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Eigentlich ist Patrick Iordanescu studierter Komponist. Aber wer braucht schon einen Tonsetzer heutzutage – einen rumänischen obendrein? Deshalb schlägt er sich in Deutschland als Paketbote durch. Als solcher lernt er viel über die Menschen, an die er täglich seine Sendungen zustellt. Besonders neugierig macht ihn eine Unbekannte, die sich ständig Bücher liefern lässt. Als er eines Tages ein Päckchen mit Dessous vor ihrer Tür hinterlässt, ist seine Phantasie nicht mehr zu zügeln. Jetzt will er die geheimnisvolle Frau, die nie zu Hause ist, kennenlernen. Aber das gestaltet sich schwieriger als erwartet … Dafür lernt er eine überaus kluge Buchhändlerin kennen, einen äußerst gewitzten und belesenen Jungen, einen erstaunlichen Lese-Club – und schon bald wird aus seinem Lieferwagen ein Bücherbus, der die Nachbarschaft mit Lektüren versorgt und den Paketboten auf Umwegen seinem Ziel näherbringt. Auch wenn es ein ganz anderes ist, als angenommen.
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© 2022 by Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, Wien
Thiele Verlag in der Thiele & Brandstätter Verlag GmbH, Wien
Covergestaltung: Christina Krutz, Biebesheim a. R.
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Cover & Impressum
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Das letzte Kapitel
Die Lektüren
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Literaturverzeichnis
Okay, genau genommen war es dieses eine Paket gewesen, auf das findige PR-Leute eine hübsche Schleife gedruckt hatten. Im Grunde hielt Victor sich nicht für einen Macho. Jedenfalls hätte er sich nicht für einen Macho gehalten, wenn er jemals auf den Gedanken gekommen wäre, darüber nachzudenken. Dabei dachte er viel über sich nach. Über seine Arbeit. Über seine seltsamen Lebensumstände. Über seine Herkunft, ja, auch das. Und damit stets verknüpft: über sein Schicksal. Denn es war längst nicht so, dass alles in seinem Leben genauso gekommen wäre, wie er sich das vorgestellt hatte. Eher im Gegenteil. Dass er sich damit in Gesellschaft ungefähr des größeren Teils der Menschheit befand, das zu erkennen war er vermutlich noch zu jung. Mit Ende zwanzig betrachtet man sich bekanntlich eher als ebenso einzigartig wie unvergleichlich. Und in gewisser Weise war Victor das ja auch. Wie wir alle.
Dieses Paket also, eher ein Päckchen. Etwa fünfhundertfünfzig Gramm schwer, Victor hatte dafür ein nahezu naturwissenschaftliches Gespür. Vielleicht wäre seine Phantasie gleich losgaloppiert, wäre die Empfängerin zu Hause gewesen. So aber hatte er die Sendung vor ihrer Wohnungstür abgelegt und ihr eine Karte in den Briefkasten geworfen:
»Sendung an Ihrem Wunschort hinterlegt«. Sendung mit aufgedruckter Schleife.
Erst als er wieder im Wagen saß, fiel ihm auf, dass er sich die ganze Zeit vorzustellen versuchte, wie die Empfängerin des Päckchens wohl aussah. Etwas, das ihm nicht oft passierte. Denn an sich ist es nicht sonderlich interessant, zu wissen, wie jemand aussieht, der eine Mikrowelle geliefert bekommt, einen Duschvorhang, zwei Kilogramm Kaffee oder einen Matratzenschoner. Gewiss, manche Sendung sagt einiges über den Empfänger. Mitunter wunderte man sich, was die Menschen sich inzwischen alles liefern ließen, statt es selbst zu besorgen oder selbst herzustellen. Kuchen etwa oder Popcorn. Meist aber war die Zustellung von Päckchen und Paketen eine ziemlich prosaische Angelegenheit, bei der ohnehin kaum Zeit blieb, ein paar Worte zu wechseln – von Gedanken ganz zu schweigen.
Bei einer Lieferung, die vermutlich hübsche Unterwäsche zum Gegenstand hatte, war das offensichtlich anders. Nicht, dass Victor nicht schon häufig Sendungen von Dessous-Marken zugestellt hätte. Aber wenn dann ein mürrischer älterer Herr in der Tür stand oder eine erschöpfte Haushaltshilfe, dann wirkte das nicht sonderlich inspirierend. Namen wie »Rauch/Schlegel« oder »Medzwecki« am Klingelschild lösten offenbar auch kein Feuerwerk an Assoziationen aus. Aber eine verschlossene Wohnungstür, an der »Bianca Martini« stand, darauf sprang zumindest Victors Phantasie offenbar an. Weshalb er am Ende seiner kurzen Mittagspause feststellte, dass sein Sandwich praktisch unberührt neben ihm lag und er sich völlig unabsichtlich einen langen Diskussionsbeitrag im Radio zum Thema »Fliegenfischen im Internetzeitalter« angehört hatte, ohne auch nur ein einziges Wort davon mitzubekommen.
Bianca Martini. Da hatte er schon öfter etwas abgeliefert. Bücher zumeist. Die Frau war so gut wie nie zu Hause. Er fragte sich, ob er sie überhaupt schon jemals gesehen hatte. Jedenfalls nicht in Unterwäsche. Was man übrigens nicht von allen Kunden sagen konnte. Leider. Vor allem Männer kamen ja gerne mal in Unterhosen an die Haustür, die kannten da keine Scheu. Frauen versteckten sich zumindest hinter der Tür, wenn sie wirklich mal öffneten, ohne noch rasch in den Bademantel zu schlüpfen (was sie aber natürlich praktisch immer taten). Victor seufzte. Männer. Die fühlten sich eigentlich immer gestört, wenn der Paketbote kam. Vermutlich lag es daran, dass sie selten bestellten, auch wenn ihr Name auf der Sendung stand. Aber dass Thorben Schmitz den gelieferten Haarglätter oder das Epiliergerät tatsächlich selbst nutzte, daran glaubte Victor nicht. Und dann waren sie meistens unfreundlich und kurzangebunden, nörgelten über eingedrückte Ecken des Pakets, vergaßen das »Schönen Tag noch« – von Trinkgeld ganz zu schweigen.
Es gab ältere Kollegen, die zu berichten wussten, wie sie früher mit vollen Hosentaschen nach Hause gekommen waren, weil man seinerzeit dem Paketboten eine kleine Aufmerksamkeit zuzustecken pflegte. Goldene Zeiten mussten das gewesen sein: nur ein Viertel der Lieferungen, die man heute auf einer Tour hatte, zwischendurch hier und da ein Käffchen, fast überall ein kleines Trinkgeld … Aus heutiger Sicht: paradiesische Zustände. Fürs Nichtstun.
Victor seufzte, ohne zu wissen, ob es nun wegen der Zeitläufte war oder wegen der hübschen Unbekannten in den hübschen Dessous. Wobei natürlich niemand wusste, ob die Unbekannte tatsächlich hübsch und ob es wirklich Dessous gewesen waren oder vielleicht doch nur ein einfacher Schlafanzug. Mit knurrendem Magen biss er von seinem Sandwich ab – Tomate und Rucola, keine gute Idee, weil einem alles entgegenkommt – und startete wieder den Motor. Inzwischen ging es im Radio um Rheuma. Er wechselte den Sender. Chopin. Das passte. Zur Stimmung und zu ihm selbst. Aber dazu später.
Unter den Abertausenden von Paketboten, die täglich die Straßen jedes größeren und kleineren Gemeinwesens durchpflügen, gibt es eines nicht mehr: gelernte Paketboten. Sollte es sie je gegeben haben, sind sie längst verdrängt worden von einer anderen Spezies: hochqualifizierten Menschen, die allerdings in den falschen Disziplinen ihr Auskommen gesucht haben, also Literaturwissenschaftler, Philosophen, Künstler. Oder Musiker, so wie Victor einer war, Student der Komposition, genauer gesagt. Dies auch noch aus einem völlig unbedeutenden osteuropäischen Land. Er würde also einer der zahllosen vollkommen unbekannten Komponisten werden, von denen die Welt völlig unbemerkt bevölkert ist – sofern er nicht letztlich doch als »Quereinsteiger« irgendetwas »Gescheites« begann. Quality Manager eines Call-Centers zum Beispiel. Oder Key Accounter bei einem Vertriebsunternehmen. Und die Wahrscheinlichkeit war nicht gering, dass er früher oder später diesen Notausgang in eine Karriere suchte, die zwar jenseits all dessen lag, was er sich für sein Leben erträumt hatte, die aber zumindest ermöglichen würde, dass er überhaupt lebte.
Als musikalischer Paketbote hatte Victor es immerhin geschafft, auf seiner neuen Tour (die er nun auch schon einige Monate befuhr) einige Sympathien zu gewinnen. Denn natürlich blieb es im Laufe der Zeit nicht aus, dass man mit den Menschen, denen man öfter begegnete, eine wenn auch distanzierte Bekanntschaft schloss. Etwa mit Frau Aschenbach, die ganz am Anfang seiner Tour wohnte und deshalb immer ganz entzückt war, dass ihre Lieferungen schon so früh am Tag kamen. Die alte Dame bestellte regelmäßig alles, was es für Katzen zu bestellen gab. Von Futter über Streu und Spielzeug bis hin zu Spezialbürsten fürs Katzenfell, Kratzbäumen, Schmusedecken, Katzenalben, Ratgebern, Krallenpflegesets, Halsbändern und CDs mit Katzenliedern. Victor hatte sich einige davon anhören müssen und empfand seither eine große Zuneigung zu der Kundin: Wer sich freiwillig solche »Musik« bestellte – in der Annahme, die Haustiere würden sie genießen –, verdiente einen Preis für Selbstlosigkeit.
»Sie blockieren die Ausfahrt, Mann!«
Ein Herr mittleren Alters, vermutlich Anwalt oder Steuerberater, wie so viele in der Gegend, hatte an seine Scheibe geklopft. Victor hob entschuldigend die Hand. Er hatte gar nicht die Absicht gehabt, noch einmal eine Pause einzulegen. Aber irgendwie waren seine Gedanken abermals zurückgeschweift zu dem Päckchen mit der Schleife und von dort zu der Sendung mit den Katzen-Haarschleifen für Frau Achenbach.
Und nun stand er in einer Einfahrt, nur ein Haus weiter von »Bianca Martini«, und versuchte sich tatsächlich an die Melodie eines der Katzenlieder zu erinnern. Eigentlich ein malignes Unterfangen, denn wer einmal diese Art von Ohrwürmern gehört hat, darf sich glücklich schätzen, wenn er anschließend keine psychologische Betreuung braucht. Mit einem Seufzen legte er den ersten Gang ein und ruckte ein Stück nach vorne, sodass der Herr im Dreiteiler seinen Mercedes aus der Einfahrt bekam. Dann stieg er nach hinten und stellte die Pakete für die Neunzehn zusammen. In der Siebzehn wohnte Frau Martini, die heute Abend das Päckchen mit der Schleife vorfinden würde. Ob sie es gleich aufmachte? Ob sie die Sachen gleich anprobierte? Bestimmt würde sie! Vielleicht … Victor ertappte sich bei Gedanken, die ihn nicht nur vom Arbeiten abhielten, sondern die man auch nicht anders denn als völlig unangemessen bezeichnen konnte. Wenn auch aus Gründen, die sich dem jungen Mann zu dem Zeitpunkt bei weitem noch nicht erschlossen.
Es war das Ende eines beschwerlichen Tags, als Bianca Martini sich in den vierten Stock hinaufkämpfte. Wie so oft, war der Fahrstuhl ausgefallen, in dem Altbau keine Überraschung, immerhin hatte der Lift so viele Jahre auf dem Buckel, dass man ihn samt dem Rest des Gebäudes schon vor langer Zeit unter Denkmalschutz gestellt hatte. »Das sollten sie mit mir auch endlich machen«, seufzte Bianca Martini, als sie schließlich vor der Tür zu ihrer Wohnung angekommen war, wo sie auf ein Päckchen hinunterblickte, das der aufmerksame Paketbote aufrecht und ganz innen an den tiefen Türsturz gelehnt hatte, sodass man es wirklich erst entdeckte, wenn man praktisch davor stand. »Soso«, murmelte sie. Es war ja nicht so, dass sie nicht gewusst hätte, was sich hinter diesen Paketen mit den hübschen Schleifen verbarg. Mit einem Lächeln sperrte sie die Tür auf, entledigte sich – noch einmal seufzend – ihrer Schuhe und genoss für einen Moment den kühlen Parkettboden unter ihren glühenden Fußsohlen. Was für ein anstrengender, heißer Spätsommertag! Sie sollte rasch unter die Dusche. Und dann würde sie sich um das Päckchen kümmern.
Dr. Bianca Martini liebte dieses Haus, egal ob der Aufzug funktionierte oder wieder einmal nicht. Sie lebte hier seit ihrer Geburt, war hier aufgewachsen und hatte einige ziemlich leichtlebige Jugendjahre hier verbracht, ehe sie sich voller Leidenschaft ins Literaturstudium geworfen hatte, um Lektorin in einem Verlag zu werden.
Dabei war es nicht geblieben, und dazu war es nicht gekommen: Denn nach der Promotion in Skandinavistik hatte sie ihren Dozenten geheiratet, zwei Kinder bekommen, deren leichtlebige Jugendjahre ebenfalls in diesem Haus verbracht, einen Scotch Terrier, einen Pekinesen und schließlich auch ihren Gatten überlebt, zwei jüngere Liebhaber gehabt, sich dann doch für Fontane und Leopardi als Weggefährten entschieden – nur eine Anstellung in einem Verlagshaus hatte sich nicht ergeben. Stattdessen hatte sie zunächst Unterhaltungsromane im Dutzend lektoriert. Was weniger schaurig war, als es klang und als sie selbst anfangs erwartet hatte. Denn natürlich lernt man aus ihnen sehr viel über die Menschen an sich und ihre Interessen im Besonderen.
Nun aber, im Alter von fast sechsundsiebzig Jahren, hatte Bianca Martini beschlossen, sich von niemandem mehr vorschreiben zu lassen, was sie lesen sollte. Genau genommen hatte sie das schon vor fünfzehn Jahren beschlossen. Noch genauer genommen, war es Dr. Zweier vom Rümenab-Verlag gewesen, der den Beschluss gefasst hatte. Aber wie es sich eben verhält mit Beschlüssen: Sie sind manchmal nicht so schlecht. Zumindest für Bianca Martini waren sie es nicht gewesen.
Weshalb die alte Dame an ihren ehemaligen Auftraggeber, der sich eines Tages ohne nähere Begründung entschlossen hatte, ihr keine Aufträge mehr zu erteilen, stets mit einer gewissen Milde zurückdachte. Die kleine Rente ihres verstorbenen Ehemanns reichte immerhin aus, um sich das Nötigste zu leisten: Bücher. Für den Rest hatte Bianca Martini eine Stelle in einem Teeladen angenommen, weshalb sie sich abends stets einen kräftigen doppelten Espresso machte und den Duft starken Kaffees genoss, der durch die Wohnung zog.
Den jüngsten Roman von Richard Powers unterm Arm, trat sie auf den kleinen Balkon, der zum Hinterhof hinausging, und setzte sich mit ihrem Caffè, dem sie nur ein wenig Mascobado zugefügt hatte, hin, um endlich innezuhalten und den Abend zu genießen. Es versteht sich von selbst, dass ein doppelter Espresso zu vorgerückter Stunde dem Schlaf nicht sonderlich zuträglich ist. Das allerdings focht Bianca Martini nicht an: Sie hatte schließlich nicht vor, allzu bald ein Auge zuzutun. Powers schrieb bekanntlich ausschließlich die opulentesten Romane. Und die alte Dame gehörte nicht zu den geduldigsten Leserinnen. Eher im Gegenteil, sie verschlang Bücher, wollte ganz darin versinken, ja, aber auch bald wieder daraus auftauchen. Denn es warteten ja noch Tausende anderer verlockender Romane, die gelesen werden wollten – von ihr natürlich. Und kein Mensch wusste, wie viel Zeit ihr dafür noch blieb. Wenn es eines gab, was Bianca Martini fürchtete, dann war es, das Buch ihres Lebens womöglich nicht mehr zu erleben. Es wäre aber auch Ärgernis genug, einfach mit dem jeweils in Lektüre befindlichen Werk nicht zu Ende gekommen zu sein, wenn einem der liebe Gott das Licht ausblies.
Entsprechend war es schon spät, als sie schließlich das Buch zuklappte, die Tasse nahm und beides wieder ins Haus trug, um endlich unter die Dusche zu springen, nun gut: zu steigen. Und noch später, als sie – gestärkt von einem schönen Omelett – mit einem Glas Brunello wieder hinaustrat. Leider hatte sie darauf verzichtet, ihr Haar zu föhnen. Und leider war es in der Zwischenzeit frisch geworden, und ein ziemlich gehässiger Wind hatte sich in den Häuserzeilen der Nummern fünfzehn bis einundzwanzig verfangen. Gefesselt von den letzten Seiten des geschwätzigen Powers, machte sich Bianca Martini deshalb nicht bewusst, dass sie im Begriff war, am nächsten Tag im Teeladen auszufallen.
Sie hatte kaum den letzten Satz gelesen, da klingelte es an der Tür. »Ah!«, entfuhr es ihr. Denn erst jetzt fiel ihr das Päckchen mit der aufgedruckten Schleife wieder ein. Sie ließ ihr Buch neben dem leeren Glas draußen liegen und eilte zur Tür. »Frau Wagner! Sie kommen wegen Ihrer Lieferung, richtig?«
»Stimmt«, entgegnete die junge Nachbarin und schlug leicht verlegen die Augen nieder, als sie merkte, dass man erkennen konnte, was das Päckchen enthielt.
»Bestimmt etwas ganz Entzückendes«, meinte Frau Martini fröhlich und drückte ihr die Sendung in die Hand.
»Sehr freundlich, danke.«
»Ich dachte ja, Sie kommen erst in ein paar Tagen zurück …«
Inzwischen schien die Wirkung des Weins die des Kaffees doch zu überflügeln. Die alte Dame blinzelte, spürte einen leichten Schwindel und sogar eine gewisse Kurzatmigkeit.
»Das dachte ich auch«, erwiderte Claire Wagner. »Sonst hätte ich Sie gar nicht mit der Sendung belästigt. Aber leider wurde die Veranstaltung abgesagt. Zu wenige Anmeldungen.« Sie seufzte.
»Das tut mir leid« entgegnete die alte Dame mitfühlend. »Die Leute haben einfach keinen Sinn mehr für Kultur.« Viel wusste sie ja nicht über die junge Frau, die erst seit kurzem im Stockwerk über ihr wohnte. Aber dass sie sich bei ihrem Einzug mit einer Flasche Montepulciano und selbstgebackenen Cantuccini bei ihr vorgestellt und erzählt hatte, dass sie einige Jahre in Paris gelebt habe und nun wieder hier sei, das hatte sie durchaus für sie eingenommen. Als Frau Wagner dann kürzlich gesagt hatte, dass sie für einen Vortrag ein paar Tage verreisen müsse, aber einige Bestellungen tätigen wolle, ob sie wohl die alte Dame als Lieferadresse angeben dürfe, da hatte Bianca Martini nicht gezögert, ihr nachbarlich beizuspringen.
Die junge Frau zuckte die Achseln. »Vielleicht«, sagte sie. »Vielleicht ist es aber auch bloß, weil niemand mehr Zeit für irgendetwas hat.«
»Da sagen Sie was. Ist das nicht merkwürdig? Die Leute kochen nicht mehr, sie kaufen nicht mehr ein …« Bianca Martini konnte einen Blick zu dem Päckchen hin nicht unterdrücken. »Sie stopfen keine Strümpfe mehr, nähen nicht mehr, für alle möglichen Dinge gibt es Roboter – und trotzdem hat niemand mehr für irgendetwas Zeit.«
»Ja«, stimmte die junge Frau Wagner zu.
»Es ist wirklich seltsam.« Ein kurzer Moment des Schweigens. »Danke noch einmal fürs Annehmen!«
»Gerne. Sie können jederzeit meinen Namen als Lieferadresse angeben.«
»Na ja, es sieht nicht so aus, als müsste ich in nächster Zeit verreisen. Aber vielen Dank für das Angebot. Und gute Nacht.« Frau Wagner nahm das Päckchen mit der Schleife und stieg hinauf in den fünften Stock.
»Gute Nacht, meine Liebe«, murmelte Bianca Martini, verwundert darüber, wie es dieser Brunello in sich hatte. Sie würde an diesem Abend nicht noch ein weiteres Buch anfangen, sondern schlafen gehen. Eine weise Entscheidung, denn längst war eine kräftige Erkältung im Anflug.
Zu gerne hätte Victor gewusst, welche Bücher es waren, die Bianca Martini in rauen Mengen bestellte. Die Frau schien ja geradezu eine Büchernärrin zu sein. Es war nicht so, dass der Paketbote nicht auch schon gelegentlich ein Buch gelesen hätte. Aber es hatte sich dann doch mehr um Lektüre gehandelt, wie man sie im Studium brauchte. Fachbücher. Ein Kochbuch immerhin hatte er! Bon Appétit – Die französische Küche. Unkochbar. Aber mit schönen Bildern. Er hatte es öfter mal durchgeblättert. Sonst spielten Bücher nicht die ganz große Rolle in seinem Leben. Auch Facebook nicht mehr. Und das hatte mit Book eigentlich sowieso wenig zu tun. Aber seit der Sache mit dem DessousPäckchen fragte sich Victor, ob nicht auch in einer Büchersendung prickelnde Inhalte stecken konnten. Konnten sie doch, oder?
Bücher hatten außerdem die wunderbare
Eigenschaft, dass sie etwas waren, worüber man sich sehr gut unterhalten konnte. Das hieß: wenn man denn welche kannte. Und das wiederum setzte voraus, dass man ab und zu eines las. Als Victor am nächsten Tag wie so oft die Treppe in den vierten Stock hinauftrabte, in der einen Hand den Scanner, in der anderen die Warensendung eines Versandbuchhändlers, nahm er sich deshalb vor, irgendwann doch einmal ein wenig Zeit in einem Buchladen zu verbringen.
Aus alter Gewohnheit scannte er den Strichcode schon, während er noch auf den Stufen war, und stellte das Päckchen unter den Türrahmen, als er von drinnen ein Geräusch hörte. Sollte Bianca Martini am Ende gar zu Hause sein? In dem Fall natürlich … Er stornierte die Eingabe und nahm das Päckchen wieder hoch, fuhr sich einmal – eher unbewusst – durchs Haar und klingelte. Es dauerte eine kleine Weile, bis hinter der Tür jemand fragte: »Ja … bitte?«
»Hallo! Paketbote!«, sagte Victor und spürte, wie sein Herzschlag sich unwillkürlich beschleunigte. »Ich habe eine Sendung für Sie.«
»Oh … Ja, natürlich. Bitte legen Sie sie einfach hin«, sagte eine leise Stimme von drinnen. »Ich bin krank. Besser, ich stecke Sie nicht an.«
»Ähm … ja … klar«, stotterte der Kurier und empfand eine ebenso spontane wie niederschmetternde Enttäuschung. »Ich … ich lege es vor Ihre Tür.« Schon griff er wieder nach seinem Scanner und hielt ihn über den Strichcode. Bianca Martini, las er. Und dachte, dass nur eine Tür sie von ihm trennte. Andererseits – er hätte gar nicht gewusst, worüber er mit ihr hätte plaudern sollen.
»Ähm … gute Besserung!«
»Danke.« Ein Husten jenseits der Tür, ein Seufzen diesseits. Dann lief er die Treppen wieder hinunter und beschloss, noch am selben Tag eine Buchhandlung aufzusuchen. Er wusste auch, welche. Ganz am Ende seiner Tour, leider schon im Bereich seines Kollegen Ahmed, gab es einen kleinen Laden, der sowieso viel zu wenig Kundschaft hatte. Da würde er sich umsehen.
Zurück im Wagen griff er nach seinem Sandwich – Ei, Mayonnaise und irgendein fragwürdiges Grünzeug, auch nicht besser als gestern – und nach seinem Smartphone, um sich schon mal ein bisschen schlauzumachen, was man zurzeit so las.
Einmal mehr blieb das Sandwich kaum verzehrt, der Mann im Dreiteiler – heute allerdings bloß im Zweiteiler, dafür immerhin war’s ein Zweireiher – scheuchte ihn abermals von seinem Platz in der Einfahrt, und die Zeit galoppierte schneller, als es der Menge der noch ausstehenden Zustellungen zuträglich war. Das lag natürlich vor allem daran, dass es mehr als erstaunlich war, wie unglaublich viele unglaublich spannende Bücher es gab, wenn man sich nur mal die Mühe machte, genau hinzusehen. Wobei: Von genau konnte keine Rede sein. Je mehr Victor an Interessantem entdeckte, umso mehr setzte sich in ihm die Erkenntnis fest, dass er vom Buchmarkt ungefähr so viel sah wie ein Betrachter des klaren Nachthimmels vom Universum – wenn er durch einen Trinkhalm hinaufblickte. Wann immer er auf einen Roman tippte, der ihn neugierig machte, rief er damit automatisch Dutzende anderer Romane auf, von denen ihn mancher mindestens genauso ansprach. Er hätte Stunden damit zubringen können, Kurztexte über den Inhalt von Büchern lesen zu können, ach was: Tage! Dann allerdings hätte ihn vermutlich der Mann im Zweiteiler standrechtlich aus dem Weg geräumt. Weshalb Victor zu dem Schluss kam, dass es wohl doch die bessere Idee war, seine Recherche nicht online, sondern zunächst einmal in einem echten Buchladen zu betreiben, und zwar am besten bei der nächsten Gelegenheit. Also am selben Abend.
Als er endlich mit seiner Tour fertig war, war es schon weit nach sieben Uhr. In einer guten halben Stunde würden die meisten Geschäfte schließen. Vermutlich hatte der kleine Buchladen längst zu. Den Zustellwagen hatte Victor auf dem Fahrzeughof des Zustelldienstes abgestellt und sich dann zu Fuß auf den Weg gemacht. Denn es war ja nicht weit und der Abend war warm und sonnig, eine geradezu fröhliche Atmosphäre lag in der Luft, sodass sich der junge Mann unwillkürlich pfeifend durch die Stadt bewegte – eigene Melodien natürlich. Denn wenn er nicht gerade über seinen Beruf, seinen Kontostand oder geheimnisvolle Päckchen mit aufgedruckten Schleifen nachdachte, spielte eine unbekannte Macht in seinem Gehirn Musik. Manchmal Orgel, manchmal Fagott, manchmal Schlagzeug oder Akkordeon. Und manchmal alles zusammen. Im Grunde waren diese seltsamen Spontankompositionen nichts anderes als der musikalische Ausdruck seiner jeweiligen Stimmungen. Entsprechend melancholisch oder beschwingt spielte die Musik in Victors Kopf und fand manchmal den Weg auf seine Lippen, indem er eine Textzeile oder zwei dazu erfand, die er sang, oder auch nur ein Liedchen pfiff.
So wie an jenem Abend, als er über die Schwelle der kleinen Buchhandlung Die Bücherfee trat, die zu seinem Erstaunen eben doch noch geöffnet hatte, und sich unversehens in einer Welt von Papier wiederfand, die sogleich einen ganz besonderen Zauber verströmte. Bis die Stimme der Buchhändlerin ihn (den Zauber, nicht den Kunden) zerstörte: »Guten Abend.«
Man hat es im Ohr, wenn jemand genervt ist, selbst wenn er etwas Freundliches sagt wie
»Guten Abend«. Und die Frau war genervt. Vielleicht ja, weil sie längst nach Hause hätte gehen wollen, jetzt aber noch ein Kunde die Aussicht auf baldigen Feierabend ruiniert hatte.
»Guten Abend!«, grüßte Victor. Befangen blickte er sich um. Wenn man mit Büchern nicht viel zu tun hat, kann ein Buchladen durchaus einschüchternd wirken. »Ich suche ein Buch.«
»Tatsächlich?«, erwiderte die Buchhändlerin spöttisch und kam hinter der Ladentheke hervor, auf der eine unglaublich alte, ja eher schon antike Kasse prangte, als wäre sie einem Schwarzweißfilm entsprungen (wenn man davon absieht, dass Kassen selten springen – in Buchläden ja leider sogar allzu selten auf).
»Ja«, sagte Victor und ließ den Blick über die vielen Regale schweifen, in denen Hunderte, ja wohl Tausende von Werken standen.
»Es ist nicht für mich.«
»Aha.« Sie hatte das auf der ersten Silbe betont, was Victor ein wenig ärgerte. Denn dadurch klang es, als hätte sie sagen wollen:
»Ich hab’s ja gewusst.«