Der Sommer aller Sommer - Thomas Montasser - E-Book

Der Sommer aller Sommer E-Book

Thomas Montasser

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Beschreibung

Eines Tages entdeckt der junge Ingenieur Fabio Contagno unverhofft ein sehr altes Kinderspielzeug, das die Geschicke der kleinen Gemeinde Anghiari in der Nähe von Arezzo völlig auf den Kopf stellen soll. Der seltsame Rhombenkuboakteder, den die Familie Baliani von Generation zu Generation weitergereicht hat, ohne zu ahnen, was für einen Schatz sie besitzt, stellt sich nämlich als das einzige erhaltene technische Objekt heraus, das (mutmaßlich) von Leonardos eigenen Händen erschaffen wurde. Bald richtet das Städtchen im Haus, in dem Leonardo einst zu Gast gewesen ist und das heute von Vittoria Baliani bewohnt wird, voller Stolz ein Museum ein. Den dazugehörigen Museumsladen führt Vittoria mit viel Herzblut. Und auch Fabio entwickelt bald eine Leidenschaft – eigentlich zwei: für den kleinen Laden und für Vittoria. In umgekehrter Reihenfolge natürlich. Schließlich verfällt der heftig verliebte Ingenieur darauf, selbst eigenartige Objekte zu erschaffen: eine Laterna magica, eine Spieluhr, die gleichzeitig Seifenblasen macht, ein Mobile mit flatternden Schmetterlingen, ein Kaleidoskop, das Liebesgedichte »schreibt« oder einen beleuchteten Globus der geheimen Sehnsüchte. Zauberhafte Spielereien, die die Besucher des Museums lieben – und die ja vielleicht auch Vittoria lieben könnte?

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Covermotiv: skattolento-D/Shutterstock.com; stock studio/Shutterstock.com

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Inhalt

Cover & Impressum

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Dreizehntes Kapitel

Das letzte Kapitel

Erstes Kapitel

Vielleicht wären sie sich nie begegnet.

Vielleicht hätten sie nie ein Wort gewechselt.

Doch der Himmel schien sich entschieden zu haben,

in das Rad des Schicksals zu greifen. Und so traten

zwei Menschen ins Leben des jeweils anderen,

die füreinander geschaffen waren.

Der Sommer aller Sommer

Es war nicht mehr als die Entdeckung eines alten, nun gut: eines sehr alten Kinderspielzeugs, die die Geschicke der kleinen Gemeinde Anghiari in der Nähe von Arezzo völlig auf den Kopf stellte. Ein seltsames Objekt, das seit vielen Generationen weitergereicht wurde und mit dem niemand so recht etwas anzufangen wusste, das aber wegzuwerfen sich niemand überwand. Denn obwohl ganz offensichtlich völlig nutzlos, übte es auf seine Betrachter – die Großen übrigens wie die Kleinen – einen eigenartigen Zauber aus, dem man sich nur schwer entziehen konnte.

Und hätte nicht durch puren Zufall ein dem Vernehmen nach ebenso schüchterner wie durchaus begabter Ingenieur Zuflucht vor einem Unwetter unter der Türschwelle der alten Signora Tedeschi gesucht, hätte sie ihm nicht in einem für sie selbst überraschenden Anfall von Menschenfreundlichkeit Schutz unter ihrem Dach angeboten (nun, von Signora Tedeschi wird noch zu reden sein), wäre nicht ihre schmachvoll geschiedene Tochter Vittoria wieder bei ihr eingezogen, weil sie sich keine eigene Wohnung mehr leisten konnte – alles wäre anders gekommen. Entscheidend war freilich, dass der junge Mann, Fabio Contagno, alsbald tat, was er immer tat: Er zeichnete. Dankbar und rücksichtsvoll in einer Ecke der Küche sitzend, um das Unwetter draußen abzuwarten, kritzelte er bei der ihm angebotenen Tasse Kaffee geometrische Figuren in sein Notizbuch.

Vittoria staunte nicht wenig, als sie ihm ein paar selbstgebackene Cantuccini anbot und dabei eine Form entdeckte, die sie kannte. »Interessant, dass Sie das zeichnen.«

»Den Rhombenkuboktaeder?«

»Ich hatte keine Ahnung, wie es heißt«, erwiderte Vittoria und lachte. »Und bei dem Namen wird sich das auch nicht ändern.«

Der junge Mann blickte auf seine Zeichnung und lächelte. »Eine sehr komplexe und faszinierende Form.«

»Finden Sie? Ja, komplex sieht sie aus, das stimmt. Ich fand sie vor allem immer sehr nutzlos.«

»Das Gegenteil ist der Fall, Signorina«, sagte der unerwartete Gast. »Sie ist durch ihre Struktur außergewöhnlich stabil und findet vielfache Anwendung vor allem in Stahlkonstruktionen. Genau genommen hatten wir sogar die ursprünglichen Pläne für die Stahlstreben …« Er unterbrach sich. »Entschuldigen Sie, ich möchte Sie nicht mit unseren technischen Problemen langweilen.«

Vittoria stellte den Teller mit Gebäck auf den Tisch und setzte sich neben ihn. »Dass es zu irgendetwas nützlich sein könnte, hätte ich nicht gedacht. Wir haben es immer nur als Spielzeug betrachtet.«

Fabio Contagni zögerte und entschied sich dann, zuzugreifen. Ein Fehler! Denn in seinem Heißhunger stieß er gegen die Kaffeetasse und verschüttete etwas davon. »Entschuldigung. Das ist mir ausgesprochen peinlich.«

»Ach, kein Problem … warten Sie.« Sie sprang auf und nahm eine kleine Stoffserviette zur Hand, mit der sie zuerst auf den Ärmel seines Jacketts tupfte, um dann über den Tisch zu wischen.

»Danke schön. Sehr liebenswürdig.« Etwas verlegen griff der junge Mann nochmals zum Gebäck – diesmal natürlich, ohne ein Malheur anzustellen – und konnte nicht umhin, es zu loben: »Mhhh, köstlich! Vielen Dank!« Um Augenblicke später zu keuchen: »Ist das scharf! Ent…schuldi…gung…!«

»Oh!« Vittoria brach ein Stückchen von einem der kleinen Gebäcke ab und probierte. »Vermutlich Cayenne-Pfeffer«, stellte sie dann fest, als sei es das Normalste auf der Welt.

»Cayenne-Pfeffer?« Fabio schüttete den Kaffee hinterher und verbrannte sich den Mund. »In … Cantuccini?«

»Scusi. Meine Mutter hat sehr eigenwillige Rezepte.«

Der Ingenieur nickte, räusperte sich, räusperte sich nochmals und heftete dann seinen Blick auf die Zeichnung. Ein kurzes befangenes Schweigen. Dann fand er die Sprache wieder: »Als Spielzeug habe ich es noch nie gesehen.«

»Ich kann es holen«, erklärte Vittoria, die sich ärgerte, dass sie so aufgelöst aussah – ein paar Strähnen ihres zu einem Pferdeschwanz gebundenen Haars hatten sich selbstständig gemacht. Und auch sonst fühlte sie sich in ihrer Putzkleidung reichlich unaufgeräumt. »Vorausgesetzt, ich finde es.«

Sie fand es. Auch wenn es mehrere Cantuccini lang dauerte, was den unerwarteten Gast so wenig störte wie die grau getigerte Katze, die ihm zwischenzeitlich um die Beine strich, sich ebenfalls einige Gebäckkrümel erbettelte und ihn aus großen grünen Augen betrachtete. Es war ein unscheinbares Objekt aus Holz, eine Konstruktion aus mehreren quadratischen und einigen dreieckigen Rahmen, die zusammen etwas bildeten, was wie eine Kreuzung aus Kugel und Würfel wirkte. »Die Quadratur des Kreises«, murmelte Fabio.

»Scusi?«

»Es muss sehr alt sein. Es sieht aus, als wäre es … ich weiß auch nicht. Sehr, sehr alt.« Behutsam nahm er es in die Hand und drehte es vor seinen Augen. Kleine Metallklammern hielten die ineinander gefügten Hölzer zusammen.

»Wir haben alle damit gespielt. Als kleine Kinder, meine ich«, erklärte Vittoria, die sich über die Ehrfurcht wunderte, mit welcher ihr Gast das Objekt betrachtete.

»Und wer ist wir?«

Er hat neugierige Augen, dachte Vittoria. Als wollte er alles ganz genau durchblicken. »Nun … ich, meine Mamma, ihre Schwestern, ihr Papa und so weiter. Ich weiß nicht, wer alles. Es müssen schon einige Generationen sein …«

»Faszinierend«, murmelte Fabio und stellte das kleine Meisterwerk auf den Tisch. »Wissen Sie, wer diese Form erfunden hat?«

Vittoria zuckte die Schultern. »Wissen Sie es denn?«

Er nickte ernst und blickte ihr in die Augen. »Leonardo.«

»Da Vinci?«

»Kein Geringerer.«

»Lustig, dass Sie das sagen. Er soll einmal in diesem Haus zu Gast gewesen sein.«

***

Als das Unwetter endlich vorüber war, hatten beide – Vittoria Tedeschi und der junge Ingenieur – Erstaunliches gelernt. Denn was für die einen ganz gewöhnlich erscheint (etwa, dass man einen unzweifelhaft ziemlich nutzlosen Gegenstand als Kinderspielzeug benutzt), erweist sich für den anderen als ungeheuerlich. Und was für den anderen eine eher banale naturwissenschaftliche Betrachtung ist (etwa, dass es für die Stabilität der Konstruktion keineswegs in erster Linie auf die Dicke der benutzten Streben ankommt, sondern vielmehr auf die Winkel, in denen sie zueinander stehen), wirkt für die einen kaum vorstellbar.

Als der Ingenieur der Regenfront durch die schmale Gasse vor dem Haus hinterherblickte, entdeckte er noch einen Regenbogen, der sich wie ein zauberhaftes Omen über Anghiari wölbte. Auch Vittoria, die vergeblich die Serviette suchte, mit der sie den Kaffee vom Tisch gewischt hatte, erblickte dieses Wetterphänomen und dachte zu ihrer eigenen Überraschung an den Prismaeffekt, als sie aus dem Fenster ihrer Dachkammer schaute. Sie konnte die Schritte des jungen Mannes auf dem alten Kopfsteinpflaster hören, sehen konnte sie ihn von hier aus nicht. Aber sie hatte das Gefühl, als wäre an diesem gewöhnlichen Dienstagnachmittag etwas ganz Außergewöhnliches geschehen, etwas, das ihr Leben womöglich verändern würde! Wie sehr sie mit diesem Gefühl recht hatte, hätte sie allerdings nie für möglich gehalten. Denn es änderte sich nicht nur ihr Leben – und dies auf mannigfache Weise –, sondern auch das Leben des ganzen Dorfes. Doch dazu später.

Fabio Contagno lenkte seine Schritte nicht, wie beabsichtigt, an den Ort, den er eigentlich hätte aufsuchen wollen, sondern nach der Gemeindebibliothek hin, wo ihn eine Frau mittleren Alters wortkarg und mit skeptischem Blick empfing.

»’Giorno.«

»Buon giorno, Signora«, erwiderte Fabio. »Ich bin froh, dass Sie geöffnet haben.«

Die Bibliothekarin blickte ihn über den Rand ihrer Brille hinweg an, fühlte sich aber nicht bemüßigt, darauf zu reagieren.

»Sicher haben Sie allerlei Literatur über Leonardo.«

»Leonardo? Welchen?«

»Den Leonardo, Signora.«

Sie nickte, offenbar zufrieden, dass er nicht einen amerikanischen Schauspieler meinte oder einen Spieler des AS Rom. Also gewährte sie ihm eine vollumfängliche Auskunft: »Si.«

»Etwas zum technischen Werk vielleicht?«, versuchte es Fabio, der sich gleichzeitig überlegte, ob er nicht besser den Weg nach Florenz auf sich nehmen und in den dortigen, reich bestückten Archiven nach Informationen über den Rhombenkuboktaeder suchen sollte.

»Es gibt ein paar Bücher«, stellte die Bibliothekarin klar und deutete mit ihrer Linken in einen düsteren Winkel des Lesesaals (wobei der Saal insgesamt kaum größer war als eine mittlere Speisekammer), ohne sich die Mühe zu machen, dem Besucher die besagten Werke genau zu zeigen.

»Grazie«, sagte Fabio und wandte sich dem Regal zu. Er war der einzige Besucher, den die kleine Gemeindebücherei an diesem Nachmittag hatte, und vielleicht – so zumindest ging es ihm durch den Kopf, während er die Buchrücken studierte – der einzige seit längerer Zeit. Lag es nicht nahe, dass Menschen, die täglich Stunden damit zubrachten, auf Besucher zu warten, etwas sonderbar wurden? Dass die Umgangsformen einrosteten und die Eloquenz nachließ?

Leonardos Zeichnungen. Er nahm den Band heraus, der schon einige Jahrzehnte alt und ziemlich abgegriffen war und von allein etwas jenseits der Mitte aufklappte. Fabio wusste nicht, ob er amüsiert oder empört sein sollte: Es war eine Doppelseite mit anatomischen Zeichnungen, von denen allerdings eine mit schwarzem Papier überklebt war – unschwer zu erraten, welcher Natur die dargestellten Körperteile waren. Wo indes die Zeichnungen sichtbar waren, stellten sie unfassbar detaillierte Abbildungen von Muskeln und Sehnen, Knochen und inneren Organen dar.

Andächtig blätterte der Ingenieur weiter. Es folgten Zeichnungen zu den Themen Proportion und Körperhaltung, Landschaftsstudien, Karten, Architektur und – technische Skizzen!

Als Fabio Contagno wieder aufblickte, stand die Bibliothekarin vor ihm, demonstrativ den Schlüssel in der Hand und eine Augenbraue erhoben. »Wie … wie spät ist es?«, fragte er verwirrt und erhob sich.

»Zeit zu schließen«, erklärte die Frau und unterstrich diese Aussage mit einem Räuspern, das keinen Widerspruch duldete.

»Oh. Verstehe.« Er stand auf. »Sagen Sie … kann man dieses Buch ausleihen?« Er hielt ihr den Leonardo hin wie eine Opfergabe.

Sie sog die Luft ein und schaffte es, auf ihn herabzublicken, obwohl sie mindestens einen Kopf kleiner war als er. »Nur Mitglieder.«

»Verstehe«, sagte Fabio. »Dann würde ich gerne einen Mitgliedsausweis erwerben.«

Sie lachte. Kurz und spitz und freudlos. »Dann kommen Sie morgen wieder.« Damit streckte sie die Hand aus, nahm ihm den schweren Band ab, stellte ihn wieder an seinen Platz im Regal und ging vor ihm her zur Tür. Es war offensichtlich, dass sich eine Diskussion nicht lohnte. Schicksalsergeben folgte Fabio der Bibliothekarin. »Wie lange gibt es die Bibliothek schon?«, fragte er, als sie an ihrem Tisch vorbeikamen.

Einen Moment schien die Frau zu überlegen, ob sie ihm wirklich die Ehre eines Gesprächs zuteilwerden lassen sollte. Doch dann schien es ihr der Mühe nicht wert, es ihm zu verwehren. »Seit genau einhundertzwei Jahren.«

»Bemerkenswert«, flüsterte Fabio ehrfurchtsvoll. »Und Sie sind die Hüterin dieses Grals.«

Sie zuckte die Achseln und deutete zur Tür.

»So viele schöne Bücher. Haben Sie nicht Angst, dass sie eines Tages ein Raub der Flammen werden könnten?«

»Der Flammen?« Nun wanderte auch die zweite Augenbraue in die Höhe.

»Wie die berühmte Bibliothek von Alexandria …«

»Soweit ich weiß, wurde sie von den Arabern in Brand gesetzt.«

»Eine Legende der Christen.«

»Wie auch immer. Vor den Arabern muss sich unsere kleine Gemeindebücherei wohl auch nicht fürchten.«

»Oder die Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar.«

»Wenn man eine ganze Bibliothek mit Holz vertäfelt …« Sie schien vergessen zu haben, dass ein Gespräch mit dem Unbekannten nicht lohnte.

»Moskau!«, rief der junge Mann. »Die Russische Akademie der Wissenschaften … Ein Feuerwerkskörper! Irgendeinen Grund gibt es immer.«

»Vermutlich.«

»Aber wirksame Brandschutzvorrichtungen wären ein wertvolles und vor allem nützliches Gegenmittel.«

»Tja … für dieses Gegenmittel bräuchten wir erst einmal die Mittel.«

Fabio würdigte den Scherz mit einem Lächeln und einem leichten Neigen des Kopfes. »Das ist sicher richtig. Oder jemanden, der sich für Sie verwendet.«

»Für mich?«

»Nun, ich könnte es zumindest versuchen«, erklärte er. »Sehen Sie, wenn ich den Hinweis am Eingang richtig verstanden habe, beherbergen Sie hier auch einen Teil der Bibliothek des Palazzo del Vicario …« Er breitete die Arme ein wenig aus und wandte sich dem hinter ihm liegenden Raum zu. »Man kann also sagen, dieses sei die Bibliothek des Palazzo. Und da es meine Aufgabe ist, verschiedene Umbauten zur technischen Sicherheit des Palazzo auszuarbeiten …« Beredt schweigend blickte er sie wieder an und entdeckte zu seiner Genugtuung ein leichtes Flackern in ihren Augen (und, als er die Hände wieder in die Hosentaschen steckte, mit Schrecken, dass er die Stoffserviette der Signora Tedeschi eingesteckt hatte).

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, schritt die Bibliothekarin nochmals durch den Raum, um wenige Momente später den Band mit Leonardos Zeichnungen in seine Hände zu legen. Sie nickten einander zu, dann verschwand Fabio Contagno durch die bereits im Abenddämmer liegenden Gassen von Anghiari, während Signora Tuttibelli wie seit siebenunddreißig Jahren die Bibliothek hinter sich abschloss, einen Liebesroman von Carla Carlucci heimlich in der Handtasche, und in der Gegenrichtung verschwand, wo sie seit dem Tod ihrer Mutter eine kleine Wohnung in der Nähe der Kirche bewohnte. Dort würde sie den Abend bei romantischer Lektüre und ein oder zwei Gläschen Amaretto verbringen. Oder drei.

***

Anghiari ist eine kleine Gemeinde von nur wenig mehr als fünftausend Einwohnern in den sanften Hügeln der Toskana. Sie gehört zur Provinz von Arezzo und verdankt das bisschen Bekanntheit, das ihr zuteil-wurde, einer Schlacht, die im fünfzehnten Jahrhundert in der Gegend stattfand, und in der Florenz und Mailand um die Vorherrschaft unter den norditalienischen Stadtstaaten stritten (wobei auch der Vatikan und Venedig Truppen schickten). Das Gemetzel endete zugunsten der Florentiner, die darauf ein Gemälde bei Leonardo in Auftrag gaben: Er sollte auf einem Wandfresko für den Palazzo Vecchio die Schlacht von Anghiari darstellen. Sein Werk allerdings wurde nie vollendet und schließlich von Giorgio Vasari zerstört (zahllos freilich die Stimmen, die es in einer verborgenen Kammer hinter Vasaris späterem Fresko wähnen oder zumindest unter dem neu aufgetragenen Putz). So oder so: Das Geheimnis des Gemäldes, das in einer anderen Stadt und unsichtbar ist, ja womöglich nicht einmal mehr existiert hat und sowieso nie fertiggestellt wurde, mehrte den Ruhm Anghiaris und ist heute der Grund, weshalb zumindest im Kreise der Kunstkenner und Verschwörungstheoretiker die kleine Gemeinde einen gewissen Zauber besitzt. Ganz abgesehen natürlich davon, dass sie in der Tat ein außerordentlich schönes Fleckchen Erde ist, das sich nicht ohne Grund zu den Mitgliedern der Vereinigung I borghi più belli d’Italia, also zu den schönsten Orten des an Schönheit so überreichen Stiefels zählt.

Die Gassen Anghiaris sind schattig und kühl, die Menschen – wie in fast allen kleinen Ortschaften dieser Erde – freundlich, aber zurückhaltend, wenn sie nicht (die Touristen haben sich wieder aus den Weinbergen zurückgezogen und sitzen, das Smartphone mit den entzückenden Aufnahmen fest im Blick, auf den Terrassen der Straßencafés und Pizzerien von Arezzo oder Perugia) bei Gianni’s oder im Tortone auf ein Glas Montepulciano eingekehrt sind und ihrem naturgegebenen Temperament freien Lauf lassen. Doch dazu an anderer Stelle.

Signora Tedeschi hat an dieser Art von Zusammenkünften nie teilgenommen (Einwohner, die das Gegenteil bezeugen könnten, wohnen inzwischen überwiegend auf dem kleinen Gottesacker von San Bartolomeo oder ziehen es aus anderen Gründen vor zu schweigen). Überhaupt hat sie sich aus dem öffentlichen Leben weitgehend zurückgezogen. Sehen wir den Tatsachen ruhig ins Auge: Sie ist keine ausgeprägte Menschenfreundin. Und seit der Schmach, dass die Ehe ihrer einzigen Tochter gescheitert ist (das hätte sie gleich vorhersagen können, weil Luigi nun mal ein ausgemachter Schürzenjäger und nicht besonders hell im Kopf war), hat sich dieser Charakterzug noch einmal tiefer eingeschliffen. War sie früher gerne mal beim Friseur gewesen, um sich die Haare machen zu lassen und dem neuesten Dorfklatsch zu lauschen, hatte sie in jüngerer Zeit der Dauerwelle abgeschworen und trug bevorzugt ein Kopftuch wie einst ihre Mutter. In jüngerer Zeit meint dabei genau genommen: seit sie selbst zum Gegenstand des Geschwätzes geworden war. Sie und Vittoria. Sicher, wäre ihre Tochter ein hässliches Entlein gewesen, dann hätte sich die Häme in Grenzen gehalten, dann hätte man sich das Maul über den unmöglichen Kerl zerrissen, der es geschafft hatte, mit der sechzehnjährigen Tochter des örtlichen Tankstellenbesitzers durchzubrennen! Aber Vittoria war nun einmal eine Frau, nach der die Männer sich umdrehten. Legendär der Unfall auf der Piazza del Popolo, als drei Autos und ein Motorroller sich ineinander verkeilt hatten, nachdem ein Windstoß Vittorias Kleid bis zu den Hüften hochgeweht hatte! Dass einer der Unfallbeteiligten der Pfarrer war (der auf dem Roller) und einer der Bürgermeister (damals noch Gianfranco Pazzo mit seinem Mercedes Benz), hatte der Sache zusätzliche Delikatesse verliehen. Und es gab nicht wenige in Anghiari, die überzeugt waren, dass die Niederlage Pazzos bei den Kommunalwahlen und die Abberufung von Monsignore Falliacci (dem man übrigens eine Aufgabe im Priesterseminar von Reggio zugewiesen hatte) in engem Zusammenhang mit jenem Vorfall auf der Piazza del Popolo standen.

Luigi war seit der Scheidung nicht mehr im Ort aufgetaucht, und es ging die Rede, dass er seine junge Geliebte gegen eine Einsiedelei in den Hügeln eingetauscht habe – wenn auch nicht ganz freiwillig –, während das Mädchen auf einem Klosterinternat in Apulien gelandet war. Aber da weder der Tankstellenbesitzer noch Luigis Familie je ein Wort darüber verloren, war es genauso gut möglich, dass die beiden sich in einem Aschram in Indien befanden oder in den Casinos von Wien, Lissabon oder Monte Carlo ihr Glück suchten.

Vittoria jedenfalls hatte mit diesem Kapitel ihres Lebens erfolgreich abgeschlossen. Auch wenn sie damit haderte, mit Anfang dreißig wieder zu Hause zu wohnen, genoss sie die Freiheit, sich nicht mehr jeden Abend Gedanken machen zu müssen, wo ihr Ehemann eigentlich abgeblieben war oder ob er das Familienkonto am Monatszweiten schon wieder geplündert hatte (denn Luigis Hang zu unnötigen, unvorhersehbaren und vor allem fragwürdigen Ausgaben hatte die Ehe von Anfang an belastet). Und so kam es, dass die beiden Frauen alleine ein großes, sehr altes Haus in der Mitte eines kleinen, sehr alten Ortes bewohnten und zwar mehr schlecht als recht über die Runden kamen, das aber überwiegend in friedvollem Einvernehmen. Wenn auch Signora Tedeschi sehr wohl und sehr genau zur Kenntnis nahm, dass ihre Tochter nach wie vor den Männern den Kopf verdrehte und das empörenderweise auch noch genoss! Ob sie nun (Vittoria natürlich) im Morgenmantel auf die Dachterrasse stieg, um Wäsche aufzuhängen und sich dabei von Signor Bergoglio ganz unverschämt begaffen zu lassen, oder ob sie im zu weit ausgeschnittenen Top zwei Häuser weiter zur Bäckerei lief, um den armen Lehrjungen um den Verstand und den Inhaber um den Schlaf zu bringen – Vittoria war umschwärmt, dass es eine Schande war.

Nur sie selbst tat, als würde sie es gar nicht merken. Aber Signora Tedeschi wusste es besser: Keine Frau hätte Blicke nicht bemerkt wie jene, mit denen Vittoria bedacht wurde. Männer waren ja im Allgemeinen schon nicht reichlich mit Intelligenz gesegnet. Aber wenn Vittoria in ihre Nähe kam, waren sie üblicherweise an Blödigkeit kaum zu übertreffen.

Zweites Kapitel

Die Unberechenbarkeit der Dinge

ist das Salz in unser aller Leben. Rückblickend erschien

ihr alles ganz klar, gerade so,

als hätte es nur auf diese Weise geschehen können.

Aber als es passierte, da fühlte sie sich

vom Lauf der Ereignisse überrollt.

Der Sommer aller Sommer

Wie in solchen Fällen üblich, spaltete sich die Fachwelt in zwei Lager: Es gab jene, die – nach Anwendung unterschiedlichster chemischer, physikalischer und kunstgeschichtlicher Analysen – zu dem Ergebnis kamen, dass das Objekt aus der Zeit Leonardos stammte, mit seinen Skizzen nahezu identisch und daher mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von seiner eigenen Hand sei. Und es gab jene, die – unter Anwendung des gesunden Menschenverstands – dagegenhielten, dass es an ein Wunder grenzen würde, wenn ein »Holzspielzeug« fünfhundert Jahre überdauerte. Der Streit wurde mit scharfen Waffen ausgetragen: Fachpublikationen, Kommentaren, Hinzuziehung wissenschaftlicher Koryphäen. Er eskalierte sogar in einigen Interviews und regionalen Fernseh- und Radiobeiträgen sowie dem unvermeidlichen Shitstorm auf beiden Seiten des Meinungsspektrums. Letztlich aber – zweifellos beflügelt durch die Hoffnung – neigte sich das Pendel doch dahin, dass die Authentizität des kunstvollen Gegenstands als gesichert galt. Nicht zuletzt dank dem unwiderlegbaren Argument, dass es in der Geschichte einen Menschen gab, dem man es zutrauen durfte, ein Wunder Wirklichkeit werden zu lassen: Leonardo da Vinci (ein Schluss, der übrigens kurzzeitig zu gewissen Verstimmungen mit den Vertretern der Vatikanischen Museen und ihrem obersten Dienstherrn führte).

Und so kam es, dass eine Expertenkommission, die sich für die Dauer von etwa zehn Tagen zu Beratungen im Palazzo del Vicario in Anghiari zusammengefunden hatte, in ihrem Abschlussbericht feststellte:

Die Welt hat ein neues Kunstwerk von Leonardo da Vinci erhalten! Nach Auswertung aller dem Stand der Wissenschaften entsprechend möglichen Analysen kann die Kommission heute mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststellen, dass der im Dezember letzten Jahres in der Gemeinde Anghiari entdeckte Rhombenkuboktaeder ein Werk des Künstlers ist, das dieser entweder selbst gefertigt hat oder das in seinem persönlichen Auftrag und nach seinen Plänen hergestellt wurde.

Weiter stellt die Kommission fest, dass das Objekt – obwohl es im Laufe der Jahrhunderte mehrfach repariert und in einem Detail nicht mehr fachgerecht zusammengesetzt wurde – im Wesentlichen in seinem Originalzustand erhalten ist, was es zu einem kunsthistorischen Gegenstand von unschätzbarem Wert macht. Soweit bekannt, ist der Rhombenkuboktaeder, von den Gemälden und Zeichnungen abgesehen, das einzige Werk von da Vincis eigener Hand. Diese Einzigartigkeit rechtfertigt es aus Sicht der Kommission, das Objekt nicht einer bestehenden Sammlung einzugliedern, sondern es in den Mittelpunkt einer eigenen Schau zu stellen.

Natürlich umfasste der Bericht der Experten noch zweihundertachtundvierzig weitere Seiten sowie mehrere Dutzend Seiten Anlagen, in denen auch abweichende Meinungen beiläufig aufgelistet wurden.

Für die Familie Tedeschi – die alte Signora, Vittoria und den Kater Fausto – bedeutete das alles, dass sie über Nacht unfassbar reich geworden war, aber nichts davon hatte. Das Objekt an ein Museum oder gar an eine Privatperson zu verkaufen, das kam nicht in Frage. Schließlich war es nicht nur Teil des Weltkulturerbes, es war auch ein lieb gewonnenes Spielzeug der Tedeschis und ihrer Vorfahren gewesen. So etwas verhökert man nicht an den Meistbietenden.

Entsprechend schien die Idee eines eigenen Museums, wie sie der Bürgermeister aufgebracht hatte, schon bald zu sein, wie man es neuerdings immer so befremdlich nennt: alternativlos.

Der Gemeinderat bestellte ein Expertengremium (bestehend aus Carlo Cardelli, dem Büroleiter des Bürgermeisters, der angeblich einige Semester Kunstgeschichte studiert hatte, Loretta Finzi, die mehrere Jahre in der Galleria dell’Accademia in Venedig gearbeitet hatte – als Garderobière, und Antonio Tornello, dem Kassenwart des örtlichen Heimatvereins), um sich mit der Frage der Beschaffung weiterer Exponate zu befassen. Denn nun, da man immerhin im Besitz eines wahrhaftigen Rhombenkuboktaeders war, sollte es ein Kinderspiel sein, weitere Werke von Weltrang aus den Depots der großen Museen dieser Welt an die Wände und in die Vitrinen des Museo Leonardo zu zaubern.

Bis dahin aber, das war allen Beteiligten klar, gab es nur einen sinnvollen Aufenthaltsort für das technische Juwel, das im Hause der Signora Tedeschi aufgetaucht war, nämlich die Bank, wo es sicher verwahrt schlummern würde, bis eine alarmanlagengesicherte Vitrine das Herzstück des Hauses Tedeschi bildete.

Natürlich fiel die Aufgabe, die Gespräche mit der Bank zu führen, Vittoria zu. »Du kannst das besser, Kind. Ich muss immer an seinen Vater denken, den alten Lüstling, wenn ich diesen Romero Panchetti vor mir sehe.« Keine gute Begründung, wie Vittoria fand. Denn nun war sie es, die das Bild eines alten Lüstlings nicht mehr aus dem Kopf bekam, während sie dem führenden (und einzigen) Kundenberater der Banca dell’Umbria gegenübersaß und er mit gierigen Augen auf das harmlose Kinderspielzeug starrte, das zwischen ihnen auf dem Tisch stand. Schon wie er das Wort »Spielzeug« aussprach, hatte plötzlich einen seltsamen Unterton für Vittoria. »Natürlich haben wir einen Safe für Sie, Signorina.«

»Signora.«

»Da schieben wir ihn ganz tief rein.« Er blickte zu ihr auf. »Das Rhombendings.«

»Sie wollen es hierbehalten?« Vittoria zweifelte, ob dieses Gebäude überhaupt sicher genug war für einen solchen Schatz. Denn die Bank war in einem Haus untergebracht, das ähnlich alt war wie ihres. Andererseits: In ein paar Monaten würde das Objekt dann ja dauerhaft – und ohne eine sichernde Stahltüre – bei ihnen stehen und weit weniger geschützt sein.

»Seien Sie versichert, Signora, Sie befinden sich bei uns in den besten Händen. Wir werden Ihren Schatz hüten wie ein …« Er schien nach unverfänglichen Worten zu suchen. »Also, wir passen gut drauf auf.«

»Daran habe ich keinen Zweifel.«

»Das kostet dann …« Er blickte auf seine Unterlagen und nannte eine Summe, die Vittoria so absurd erschien, dass sie lachte. »Ich bin sicher, Sie haben auch noch einen billigeren Safe«, sagte sie, nachdem sie erkannt hatte, dass er es ernst meinte. Doch ihr Gegenüber zuckte die Schultern. »Es hat etwas mit dem Wert des Gegenstands zu tun, den Sie bei uns einlagern wollen. Mit dem unschätzbaren Wert. Das hat …« Er räusperte sich. »Das hat versicherungstechnische Aspekte, wenn Sie verstehen, was ich mei-ne … Deshalb kann ich Ihnen keinen billigeren Safe anbieten. Leider.«

»Sehen Sie, Signore Panchetti, wir mögen zwar jetzt reich sein. Aber wir haben trotzdem kein Geld. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Das schien den Banker auf eine Idee zu bringen. »Und wenn wir Ihnen den Safe kostenlos überließen?«

***

Das Haus der Familie Tedeschi stammte noch aus dem dreizehnten oder vierzehnten Jahrhundert. Es war eines der ältesten von Anghiari und leider seit einigen Generationen nicht mehr wirklich in Schuss gehalten worden. Die Folge war, dass sich die Bewohner aus etlichen Räumen zurückgezogen hatten. Eigentlich eine Schande. Doch angesichts der neuen Pläne, die sich in der Gemeinde regten, auch ein Segen! In Zeiten, in denen die Familie noch zu den reichen Patriziern der Stadt gehört hatte, war das Nachbargebäude dazugekauft worden. Vor einigen Jahrzehnten hatte Vittorias Großvater dort noch eine angesehene Bäckerei geführt. Doch das war lange vorbei. Längst war die Eingangstür vermauert und die Fensterläden waren fest verriegelt. Wo einst der Duft frischen Brotes gelockt hatte, verscheuchte heute abgestandene Luft jeden, der die Räumlichkeiten betrat. Die Ladentheke stand noch an ihrem Ort, doch war sie mit einem vergilbten Laken verhängt. In den Regalen, auf denen köstliches Backwerk präsentiert worden war, lag dick der Staub. Vittoria und ihre Cousinen hatten hier früher gelegentlich Verstecken gespielt. Doch das war lange her, und auch wenn die Erinnerungen daran fröhliche waren, wollte doch der alte Laden keine Nostalgie bei ihr auslösen.

»Ah!«, rief der Bürgermeister und klatschte in die Hände. »Und da haben wir auch schon den Shop.«

»Den Shop?«

»Den Museumsshop!« Ein seliges Lächeln lag auf seinen Zügen, als er den Raum durchschritt. »Perfekt! Und ich weiß auch schon, wer ihn führen wird.« Vielleicht war es doch weniger selig als vielmehr berechnend? Als er Vittoria fixierte, hatte sie jedenfalls sehr den Eindruck, als müsste sie sich in Acht nehmen. »Tatsächlich, Signor Rossi? Aber wir brauchen doch keinen Shop. Wir haben doch gar nichts zu verkaufen.«

»Noch nicht«, erklärte der Bürgermeister triumphierend. »Aber da wird Ihnen ganz sicher noch etwas einfallen.«

»Mir? Ich weiß nicht …« Das Gespräch wurde Vittoria zunehmend unheimlich. Es schien, als hätte der Bürgermeister schon das ganze Museum im Kopf. Haarklein. Bis ins letzte Detail. Und als spielte Vittoria dabei eine Rolle, von der sie noch gar nichts ahnte. Das hieß: Es breitete sich zunehmend Ahnung in ihr aus. »Aber das Haus gehört meiner Mutter«, wandte sie ein. »Mamma muss einverstanden sein mit Ihren Plänen.«

Der Bürgermeister wandte sich zu ihr um. »Gewiss, Signorina. Natürlich. Und das wird sie!« Wieder dieses undefinierbare Lächeln, diesmal sogar verbunden mit einer kleinen Verbeugung, von der Vittoria nicht hätte sagen können, ob sie galant war oder unverschämt. Und hatte Signor Rossis Blick nicht sogar dabei ihren Busen gestreift? »Lassen Sie uns das mit Signora Tedeschi besprechen.« Ohne auf eine Antwort zu warten, ging er voraus und in den anderen Teil des Hauses, wo die alte Dame am Küchentisch saß und Bohnen putzte. »Signora Tedeschi!«

»Signor Rossi. Nehmen Sie doch Platz.« Es war erkennbar, dass die Hausherrin den Gast mit zwiespältigen Gefühlen betrachtete. Einerseits hatte sie immer Argwohn gegen den allzu glatten, allzu doppelbödigen Mann aus Mailand gehegt, der erst seit ein paar Jahren in Anghiari lebte. Andererseits hatte es Salvatore Rossi geschafft, in dieser kurzen Zeit vom Ortsfremden zum Bürgermeister aufzusteigen – und es war nun einmal eine Ehre, den Bürgermeister unter seinem Dach begrüßen zu dürfen. In diesem Sinne fand sich Signora Tedeschi durchaus geschmeichelt, zumal es nicht einfach ein Besuch war, wie man ihn etwa im Wahlkampf gelegentlich über sich ergehen ließ, sondern einer, der echtes Interesse erkennen ließ. Signor Rossi wollte etwas von ihr.

»Und? Welchen Eindruck haben Sie nach der Besichtigung unseres alten Gemäuers?«

»Einen prächtigen, Signora. Sie müssen nur an der einen oder anderen Stelle sanieren, dann steht einer Nutzung als Museum nicht das Geringste im Wege. Sogar für einen Museumsshop ist ja schon gesorgt! Und ich bin sicher, dass Ihre bezaubernde Tochter dort eine wundervolle Gastgeberin sein wird. Sie könnte den Shop sogar in Eigenverantwor-tung …«

»Ich muss sanieren?« Die Augen der alten Frau funkelten ihn kampflustig an. »Weshalb sollte ich?«

»Nun, zum einen brauchen wir einen eigenen Zugang, der alte ist ja zugemauert worden, die Fenster scheinen mir etwas morsch, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben, zum anderen gibt es natürlich Bauvorschriften …«, erklärte der Bürgermeister.

»Das Haus ist sechshundert Jahre alt, Signore.«

»Tja, aber öffentlich genutzte Gebäude …«

»Dann werden wir es eben nicht öffentlich nutzen.«

Vittoria war hinter dem Bürgermeister in die Küche getreten und hatte ihn gerade noch von seiner Idee des Kramladens reden hören. Nun aber wand sich der Mann in seinem eleganten Zweireiher auf seinem Stuhl. »Aber bedenken Sie doch, Signora, wie wertvoll ein solches Museum für unsere kleine Gemeinde wäre. In einem strukturschwachen Gebiet wie unserem … Menschen aus der ganzen Welt werden kommen! Und sie werden in Ihr wundervolles Haus kommen. Werden es wiederbeleben. Denken Sie nur, welche Bedeutung Ihr Anwesen durch diese Einrichtung bekommt …«

»Sie sagen es, Signore. Und für Anghiari.«

»Und für Anghiari.« Der Bürgermeister lehnte sich mit wohlgefälligem Lächeln zurück.

»Und deshalb werden Sie die Sanierung übernehmen.«

»Ich?«

»Die Gemeinde.«

Das Lächeln verschwand. »Aber die Gemeinde, Signora, hat kein Geld!«

»Das habe ich auch nicht. Aber ich bin sicher, Ihr Einfluss auf den Direktor der Banca dell’Umbria ist größer als meiner.« Signora Tedeschi legte ihr Messer weg und wischte sich die Hände an der Schürze ab. »Und jetzt muss ich kochen.«

Dieser kaum verhohlene Rauswurf brachte den Bürgermeister ein wenig aus der Fassung. »Überlegen Sie doch, Signora …«

»Das habe ich, Signor Rossi. Und es ist mir eine Ehre, das Museo Leonardo in meinem Haus zu beherbergen. Zahlen müssen Sie es.«

***

Während die Bauvorhaben in den Häusern der Familie Tedeschi überhaupt erst Form anzunehmen begannen, legten im nahegelegenen Palazzo del Vicario die Arbeiter nach und nach ihre Gerätschaften nieder. Aus unerfindlichen Gründen kamen die Sanierungsarbeiten zum Stillstand.

Wie sehr sich der Ingenieur Fabio Contagno auch bemühte, klare Aussagen über den Stand der weiteren Planungen, über die Zuständigkeiten im Amt für Denkmalschutz oder auch nur in der Stadtverwaltung waren nicht zu bekommen. Stattdessen wurde ihm bedeutet, die Arbeiten »vorläufig« nicht weiter zu verfolgen, man habe »bis auf Weiteres« eine Unterbrechung der Sanierung beschlossen, da »dringendere Aufgaben zu erledigen« seien – unnötig zu erwähnen, dass die Art dieser Aufgaben völlig nebulös blieb.

Fabio Contagno jedenfalls musste einsehen, dass seine Tage in Anghiari zumindest für die nächste Zeit gezählt waren. Er beschloss also, zunächst nach Mailand zurückzugehen, wo das Büro, in dem er beschäftigt war, seinen Hauptsitz hatte. Vorher galt es freilich, noch einige Besuche zu erledigen und einige Angelegenheiten zu Ende zu bringen.

»Signora Tuttibelli«, grüßte er mit einer Verbeugung, als er durch die schmale Pforte der städtischen Bibliothek trat. »Buon giorno.«

»’Giorno.« Sie sah auf und fügte beredt hinzu: »Signore.«

»Ich möchte Ihnen das Buch zurückbringen.« Er legte Leonardos Zeichnungen auf die Theke. »Und mich vielmals bedanken. Eine sehr erhellende Lektüre.«

»Es gibt noch ein anderes Buch …« Sie war schon im Begriff, sich zu erheben und tatsächlich zu den Regalen zu schreiten, in denen sich die Literatur über den großen da Vinci befand. Doch die zögerliche Miene des jungen Mannes ließ sie innehalten. Er zuckte die Schultern.

»So leid es mir wirklich tut«, erklärte er. »Ich muss Anghiari verlassen.« Und auch wenn es absolut nichts änderte, fühlte er sich bemüßigt, zu erklären: »Die Arbeiten am Palazzo sind eingestellt worden. Bis auf Weiteres.«

»Bis auf Weiteres.« Signora Tuttibelli ließ sich wieder auf ihrem Stuhl nieder. »Buono. Das macht sieben Euro.«

»Scusi?«

»Die Leihgebühren.«

»Sieben Euro?«

»Oder haben Sie einen Mitgliedsausweis?«

Fabio begriff, dass es sich nicht lohnte, zu argumentieren. Er hatte etwas davon gefaselt, der Bibliothek zu einer neuen Brandschutzanlage zu verhelfen, hatte sie als Außenposten des Palazzo del Vicario deklariert, hatte Hoffnungen geweckt – und nun stellte sich heraus, dass der feine Herr Ingenieur absolut nichts zu sagen hatte. Konnte er es ihr verübeln, dass sie sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten für die Enttäuschung rächte? »Gewiss«, sagte er deshalb. »Natürlich.« Und kramte in seiner Geldbörse. Sieben Euro. »Es tut mir leid«, murmelte er im Hinausgehen.

Seufzend lief er die Gasse hinab, ohne den sonst so leidenschaftlichen Blick für die Schönheit dieser uralten Gebäude. Als er unvermittelt vor einem riesigen Transparent anlangte, das buchstäblich eine ganze Fassade bedeckte, war ihm deshalb zuerst gar nicht bewusst, wo er stand: Banca dell’Umbria prangte in riesigen Lettern auf den Stoffbahnen, darunter die Hand einer Frau – zierlich, mit perfekt lackierten Fingernägeln, aber dennoch gigantisch groß –, die ein Bündel Geldscheine hielt. Eindeutiger konnte eine Botschaft nicht sein. Zweideutiger auch nicht.

»Das wird noch dauern«, stellte eine Stimme neben ihm fest. Als er sich umwandte, stand neben ihm einer der Bauarbeiter, die er vom Palazzo del Vicario kannte. Emilio. Ein sympathischer Bursche, dem man gerne nachsah, wie chaotisch er sein Werk verrichtete. Denn immerhin: Er war effizient.

»Na ja«, erklärte Fabio. »So ist das eben. Bei uns geht’s ja nun auch nicht mehr weiter.«

»Wir werden sehen.« Emilio startete seine Vespa, die er in der Nähe abgestellt hatte, und winkte ihm zum Abschied. »Ciao, Ingegnere!«

»Ciao, mein Freund!«

»Ihr Freund?« In der Tür, die halb hinter dem Transparent versteckt lag, war die alte Dame aufgetaucht, der das Haus gehörte.

»Ah, Signora Tedeschi! Ich wollte mich verabschieden.«

»Verabschieden? Gehen Sie auf Reisen?«

»Das kann man so sagen, ja. Ich weiß nur nicht, ob ich noch einmal zurückkehre.«

Die Signora musterte den jungen Mann und gab ihm dann ein Zeichen, ins Haus zu kommen. »Aber die Arbeiten im Palazzo del Vicario können doch unmöglich schon zu Ende sein«, stellte sie fest, als er hinter ihr in die Küche trat.

»Das sind sie auch nicht. Aber irgendwer hat in seiner unergründlichen Weisheit festgestellt, dass sie unterbrochen werden.«

»Oh. Und darüber sind Sie nicht besonders glücklich?«

»Das kann man so sagen, Signora.«

Die Hausherrin nickte mit einem rätselhaften Gesichtsausdruck und wies Fabio an, sich auf die Bank am Tisch zu setzen. Das letzte Mal, als er hier gesessen hatte, hatte er Leonardos Artefakt entdeckt. Unwillkürlich blickte Fabio sich um.

»Sie ist nicht da«, sagte Signora Tedeschi.

»Bitte?«

»Meine Tochter. Sie ist unterwegs.«

»Oh. Ich wollte nicht … ich dachte nur …«

»Trinken Sie ein Glas Wein«, entgegnete die alte Dame, ohne auf sein Gestammel einzugehen, und stellte ihm sogleich ein leeres Glas hin, das sie aus einer Flasche mit obskurem Etikett füllte. Immerhin, der Tropfen selbst war ein Fest für die Sinne. Anerkennend nickte Fabio und nippte ein zweites Mal. »Aus der Gegend?«

»Etwas anderes würde ich nie trinken«, stellte Signora Tedeschi fest. »Und erst recht nicht servieren. Möchten Sie auch etwas essen?« Sie deutete auf den Herd, wo mehrere Töpfe und eine Pfanne standen. Erst jetzt bemerkte Fabio, wie köstlich es hier duf-tete – und wie groß sein Hunger inzwischen war. Er hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen, inzwischen war es Abend. Trotzdem sagte er: »Ich möchte Ihnen nicht zur Last fallen.«

»Tja, dann nicht«, erwidert die Signora spöttisch und betrachtete ihn wie ein Studienobjekt. Dann lachte sie. »So hungrig wie Sie aussehen, müsste ich befürchten, dass Sie es nicht mehr bis zu Ihrer Pension schaffen.« Sie nahm einen Teller aus dem Schrank und füllte ihn mit etwas Gemüse und einem Stück Fisch aus der Pfanne. »Panierte Sardine. Ich hoffe, das ist in Ordnung für Sie.«

In einer hilflosen Geste hob er die Arme. »Wie sollte ich da widerstehen.«

Signora Tedeschi setzte sich ihm gegenüber, und Fabio nahm einen ordentlichen Bissen – um sogleich mit den Tränen zu kämpfen. Er keuchte. »Köstlich … Signora«, presste er hervor und fragte sich, ob er jemals etwas gegessen hatte, was so sauer gewesen war.

Ende der Leseprobe