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Willy Brandt wird am 1. Januar 1982 der erste Präsident der Vereinigten Staaten von Europa und ist auf dem Höhepunkt seiner Laufbahn. Wie sieht der Vielvölkerstaat mit einer Milliarde Einwohnern aus? Und wie verkraftete Brandt das spurlose Verschwinden seines engsten Mitarbeiters 1978 in Büsum? Ein vertrackter Aufklärungsmarathon beginnt. An Abenteuern aller Art mangelt es nicht - mittendrin steht der Chefermittler Hansen, der auch gern »Leuchtturm« genannt wird. Doch wie gelingt es ihm, einen 40 Jahre zurückliegenden Mord aufzuklären?
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Seitenzahl: 346
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Knut Diers
Der Spion von Büsum
KRIMINALROMAN
Was wäre wennBeim Abriss eines Hauses am Büsumer Kurpark werden im Fundament menschliche Knochen gefunden. Wer ist der oder die Tote, und wie kam die Person ums Leben? Chefermittler Henry Hansen – gerade von Sylt in seine alte Heimat an der schleswig-holsteinischen Westküste in Dithmarschen zurückgekehrt – ist schon bald der Verzweiflung nahe. Er und seine junge, kesse Kollegin Merit Hoyer dürfen zunächst nicht weiterermitteln, denn sie stoßen auf Geheimdienstkreise und eine Spur zu Willy Brandt. Wird es Chefermittler Hansen trotzdem gelingen, den 40 Jahre zurückliegenden Mord aufzuklären? Brandt hatte im Hochhaus von Büsum eine Ferienwohnung und einen engen Mitarbeiter, der Ende 1978 spurlos verschwand. Doch was Brandt politisch gelang, war eine der größten Überraschungen: Er konnte nicht nur früh die beiden deutschen Staaten vereinen – eine Herzenssache – nein, er brachte es sogar zu den Vereinigten Staaten von Europa und wurde deren erster Präsident. Die Menschen waren euphorisch wie lange nicht mehr …
Knut Diers, Jahrgang 1959, hat die Zeit Willy Brandts noch miterlebt. Der studierte Geograph und ausgebildete Redakteur ist in Hannover mit seinem Redaktionsbüro Buenos Diers Media selbstständig. Ihn reizen neben dem Schreiben von Reisebüchern und -führern vor allem fiktive Geschichten. Diesmal lässt er seinen Lieblingskommissar Hansen, den er bereits bei »Wer mordet schon auf Sylt?« einsetzte, in Büsum zu Hochform auflaufen.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Der Spion von Büsum
Wer mordet schon auf Sylt?
Mörderisches Emsland
Lieblingsplätze Ostfriesische Inseln
Lieblingsplätze im Harz
Lieblingsplätze im Weserbergland
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Katja Xenikis / fotolia.com
ISBN 978-3-8392-5906-1
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Willy Brandt gründet die Vereinigten Staaten von Europa
Wer die Stichworte »Willy Brandt«, »Günter Guillaume«, »DDR-Spion« und »Rücktritt« in seine innere (oder externe) Suchmaschine eingibt, landet im Jahr 1974. Der deutsche Bundeskanzler erklärte im Mai seinen Rücktritt. In diesem Buch verläuft die Geschichte jedoch anders und wird höchst spannend, denn Willy Brandt tritt nicht zurück. Das liegt ganz einfach daran, dass es keinen Anlass dazu gibt, denn Ostberlin hat den unerkannten Spion rechtzeitig aus dem Kanzleramt abgezogen. Erstens bringt der nichts, und zweitens ist Willy Brandt so auf Moskaukurs, den dürfen wir nicht gefährden, lautete die fiktive Überlegung. So kann der erste sozialdemokratische Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, der sein Amt im Oktober 1969 angetreten hatte, weiterregieren und zur Verblüffung aller nicht nur beide deutschen Staaten vereinigen, sondern ganz Europa.
Die Realität bis zu diesem fiktiven Wendepunkt im Mai 1974 sah so aus: Brandt hatte sich gerade in Osteuropa einen guten Ruf erworben. Der Kniefall von Warschau im Dezember 1970 als Demutsgeste und der im selben Jahr ausgehandelte Moskauer Vertrag waren der Anfang. Der Vertrag galt als Modell für weitere Ostverträge, mit Polen wurde auch ein entsprechender Vertrag geschlossen. Darin wurden die Nachkriegsgrenzen anerkannt und zugesichert, auf jegliche Gewalt zu verzichten, und das bei der Hochrüstung auf allen Seiten, denn es herrschte schließlich Kalter Krieg. 1972 schlossen die Bundesrepublik und die DDR den Grundlagenvertrag ab, der vielen Bundesbürgern mit Verwandten oder Freunden im Osten Deutschlands Reiseerleichterungen verschaffte. 1973 folgte als letzter Ostvertrag der Prager Vertrag mit der Tschechoslowakei.
Alles nach Mai 1974 ist dann reine Fiktion, wenngleich ein paar Einzelheiten auch in der Realität so abliefen. Brandt war also für Moskau und Ostberlin sowie den übrigen Ostblock ein Garant der Aussöhnung und für ein mögliches Ende des Kalten Krieges. Er sollte unbedingt an der Macht bleiben. Das wünschten sich sowohl die Ostberliner wie auch die Moskauer Strategen. Diese Vertrauensbildung machte Brandts Weg zum großen Europa erst möglich. Dabei kommt Brandt die Schwäche der USA recht gelegen. In seiner – fiktiven – Büsumer Ferienwohnung erfährt er vom Rücktritt Richard Nixons am 9. August 1974 wegen der Watergate-Affäre. Brandt zündet sich eine »Ernte 23« an und schenkt sich einen Dujardin ein. »Das gibt jetzt frische Luft«, soll er dabei sinniert haben. In der gesamten Nachkriegszeit war die Bundesrepublik eng mit den USA verwoben. Sie waren die Besatzer, wenn auch seit vielen Jahren unauffällig. Doch die Westbindung Bonns war eher eine Fessel als eine frei gewählte Möglichkeit. Jetzt, mit einem neuen US-Präsidenten, könnte er diese Bindung etwas lockern, vermutet Brandt richtig.
Brandt war schon immer bekannt dafür, ausgetretene Pfade zu verlassen, Jahrzehnte im Voraus zu denken, dabei aber bestehende Bündnisse und Verabredungen nicht gleich infrage zu stellen. Intellektuell vorn und emotional mitreißend, war er in der Lage, andere Staatsmänner und -frauen auf seine Seite zu ziehen. Für ihn wird die deutsche Einheit schnell zur Wirklichkeit: Am 17. Juni 1978 entsteht ein wiedervereinigtes Deutschland, Brandts Herzenswunsch. Das alles wirft erstaunlich wenige Probleme auf. Das Beste aus beiden Ländern wird umgesetzt. Das reicht vom genialen Abfall- und Recyclingsystem SERO (Sekundärrohstofferfassung) der DDR über kostenlose Kindergartenbetreuung für alle Kinder bis sechs Jahre bis zum halbjährigen Pflichtdienst an der Gemeinschaft für alle jungen Menschen ab 18 Jahren. Allein die Namensfindung für den neuen deutschen Staat bereitet anfangs Probleme. Die Vorschläge reichen von den »Vereinigten deutschen Provinzen« (VdP) über »BDDR« bis zu »Neues Deutschland«. Schließlich heißt das neue Land dann schlicht »Republik Deutschland« (RD). Sitz der Regierung wird Berlin, wohin Brandt dann auch umzieht. Doch ist es nur eine Zwischenstation auf dem Weg zum Vereinten Europa.
Und das entsteht rasch. Am 1. Januar 1982 ist es so weit: Die Vereinigten Staaten von Europa werden gegründet. Es ist das Werk Willy Brandts. Er genießt Ansehen in aller Welt. Er versteht sich darauf, das politisch Mögliche mit dem Denkbaren zu kombinieren. Er hat nicht nur Visionen, er kann sie auch mit Realpolitik untermauern. »Mehr Demokratie wagen«, so lautete ein Motto von ihm. Jetzt wird aus dem Wagen ein Gewinnen, denn Europa wird zur größten Demokratie der Welt. Da liegt es nahe, dass Willy Brandt selbst die ersten zwei Jahre als Präsident diesem neuen Europa vorsteht. Es wird von Prag aus regiert, der neuen Hauptstadt des Kontinents. Das Besondere: Auch Russland gehört zu Europa, zumindest bis zum Ural. Genau dafür hatte Willy Brandt, der mit seiner Ostpolitik früh genug anfing, kräftig geworben. Er fand beim russischen Präsidenten Leonid Breschnew das richtige Verständnis und einen vertrauensvollen Umgang.
Was für ein politischer Meilenstein: Zu Europa gehören Irland, Großbritannien und Portugal als die westlichsten Vertreter genauso wie Russland bis zum Ural im Osten und die Türkei im Südosten. Skandinavien mit Island im Norden gesellt sich ebenfalls dazu. Auch die Schweiz ist dabei. Die neue europäische Hauptstadt Prag wird als unabhängige Zone Europas eingerichtet. Sie hat kulturelle Tradition und als Auslöser des Dreißigjährigen Krieges mit dem »Prager Fenstersturz« eine europäische Dimension, wenn auch eine traurige. Diese aber wird nun besser. Der neue Nabel Europas gewinnt an Format. Die Stadt selbst wächst und inspiriert gerade junge Menschen, sich hier aufzuhalten. Zudem: Prag liegt etwa in der geografischen Mitte des neuen Kontinents.
Der Vorsitz der europäischen Zentralregierung rotiert nach Brandts ersten zwei Jahren dann halbjährlich. Russland erhält mehr Gewicht: Alle sechs Jahre steht für ein Jahr ein russischer Präsident an der Spitze Europas. »Einen besseren Garanten für Frieden gibt es nicht«, hatte Willy Brandt immer wieder gesagt, »als Russland mit dem Westen Europas eng zu verzahnen.« Das scheint nun gelungen.
50 Länder und eine Milliarde Einwohner gehören zu Europa. Es ist damit etwas größer als China, das aber mehr Bewohner hat. Die USA sind etwa auch so groß wie China, dort leben aber nur 300 Millionen Menschen und es werden täglich Hunderttausende weniger. Die traurige Wahrheit sieht überraschenderweise so aus: Amerika hat sich als Global Player weitgehend verabschiedet. Willy Brandt besucht Washington hin und wieder, denn er ist dort zumindest offiziell gern gesehen, das aber nur, weil er für die bankrotte US-Wirtschaft Kredite mitbringt. Als Handelspartner ist Amerika für den Weltmarkt unattraktiv geworden, denn in den USA sind nach der massiven Auswanderung innovativer Firmen von 1974 bis 1984 (»brain drain«) und dem Niedergang ganzer Industriezweige Millionen Menschen arbeitslos. Abschottung, Strafzölle und falsche wirtschaftspolitische Entscheidungen reihenweise lauten die Gründe. Was immerhin noch läuft, ist die Herstellung billiger Massenprodukte. Viele Menschen aller Altersgruppen und Hautfarben haben das Land verlassen; Flüchtlinge sind meist Richtung Europa oder Asien unterwegs. Nur durch extrem niedrig bezahlte Jobs kann die Wirtschaft überhaupt in Gang gehalten werden. Es gibt vielerorts Aufstände, vereinzelt Bürgerkrieg in den größeren US-Städten. Durch ein Referendum spaltet sich Kalifornien ab und wird zum eigenen Staat; die Südstaaten vereinigen sich und die Bundesstaaten im Norden an den Großen Seen schließen sich Kanada an.
Zu gern hätten die USA den Aufstieg Europas zur Weltmacht verhindert. Fast jeder Preis wäre ihnen recht gewesen, Brandts gute Beziehungen zu Moskau zu unterbinden. Auf keinen Fall sollte Russland sich Europa anschließen. Doch dazu fehlen den Amerikanern die Macht, der Mut und die Kraft. Das aufgespaltene Land, eine frühere Weltmacht, liegt wie ein röchelndes Tier in den letzten Zuckungen am Boden. Jetzt müssen die USA bis zur Gründung Europas sogar ihre restlichen Truppen aus Europa abziehen. Zur Gründungsfeier am 1. Januar 1982 bleibt Reagan dann auch fern.
Europa wird hingegen zu einem Weltmarktführer, politisch wie ökonomisch. Oft hat es in der Geschichte solche Zeitfenster für Veränderungen gegeben, diese Jahre von 1974 bis 1984 sind eines davon, ein sehr großes sogar. Nur ist so eine Gunst der Stunde das eine, das andere sind Menschen, die beherzt zugreifen und wissen, was zu tun ist. So ein Mann ist Willy Brandt. Er hat gute Berater um sich, er kann zuhören und sich bei Bedarf auch zurückziehen, um das Gehörte zu filtern und neu zu sortieren. Zudem ist er kein Ideologe. Er weiß, was den kleinen Mann, die kleine Frau, schlicht gesagt: das einfache Volk, bedrückt und was es begehrt. Die Gabe, das in kluge Politik zu verwandeln, ist nicht vielen gegeben.
Brandt hat ein lebendiges, quirliges, demokratisches Europa vor Augen. Es darf auch Widerspruch geben, es muss Opposition möglich sein. Nur so kann im Dialog Neues entstehen. Und dieses Europa ist auf gar keinen Fall etwas Künstliches, die Menschen in den einzelnen Ländern leben es. Einige der Beispiele sehen so aus: Es gibt ein einheitliches Bildungssystem ohne Studiengebühren, mit gleichen Schulinhalten vom Nordkap bis Sizilien. Somit ist ein Schulwechsel höchst simpel. Zudem wird ab der fünften Klasse überall die zweite Amtssprache Esperanto gelehrt. Die ist für alle neu, aber einfach zu sprechen. Sie enthält Vokabeln aus fast allen Sprachen Europas. Die regionalen Sprachen bleiben zudem erhalten, aber wenn sich Menschen verschiedener Länder unterhalten, können sie das immer problemlos auf Esperanto tun.
Es herrscht überall das duale System der Ausbildung von Lehre und Berufsschule. Dieses einst deutsche Modell einer qualifizierten Ausbildung vom Elektromeister bis zum Malergesellen hat sich schnell verbreitet. Auch was die Absicherung angeht, gibt es immense Fortschritte: Alle Europäer sind in einer gesetzlichen Krankenkasse, alle erhalten einheitlichen Mindestlohn. Der Länderfinanzausgleich zwischen ärmeren und reichen Regionen funktioniert. Das ist elementar, denn nur so können die unterschiedlichen Lebensverhältnisse angeglichen werden. Das Verkehrsnetz ist auf schnelle Schienenverbindungen, umweltfreundliche Flugzeuge und innerstädtische Radstraßen gegründet. Autos gibt es auch, aber die Staus werden intelligent vermieden. Zudem ist Reisen schnell und günstig möglich. Das vermeidet Verdruss. Kurz gesagt: Es ist das ganz alltägliche Leben, was sich spürbar verbessert, was die Menschen mitreißt und mit dem Gedanken Europa verbindet. Militärbündnisse gibt es nicht mehr. An die Stelle von NATO und Warschauer Pakt ist eine gemeinsame Außenverteidigung Europas getreten. Doch die hat fast nur symbolischen Wert, denn wer sollte den Kontinent angreifen?
Und der erste Präsident Willy Brandt schwebt als »König der Könige« nicht über allem, sondern besucht die Menschen, redet mit ihnen und den anderen »Königen«. Dieses System, die einzelnen Länder nicht völlig zu entmachten, leitet sich vom alten Persepolis in Persien ab. Dort wurde der erste Vielvölkerstaat der Welt lange Zeit so regiert. Das System kommt deshalb gut an, weil in jedem Land, das zu Europa gehört, die örtlichen Regierungen erhalten bleiben. Sie haben Provinzparlamente wie früher die Bundesländer. Dort können sie über ihre regionalen Belange entscheiden, aber die Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik, der Finanzen, der Wirtschaft und in weiten Teilen der Kultur werden von den nach Prag entsandten Parlamentariern und gewählten Ministern beantwortet. Als gemeinsame Währung ist der Ecu eingeführt.
Es gäbe noch so viel zu berichten, was die junge Demokratie Europa ausmacht, die auch die Urzelle der »Volksherrschaft« einschließt: Griechenland. Um dieses Land aufzuwerten, wird auch dort viel der Vergangenheit gedacht, aber es werden gerade junge Menschen begeistert, es in eine gute Zukunft zu führen. Junge Firmen überziehen das Land. Überhaupt gilt aber: Junge Menschen in ganz Europa erhalten mit 18 Jahren einen halbjährig geltenden Railway-Pass für den Kontinent. Sie müssen durch die Nachbarländer reisen, dort warten Dienstleistungsjobs auf sie, die von einem »Büro für Youroupeans« vermittelt werden. Die Vielfalt der Jobangebote ist riesig und reicht vom Bauernhof bis zur Bandnudelfabrik. Willy Brandt sagte: »Nur wer mit seinen Nachbarn ein gutes Verhältnis hat, wird Frieden finden, und dazu gehört die Begegnung junger Menschen untereinander mit denen im Nachbarland.« In diesem Sinne entwickelt sich allmählich ein Wir-Gefühl für Europa, in dem die Grenzen verschwinden und die Kontrollen innerhalb des Kontinents längst abgeschafft sind, nicht jedoch an den Außengrenzen.
Noch eines gelingt: Europa kann es nur gutgehen, so lautet Brandts Credo, wenn es dem südlichen Nachbarn Afrika Jobs liefert. So gelingt es der europäischen Regierung in Prag, gerade in Nordafrika Kleinindustrien aufzubauen, Manufakturen zu gründen und das Leben der Menschen dort auch kulturell zu sichern. Ein großes Werk, denn viel Kapital fließt aus Europa in den Süden, aber es lohnt sich. Die Menschen bleiben in ihren Ländern, viele kehren sogar nach einer Ausbildung in Europa wieder zurück, wie es von den örtlichen Regierungen geplant und gewünscht ist. So erhält Europa in der Welt schnell das Etikett des Problemlösers, des Zuhörers sowie des demütigen Verhandlers. So wird Willy Brandt auch als Vermittler zwischen Russland und China an der Grenze zu Nordkorea aktiv. Russland östlich des Urals hat sich wirtschaftlich bald mit China verbunden, das Teile seiner Bevölkerung dorthin übersiedeln lässt. Der Wohlstand der Russen hat sich merklich verbessert, was sich auch daran ablesen lässt, dass viele Firmen und Familien im Land bleiben.
China beherrscht den Weltmarkt mit Perfektion, produziert bedarfsgerecht in kleinen Einheiten genau maßgeschnitten und nicht mehr Massenwaren. Diese Rolle haben die USA nun zwangsweise übernommen. Europa zeigt sich als weltoffen, als eine Demokratie, ein Vielvölkerstaat. Es hat für alle Anliegen fremder Völker ein offenes Ohr.
Für Willy Brandt, der wie geplant Ende 1984 als Präsident Europas abtritt, geht ein erfülltes politisches Leben zu Ende. Da ist er 71 Jahre alt und kann sich zur Ruhe setzen. Den Mietvertrag seiner Penthouse-Wohnung im 21. Stockwerk an der Büsumer Küste hat er rechtzeitig verlängert.
Büsum 2019
»So wie du arbeitest, so möchte ich mal Urlaub machen«, poltert Peer Taubald oben in der »360-Grad-Bar« von Büsum drauflos. Der drahtige Mittvierziger mit dem lustigen Schnurrbart und der tätowierten Seejungfrau auf dem rechten Schultergelenk haut dem Kripomann Henry Hansen so kräftig auf den Rücken, dass der aufheult wie eine junge Kegelrobbe. Der 52-Jährige dreht ihm das Gesicht zu und kneift wegen der Sonne ein Auge zu. »Das ist ja fast Beamtenbeleidigung, Peer, setz dich«, meint Hansen trocken.
»Der Herr Kriminal hat wohl keinen Fall zu lösen, da kann er in der Sonne dösen«, dichtet Peer und untermalt das mit einem breiten Grinsen.
Die beiden kennen sich vom Segeln, und Peer ist froh, dass Henry wieder in Büsum lebt. »So viele Jahre als Kripomann auf Sylt, das tut doch nicht gut, oder? Nun bist du ja zurück in deiner alten Heimat, Henry. Du, ich habe eine neue Jolle, die müssen wir uns im Seglerhafen morgen mal ansehen und eine Runde fahren«, schlägt Peer vor. Von seinem skurrilen Hobby erzählt er Hansen heute lieber nichts. Peer Taubald hat seit fast 20 Jahren den Ehrgeiz, ohne Ticket in die teuersten und prominentesten Bereiche aller möglichen Veranstaltungen zu kommen. So etwa tausendmal ist es ihm schon gelungen. »Ich zahle doch keinen Eintritt«, begründet er seine Coups. Doch wie er das anstellt, das verrät er nicht. So hatte Peer schon 14-mal Michael Jackson erlebt, Rod Stewart hinter der Bühne getroffen, war oft bei der Preisverleihung der Goldenen Kamera und mehrfach im Tennis-Mekka in Wimbledon. Als er Henry vor einiger Zeit mal davon erzählte, war der schnell aufgebracht. »Bürschchen, das ist Betrug, ich komme dir noch auf die Schliche«, hatte der Polizist ihm gedroht.
»Wie heißt denn dein gutes Stück?«, will Hansen jetzt wissen.
»Das ist die ›Trischen‹«, verkündet Peer stolz.
»Ach, wie die Sandinsel da draußen in der Meldorfer Bucht, weil du da schon mal stecken geblieben bist, Peer!«, lästert Hansen.
»Du musst immer in alten Wunden bohren, ja, aber meine neue ›Trischen‹, die bleibt nirgends stecken. Also morgen 16.30 Uhr legen wir zusammen ab, okay?«
»Okay, Peer. Mit der ›Trischen‹ einmal um Trischen, wenn das man gutgeht«, antwortet Henry, schmunzelt und haut Peer in den Rücken – eine kleine Revanche. Während Peer geht, genießt Hansen noch etwas von seinem geliebten Büsum. Der Blick auf die Nordsee von der »360-Grad-Bar« aus gefällt Hansen – weit und klar bis zum Horizont an diesem schönen Frühlingstag. »Rüm Hart, klar Kimming«, sagen die Friesen weiter nördlich: großes Herz und weiter Horizont. Das hat Hansen gelebt, als er noch auf Sylt war. Vielleicht sitzt der Kriminaloberkommissar deshalb zu gern morgens hier oben unter den grünen Schirmen der Beachbar. Der Fußweg auf die »Watt’n Insel« führt über einen Steg durch die Familienlagune Perlebucht. Es hat sich in der kurzen Zeit für ihn ein Ritual entwickelt: Hansen trinkt einen Cappuccino und blickt einfach so aufs Wattenmeer. »Funny Girl«, sagt der 52-Jährige dann leise zu sich und schmunzelt. So heißt das Schiff, das jeden Tag um 9.30 Uhr aus dem Büsumer Hafen ablegt und zur Tagesfahrt nach Helgoland aufbricht. Da hinten in der Fahrrinne ist es gerade zu sehen.
Bei »Funny Girl« denkt Hansen allerdings meist an seine alte Liebe Swantje Brackwedel. Sie sind hier in Büsum zusammen zur Grundschule gegangen. Was waren das für schöne Zeiten vor 46 Jahren, erinnert er sich. Später hat er seine Jugendliebe öfter gesehen, die vergangenen drei Jahre auf Sylt sogar fast täglich. Da war er bis vor ein paar Monaten Chefermittler der Kripo in Westerland. »Zehn Jahre Sylt sind genug«, hatte der stattliche Hansen gesagt, der wegen seiner 1,93 Meter Größe auch »der Leuchtturm« genannt wird. Als ausgerechnet in Büsum, dem Ort seiner Kindheit, eine Stelle für ihn frei wurde, zog es ihn sofort zurück. »Büsum ist mein Traum«, bekannte er. Und Swantje? Sie war bis vor ein paar Tagen Bürgermeisterin auf Sylt. Viele dachten, die beiden wären ein Paar, aber es war nur eine Jugendliebe, mehr nicht. Was sie jetzt wohl macht, denkt sich Hansen.
*
Am nächsten Tag kommt es nicht zu dem vereinbarten Törn mit Peer. Das hat einen einfachen Grund: Reste einer Leiche werden bei Baggerarbeiten am Kurpark gefunden. Die Abrissfirma ruft bei der Polizei an. Henry Hansen ist schnell zur Stelle.
»Sieht gar nicht gut aus«, murmelt der Kriminaloberkommissar und wiederholt den Satz wie ein Mantra. Was er sieht, wirft bei ihm sofort tausend Fragen auf und lässt ihn alte Ermittlerkontakte im Landeskriminalamt in Kiel in Windeseile aus der Erinnerung durchgehen. Was soll er mit so alten Knochen anfangen, die nun vor ihm liegen?
Der Baggerführer war bis eben dabei, eines der Häuser am Kurpark abzureißen. Das Zweifamilienhaus liegt in Trümmern; bald soll hier ein schickes Apartmenthaus für Gäste und Zweitwohnungsbesitzer die Gemeinde verschönern. Als die Krallen der Baggerschaufel allerdings am Fundament kratzten, da rollten plötzlich die Knochen eines Skeletts aus einer Art Kammer, die sich geöffnet hatte.
Hansen blickt in einen dunklen Schacht. Der ist muffig und feucht. Es riecht nach faulen Eiern, Schimmel und Kot. Der Oberkommissar leuchtet mit seiner Handytaschenlampe hinein. Er kniet sich hin und beugt sich fast demütig in die Tiefe. »Ach, auch das noch!«, stöhnt Hansen genervt. Der einsetzende warme Frühjahrsregen taucht die gespenstische Szenerie in ein noch trüberes Licht, als sollte der Fund im Dunkeln bleiben und langsam unter Wasser verschwinden. Im engen Schacht sammelt sich rasch zusammenlaufendes Wasser, eine Art Jauche. Jedenfalls stinkt es noch stärker als eben. Hansens Hemd ist triefend nass. »So ein Mist!«, beschwert er sich nur.
Der Oberkommissar lässt alles absperren, telefoniert die Spurensicherung herbei und steht vor vielen Rätseln. Wie lange schon ist diese Person tot? Warum wurde sie hier gelagert? War es überhaupt Mord? Gibt es Hinweise in der Umgebung?
»Det is ja wie im ollen Egüpten«, stellt Merit Hoyer fest, als sie sich den Fundort der Leiche näher anschaut. Die 28 Jahre alte Assistentin Hansens kann ihre Berliner Herkunft nie ganz verstecken.
»Schön wär’s«, widerspricht Hansen, »dann könnten ja die Archäologen ermitteln, und wir wären fein raus. Dies hier, liebe Merit, heißt viel Arbeit.«
Merit wischt sich ihre schulterlangen blonden Haare nach hinten und strahlt ihn an. »Sie schaffen das locker, Chef, wa?«
Die Polizeimeisterin ist heute mal wieder in Plauderlaune. »Bestimmt ist die Leiche uralt, das ist kein aktueller Mordfall, so was hatten wir mal in Berlin, Chef«, beginnt sie ihre Ausführungen, als sie sich auf dem Rückweg zur Polizeistation befinden. »Reinste Knochen, keine Verwesungsreste, uralt, sage ich Ihnen. Rungholt, kennen Sie das, Herr Hansen?«
Der Oberkommissar hebt nur die linke Augenbraue, während er seine an sich liebenswerte Kollegin anschaut. »Du meinst das ›Atlantis des Nordens‹, das in der Marcellusflut im Januar 1362 untergegangen sein soll und sich hier irgendwo vor Büsum befand?«, fragt Hansen gelangweilt nach.
»Bingo, darüber lese ich gerade einen Roman. In der sogenannten nordfriesischen Chronik von Pastor Anton Heimreich von 1666 ist die Rungholt-Sage erstmals erwähnt. An drei Tagen und Nächten wurden Tausende Opfer dieser Sturmflut entlang der Küste. Die änderte sogar ihren Verlauf. Alles ging drunter und drüber. Doch das Unheimliche war: Die Stadt Rungholt lebte am Meeresgrund fort. Wenn Sie heute Ihre Ohren mal oben an der Beachbar spitzen, Chef, dann hören Sie noch Rungholts Kirchenglocken läuten.«
Hansen holt tief Luft. »Nein, die Kirchenglocken höre ich weder da oben an der Beachbar noch hier unten am Kurpark. Rungholt hat es wirklich gegeben, das stimmt, es lag aber wahrscheinlich westlich der heutigen Hallig Südfall. Das ist so 45 Kilometer nördlich von hier, bei Nordstrand Richtung Pellworm, etwas vor Husum. In der Hafensiedlung lebten einst rund 2.000 Menschen und trieben Salzhandel. Ihr Verderben aber war der Torfabbau. Rungholt versank langsam, doch, Merit, mit unseren Knochen hat das alles nicht das Geringste zu tun.«
»Och, warten Se doch mal die Altersbestimmung der Knochen ab, wa. Nachher kommen wir janz jroß raus. Ermittlerpaar aus Büsum klärt 300 Jahre alten Mordfall auf. Rungholt-Atlantis offenbart dat letzte Rätsel. Mensch, Hansen, da säßen wir in jeder Talkshow«, redet sich Merit fröhlich in Verzückung.
Hansen schüttelt nur den Kopf. »Eins stimmt, Merit, wir warten mal das Ergebnis der Rechtsmediziner ab, das wird aber ein paar Tage dauern.«
Der Büsumer Chefermittler hat es sich am nächsten Spätnachmittag wieder in der Beachbar bequem gemacht, diesmal wartet er schweigend auf die Rückkehr der »Funny Girl« von Helgoland. Gegen 18.15 Uhr legt das Schiff wieder im Büsumer Hafen an. »Und dann muss man ja auch noch Zeit haben, einfach dazusitzen und vor sich hin zu schauen«, murmelt Hansen vor sich hin. Diese Blicke aufs Wattenmeer, diese Sonne, wie sie sich langsam wieder dem Horizont nähert, diese Weite und Klarheit, das gefällt ihm. Hansen ist zwar kein Romantiker, aber dieser Meeresgeruch, diese Brise, dieses Salzige, das geht ihm in die Nase und von dort aus offenbar direkt ins Herz.
Und wie das so ist in einem kleinen Ort, in dem sich die meisten kennen: Längst haben die Einheimischen ihre Versionen über die tote Person vom Kurpark entworfen. Sein Kumpel Peer, der gerade von einem Törn mit seiner »Trischen« kommt, setzt sich zu Hansen. »Ist der Tote vom Kurpark der Obdachlose, der vor fünf Jahren verschwand, Henry? Mir kannst du es doch sagen«, quält Peer den Kripomann.
Der runzelt nur die Stirn.
»Und die Bauarbeiten? Du kannst doch jetzt nicht wochenlang alles stoppen, Henry, die Investoren werden dir aufs Dach steigen, das Haus muss fertig werden!«
Henry blickt weiter aufs Meer. »Peer, Dienst ist Dienst und Knallkööm ist Knallkööm.«
Der schaut etwas bedröppelt zurück und meint nur: »Nach Sekt ist mir nicht, aber lass uns einen Wattenläuper nehmen, der kommt wenigstens hier aus Dithmarschen, aus unserer Heimat, und hat 32 Prozent.«
Der Oberkommissar willigt ein. »Holst du welche?«, fragt er. »Auf dem Schild unten steht: ›Wir haben eine sehr freundliche Selbstbedienung‹, also selbst ist der Büsumer, sonst können wir ja lange warten.«
Peer stellt sich an der Theke unten an und holt vier kleine Gläser mit dem Kräuterlikör. Als er die Treppe hochkommt, sitzen außer Hansen noch zwei ihm unbekannte Gäste am Tisch. »Oh, das ist aber freundlich«, spekulieren die beiden. Doch Peer wehrt ab. »Alle vier sind leider schon vergeben, aber die haben unten eine sehr freundliche Selbstbedienung.« Hansen schaut auch irritiert, aber dann trinkt jeder rasch zwei Gläschen Wattenläuper aus. Die beiden Gäste gucken dumm und zucken mit den Schultern. Henry und Peer lachen.
Büsum 1972
Das Hochhaus von Büsum ist einmalig an der schleswig-holsteinischen Westküste: 21 Stockwerke und mit einem grandiosen Rundumblick ausgestattet. Heute würde ich sagen: Es bietet Bilder wie aus einer 360-Grad-Kamera, die unter einer Drohne hängt (später hinzugefügt). Gut, ich gebe ja zu: Von außen sieht es schmucklos aus, eben ein Betonklotz. Es wird in diesem Jahr in Büsum eröffnet. Ja, und? Warum ich mir das aufschreibe? Gerade ist Willy Brandt am Ruder, wie es so schön heißt. Er ist Bundeskanzler und sucht ein Apartment, um sich mal zurückzuziehen. Das wird jeder verstehen, der viel um die Ohren hat. Er will mal seine Ruhe haben. »Das gönne ich mir, so zum Abschalten, da will ich unauffällig Urlaub machen«, gibt Brandt die Order an seine Mitarbeiter im Bonner Kanzleramt, wie ich gerade erfahre. Nach zwei Wochen haben sie es geschafft. Alle Sicherheitsanforderungen der Personenschützer sind erfüllt. Es gibt einen extra Aufzug, der bis ins Penthouse im 21. Stockwerk fährt. Die Wohnung kauft eine Immobilienfirma, die sie an Brandt für zehn Jahre vermietet. Er wohnt dort unter dem Tarnnamen »D. Meyer«, erscheint fast immer ohne seine Familie, denn er will ja abschalten. Brandt hat die Pudelmütze stets tief im Gesicht und bleibt weitgehend unerkannt. Woher ich das alles weiß? Ich habe da so meine Informanten. Aber von Willy Brandt in Büsum, davon wissen eigentlich nur Ole und ich.
Mein Leben läuft hauptsächlich in Dithmarschen ab, da bin ich geboren, da bin ich zu Hause. Dieser einmalig schöne Landstrich liegt ganz oben in Deutschland, dann aber unten links. Dithmarschen breitet sich auf mehr als 1.380 Quadratkilometern zwischen der Elbmündung und der Eider im Westen Schleswig-Holsteins aus. Ganz im Gegensatz zu diesem ruhigen Land sind die politischen Zustände stürmisch.
Willy Brandt hat bei den Neuwahlen nach einem überstandenen Misstrauensvotum 1972 das für die SPD beste Wahlergebnis aller Zeiten eingefahren. Es sind unglaubliche 45,8 Prozent. Das erfüllt mich mit Freude. Ich habe ihn auch gewählt. Für seine Ostpolitik hat er schon ein Jahr zuvor den Friedensnobelpreis erhalten, das finde ich richtig, es ist angemessen. Das verleiht ihm Flügel. »Wir brauchen Wandel durch Annäherung«, skizziert er sein Vorgehen, das aus Offenheit statt Dogmatismus besteht. Das hat uns jungen Leuten in meiner Clique damals wahnsinnig gefallen. Endlich ist dieser Muff der Adenauerzeit vorbei. Es zieht eine andere Stimmung im Land auf. Hier, das habe ich gerade in so einem schlauen Aufsatz gefunden: 60 Prozent der Bundesbürger vertrauen auf Progressivität; es herrscht Fortschrittsenthusiasmus in einer Zeit reformistischen Überschwanges. Irgendein Demokratieforscher hat das herausgefunden. Ich sage nur: Brandt bedeutet Aufbruch, Dynamik, Zukunft. So, und das kleine Büsum ist für Brandt der geheime Rückzugsort. »Hier kann ich bei langen Spaziergängen in der herrlichen Seeluft Kraft tanken«, soll er seiner Frau gesagt haben und verabschiedete sich oft für ein Wochenende in sein Penthouse mit Blick auf das Watt und die Meldorfer Bucht.
Es gibt noch mehr Sturm, was ich nachträglich einfüge, denn 1972 ist mir das nicht so bekannt gewesen, erst jetzt: Während hier in Dithmarschen bei uns Windstille herrscht, tobt in Ostberlin ein heftiger Sturm, und zwar in der Stasi-Zentrale. In Brandts Umfeld hat die DDR einen Spion installiert, der als Referent für Parteiangelegenheiten zwar ganz dicht dran ist am Bundeskanzler, aber kaum brauchbares Material herbeischafft. Markus Wolf, der die Hauptverwaltung des Auslandsnachrichtendienstes der DDR leitet, soll vor Zorn getobt haben: »Jetzt haben wir diesen Günter Guillaume über Jahre aufgebaut, eingeschleust, und nun? Erstens bringt der nichts, und zweitens ist Willy Brandt so auf Moskaukurs, den dürfen wir nicht gefährden! Und mit ›den‹ meine ich den Kurs und auch Brandt. Verstanden?« Wolf zieht Guillaume also folgerichtig sofort ab. Es wird ihm eine Krankheit angedichtet, die ihm Grund zur Kündigung liefert. Was im Westen erst Jahrzehnte später öffentlich bekannt wird, posaunt Wolf gegenüber seinen Abteilungsleitern aus. Er macht seinen Untergebenen 1972 klar: »Wir kaufen doch nicht zwei CDU-Abgeordnete in Bonn, damit der liebe Willy sein Misstrauensvotum übersteht, und gefährden ihn jetzt durch diese schale Nummer. Wenn dieser Guillaume auffliegt, muss Brandt zurücktreten, da haben wir nichts gewonnen, gar nichts.«
Weder Willy Brandt selbst noch der Verfassungsschutz haben offenbar eine Ahnung, was hinter den Kulissen läuft. Dass der enge Mitarbeiter Günter Guillaume krankheitsbedingt kündigt, weckt keinerlei Zweifel. Alle diese brisanten Informationen habe ich von einem Vertrauten. Er hat mir alles erzählt, vielleicht, damit ich es eines Tages einmal aufschreiben kann und der Nachwelt mit auf den Weg gebe. Mein Vertrauter lebt gefährlich.
»Ach, ich muss mal wieder nach Büsum«, pflegt Brandt seinen Mitarbeitern zu sagen. Dann fährt der schwarze Dienstwagen vor und kutschiert ihn die paar Stunden in den Norden nach Dithmarschen. In Büsum wird Willy Brandt unauffällig am Kurpark abgesetzt und geht die paar Schritte allein bis zum Aufzug des Hochhauses. Das habe ich oft genug selbst gesehen, Ole natürlich auch. Brandt ist ja so was von unauffällig. Als wäre er ein Gast, klingelt er bei »D. Meyer«, bedient den Fahrstuhl mit seinem Schlüssel und ist schnell im 21. Stockwerk.
Brandt ist großer Fußballfan. Zur Fußballweltmeisterschaft in Deutschland 1974 sieht er dort oben die entscheidenden Spiele im Fernsehen. Das habe ich erst viel später erfahren, aber es gehört schließlich in dieses Jahr (später eingefügt). »Alleine jubeln, das ist doch nichts«, sagt Brandt grinsend. Deshalb hat er sich seinen Mitarbeiter Siegfried Böhlmann aus dem Kanzleramt mitgebracht. Das Pikante ist schon damals das Politische am Fußball. Da die Bundesrepublik und die DDR in derselben Gruppe spielen, kommt es zum Duell der beiden Länder. Das will Brandt sehen, aber nicht öffentlich. So guckt er sich das am 22. Juni in Hamburg ausgetragene Spiel in seinem Penthouse im Fernsehen an, ist zur Halbzeit wegen des 0:0 noch hochzufrieden, aber dann doch verärgert, als die DDR 1:0 gewinnt. Trost gibt es erst später in der zweiten Runde. Da nämlich verliert die DDR gegen Brasilien und die Niederlande, spielt unentschieden gegen Argentinien. Die Bundesrepublik aber kommt ins Endspiel und besiegt die Niederländer mit 2:1. Brandt gratuliert Trainer Helmut Schön sofort am Telefon.
Die Besuche Brandts in Büsum werden häufiger. Wen er dort so in seinem Penthouse trifft, verrät er niemandem. Die beiden Personenschützer bekommen regelmäßig frei. Wer bei »D. Meyer« klingelte, blieb geheim – vorerst. Brandts Aktenträger aber, der 29-jährige Siegfried Böhlmann, gehört fast schon zum Inventar. Er ist 1945 in Sankt Peter-Ording geboren und somit einer von hier. Er hatte Versicherungskaufmann gelernt und bei mehreren Konzernen gearbeitet. Karriere machen und viel Geld verdienen – das ist sein Ziel. Ja, und Frauen beeindrucken, immer fein gekleidet, immer vornehm, immer höflich. 1,80 Meter groß, dunkle, kurze Haare, das imponiert doch. Böhlmann hatte einen Managerposten bei der BASF, doch dann bewirbt er sich auf eine Stelle als Willy Brandts Assistent. Bingo, es klappte. Ich bin so froh, dass ich ihn kenne (später eingefügt).
Einmal, es ist am 9. August 1974, kommt Brandt allerdings allein. Er steht oben in seiner Wohnung und blickt aufs Meer. »Im Westen nichts Neues, nur Nebel«, soll er amüsiert festgestellt haben. Die Sonne verabschiedet sich in einen Schleier hinein, der das Wattenmeer verhüllt. Das weiß jeder Büsumbesucher zu schätzen. Doch dann kommt das Unerwartete: Weit im Westen, in den USA, gibt es durchaus Neues.
Diesen Absatz habe ich auch später noch drangeklebt: Sein abhörsicheres Telefon klingelt. Das Kanzleramt ist dran. «Hör mal, Sensation aus Washington«, sagt sein Sprecher, »Richard Nixon ist zurückgetreten. Die Watergate-Affäre fordert ihren Tribut.«
Brandt tut verwundert. Er gibt bei seinem Sprecher rasch eine kurze Erklärung in Auftrag, die er ihm gleich zur Kontrolle noch zufaxen solle, bevor sie an die Presse ginge. Dann sucht er eine volle Packung Zigaretten »Ernte 23« und zündet sich eine mit einem der langen Streichhölzer an, die am Kamin liegen. Dazu schenkt er sich einen Dujardin ein und setzt sich in den Ledersessel mit Fußbank, die Richtung USA zeigt. »Das gibt frische Luft«, sinniert er in den aufsteigenden Zigarettenrauch und meint seine neuen politischen Gestaltungsmöglichkeiten. Ja, wie wunderbar, denke ich: In der gesamten Nachkriegszeit war die Bundesrepublik eng mit den USA verwoben. Sie waren die Besatzer, wenn auch seit vielen Jahren unauffällig. Die Westbindung Bonns war eher eine Fessel als eine frei gewählte Möglichkeit. Doch mit einem neuen Präsidenten könnte er diese Bindung etwas lockern, vermutet Brandt richtig. Und fortan tun sich für den Bundeskanzler viele neue Wege auf – absolut spannend!
Büsum 2019
Zwei Wochen sind seit dem Knochenfund im Fundament des Abrisshauses am Kurpark vergangen, da präsentiert die Rechtsmedizin endlich ihr Ergebnis. Merit ist ganz aufgeregt: »Das ist ja so spannend wie kurz vor Verkündung der Abiturnote.«
Ihr Chef Henry Hansen ist da nüchterner. »Es war ein Cousin von Tutanchamun, so 1300 vor Christi wegen Dürre verhungert und in Büsum aus dem Papyrusboot gerutscht – wäre das so dein Traumergebnis, Merit?«, ulkt Hansen.
Die junge Kollegin muss tatsächlich lachen. »Ich mag ja Ihren Humor, Chef. Sonst wäre ich doch gar nicht hier, die Provinzhauptstadt Berlin hätte ich nie verlassen, na ja, die gesunde Seeluft hilft meinen Bronchien schon, aber Sie sind doch mein Stern.« Sie zwinkert ihm mit ihren grünen Augen verführerisch zu.
Hansen schmunzelt bei so viel Charmeoffensive, wendet sich aber wieder seinem Tablet zu, auf dem die Ergebnisse detailliert aufgeführt sind. Die Leiche ist männlich, zeigt keine Einwirkungen von Gewalt, an den vollständig vorhandenen Knochen befinden sich vereinzelt Gewebereste. Das reicht aber nicht, die Person zu identifizieren. Der Todeszeitraum wird dank der Knochenanalyse mit 1975 bis 1978 angegeben, also vor mehr als 40 Jahren. Der Abgleich mit der europaweiten Vermisstenkartei habe bisher auch keine Ergebnisse gebracht, schreibt der Gerichtsmediziner. Kleidung ist nirgends zu finden gewesen. Einzig das Gebiss könnte helfen. »Ich habe den Röntgenstatus in den ›Zahnärztlichen Mitteilungen‹ veröffentlichen lassen und warte auf Rückmeldungen von Zahnärzten«, berichtet der Pathologe, »doch große Hoffnung habe ich da nicht, denn 40 Jahre oder mehr, das ist viel zu lange her. Die Aufbewahrungsfrist von Behandlungsunterlagen der Zahnärzte, die liegt bei zehn Jahren.«
Hansen schüttelt den Kopf. Wie vermutet, wird es ein langer, schwerer Weg, den Toten zu identifizieren.
»Och, schade, doch Ihnen wird schon was einfallen, Chef, Sie sind doch clever, wa?«, garniert Merit die säuerliche Miene von Hansen mit aufmunternden Worten. »Sie wissen doch: Am Ende wird alles gut, und wenn es nicht gut ist, dann ist es noch nicht das Ende.« Merit blickt ihren Chef wieder ganz verliebt an, doch der zuckt nur mit den Schultern. »Schön hast du das gesagt, Merit, das merke ich mir.«
Merit wendet noch ein: »Wir wollen ja genau sein, Chef, das ist gar nicht von mir, sondern von John Lennon. Everything will be okay in the end. If it’s not okay, it’s not the end.«
»Na dann, liebe Merit, sind wir ja noch ganz am Anfang oder sogar noch weit vom Anfang entfernt«, stöhnt Hansen. Er verabschiedet sich auf seine »Watt’n Insel« und genehmigt sich ein paar Muscheln mit Weißwein. Fast verschluckt er sich beim ersten Nippen am Chardonnay, weil Peer ihm wieder in den Rücken haut. »Na, die baggern ja wieder am Kurpark, hast du den Toten identifiziert?«, fragt der Segler-Freund.
»Ja, eindeutig ein Cousin von Tutanchamun, so um 1300 vor Christi ist er in der Meldorfer Bucht vom Papyrusboot gerutscht, ist dann geborgen worden, und die Leute im Haus am Kurpark wollten mit ihm ein Museum eröffnen, noch weitere Fragen, Peer? Dann später, meine Muscheln werden kalt«, entgegnet Hansen leicht unzufrieden.
Peer nickt nur kurz und zieht die Stirn kraus. Dann sagt er keck: »Ach, übrigens, ich war vorgestern in Hamburg bei Depeche Mode, seit 1976 sind die aktiv, Wahnsinn, oder? Ich mag ja die Musik. ›Playing the Angel‹ oder ›Sounds of the Universe‹ – chic. Und ich war natürlich in der ersten Reihe, wieder ohne Ticket. Kostenlos, mein Lieber, das war der 1010. Eintritt ohne, ich führe genau Buch.«
Hansen isst zwar seine Muscheln, stöhnt aber jetzt auf, denn das nervt ihn an diesem Peer. Dieses Angeben mit erschlichenen Eintritten ärgert Hansen vor allem, weil er nicht weiß, wie er das anstellt. »Du schnorrst dich in diese Auftritte und bist auch noch stolz drauf. Bist du wenigstens schon mal erwischt worden und gleich rausgeflogen, Peer? Das würde ich dir ja gönnen!«
»Nö, manchmal habe ich Herzklopfen, aber es hat immer geklappt. Wenn ich in Rente bin, dann erkläre ich dir den Trick, Henry.«
Die Antwort Hansens folgt sofort: »Und bevor ich in Rente bin, sitzt du deshalb hinter Gittern, ist ja wohl unverschämt.«
Hansen geht noch in seinen Volkshochschulkurs. Er lernt Esperanto. Das ist die zweite Amtssprache in Europa, und das ist schließlich schon seit mehr als 37 Jahren vereint. Doch der 52-Jährige tut sich immer noch schwer damit. »Ich kann noch nicht so fließend sprechen, wie ich möchte«, gesteht er sich ein. Dann murmelt er: »Deutschland heißt germanio, Polizei ist polico, und amo ist die Liebe, eigentlich einfach.«
Merit verbringt ihren Abend dagegen auf der Kart-Bahn am Hafentörn. Da ist sie zwar eine der Älteren mit ihren 28 Jahren, aber es macht ihr Riesenspaß. Dann genießt die Polizistin noch frischen Matjes in »Kolles Altem Muschelsaal«. Vor den Tausenden von Muscheln, die ein Büsumer Malermeister vor 100 Jahren an die Wand klebte, lässt Merit es sich am liebsten schmecken. »Diese Muscheln haben Seeleute aus aller Welt hierher nach Büsum gebracht«, sagt sie staunend ihrem Chef am nächsten Morgen.
»Da kleben sogar ein paar von mir aus Hawaii«, behauptet Hansen, »ich bin schließlich hier aufgewachsen, Büsum, meine alte Liebe. Nach dem Tod meiner Mutter wohne ich jetzt im alten Reetdachhaus meiner Kindheit, da in Deichhausen habe ich noch einen Sack voller Muscheln aus allen möglichen Ländern entdeckt. Vielleicht sollte ich die auch mal an die Wand kleben, Merit. Magst du Muschelräume?«
»Ja, unbedingt, Chef. Sie erinnern mich an Meer und Weite, an Salz und Brandung, finde ich super romantisch. Kleben Sie nur, ich gucke mir das gelegentlich mal an. Ach, was machen wir denn jetzt mit den Knochen? Sie hatten doch Zeit zum Nachdenken.«
Hansen guckt der Kollegin in die großen, grünen Augen. »Nee, hatte keine Zeit, ich habe gestern Muscheln oben in der Beachbar gegessen, auf das zurückkehrende Helgoland-Schiff geschaut, die ›Funny Girl‹, du weißt, da denke ich immer an Swantje, meine Jugendliebe, und was, meinst du, passierte? Sie rief in dem Moment an.« Hansen erzählt noch etwas mehr von der Frau, die nach ihrem Abgang als Sylter Bürgermeisterin ratlos ist und auf Hansens Angebot eingehen will, nächste Woche ein paar Wochen bei ihm im Reetdachhaus zu wohnen – in der Einliegerwohnung, versteht sich, mit getrennten Eingängen. Zwei Singles unter einem Dach.
»Na, Chef, was das wohl wird?«, unkt Merit und reibt sich lächelnd die Hände.
Hansen zuckt die Schultern. »Jugendliebe, sage ich doch, mehr ist da nicht.«
Nur gibt es da noch ein Detail von der Gerichtsmedizin, das Hansen gegenüber Merit gar nicht erwähnt hat. Der Pathologe rief ihn heute Morgen an und sagte: »Hansen, mir ist da an dem Gebiss noch etwas aufgefallen. Zwei verlagerte Eckzähne. So etwas gibt es ganz selten. Diese Eckzähne liegen tief im Gaumen und sind nicht herausgewachsen, sie sind offenbar nie behandelt worden. Heute würde man sie freilegen und mit Gummi und Spange in den Zahnbogen einwachsen lassen oder gleich ganz herausziehen. Bei diesem Mann sind sie unbehandelt. Das müssen Sie sich vorstellen, das ist so selten wie ein Sechser im Lotto. Daran erinnert sich jeder Zahnarzt, jeder, wenn er mal ein Röntgenbild vom Gebiss gemacht hat. Vielleicht haben wir Glück bei unserer Suche. Ich halte Sie auf dem Laufenden, Hansen.«
Büsum und Zypern 1974 bis 1976
Siggi erzählt mir, dass Willy Brandt Mitte August 1974 Büsum plötzlich verlassen muss. Von Hamburg aus fliegt Brandt also nach Nikosia. Türkische Truppen waren schon am 20. Juli 1974 auf Zypern gelandet, um die im Norden der Insel wohnenden Inseltürken zu schützen, wie es hieß. Für den Friedensnobelpreisträger ist es ein Grund, den Konflikt zwischen den Griechen im Süden des Mittelmeereilands und dem türkischen Norden zu schlichten. Die griechische Junta hatte Erzbischof Makarios gestürzt und einen neuen Präsidenten installiert. Es kommt tatsächlich zum Schusswechsel zwischen den beiden NATO-Staaten Türkei und Griechenland auf Zypern. In der Zeitung lese ich: Brandt kann schlichten, erwirkt einen Waffenstillstand und es wird eine Sicherheitszone eingerichtet.
Brandt quartiert sich für einige Tage im Forest Park Hotel in Platres im Hochland Zyperns ein. Das Troodos-Gebirge gefällt ihm. Der Hotelier Hercules Skyrianides ist recht unterhaltsam und zeigt Brandt seine Suite.