mit den jungen Herren, die aus Rey gekommen waren, um meine Meinung über diese und jene Frage des Glaubens zu erfahren, diskutiert hatte, fing ebenjener Rokne ad-Dîn erneut an, seine erste Frage diskutieren zu wollen. Er benahm sich wie ein Scholastiker.« Wobei Saadi dies Wort aussprach, als hätte er »Aussätziger« gesagt. Ich wusste nicht, ob mir dies nahe gehen sollte oder nicht.
»Dazu warst du zu erschöpft?«, fragte ich, um mir sogleich selbst mit der flachen Hand gegen die Stirn zu schlagen. Doch Saadi fasste es nicht als Beleidigung auf, vielleicht auch, weil er nach dem »Scholastiker« auf eine Revanche gewartet hatte. »Nein«, sagte er. »Ein Gläubiger wird niemals zu erschöpft sein, um die Dinge des Herrn zu bedenken.« Der alte Mann setzte sich auf eine steinerne Mauer, die den Wegrand säumte, und strich mit sanfter und sehr ruhiger Hand über die Rosen, die zum Teil bereits aus ihren Knospen geschlüpft, zum Teil aber auch noch fest verschlossen waren. »Es ist alles Eitelkeit. Das dachte ich. Ich fühlte es. Mich ekelte vor diesen selbstherrlichen Söhnen. Ich suchte in ihren Worten, in ihren Gesichtern, in ihren Fragen nach ihren Vätern. Nach ihren Müttern. Nichts. Da war nichts, verstehst du? Sie fragten nach Gott, aber sie hätten ebenso gut nach dem Geheimnis des Hirsebaus fragen und es diskutieren können. Es war das, was man ihnen auf der Madresseh in Rey beibrachte. Kluges Reden statt klugem Denken.«
Ich sog begierig den Duft der Rosen ein, deren Wasser ich vor Jahren erstmals getrunken und seither immer wieder an den unterschiedlichsten Orten der östlichen Welt gekostet hatte und deren Aroma allein sich mit den Blütenwassern von Mashad vergleichen ließ. Meine Hand begann wie von selbst einige Rosenzweige zu brechen, während mein alter Freund sanftmütig fortfuhr, sich zu erklären: »Ich schützte tatsächlich Müdigkeit vor. Man sieht das einem Mann von mehr als siebzig Jahren nach.« Er lachte leise über die Unwissenheit der Jungen. »Aber ich dachte noch lange nach, als es im Hause still geworden war. Ich muss zugeben, siebzig Jahre aus der Hand des Allmächtigen in Empfang zu nehmen bedeutet auch, siebzig Jahre Leben zu verlieren, nach und nach. Siebzig Jahre lang verliert man Dinge, die einem lieb geworden sind. Sicher, man gewinnt neue hinzu. Doch welche junge Frau ersetzt dir die alte, die du so ins Herz geschlossen hattest? Du liebst sie um ihretwillen, nicht als Ersatz! Welches Dach hat dieselben Stimmen gehört wie das Dach deines Jugendhauses? Welche Tochter tritt an die Stelle des Sohnes, den du verlierst, weil du zur falschen Zeit am falschen Ort warst?« Er seufzte so tief, wie nur ein Greis seufzen kann. »Schließlich wurde mir klar, dass ich nichts war als ein alter Narr, der ebenso eitel wie diese jungen Gecken aus Rey seine Zunge spitzte, um den andern zu gefallen. Also beschloss ich, mich in die Einsamkeit zurückzuziehen und die Welt mit meinem Gefasel zu verschonen. Weißt du, mein Freund, wenn du erst einmal den Ruf hast, ein Weiser zu sein, ist jede Liste, die du deiner Tochter auf den Bazar mitgibst, eine Offenbarung für die Schar der Gläubigen. Sie lesen von deinen Lippen ein Gebet, wenn du nur ausspuckst. Und wenn du deine Sandalen schnürst, fallen sie nieder zum Gebet, um es dir gleichzutun. Kurz, ich wollte dafür sorgen, dass fortan keine leichtfertigen Sprüche mehr über meine Lippen kämen und ich die letzten Tage, die mir der Gerechte schenkte, nicht mehr an nutzlose Gespräche verschwendete, sondern für die innere Suche nach dem rechten Glauben nutzte.«
Saadis Garten war ein Paradies auf Erden. Obwohl die Nacht sehr finster war, entfaltete doch das wenige Licht, das aus dem Hause drang, vereint mit dem Funkeln der Sterne vor unseren Augen, die sich längst an die Dunkelheit gewöhnt hatten, alle Pracht persischer Gartenbaukunst. Sie bestand im Wesentlichen darin, nicht nützlich zu sein, sondern einfach schön. Sie wollte dem Auge gefallen, der Nase wohl auch, doch sicherlich nicht dem Magen. Meine Hände hatten, die Dornen nicht spürend, längst zu viele Rosenzweige gepflückt, um sie noch halten zu können, und ich begann, sie im Saum meines Mantels zu sammeln. Ein kleiner Bach kreuzte den Weg. Daran, dass wir ihn ein weiteres Mal überschritten, merkte ich, dass wir uns wieder dem Hause näherten, von dem wir uns zwischenzeitlich ein gutes Stück entfernt hatten. Der Garten des Saadi war beträchtlich, doch wirkte er bei all seiner Größe lieblich und friedlich, er beeindruckte die Sinne, nicht aber den Geist. Bäume, die mir fremdartig schienen, standen zum Teil dicht verschlungen und in kleinen Grüppchen, ragten in den Nachthimmel, als wären die Plejaden in sie hineingegossen. Nichts Drohendes ging von ihnen aus. Der alte Mann und ich, selbst schon im Alter, das Paradies zu blicken, wenn dem Allmächtigen danach wäre, hatten wieder zueinander gefunden. Wir sprachen dieselbe Sprache, weilten lange in verflossenen Zeiten von Glück und Schrecken und setzten unseren Fuß erst wieder über die Schwelle des gastlichen Hauses des Mosleh ad-Dîn Saadi, als die ersten Vögel schon ihr Lied angestimmt hatten. »Saadi, mein Freund«, sagte ich. »Du hast mein Glück erneut begründet in dieser Nacht. Ich habe dich lange gesucht und war heute Nacht der glücklichste Mensch unter dem Mond. Danke, dass du mir dein Herz und deine Lippen aufgeschlossen hast. Ich weiß es zu schätzen. Dein Garten hat mir diese Blüten geschenkt, die der Tag weit öffnen wird. Ich hoffe, dass dein Entschluss, dich wieder den Menschen zuzuwenden, anhält, um meinet- und um aller anderen willen. Lass mich dir die Rosen schenken, jede einzelne für eine Nacht, die ich mit dir so glücklich plaudernd verbringen will wie diese.«
Saadi legte mir beide Hände auf die Schultern und strahlte müde hinter seinem weißen Bart. Einen Augenblick legte er den Kopf in den Nacken, als suchte er den Himmel nach Worten ab, dann ließ er ihn wieder sinken und sagte leise:
»Was nützt dir denn von Rosen dieser prächtige Strauß?
Nimm tausend Blätter aus dem Garten dir heraus –
So musst nach wenigen Tagen du doch sehen,
Die Blüte welkt, der Garten bleibt bestehn.
Mein Freund, schenk diese Rosen meiner Tochter, die du vorhin beleidigt hast. Sie wird dir verzeihen, da sie gut ist und Gutes erkennt. Ich aber will dir einen Rosengarten bescheren, der die Zeiten überdauert.«
»Hilf mir, Bester, was schwebt dir vor, was willst du damit sagen?«
»Ich könnte«, sagte er und strich mit sanfter Hand seinen Bart, »zur Freude wohlwollender Leser und zum Nutzen all der Wissbegierigen, die mich seit Jahren heimsuchen, ein Buch des Rosengartens verfassen, einen Golestân, dessen Blätter dem Wind des Herbstes trotzen werden und der sich ewiger Frühlingslust erfreut.«
Mein Herz machte einen Sprung, als dieser Gedanke über seine Lippen kam, und ich ließ fallen, was ich während der Nacht gesammelt hatte, griff nach dem Saum seines Mantels, packte ihn fest und rief: »Das hast du versprochen, Mosleh ad- Din Saadi, Weiser aus Schirâz, und wirst es tun. Denn der Edle hält, was er verspricht! Dies Buch werde ich mit mir nehmen, wenn ich die Stadt des Löwen verlasse. Und das wird sein, noch ehe der Rosengarten verblüht ist.«
»Du darfst mich begleiten, Fremder«, sagte Zahra mit ihrer dunklen, weichen Stimme. »Gewiss brauchst du vieles, was du nur auf dem Bazar finden wirst. Mein Vater hat mich angewiesen, dir die Türen zu öffnen und dir behilflich zu sein, wo immer du Hilfe benötigst.« Sie setze das hinzu, nicht als wäre es der Schicklichkeit halber angebracht, sondern als wäre es erheiternd für sie, dazu besonders ermahnt zu werden. Nun, da sie wusste, dass ich Freund und Vertrauter ihres Vaters war, achtete sie nicht mehr besonders darauf, jede Strähne ihres dunklen Haars bedeckt oder gar die Augen niedergeschlagen zu halten. Im Gegenteil, sie musterte mich auf eine Weise, die auch für Frauen des Abendlands nicht ziemlich gewesen wäre. Unverkennbar hatte sie den Geist ihres Vaters geerbt. Als Sohn hätte ihr die Welt offen gestanden. Als Tochter musste sie sich mit dem Haus begnügen. Aber manches Mal kam die Welt ins Haus. So jedenfalls schien sie meinen Besuch aufzufassen. Denn obwohl ich Kleidung und Sprache der moslemischen Welt angenommen hatte – vermutlich hätte auch Zahra nicht erkannt, dass es eine Tracht aus der Gegend von Aleppo war –, so konnte doch ein jeder schon nach kurzer Zeit erkennen, dass ich mitnichten ein Sohn des Orients war. Mein Haar war noch nicht gänzlich weiß geworden, so dass die rötlichen Spitzen die ursprüngliche Farbe ahnen ließen. Meine hellen Augen waren so ganz und gar untypisch für einen Araber, wenn vielleicht auch nicht für einen Perser.
Vor allem aber meine Schwierigkeiten in der Aussprache bestimmter Laute der iranischen Sprache, die es in keiner Sprache diesseits von Konstantinopel gab, verrieten mich als möglichen Franken, als Christen vielleicht, ganz sicher aber als Barbaren.
»Gern will ich dieses Angebot annehmen«, sagte ich, vielleicht etwas zu sichtlich erfreut, da sie doch die Augen niederschlug, was mir sehr leidtat. Denn es waren bezaubernd schöne Augen von einer tiefen Farbe wie der dunkelste Bernstein, von langen, dichten schwarzen Wimpern umrahmt. Also beeilte ich mich hinzuzufügen: »Die lange Reise hat viele meiner Vorräte gänzlich aufgezehrt. Ersatz tut not. Doch in dieser Stadt bin ich fremd und werde Eure Hilfe gut gebrauchen können.«
Sie lächelte selbstbewusst. »Ich warte vor der Tür auf Euch. Lasst Euch Zeit.«
Nur wenige Augenblicke später befanden wir uns auf einer der belebtesten Straßen, die ich im Laufe meines Lebens gesehen hatte. Nur Konstantinopel und Damaskus hätten sich mit diesem bunten Treiben messen können, das sich rings um die große Moschee nahe beim Bazar einem reich bestickten Teppich gleich dem Blick darbot. Schreiber hatten ihre Pulte in dem Schatten der Akazien aufgestellt, umringt von Händlern und Halunken, die eine Eingabe für das Gericht bei ihnen verfassen lassen wollten. Spieler säumten den Weg und präsentierten ihre geschickten Flunkereien, was mich erstaunte, denn unter den Söhnen Allahs galt das Glücksspiel als eine der größten Sünden und wurde in den meisten Städten streng bestraft. Kinder liefen uns zwischen den Beinen herum. Pferde, Kamele und Karren besiedelten die eigentlich großzügigen, ja prächtigen Straßen so dicht, dass wir hintereinander gehen mussten. Händler kamen und gingen. Mullahs und Gelehrte hatten sich zum Wortstreit mitten auf dem Platz vor dem Bazar niedergelassen und reichten Schläuche mit Wein herum, damit die Gemüter nicht allzu rasch kühlten. Die Frauen trugen buntere Kleider als in den meisten Städten östlich von Byzanz. Die fein ziselierte Sprache der Perser schwebte über allem, gleich ob als wütender Aufschrei eines betrogenen Käufers oder lustvolles Lachen einer jungen Frau. Zahra hatte für all dies sicherlich kein Ohr mehr. Sie hatte vermutlich Zeit ihres Lebens nichts anderes gehört und gesehen als dieses bunte Gemisch aus wunderbaren Farben, Formen und Tönen, dieses Vexierspiel für die Sinne, das einem Wüstenreiter wie mir als Rausch vorkam an diesem Tage, da die Sonne sich langsam in den Zenit schob. Bald würde das üppige Leben nachlassen, wenn die Hitze zu drückend und das Licht zu stechend würde.
Als wir aber in den Bazar eintraten, war es um uns schlagartig kühl, ruhig und dunkel. Meine Augen mussten sich erst an die Dunkelheit gewöhnen. Beinahe hätte ich Zahra verloren, hätte sie mich nicht nach einigen Atemzügen am Arm gepackt und sanft mit sich gezogen. »Das schickt sich nicht«, flüsterte sie mir zu. »Aber ehe ich Euch verliere, will ich lieber gegen die Sitte ungehorsam sein. Mein Vater würde mir nicht verzeihen, wäre ich gegen seinen Wunsch ungehorsam, Euch unversehrt und wohlgemut wieder zu sehen.«
Ich musste lachen. »Ich bin kein Kind«, sagte ich und entwand meinen Arm behutsam ihrem leichten Griff. »Ihr könnt mich schon wieder loslassen. Gewiss habe ich mehr Bazare durchwandert als Ihr und werde auch aus diesem heil zurückfinden. Aber vielen Dank, dass Ihr Euch so fürsorglich um mich müht.«
Diesmal nahm sie mir mein etwas ungelenkes Wesen nicht übel, sondern begann, den Blick nach vorne gerichtet, mich unbekümmert auszufragen, während wir nebeneinander durch die dunklen Pfade des Hauptbazars von Schirâz schritten: »Mein Vater hat keinen Zweifel daran gelassen, dass Ihr nicht zu jenen Männern gehört, die seit seiner Rückkehr nach Schirâz vor beinahe zwanzig Jahren so gut wie täglich unser Haus bevölkern. Ihr müsst ein ganz besonderer Mensch sein. Mein Vater sagt, er habe Euch mehr als eines seiner zahlreichen Leben zu verdanken, die ihm der Allmächtige geschenkt hat. Sagt, was habt Ihr getan, das ihn so dankbar gegen Euch macht? Wie habt Ihr ihn kennen gelernt? Was verbindet Euch mit ihm?«
Ich ließ meinen Blick, der sich nunmehr gut an die Dunkelheit gewöhnt hatte, durch das ausgedehnte Bauwerk schweifen und ließ mir Zeit mit der Antwort, denn es bereitete mir Vergnügen, ihre Neugier ein wenig zu schüren. Der Bazar sah nicht viel anders aus als die meisten Bazare zwischen Antiochia und Samarkand – und nur diese konnte ich zum Vergleich heranziehen. Die Straßen waren hoch überdacht, wobei sich über der Mitte der Straßen Kuppel an Kuppel fügte. Beinahe jede dieser Wölbungen hatte in der Mitte ein rundes Loch, das etwa eine Elle Durchmesser haben mochte, vielleicht auch zwei, und durch das die Sonne ihre schrägen Strahlen warf. Nur durch diese Öffnungen wurde der Bazar von Tageslicht beleuchtet. Zugleich schützte die Form die Händler und die Kunden davor, nass zu werden, wenn sich an seltenen Regentagen der Himmel entleerte. Die Ware, deren Wert oft unermesslich war und ganze Familien auf Generationen hinaus hätte ernähren können, wurde vor Fäulnis und Verderben geschützt. Und das Herz, das in harten Sommern von der Hitze gepeinigt war, konnte hier aufatmen. Die Bazari hatten kein schlechtes Leben. Sie nahmen sich, wie man hörte, einigen Einfluss heraus, auch auf das Leben außerhalb dieser überdachten Handelswege.
Aus den Augenwinkeln blickte ich zu Saadis Tochter, die so gelassen aussah wie ein Mädchen im Kreise ihrer Schwestern. Das war durchaus ungewöhnlich, zumal es sich für eine junge Frau nicht ziemte, auf offener Straße mit einem Mann, der nicht zu ihrer engeren Familie gehörte, den Weg zu teilen. Gleichwohl wollte ich es ihr nicht so leicht machen und fragte nun dagegen: »Was sagte Euch denn Euer Vater, dessen Zunge Allah segnen möge?«
Sie blieb an einem Stand stehen, an dem allerlei Getier verkauft wurde, und ich hätte nicht sagen können, ob diese Lebewesen als Nahrung gedacht waren, als Haustiere oder zu sonstigen Zwecken. Zahra bedeutete dem Händler, der sie wortlos, aber mit großer Demut grüßte, den Deckel eines Korbes zu öffnen. Mit flinker Hand griff sie hinein und zog eine Schlange heraus, derentwegen auch ein alter Gaul gescheut hätte. »Die Schlange«, sagte sie und hielt mir das Tier erschreckend nahe vors Gesicht, »hat sieben Leben. Die Katze hat neun. Aber meines verdanke ich Abu Jân.« Sie wandte ihren Blick wieder dem Händler zu, warf den Kopf leicht in den Nacken, wie es die Perser zu tun pflegten, wenn sie etwas kurz und bündig ablehnten, und ließ das Tier sacht in den Korb zurückgleiten. »Abu Jân«, wiederholte sie. »Ein ungewöhnlicher Name für einen Farengi:‹Vater des Jân.‹« Sie sagte dies mit viel Zärtlichkeit, als wüsste sie um mein Schicksal und das meines Sohnes.
»Jean. Ein französischer Name.«
»Es klingt schön, wie Ihr es aussprecht.«
»Es klingt schön, wie Ihr es aussprecht!« – Das war wieder zu viel gewesen. Sie schloss die Lippen und öffnete sie erst wieder, um einige Stände weiter einen Händler anzuweisen, einen Hahn für sie zu schlachten und zu rupfen, bis sie wiederkäme. Mit leichter Zunge und mit leichter Hand wechselte sie immer wieder von feinster Zartheit zu überraschender Direktheit. Sie vereinte offenbar viele weibliche und auch männliche Eigenarten in sich.
»War es Eure Mutter, die ich gestern Abend kennen lernte?«, fragte ich, um das Gespräch wieder aufzunehmen.
»Sie ist eine meiner Mütter«, antwortete sie mit großem Ernst und zu meiner Verwirrung.
»Eine Eurer Mütter? Wie viele habt Ihr denn?«
»Es hängt davon ab, wie Ihr sie zählen wollt. Ich selbst würde sagen, drei.« Sie wusste, dass sie das nicht unerklärt lassen konnte. Also fuhr sie nach einiger Zeit mit einem Seufzen fort: »Die zwei Frauen Saadis erwarteten zur gleichen Zeit ein Kind. Beide kamen am selben Tag nieder, als mein Vater nicht in Schirâz war. Unsere alte Amme Zainab entband die beiden, versorgte sie und die Säuglinge, die sie in Körbe im Nebenraum gelegt hatte, und ging, um nach Saadi zu schicken. Sie kam nicht wieder.«
»Sie ließ die niedergekommenen Weiber und die hilflosen Säuglinge allein zurück?«
»Sie wurde am nächsten Tag gefunden, tot unter einem Strauch am Hügel. Sie hatte niemanden finden können, der sich zu so später Stunde noch auf den Weg gemacht hätte. Ihre Kräfte waren einfach am Ende gewesen. Sie war alt. Wir Kinder überlebten. Die Mütter überlebten. Sie musste mit ihrem Leben für unseres bezahlen.« Sie atmete tief durch. »Ja, drei Mütter. Weil sich nicht mehr feststellen ließ, welches Mädchen von welcher Frau stammte, und weil uns das Leben auch von der alten Zainab geschenkt worden war.«
Ich teilte den Weg also mit einer Frau, die Tochter dreier Mütter war. Welch ungewöhnliches Geschöpf.
»B’esmellah e rahman e rahim!« Das war alles, was ich in der Tiefe des Kerkers hörte. Meine Augen starrten in die Finsternis, aus der sich nur ein schmaler Fensterbruch heraushob, hinter dem der ferne Gewitterhimmel von Tripolis erkennbar war, unerreichbar, nicht nur, weil kein ausgewachsener Mann jemals durch die Öffnung dort droben gepasst hätte. Ich war also nicht allein, doch auch nicht in Gesellschaft eines Christenmenschen. Das war arabisch. Ich hatte diesen Ausspruch in der kurzen Zeit meines Aufenthalts im Heiligen Land schon mehrmals gehört, von Händlern und Mullahs, von Kaffee trinkenden bärtigen Männern unter Turbanen und von klagenden Weibern. Ein Moslem teilte dieses Verlies mit mir. Allein ich konnte ihn nicht sehen. In den Eingeweiden dieser Burg herrschte eine beinahe greifbare Dunkelheit. Ich glaubte, seinen Atem zu spüren, so gefährlich nahe fühlte ich seine Gegenwart.
»Wer seid Ihr?«, fragte ich.
»Allah sei mit dir, Farengi«, entgegnete mir der Unsichtbare mit keineswegs tiefer, aber sehr voller Stimme. Offenbar beherrschte er meine Sprache, was mich neugierig machte. Angestrengt versuchte ich, im Dunkel etwas zu erkennen.
»Ich sitze direkt unter dem Lichtschacht«, half er mir. Seine Augen kamen mit dieser Höhle offenbar besser zurecht. Vielleicht, weil er das wenige Licht, das sich hierher verirrte, durch lange Übung sorgfältiger aufzunehmen gelernt hatte. Doch: lange Übung – war das hier möglich? Ich spürte die Kälte, die mir Schmerzen bereitete. Und den Geruch, von dem mir übel wurde.
»Wer seid Ihr?«, fragte ich, ohne jede Rücksicht auf Sitte und Form. Mit ausgestrecktem Arm tastete ich mich an den Rand des Raumes und ließ mich an der Wand hinabsinken, um so zum Sitzen zu kommen. Der Boden war feucht.
»Setzt Euch besser zu mir«, sagte der Geist, dessen Konturen ich mir langsam einbildete, schmal und schwarz. Zögernd erhob ich mich wieder und tastete mich an der Wand entlang bis unter das Fenster, wo ich plötzlich geradewegs in weit geöffnete Augen blickte. Er hatte sich erhoben und stand mir nun gegenüber, beinahe gleich groß, nur, soweit das in der Finsternis erkennbar war, um einiges älter und geschmückt mit einem mächtigen Bart. Er ließ sich nieder. Ich sank neben ihn.
»Ihr solltet Euch vorstellen«, sagte er. »Das wäre angemessen, da Ihr doch in mein Reich eingedrungen seid.«
»Ein Reich der Finsternis«, sagte ich. »Ich hätte gerne auf Eure Gastfreundschaft verzichtet. Leider war ich dumm genug, einem meiner Landsleute zu vertrauen, der sarazenische Jungfrauen christlicher Nächstenliebe zuführt. Jean d’Eron, verarmter Ritter aus dem Burgund.«
»Seid Ihr nicht schon wieder um einige Erfahrungen reicher?« Es klang so gar nicht ironisch, sondern vielmehr wie eine aufrichtige Feststellung, weshalb ich über diese Bemerkung lachte. »Ja, das bin ich«, entgegnete ich. »Noch reicher wäre ich, würde ich erfahren, mit welchem wenig vorsichtigen Sohn Mohammeds ich die Ehre habe.«
»Abu Abdallah Musarrif ad-Dîn Ibn Mosleh ad-Dîn«, antwortete er, als wäre damit alles gesagt.
Wir schwiegen. Wir schwiegen lange. Das Gewitter ging nieder. Wir wechselten den Platz, als das Wasser über den Lichtschacht herunterzurinnen begann. Er zog mich wie einen alten Freund in einen anderen Winkel, der zu meiner Überraschung trocken blieb – wie ich später feststellte, weil der Moslem durch ein geschickt angeordnetes System von kleinen Gräben auf dem sandigen Boden für eine Entwässerung gesorgt hatte. »Es funktioniert wie ein persischer Garten«, erklärte er mir später einmal, als die glühende Sonne genügend Licht für ein eingehendes Studium der Anlage erlaubte.
Seine Hand hatte mich gut am Ärmel gepackt. Dafür hätte ich sie ihm, dem Ungläubigen, abhacken lassen können. Hätte ich? Hier unten stand ich wohl nicht mehr auf der Seite des Rechts. Jedenfalls nicht gegenüber einem Ehrbaren meines Standes. Ob gegenüber einem Muselmanen, wer hätte das zu sagen vermocht?
Inzwischen hatten sich meine Augen so weit an das Dunkel gewöhnt, dass ich die ganze Gestalt des Mosleh ad-Dîn ausmachen konnte, die entgegen meinem ersten Eindruck nicht in Schwarz, sondern in einen hellen wollenen Überwurf gekleidet war. »Wie lange seid Ihr schon hier?«, fragte ich.
»Hier unten? Seit einigen Tagen und Nächten. Ich werde bleiben, solange die Gichtanfälle des Kerkermeisters anhalten. Dann wird er mich wieder nach oben zu den Erdarbeiten schicken und ich werde mit den Juden über die Frage disputieren, wem diese Erde zusteht, über die die Christen herrschen, der die Juden entspringen und die mit dem Blut der Moslems getränkt wird.«
»So seid Ihr Sklave und verrichtet niederen Dienst«, stellte ich fest.
»Bisweilen ja«, lächelte Saadi, denn um keinen anderen handelte es sich, und nun konnte ich auch das Weiß seiner Zähne erkennen. »Bisweilen aber bin ich auch der Medicus, der Narr oder der, wie sagt Ihr, Beichtvater eines hohen Herrn. Man kommt hier in der Zitadelle ganz gut zurecht, wenn man den Dingen ihren Lauf lässt.«
Ich fror. Ich war kaum einige Sätze lang in diesem Gemäuer und fror bereits. Was führte dieser Ungläubige, der schon seit Tagen an diesem Ort weilte, für Reden. Machte ihm die Kälte nichts aus? »Wenn man den Dingen ihren Lauf lässt, dann wird man dabei umkommen«, sagte ich.
»Man wird immer umkommen. Ich predige nicht Untätigkeit, sondern behaupte, dass das Schicksal nicht nur Schatten, sondern für jede Seele auch Licht bereithält. Seht, Ihr wurdet mir in diese Finsternis geschickt und erleuchtet einen meiner dunkelsten Tage. Allah sei gepriesen für Seine Mildtätigkeit.«
»Ich wüsste nicht, wie man diesem Loch etwas abgewinnen könnte.«
»Man gewinnt Ruhe. Der Blick des Auges schärft sich. Das Herz öffnet sich weiter. Hätte ich Euch draußen im grellen Licht des Tages unter all dem lärmenden Volk erblickt, Euer Leuchten wäre mir verborgen geblieben. So aber tratet Ihr in dunkelster Nacht wie ein Lichtstrahl in mein Leben.«
Erst viel später verstand ich, wie sehr Saadi nach dieser Art von Erkenntnissen lebte. Er sah Licht in der Dunkelheit und empfand Liebe, wo Hass herrschte. Er konnte größte Freude in der Trauer finden und sättigte sich am Hunger. Das Empfinden von Durst war ihm Quelle der Erkenntnis und in Augenblicken größter Angst schöpfte er den stärksten Mut. Saadi konnte im Gegenteil einer Sache das Wesentliche erkennen und erkannte sich stets selbst dabei. Er sah sich in der Welt mit scharfem Auge – und das sollte auch ich schon sehr bald erleben.
Die Nacht war endlos. Saadi murmelte stundenlang Gebete, rezitierte den Koran, was für mein ungeübtes Ohr manchmal klang, als würde er schnarchen oder einem Erstickungsanfall erliegen. Doch dann mündete alle gaumenbrecherische Rede stets aufs Neue in einer Anrufung Gottes, in einer Lobpreisung, wie ich sie mich später selbst unzählige Male würde sagen hören. Doch bis dahin war es ein langer Weg und ich war noch unerfahren und hochnäsig, war überzeugt, den höheren Glauben zu haben und die tieferen Einsichten zu besitzen. Wie wir alle damals.
Der Lichtschacht warf wenig mehr als ein schemenhaftes Leuchten der Nachtgestirne auf unser Verlies, als die Verriegelung gelöst wurde und uns der Kerkermeister eine Schale mit dem Fuß hereinschob, in der vermutlich etwas Essbares war. Er hatte tatsächlich nur eine Schale hereingeschoben. Was tun? Ich konnte unmöglich als Rechtgläubiger aus derselben Schale wie ein Muselman essen, ohne meine Seele auf direktem Wege der ewigen Verdammnis anheim zu geben. Ich stand vor dem Behältnis, gepeinigt gleichermaßen von grimmigem Hunger und dem Bedürfnis, Wasser zu lassen. »Wo kann ich ...«
»Jede Ecke ist gleich gut«, sagte Saadi ungerührt. »Wir können es uns nur dadurch leichter machen, dass wir auf den Weg des Wassers Rücksicht nehmen. Und der geht zur Türe hin, so wie ich die Dinge geregelt habe. Der Kerkermeister soll schließlich merken, dass er nicht allein hier unten sitzen muss.«
Tatsächlich hatte Saadi seine kleinen Gräben so angelegt, dass unser Unrat unter der Türe hindurchfloss und seinen Gestank mehr draußen verbreitete als drinnen. Oder besser: mein Unrat. Denn Saadi aß nichts, trank nichts und hatte deshalb auch kaum jemals Erledigungen unreiner Art zu verrichten. Er fastete mit einer Ausdauer und Leichtigkeit, wie ich noch nie einen Menschen hatte fasten sehen. Auf diese Weise erledigte sich die Frage nach der Teilung des Essens. Er überließ es mir. Und ich überließ es zum größten Teil den Ratten, deren Eindringen in unsere Zelle wir nicht verhindern konnten. »Man versucht mit diesen Mahlzeiten offenbar, die Gefangenen dem Henker gefügiger zu machen«, scherzte ich. »Wer davon gekostet hat, wünscht sich wohl, er möge sein Handwerk verstehen und dem Elend ein Ende bereiten.«
Saadi, der, wie ich später merkte, einen feinen Sinn für Belustigungen hatte, verstand in dieser Frage keinen Spaß. »Ich möchte diese Zelle nicht mit einer Leiche teilen«, sagte er. »Versucht zu essen, so viel Ihr könnt, da Ihr zu fasten nicht gewohnt seid.«
»Ich denke«, sagte ich, »ich sollte es dir mit Fasten gleichtun. Das kann mir nur zum Vorteil gereichen. Mein Gott wird es mit Wohlwollen auf meine Sünden anrechnen.«
Saadi schwieg. Ich dachte schon, er wollte darauf nicht antworten, als er unvermittelt eine Geschichte zu erzählen begann: »Ein Derwisch war einst bei seinem Fürsten geladen, an einem Festmahl teilzunehmen. Wie nicht anders erwartet, boten sich seinem Auge vielerlei Köstlichkeiten dar, die ein Vielfaches der Gäste gesättigt hätten. Doch der Derwisch wollte seinen Ruf als bescheidener Mann festigen und aß weniger, als seinem Hunger entsprach. Als es später ans Gebet ging, betete er länger und lauter als sonst. Die Gesellschaft war angemessen beeindruckt von seiner Frömmigkeit. Als er aber zu Hause war, begegnete er seinem Sohn, der auf ihn gewartet hatte. Er wies ihn an, ihm etwas zu essen zu holen. »Aber Vater«, sagte der Sohn. »Gab es denn beim Fürsten nicht ein Festmahl?« – »Doch«, sagte der Vater. »Aber ich habe nichts Rechtes gegessen.« – »Dann solltet Ihr auch Euer Gebet wiederholen«, schlug der Sohn vor. – »Wie kommst du denn darauf?«, wollte der Vater wissen. »Nun«, sagte der Sohn. »Mir scheint, dann habt Ihr auch nichts Rechtes gebetet.«
Der Fremde brachte dies in sehr feiner Sprache vor und ich war überrascht, wie gut er diese beherrschte. Andererseits empfand ich seine Rede als sehr respektlos. Konnte es angehen, dass ein Ungläubiger einem Christenmenschen derlei moralisierenden Vortrag hielt? Ich wusste damals nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Zum einen war er die einzige Sicherheit, im Bauche der Burg nicht verrückt zu werden. Denn die Finsternis war auch mit geweitetem Auge beinahe unerträglich und alle Geräusche kamen entweder von fern wie aus einer anderen Welt oder waren abscheulich. Andererseits war ich niemals in meinem Leben einem Muselmanen so nahe gewesen – so gefährlich nahe. Sicher, dieser Mosleh ad-Dîn hatte mir bisher keinen Anlass gegeben, besonderen Argwohn zu hegen. Indes hatte ich auch keinerlei Grund, ihm Vertrauen zu schenken. Er war ein Sohn Mohammeds. Er und seinesgleichen hatten einst die Heilige Stadt in ihre Gewalt gebracht. Das Schwert des Islam kämpfte blutig gegen die Christenheit, wo immer es ihrer habhaft werden konnte. War ich nicht in dieses ferne Land gekommen, um ebenjene zu bekriegen, die mir nun in Gestalt des Mosleh ad-Dîn feinsinnig und gelehrt gegenübersaßen und vielleicht in Wahrheit den Untergang der Christenheit vorbereiteten?
Auch Saadi sagte nichts weiter. Er schien mich auch nicht zu beobachten, sondern verfiel in einen ganz und gar ruhigen Zustand, den er nur gelegentlich aufgab, um sich murmelnd im Gebet zu verbeugen, ein Ritual, das er dutzende Male wiederholte und das ihn dieser Welt anscheinend ganz entrückte.
Tatsächlich wechselten wir kein Wort mehr, bis nach zahllosen Stunden der Kerkermeister erneut den Riegel von der Tür zog und mit einer Fackel eintrat. »Der Moslem«, sagte er nur, als sei damit alles klar. Für Saadi war es das offenbar auch, denn er stand auf und glitt geschmeidig wie ein ausgeschlafener Fuchs hinaus, worauf der blendende Lichtschein mitsamt der grimmigen Erscheinung unseres Aufsehers ebenfalls wieder verschwand, die Tür zugewuchtet und der Riegel vorgeschoben wurde. Das rasselnde Geräusch blieb mir im Ohr. Es verging aber auch sehr viel später nicht. Es hatte nichts mit dem Schloss zu tun. Das rasselnde Geräusch entstammte meinen Eingeweiden. Offenbar hatte sich die Kälte bereits in meiner Lunge festgesetzt. Ich war schon nicht gesund an Land gegangen. Die stürmische See hatte mir zugesetzt. Aber jetzt war es doch sehr viel deutlicher geworden. Meine Augen tränten. Das hatte ich zunächst der Dunkelheit angelastet. Doch wenn ich nun in mich hineinhorchte, war es weniger die Seele, die mir wehtat, als vielmehr jedes einzelne Glied meines Körpers.
Saadi blieb lange fort. Ich hörte nicht, wie er zurückkam, da mich der Schlaf übermannt hatte. Später meinte ich, ihn beten zu hören. Doch warum beugte er sich dabei über mich? Nein, das war kein Gebet – er wollte mich töten. Wollte mich seinem Götzen opfern! Ich versuchte zu schreien, doch eine unsichtbare Faust riss meine Stimme davon. Schon legte der sarazenische Teufel Hand an mich, schändete mein christliches Herz. Ich formte mit bebenden Lippen ein »Ave Maria«, doch das »Amen« versank bereits in Bewusstlosigkeit.
Ich erinnere mich, dass ich die Erwartung des Jenseits sehr gefasst ertrug. Mein Leichentuch war schwerer, als ich erwartet hatte. Ich schwitzte darunter. Nach einiger Zeit begann ich zu fürchten, dass die Hitze nicht von dem Tuch, sondern vom nahen Fegefeuer stammte. Doch hätte mich dann nicht bereits helles Licht umgeben? Sicher war es auch denkbar, dass das Fegefeuer finster war. Ich erinnerte mich vage, dass der Pfarrer, wenn er auf unserer Burg die Ostermesse las, von der »Finsternis des Fegefeuers« gesprochen hatte, durch die wir würden gehen müssen. Allein, das schien mir zweifelhaft, wenn ich auch sonst eine hohe Meinung von unserem Geistlichen gehabt hatte. Vielleicht war es das ewige Licht, das die himmlischen Heerscharen umgab. Gewiss war ich auf Erden kein Engel gewesen, aber mein junges Leben war doch immerhin so rein, keine schwere Schuld auf sich geladen zu haben. Ich hatte noch keinen Menschen getötet, nicht einmal einen Ungläubigen. Im Gegenteil, ich hatte meine Schwester vor dem Ertrinken gerettet, hatte aufrichtiger gebetet als meine Brüder, hatte selten gelogen und nie eine der anderen Todsünden begangen. Oder? Mich befielen Zweifel. War es nicht schon Sünde, sich selbst ohne Sünde zu wähnen? Was hatte der Moslem gesagt? Nichts Rechtes gebetet ... Würde der Herr diesen Umgang nicht als sündhaft betrachten? Ich hatte eitle Gespräche geführt mit dem Manne! Ich sah die Röte hinter meinen Lidern aufsteigen. Das musste das Feuer der Reinigung sein. Und ich hatte es verdient!
»Durch welche Länder kamst du auf deinem Weg nach Schirâz? Haben die Franken einmal mehr zum Kreuzzug aufgerufen und wir Seligen hier im fernen Persien haben es nur noch nicht gemerkt?« Ein heftiges Husten unterbrach Saadis Rede und ich nahm die Gelegenheit wahr, schnell zu antworten: »Nein, teurer Freund. Gott sei Dank ist seit einem Menschenleben kein Christenkönig mehr auf diesen Wahn verfallen. Es wäre auch sicherlich keinem gut bekommen.«
»Seit meinem Menschenleben«, sagte Saadi und erinnerte mich daran, dass das Jahr seiner Geburt wohl um die Zeit des dritten christlichen Kreuzzuges gegen die Muselmanen gelegen haben musste. Gleichwohl hatte dieser alte Mann, der bereits länger auf Erden wandelte, als die meisten Menschen alt werden, kaum ruhige Zeiten erlebt. Nicht persönlich und auch nicht, was die Zeitläufte anbelangte. Jede der vielen Falten in seinem edlen Gesicht konnte für einen Krieg in einem der Königreiche stehen, die er bereist hatte und in denen ihm nicht immer die ihm gebührende Wertschätzung widerfahren war.
»Ich kam über Bassora, den prächtigsten Hafen am Persischen Meer.«
»So hast du gewiss Bagdad besucht und warst Gast am Hofe des Kalifen?« Saadis Stimmung heiterte sich etwas auf.
»Der Kalif, Allah möge ihm immerwährende Gunst schenken, würde eher mit dem Teufel speisen, als seine Tafel mit mir zu teilen, geschweige denn sein Dach!«
Wir mussten beide lachen, denn der Kalif lehnte zwar jeglichen Kontakt zu christlichen Fürsten und ihren Gesandten aus Gründen der Reinheit des Glaubens ab, hielt sich aber in seinem Harem dennoch eine bemerkenswerte Zahl an christlichen Sklavinnen als Kurtisanen, wie allgemein, vor allem aber unter den Sklavenhändlern bekannt war. Leyla, die aus den Zutaten, die wir vom Bazar mitgebracht hatten, ein märchenhaftes Fessendjun bereitet hatte, häufte ungefragt auf unser beider Teller große Mengen dieses wahrhaft königlichen Mahls. Der Duft von Granatapfelsirup und Safran stieg mir in die Nase, der sich mit dem des frischen Brots verband und wie eine Wolke aus Moschus auf meine erheiterten Sinne wirkte. Sicherlich hatte der Wein, den wir aus vollen Bechern genossen, sein Teil dazu getan, dass mir so fröhlich zumute wurde, dass ich die ganze Welt hätte umarmen mögen. Der Wein, sagt man, kommt aus Schirâz. Hier soll der Geburtsort des Traubensafts liegen, in diesen Bergen und Hügeln um die blühende Stadt im Fars. Wer einmal diesen Tropfen gekostet hat, wird es gerne glauben, auch wenn ihm die eifrigen Händler in Syrien ganz anderes erzählen mögen oder gar die spitzäugigen Griechen, die die Welt erfunden zu haben glauben. »Dein Dach indes ist der Inbegriff von Gastlichkeit, lieber Saadi. Ich weiß nicht, was ich mehr loben soll, deinen Wein, der auf Erden seinesgleichen sucht, deine Zunge, deren Worte wie Diamanten blitzen, oder die Kochkunst deiner Frau, die den Hofstaat des Kalifen vor Neid erblassen ließe – und den des Sultans dazu!«
Leyla errötete sichtlich. Obwohl sie sicherlich bereits an die sechzig Jahre zählte, hatte sie doch etwas Jugendliches an sich, eine gewisse Unsicherheit auch, die eher einem zarten Mädchen ziemte als einer reifen Frau. Gleichwohl konnte ich mir gut vorstellen, dass sie ihrem Gemahl auch in ihrem Alter noch so manche lustvolle Nacht zu schenken fähig war – wenn in Saadis hohem Alter solcherlei Belustigung noch stattfand. Dies zu fragen, hätte ich mir bei aller Freundschaft nie erlaubt.
»Du bist also statt zum Kalifen lieber in die Schenke gegangen, gib es zu!«
»Da gibt es nichts zu bestreiten, mein Freund. Die Schenken von Bagdad sind für manche Erkenntnis gut, wie du weißt.«
»Dann erzähle uns doch, welche Art von Erkenntnis du in diesen Tagen gewinnen konntest«, forderte mich Saadi auf und ließ sich den Becher ein weiteres Mal nachfüllen.
Ich überlegte ein Weilchen. »Da wir gestern von dem jungen Mann bei Damaskus sprachen, der dem Tod vom Pflock gesprungen war, fällt mir eine interessante Begebenheit ein, die man sich in Bagdad erzählte. Es soll da einen Derwisch geben, der im Rufe steht, dass Allah seine Gebete erhört. Der Kalif ließ ihn zu sich kommen, und nachdem er ihm ein fürstliches Mahl bereitet hatte, ähnlich vielleicht dem unseren hier ...« Ich verbeugte mich gegen Saadis Frau, die höchst aufmerksam lauschte und versuchte, dies hinter Geschäftigkeit zu verbergen. »Nachdem er den Gottesmann also verköstigt und ihn hinreichend ob seines Glaubens und seiner Demut gelobt hatte, bat er ihn, Allahs Segen für ihn zu erbitten.«
»Glaubte denn der Alte, das würde ihn vor Allahs Zorn retten?«
»Nun, wie ich sagte, es heißt, der Derwisch hätte guten Erfolg mit seinen Bitten. – Jedenfalls sagte darauf der Derwisch: »Oh Allerhöchster, nimm seine Seele weg aus dieser Welt, je schneller, desto besser.« Du kannst dir vorstellen, dass der Kalif nicht gerade beglückt war. Er also rief: »Um Himmels willen! Soll das etwa ein Bittgebet um Segen sein?« »Gewiss«, sagte der Derwisch. »Wenn Allah meine Bitte erhört, so wäre das ein Segen für alle Gläubigen – auch für dich.«
»Ließ ihn der Kalif köpfen?«
»Wo denkst du hin? Ganz im Gegenteil. Der Kalif schenkte ihm neue Kleider und sein bestes Pferd, so sehr fürchtete er die Bittgebete, die der Derwisch womöglich auf dem Richtblock gesprochen hätte.«
Saadi lächelte vor sich hin. »Ich kenne die Geschichte. Es ist die Geschichte des Hadschadsch.«
»Ich weiß«, sagte ich. »Es ist die alte Geschichte.«
»Also nichts Neues in Bagdad.«
»Nein, nichts Neues. Sie erzählen dieselben Geschichten, sie trinken denselben gepanschten Wein, sie verkaufen dieselbe rohe Seide und sie sprechen dieselben Gebete.«
Der Abend war weit fortgeschritten, als wir mit dem Essen fertig waren. Jeder von uns hatte sicherlich mehr als einen Krug Wein getrunken. Ich hatte mehr gegessen als während der gesamten letzten sieben Tage meiner Reise. Der Mond stand hoch und ich wankte nach draußen, um mir einen Strauch zu suchen, der nach der Hitze des Tages etwas Feuchtigkeit gebrauchen konnte. Zwei Schafe schlummerten in der Nähe des Bächleins. Ich wusste nicht, ob sie zum Haushalt gehörten oder auf einer Wanderschaft hierher gelangt waren. Schirâz lag friedlich zwischen den Bergen. Für eine Stadt von so immenser Schönheit fand ich das erstaunlich. In meiner Heimat hätte eine Ortschaft solchen Reichtums keine Woche ohne Überfälle räuberischer Banden erlebt, wäre sie so mangelhaft gesichert gewesen wie Schirâz. Wohl gab es eine Stadtmauer. Doch konnte jedes Katapult mühelos alle Geschosse von den Hügeln aus darüber hinwegschleudern. Auch Wachen gab es – jedoch hatte keine auch nur aufgeblickt, als ich spät meinen Fuß auf die Straßen der Stadt setzte. Soldaten, wie sie sich in Aleppo, in Akra, in Damaskus, Bagdad oder Bassora zu Hunderten auf den Straßen herumtrieben, waren hier nicht zu sehen. Waffen, so schien es mir, gab es nur zur Zier, dafür aber schönere als an jedem anderen Ort der Welt. Dolche, reich geschmückt mit Elfenbein und Edelsteinen, zierten hier nicht den Gürtel des Kriegers, sondern den des Kaufmanns.
Gleichwohl hatte ich nicht den Eindruck, dass es sich bei Schirâz um eine Stadt ohne jeden Argwohn handelte. Es gab zu viel von dem, was es in einer rechtgläubigen Stadt von Moslems nicht hätte geben dürfen, das war mir schon am ersten Tag sehr deutlich aufgefallen: Eiferer und Neider, Wucherer und Betrüger, Spieler, Trinker und Gaukler. Nur Huren hatte ich keine gesehen. Aber das konnte auch an den Wegen gelegen haben, durch die mich Saadis Tochter wohlweislich geführt hatte.
Es war sehr frisch in diesen ersten Nächten, da auf den Bergkuppen noch Schnee lag und die Sonne nur die Täler tagsüber in heiße Kessel verwandelte. Umso überraschter war ich, als ich, nachdem ich meine Besorgung erledigt hatte, beinahe über die nur in einen leichten Überwurf gekleidete Zahra gefallen wäre, die sich nahe dem Haus unter einen Baum gesetzt hatte.
»Verzeiht«, sagte ich. »Ich hatte zu dieser Stunde niemanden mehr hier draußen erwartet.« Mir wurde bewusst, wie unangenehm meine Lage war. Hatte sie mich schon die ganze Zeit beobachtet?
»Das ging mir auch so«, sagte sie. »Aber ich hätte damit rechnen können, da ich schließlich wusste, dass Ihr mit meinem Vater eine lange Nacht der Erinnerungen feiern würdet.«
»Ja«, sagte ich. »Das ist wohl ein Ritual, dem man nicht entkommt. Wo sich alte Freunde treffen, erstehen alte Zeiten wieder. Statt sich die Dinge zu erzählen, die sich in der Zwischenzeit ereignet haben, tauscht man das aus, was man schon vor langer Zeit gemeinsam erlebt hat.«