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Er ist Schauspieler und Regisseur.
Sohn und Bruder.
Doch vor allem ist er ein Spielemacher.
An 365 Tagen im Jahr schlüpft er in eine neue Rolle und schreibt ein eigenes Stück.
Für 365 Tage hält er sich an die selbst auferlegten Regeln und tauscht seine Rollen.
"Einzig du bist der Künstler, der Hauptakteur deiner Geschichte, deines Lebens..."
Der Spielemacher ist ein Mensch, der keine Identität besitzt und deshalb versucht, sich eine eigene zu erschaffen, indem er sich jedes Jahr neu erfindet.
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Veröffentlichungsjahr: 2018
Denn wer Schmerz nie gefühlt'
von dem kein Mitleid erwart'.
Er saß vor dem dunklen Schreibtisch, schrieb im Minutentakt mehrere Sätze und sah manchmal aus dem Fenster. In zwölf Minuten würde das neue Jahr beginnen. Menschen standen auf der Straße. Ausgelassen singend, tanzend, lachend. Sie beglückwünschten sich gegenseitig, denn das war es doch, was jeder sich vom Neuanfang erhoffte: Gesundheit und Zufriedenheit. Und wie sie sich freuten über die bunten Lichter der Leuchtraketen.
Er selbst fand solche Freudentränen lächerlich. Das neue Jahr war für ihn auch nur ein neuer Tag, von den Menschen als Neubeginn definiert. Ansonsten hatten der 31. Dezember und der erste Januar nichts Besonderes an sich. Das Einzige, worüber er sich an solchen Tagen freute, war das Schreiben. Jedes Jahr am 31. Dezember saß er vor seinem geliebten Schreibtisch aus Mahagoni, der vor einem ebenfalls braungerahmten Fenster stand. Nachts wurde er dann von den hellen Streifen am Himmel und den lauten Stimmen draußen aus den Gedanken gerissen.
Morgens wurde die Wohnung zuerst gründlich geputzt, was er den Schimpfwörtern der Nachbarin entnehmen konnte, und dann Festessen besorgt. Vielleicht auch ein wenig Feuerwerkskörper, damit man um Punkt null Uhr so richtig loslegen konnte. Jedes Mal freute er sich zutiefst. Natürlich nicht wegen des neuen Jahres, oder des neuen Tages, sondern wegen seiner neuen Rolle. Die Rolle, die er jedes Jahr neu erschuf. Selbstverständlich war es schwer, alles innerhalb von vierundzwanzig Stunden zu schreiben und nebenbei noch etwas zu essen, zu duschen, die Wohnung zu putzen. In diesem Moment saß er auch vor dem Schreibtisch, schrieb wie besessen und sah gar nicht mehr auf. Das Schreibfieber, das jeder Schriftsteller, jeder Autor und jeder Regisseur kannte, hatte ihn gepackt. Er schrieb - war schon bei ganzen siebenundvierzig Seiten angekommen - und schrieb immer weiter. Er erdachte sich jede mögliche Situation, nur um seine Rolle nach Plan spielen zu können. So perfekt wie nur möglich.
Er war nicht nur Regisseur, nein, er war auch Schauspieler. Schauspieler in seinem eigenen kleinen Film, indem er sich strikt an alle seine Regeln hielt. Womöglich würden seine Mitmenschen aber anders reagieren? Das hatte er auch schon bedacht. Natürlich nur so gut, wie es eben machbar war.
Was wenn sein Umfeld sich anders benehmen würde, als er angenommen hatte? Er schrieb jede erdenkliche Situation nieder, wobei seine Hand förmlich über das Blatt Papier flog, das an manchen Stellen bereits graue Verfärbungen besaß.
Von Zeit zu Zeit suchten ihn Krämpfe heim. Er ignorierte sie, kochte sich einen Kaffee und schrieb unerbittlich weiter. Es machte ihm so viel Spaß, einen neuen Charakter zu erschaffen, jede Situation, die diesen ereilen könnte, zu erdenken, sich so viele Möglichkeiten zu überlegen - dass er es immer wieder von Neuem tat.
Es war, als würde jedes Jahr wieder ein neues Buch verfassen, das genau ein Jahr in seinem Leben beschrieb.
Matthew Kaufmann betrachtete sich im großen Spiegel im Schlafzimmer. Er richtete den Hemdkragen, strich den Anzug glatt und rückte seine Krawatte gerade.
Gleich würde er als seine neue Rolle spielend, rausgehen. Nicht mehr der, der er am vorherigen Tag noch gewesen war. Seine ungewöhnliche Namenskombination hatte er seiner Mutter Judith zu verdanken. Die Halb-Texanerin hatte förmlich darum gekämpft. So eigensinnig wie sie war, hatte sie es auch geschafft, denn ihr Ehemann, Matthews Vater, war anfangs strikt dagegen gewesen. Warum hätte sein Sohn auch einen amerikanischen Namen haben sollen? Thomas wollte einen deutschen Namen für seinen deutschen Sohn. Auch hatte er sich gesorgt, dass man Matthew deswegen später hänseln könnte. Doch Judith hatte es geschafft alle Zweifel aus dem Weg zu räumen und so wurde ihr Kind Matthew Kaufmann getauft.
Matthew hatte, so wie es seine Mutter vorausgesehen hatte, keine Probleme mit lästigen Hänseleien, die ihn womöglich hätten aus der Bahn werfen können und den falschen Weg einschlagen lassen. So wie es bei manch anderen Mitschülern geschehen war.
Womöglich hatte es aber auch daran gelegen, dass Matthew furchtbar einschüchternd gewirkt hatte. Er hatte keine wunderschönen, mit dem Mond um die Wette strahlenden, blauen Augen oder warme haselnussbraune Augen, in die man stundenlang dreinblicken kann. Seine waren in ein klares Grau getönt. Unscheinbar und nichts ausstrahlend. Wahrscheinlich hatte gerade diese Leere die anderen Kinder von ihm ferngehalten, und so hatte er problemlos seinen Weg gehen können, ohne dabei gestört worden zu sein. Ihm war es ganz recht gekommen.
Auch als er erwachsen war, wurde er gemieden. Es lag nicht an seiner Erscheinung, denn Matthew war wahrlich kein hässlicher Mann. Er war rein äußerlich einfach Durchschnitt, was er weder furchtbar noch weltbewegend fand. Es war ihm schlichtweg egal.
Nein, es lag an seinem wechselnden Verhalten. Kannte man ihn nämlich länger als ein Jahr, merkte man sofort die Veränderung in ihm. Er benahm sich stets höflich und nett. Doch waren da gewisse, unübersehbare Abwandlungen an seinem Verhalten, die ihn merkwürdig erscheinen ließen. Die Menschen hielten ihn für anders und wer als anders galt, wurde gemieden. Das wusste jeder. Matthew ebenso. Weiterhin führte er immer seinen Plan durch.
Er liebte es Spiele zu erfinden - und sie natürlich zu spielen.
Als sein Blick an seinen Augen hängen blieb, war es als würde alles rundherum verwischen. Als würde er nicht sich selbst sehen, sondern eine komplett andere Person. Ein warmes Gefühl breitete sich in ihm aus als er sich umdrehte – genau das hatte er gewollt.
Er schloss die Tür hinter sich und ließ den Schlüssel in sein Jackett gleiten, bevor er sich umsah. Die kühle Nachtluft ließ ihn tief ein- und ausatmen. Wie er es doch liebte! Die ganze Atmosphäre war fabelhaft schön, empfand er. Der Mond und die Sterne um ihn herum hoben sich vom Nachthimmel ab und verstreuten etwas Licht auf die Erde. Am Liebsten hatte er die Nacht, denn sie inspirierte ihn am meisten. Für die Einen war die Nacht Finsternis, eine heimtückische Falle. Für Andere jedoch war sie die Heimat, die einen nie verließ und immer erwartete.