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Dass ich Soldatin bin, finden die Menschen bestenfalls exotisch, oft merkwürdig und für einige wenige bin ich gestört, martialisch, eine Kampflesbe oder ein Neonazi. Ich bin daran gewöhnt und kann damit umgehen. Bei dir, Taft, ist es jedoch anders. Ich bin mir sicher, dass du eigentlich nicht so tickst. Hinter all deinen Fragen verbirgt sich eine einzige, über die du bislang nicht und dafür heute die ganze Nacht nachgedacht hast, aber für deren Beantwortung du viel zu betrunken bist: Wofür würdest du kämpfen? "Diesen Namen muss man sich merken: Husch Josten formuliert klar, mit Temperament und warmer Intelligenz." FELICITAS VON LOVENBERG, FAZ "Wenn die Kölnerin Husch Josten von den Spielarten der Liebe erzählt, dann durchmisst sie nicht nur Hoffnungen und Enttäuschungen, sondern die ganze Welt." WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG Daniel Taft verliert die Orientierung. Sang- und klanglos von seiner gerade erst geheirateten Frau verlassen, gibt der Dreißig-jährige die solide Karriere und das schöne Leben in Paris auf, zieht in Veronikas deutsche Heimatstadt, hofft und wartet dort auf ihre Rückkehr. Was zunächst ein Akt der Verzweiflung ist, erweist sich als Beginn einer Karriere mit ungeahnten Möglichkeiten. Neue Bekanntschaften und insbesondere eine resolute junge Soldatin stellen ihn auf die Probe. Themen, die ihm fern liegen, verlangen bald schon Tafts ganze Aufmerksamkeit, und er begreift: Das eigene, kleine Leben ist Teil eines größeren, das private ein Teil des politischen Lebens. Husch Josten erzählt in ihrem Roman die kuriose Lebens- und Liebesgeschichte eines Mannes, der nichts will und alles erreicht. Dabei zieht sie ihre Leser nicht nur in das spannende Beziehungsgeflecht ihrer Figuren, sondern auch mitten hinein in die Verwicklungen politischer Zeitläufte. So stellt sich am Ende die Frage: Wie tadellos kann ein Leben im 21. Jahrhundert sein?
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© Brigitta Leber Poisonpix
Husch Jostengeboren 1969 in Köln, studierte Geschichte und Staatsrecht und arbeitete als Journalistin. Heute lebt sie als Schriftstellerin in Köln. Ihr Debütroman »In Sachen Joseph« (2010) wurde für den aspekte-Literaturpreis nominiert. 2012 legte sie den vielgelobten zweiten Roman »Das Glück von Frau Pfeiffer« vor; 2013 erschienen die Kurzgeschichten »Fragen Sie nach Fritz«.
Dass ich Soldatin bin, finden die Menschen bestenfalls exotisch, oft merkwürdig und für einige wenige bin ich gestört, martialisch, eine Kampflesbe oder ein Neonazi. Ich bin daran gewöhnt und kann damit umgehen. Bei dir, Taft, ist es jedoch anders. Ich bin mir sicher, dass du eigentlich nicht so tickst. Hinter all deinen Fragen verbirgt sich eine einzige, über die du bislang nicht und dafür heute die ganze Nacht nachgedacht hast, aber für deren Beantwortung du viel zu betrunken bist: Wofür würdest du kämpfen?
»Diesen Namen muss man sich merken: Husch Josten formuliert klar, mit Temperament und warmer Intelligenz.«
FELICITAS VON LOVENBERG, FAZ
»Wenn die Kölnerin Husch Josten von den Spielarten der Liebe erzählt, dann durchmisst sie nicht nur Hoffnungen und Enttäuschungen, sondern die ganze Welt.«
WESTDEUTSCHE ALLGEMEINE ZEITUNG
Daniel Taft verliert die Orientierung. Sang- und klanglos von seiner gerade erst geheirateten Frau verlassen, gibt der Dreißig-jährige die solide Karriere und das schöne Leben in Paris auf, zieht in Veronikas deutsche Heimatstadt, hofft und wartet dort auf ihre Rückkehr.
Was zunächst ein Akt der Verzweiflung ist, erweist sich als Beginn einer Karriere mit ungeahnten Möglichkeiten. Neue Bekanntschaften und insbesondere eine resolute junge Soldatin stellen ihn auf die Probe. Themen, die ihm fern liegen, verlangen bald schon Tafts ganze Aufmerksamkeit, und er begreift: Das eigene, kleine Leben ist Teil eines größeren, das private ein Teil des politischen Lebens.
Husch Josten erzählt in ihrem Roman die kuriose Lebens- und Liebesgeschichte eines Mannes, der nichts will und alles erreicht. Dabei zieht sie ihre Leser nicht nur in das spannende Beziehungsgeflecht ihrer Figuren, sondern auch mitten hinein in die Verwicklungen politischer Zeitläufte. So stellt sich am Ende die Frage: Wie tadellos kann ein Leben im 21. Jahrhundert sein?
Husch Josten
Roman
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.d-nb.de abrufbar.
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© by Berlin University Press in der Verlagshaus Römerweg GmbH, Wiesbaden 2014Der Text basiert auf der Ausgabe Berlin University Press, Berlin & Köln 2014Lektorat: Christian DöringCovergestaltung: Groothuis. Gesellschaft der Ideen und Passionen mbHHamburg BerlineBook-Bearbeitung: Bookwire GmbH, Frankfurt am Main
ISBN: 978-3-86280-075-9
www.verlagshaus-roemerweg.de/Berlin_University_Press/
1. Wie Taft zur Theorie kam
2. Selbstmitleid
3. Alles Demokraten
4. Als die Hauptpost noch eine war
5. Nachts. Katzen. Grau.
6. Ameisen mit Himmelsaugen
7. Monogamie
8. Schwamm drüber
9. Mit Messer und Gabel
10. Sylvester Stallone
11. Einschaltquoten
12. Schwerter. Zweischneidig.
13. London
Danksagungen
Literatur
Für Lotte, die eine Liebesgeschichte wollte.
Wer niemals Zweifel, niemals Befremden,niemals (sit venia verbo) ein wenig Grauenerregt, wer einfach immer nur geliebt wird, istein Trottel, eine Lichtgestalt, eine ironische Figur.Ich habe keinen Ehrgeiz in dieser Richtung. ---
(Thomas Mann, Mai 1904, an Katia Pringsheim)
Er hatte seine Orientierung verloren. Das war kein räumliches Problem. Daniel Tafts Sinne waren gestört. Er, der immer seinen Weg gekannt und grundsätzlich die Richtung gewusst hatte, taumelte durch die Tage. Zuerst wurde ihm die Zeit gleichgültig, kurz darauf fanden seine Gedanken keinen Halt mehr, weder Ruhe noch Richtung. Taft bemühte sich, aber es gab kein Sujet, das sein Gehirn in Schach halten konnte. Dabei lagen die Themen auf der Straße. Mehr als genug. Nur fassbar waren sie nicht mehr. Unfassbar stattdessen ohne Veronika, seine Frau. Nichts wusste er mehr einzuordnen seit jenem 16. Juli, an dem sie verschwunden war. Keine Kategorien mehr für all die Angelegenheiten. Alles gleich interessant und uninteressant. Alles wichtig, alles unwichtig. Daniel Taft hatte die Urteilskraft verloren. Er war seinen Empfindungen ausgeliefert.
Aus diesem Grund eröffnete er ein Geschäft. In Veronikas Heimatstadt, vom Zentrum nicht weit entfernt. Alte Straße. Ein zwanzig Quadratmeter kleiner, für eine geringe Summe zu mietender Raum im Erdgeschoss eines denkmalgeschützten Hauses. Renovierungsbedürftig. Ohne funktionierende Heizung. Der Laden roch nach Leder, Wachs und Fetten; vorher hatte dort ein Schuster Schuhe besohlt, genäht, repariert. Das Schaufenster ausladend und in schwarzem Holz gefasst, der Dielenboden braunschwarz und knarzend. Von der Decke und an den rauchblauen Wänden hingen nun grüne Karten an zarten, tannenfarbenen Bindfäden. Ideenkarten nannte Taft die mit schwarzem Filzstift beschrifteten Kartons. Sie waren das Einzige, was er feilbot. Drei fünfzig das Stück. Karten, auf denen in seiner rechtsgeneigten, gut lesbaren Handschrift immer nur ein Wort zu lesen war. ‚Zerinnerung‘ etwa. ‚Raumfährtensucher‘, beispielsweise. Oder schlicht ‚Mut‘. Die meisten Anwohner und vor allem er selbst hatten angenommen, der Laden mit Namen Theorie würde nicht lange bestehen, sei Spinnerei. Ein Luftschloss, das sich keinesfalls tragen könne, geschweige denn Gewinn abwerfen würde. Themen – nichts anderes bot er mit seinen Karten. Überschriften und Ideen. Bereits zur Eröffnung Ende Januar hatte Taft den Plan, Theorie mit seinen Ersparnissen und den Einkünften aus der Vermietung seiner Pariser Wohnung ein paar Wochen am Leben zu erhalten und dann, je nachdem, in eine lukrativere Kaffeebar oder einen Kiosk umzuwandeln. Doch Zeitungen im ganzen Land berichteten über seinen Laden, Fernsehleute filmten, wovon sie tagtäglich umgeben waren: Themen, die in der gewaltigen Masse anderer Themen untergingen. Die Wirkung ihrer Berichte hallte nach. Als sich der Wirbel um die Eröffnung in der Alten Straße gelegt hatte, kamen die Kunden immer noch. An guten Tagen in diesem warmen und trockenen Frühjahr verkaufte Daniel Taft über fünfhundert Karten. An ruhigen zwischen achtzig und hundert. Man setzte sein Geschäft auf die Route der Touristenbusse, die von der Kathedrale aus die Straßen der Alt- und Neustadt durchfuhren. Mindestens zwei Busladungen pro Tag. Die Passagiere stierten aus getönten Fenstern, machten die Ruinen römischer Vergangenheit und verborgene architektonische Schönheiten zwischen den Nachkriegsbauten aus, bis sie bei Taft landeten und ihre städtebauliche Ernüchterung mit Kauflust niederrangen. Eine Journalistin, die auf diesem Wege zu ihm gestoßen war, schrieb euphorisch in einem schicken Reisejournal, Theorie sei nicht weniger als die Endstation Sehnsucht einer Rundfahrt durch die etwas ergraute Baukunst der 1950er- und 1960er-Jahre. So zählten bald auch die anderen, die sogenannten Individualreisenden, zu seinen Abnehmern und kauften Themen. Meist eins, höchstens fünf, wobei Nummer zwei bis fünf als Geschenk verpackt werden sollten.
Die Anwohner kamen sowieso regelmäßig. Und kaum einer von ihnen stand Theorie gleichgültig gegenüber. Sie waren neugierig wie der Mittvierziger aus dem dritten Stock gegenüber, der etliche Male pro Tag von seinem Schreibtisch am Fenster in Tafts Laden schaute, um dann, auf dem Weg zum Bäcker oder zur Post, bei Theorie einzukehren und sich mit spitzer Stimme nach dem Gang der Geschäfte zu erkundigen oder eine Karte, zuletzt war es ‚Nachgeschichte‘, zu kommentieren. Andere waren argwöhnisch. Susa zum Beispiel, die Trödelladenbesitzerin drei Häuser weiter, die unschlüssig blieb, ob Taft genial oder irre war, ob er ihr Laufkundschaft abspenstig machte oder zuführte. Und viele kamen einfach aus Langeweile. Anton Friedenreich mit der sehr hohen Stirn beispielsweise, Rentner aus dem Nachbarhaus, der in seinen ausgeleierten Jeans täglich schon bei Tafts Vormieter gesessen und mit ihm Zigarre geraucht hatte. Er hatte runde, braune Augen und schlohweißes Haar, das bis zum Kinn reichte, ein weißes Bärtchen direkt unter der Unterlippe und einen weißgrauen Schnauzbart. Auf seiner daumendicken Nasenspitze die schwarze Metallbrille, durch die er allerdings selten blickte, er sah über sie hinweg. Nun nahm er sich Tag für Tag den hellblauen Klappstuhl, den der Schuster im Vorraum zur Toilette aufbewahrt hatte, setzte sich vor Tafts Schaufenster, bekam einen Kaffee, zündete sich eine Montecristo Double Edmundo an und begann die Unterhaltung stets gleich: Wissen Sie, Herr Taft, es ist schon komisch … Und dann folgte, was ihm morgens beim Zähneputzen oder abends im Fernsehen komisch erschienen war: die glitzernden Punkte in seinem Rasierschaum, die Sekundenanzeige bei den Werbeeinblendungen, die Temperaturunterschiede zwischen Alt- und Neustadt, irgendetwas, das ihm beim Blick über seine Brille aufgefallen war. Die hagere Julchen Kierbaum aus dem Fahrradladen an der Ecke kam auch oft. Sie absolvierte in der Mittagspause ihr Fitnessprogramm, lief in rosafarbener oder blauer Sportbekleidung die Alte Straße auf und ab, um für eine kleine Pause keuchend bei Taft Halt zu machen. Sie war herzlich und redselig wie viele seiner neuen Nachbarn, was er liebenswert fand. Dass sie einen komplizierten Freund und schwerkranke Eltern hatte, wusste Taft bereits nach seiner zweiten Begegnung mit ihr. Überhaupt nahmen einige Anwohner die Gelegenheit wahr, bei der vorgeblichen Recherche nach ihrem Thema überflüssige Angelegenheiten bei Daniel Taft abzuladen. Das reichte von Müllproblemen über undefinierbare Ohrenschmerzen bis zum Ärger über den Telefonkundendienst. Von allerlei seelischem Ballast, den sie mit Tiefe verwechselten, über amüsante und schöne Begebnisse bis zu ernstlichen Verwirrungszuständen, an denen ohnehin nichts zu ändern war. Manche blieben auf einen Kaffee oder zwei und warfen großzügig in die graublecherne Kaffeekasse, ein Souvenir des Vormieters. Sie kamen und schauten und erwarteten, so wenigstens kam es Taft vor, Vorschläge, wenn nicht ein Stück Alltagserlösung, Tageserleuchtung. Dabei wäre ihm nie eingefallen, derart Anmaßendes anzubieten, auf ihre Fragen und Geschichten überhaupt nur einzugehen. Seine Besucher respektierten diese Haltung mit großer Gelassenheit. Taft hörte zu, und das reichte den Menschen. Sein Zuhören war den Nachbarn angenehm. Für ihn hingegen war es eine Beschäftigung. Eine winzige Ablenkung von der Katastrophe, zu der sein Leben ohne Veronika geworden war.
Daniel Taft war weder schön noch hässlich. Ein hinreichend attraktiver Brite, mittelgroß (eins dreiundachtzig) und mittelschwer (zweiundachtzig Kilo). Er hatte einen ovalen Kopf und tiefbraunes, glattes Haar, freundliche Züge, einen schlichten Mund. Beim Sprechen sah man manchmal seine untere Zahnreihe, wenn er energisch den Unterkiefer vorschob, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen; ein Kinn wie die alten Habsburger. Einnehmende Persönlichkeit, ohne dass er sich um diese Ausstrahlung auf andere bemühte. Man vertraute ihm. Sein Benehmen stets tadellos, ebenmäßig wie sein Gesichtsausdruck und seine braunen Augen, denen es auf seltsame Weise an Irritation, an einer zumindest winzigen Unregelmäßigkeit fehlte. Tafts Höflichkeit war nicht die tradierte seiner Landsleute, seine Zurückhaltung jedoch ethnologisch unverkennbar. In jeder Lebenslage Haltung zu bewahren war ihm in die britische Wiege gelegt worden. Sein Temperament demzufolge grundverschieden von Veronikas, die nicht unüberlegt, jedoch ungebremst gesprochen, entschieden, gelacht, geschimpft hatte. Jeden hätte sie heiraten können, das hatte er immer gewusst, und es hatte wahrlich genug Anwärter gegeben. Standesgemäße. Einserabsolventen aus gutem Hause, sportlich, schlank, schlau. Jene jungen Männer mit verschlagener Selbstsicherheit, die ihre an den Ellbogen zerschlissenen Kaschmirpullover wie Clubsignets trugen und früh gelernt hatten, sich in Maßen exzentrisch, ansonsten weltoffen und freiheitsliebend zu präsentieren. According the textbook. Veronika hatte nichts für sie übrig gehabt.
Sie, die kluge, angenehm uneitle Zahnärztin mit sanfter, sicherer Hand, wählte ihn, den britischen Hausmeister mit deutschen Wurzeln und französischem Wohnsitz. Hausmeister war er nicht im eigentlichen Verständnis des Wortes und sie mochte es nicht, wenn er sich so bezeichnete. Aber es war im weitesten Sinne das, was er getan hatte, bis Veronika verschwunden war: dafür Sorge tragen, dass in den Häusern, Villen und Schlössern der Klienten seines Arbeitgebers Sandhurst Real Estate alles in Ordnung war. Dass die leerstehenden Besitztümer in Kontinentaleuropa vernünftig instand gehalten wurden. Oder dass, was allerdings bei den wenigsten Immobilien dieser Kategorie der Fall war, die richtigen Mieter darin wohnten. Er hatte sich damit abgefunden, dass sein Verständnis von Wert und Besitz ein anderes als das der Auftraggeber war, die mit den zufällig geerbten oder lustlos, jedenfalls selten aus Leidenschaft erworbenen Immobilien nichts anzufangen wussten. Er hatte gelernt, die Verschwendung hinzunehmen, nicht mehr danach zu fragen, warum manche Leute aus Langeweile Häuser statt Bücher, Filme oder Computerspiele kauften. ‚Wertanlagerung‘. Eine seiner ersten Ideenkarten.
So habe ich Taft kennengelernt: als Verwalter meiner Immobilien. Damals hatten wir nie persönlich miteinander zu tun, wir haben uns in seiner Hausmeisterzeit nie gesehen. Was zu besprechen war, wurde mit meinen Mitarbeitern geregelt. Aber wie über alle Dienstleister, die im Privatbereich für mich tätig sind, fand ich irgendwann ein Dossier auch über ihn auf meinem Schreibtisch in London – von meiner Sekretärin und dem Anwalt sorgfältig zusammengestellt. Tafts einwandfreier Werdegang. Hervorragende Empfehlungsschreiben. Dazu kamen nach und nach seine schriftlichen Berichte und E-Mails zu meinem Haus auf dem Monte Argentario und zum Chalet meiner Mutter im Engadin. Es waren diese Mails, die mich auf ihn aufmerksam machten: Formvollendet. Sorgfältig. Und, was bei Immobilien nicht einfach ist, humorvoll. Gnädige Frau, was die Bäume im Engadiner Garten betrifft: Schon der Sils-Maria-Liebhaber Friedrich Nietzsche hat die Baumgrenze als Grenze zwischen Leben und Tod gedeutet – ähnlich sehen es die Nachbarn Ihrer verehrten Frau Mutter, allerdings weniger philosophisch … Verehrte Dame, sofern die Fassade des Chalets in Sils Maria nicht denselben Rostton annehmen soll, wie es die Denkmalpflege für Ihr Sommerhaus in Porto Ercole auf dem Monte Argentario vorsieht, muss sich unverzüglich ein Schreiner der Sache annehmen, und ich empfehle den ortsansässigen Franz Kiernberger, dessen Frau, was für Baubesprechungen von Vorteil ist, Inhaberin des Gasthofs Stern am See ist … Liebe Auftraggeberin, da wir heute über Abwasser aus Ihren Toiletten in Porto Ercole zu sprechen haben, ist die vertraulichere Ansprache meines Erachtens geboten, um dem spröden Thema ein wenig Persönlichkeit zu verleihen …
Als er bei Sandhurst aufhörte, hakte ich nach. Herr Taft? Oh, normalerweise darf ich keine Auskunft geben, aber da Sie so explizit nach ihm fragen … Er nimmt eine längere Auszeit. Er ist durch die Trennung von seiner Frau aus der Bahn geworfen worden. Sie hat ihn verlassen, von jetzt auf gleich, furchtbar, es ist jedenfalls eine Auszeit auf unbestimmte Zeit, plapperte die Mitarbeiterin bei Sandhurst unter dem Siegel der Verschwiegenheit, woraufhin ich Sandhurst kündigte und meiner Sekretärin auftrug, Taft ausfindig zu machen. Vielleicht war er dazu zu bewegen, sich selbstständig um meine Häuser zu kümmern. Ein paar Monate später legte mir Larissa die deutschen Zeitungsausschnitte über Theorie auf den Tisch.
--- LOVE FOR SALE: Haben Sie eine Karte, auf der ‚Liebe‘ steht? Eine hochgewachsene Frau mit schmalen Schultern und Hüften, weißer Bluse, langen Beinen in olivgrünen, tarngefleckten Hosen und schulterlangen, blonden Haaren, die wild um ihren Kopf lagen. Ihrer Frage wegen kam ihm sofort Jazz in den Kopf. Love for sale. Wer hatte den Song gespielt, gesungen? Also – am besten gespielt, gesungen? Es waren so viele. Ella Fitzgerald. Shirley Bassey. Oscar Peterson. Er hatte Veronika erst lehren müssen, Jazz zu hören. Bis dahin hatte ihr niemand Jazz nahegebracht, und Jazz kann man nicht einfach hören, hatte er Veronika erklärt an ihrem ersten Abend, man muss ihn hören lernen, sich einhören, sich damit vertraut machen. Also hatten sie sich eingehört. Unermüdlich. Leidenschaftlich. Brad Mehldau vor allem, aber auch Charlie Parker, Bill Frisell, John Coltrane. Veronika liebte Gregory Porter, von dessen Album Water sie nicht genug kriegen konnte. Als er im Olympia-Theater live auftrat, standen sie in der ersten Reihe. Illusion, melancholisch, traurig, ihr Lieblingslied, der Text für Taft nun in anderem Licht. I’ve been trying to find reality a grip on the illusion that I lost you when you left me.
Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, gleich kehrtzumachen und zu gehen, wenn Sie eine Karte verkaufen, auf der ‚Liebe‘ steht, fügte die Frau hinzu. Ihr Gesichtsausdruck lausbübisch. Damit war alles gesagt, befand Taft und antwortete nicht. Sie waren allein im Laden, gegen Mittag. Sie stellte ihre Tasche auf dem Boden ab – eine elegante, schwarze Ledertasche mit kurzem Henkel – und studierte Karte für Karte. Taft konzentrierte sich wieder auf den Intelligenztest auf seinem Computerbildschirm. Mathematische Gleichungen. Er hatte sich angewöhnt, in regelmäßigem Abstand seine Fähigkeiten mit einem solchen Test zu überprüfen. Seit Veronikas Verschwinden zweifelte er ab und zu an seiner Geistesverfassung. Eine Karte mit ‚Liebe‘ wäre enttäuschend, sprach die Kundin gedankenverloren in den Verkaufsraum hinein. Ihre Stimme heiter, gewiss, stattlich. Das müssen Sie einsehen. Dann wäre Ihr Laden nichts als ein Postkartengeschäft und man müsste sich fragen, wieso die Medien derart über Sie berichten.
Taft sah nur kurz auf.
Sie drehte sich zu ihm: Womit erklären Sie sich eigentlich Ihren außerordentlichen Erfolg? Sind Sie nicht selbst überrascht davon? So etwas kann man nicht planen. Sie hatten einfach Glück, oder? Eine originelle Idee zur richtigen Zeit, schon fressen Ihnen die Zeitungen aus der Hand. Komisches Land. Es ist alles so offensichtlich.
Sie setzte die Lektüre der Karten an der schmalen Wand links der Tür fort. ‚Harakiri‘. Er wusste, dass dieses Wort dort hing, irgendwo, erinnerte sich nicht mehr, wie er darauf gekommen war. Er konnte nicht rechnen oder Zahlenreihen fortsetzen, während sie las. Sie bearbeitete das Kartengelände wie ein Pflug das Feld. Saubere, schnurgerade Reihen. Ihr Gesicht fein gezeichnet, weiblich. Unordentliche, freche Frisur. Zarte Gestalt. Sie amüsierte sich beim Lesen hier und da, kicherte leise. Taft wusste genau: Es gab keine Karte mit ‚Liebe‘. No love for sale. Es gab ‚Anziehungsmacht‘ und ‚Kopulation‘, ehrlich und unfeierlich. Selbstverständlich war ihm ‚Liebe‘ in den Sinn gekommen. Daraufhin hatte er eine andere Karte geschrieben. Eine mit dem Wort ‚Bündnis‘. ---
Schon als junger Mann hatte sich Daniel Taft in Anbetracht des desaströsen Miteinanders seiner Eltern vorgenommen, eine vernünftige Ehe zu führen. Eine, in der einander zugehört und ernst genommen wurde, keine jener Beziehungen, in denen die Beteiligten zum Abziehbild der Vor- oder Unterstellungen des anderen wurden. Zum Abguss der Klischees, an denen man sich – schlimmstenfalls für den Rest des Lebens – abarbeitete. „Du kennst das ja“, fingen solche Unterhaltungen mit beliebigen Koalitionspartnern oft an. Am Ende dann ein „Männer eben“. Oder „Frauen halt“. Möglichst hoffnungslos intoniert. Taft hatte sich lange vor seiner Eheschließung, lange, bevor er seine Frau überhaupt kannte, geschworen, es so weit nie kommen zu lassen. Und es war auch nie so weit gekommen. Stattdessen war sie weg. Verschwunden. Das Warum unablässig in seinem Kopf, lauter, schriller als seine Selbstbeherrschung und alles Selbstvertrauen. Nachts fiel er von Hochhäusern und Klippen, abwärts, immer abwärts. Statt des Aufpralls das Aufwachen. Atemlos. Verschwitzt. Durstig. Er hatte sich der Illusion hingegeben, sie zu kennen, angenommen, dass er aufmerksam gewesen war, verinnerlicht hatte, was sie gesagt, gewünscht, beklagt hatte. Er hatte geglaubt, dass sie glücklich war. Keine Erklärung. Das trieb ihn um, machte alles andere nichtig und unmöglich. Nichts war erheblich. Das Warum schleifte sein Gehirn. Manchmal glaubte er, die Ursache gefunden zu haben. Dann war es, als passe plötzlich alles zusammen, das vorher keinen Sinn ergeben hatte. Als fügten sich ihre Sätze, Gesten, Handlungen zu einer unmissverständlichen Aussage, zu dem einen klaren Hinweis, den er nur früher hätte erkennen müssen. Doch eine schlaflose Nacht später war das Trugbild wieder entlarvt, passte nichts mehr zusammen, blieb alles unordentlich. Er wachte auf aus seinen Alpträumen, schenkte sich aus dem Hahn in der Küche ein Glas kaltes Wasser ein, setzte bedächtig und mühsam wie ein alter Mann einen Fuß vor den anderen, um zurück ins Bett zu gelangen, wo er sich an einem kleinen, tröstlichen Gedanken festhielt: Sie hatte ihn wegen einer anderen Frau verlassen.
Dies zumindest war, woran er sich klammern konnte – an diese Frau, die der Anlass gewesen war, diese Frau, die Veronika so wenig kannte wie er. Keiner von beiden hatte die Person – gelbblond und kurzhaarig, beleibt, puppengesichtig – jemals zuvor gesehen oder gesprochen. Trotzdem radierte sie einer Naturgewalt gleich aus, was nur ein paar Monate zuvor für haltbar und gut erklärt worden war. Zwischen Veronika und Daniel war alles so grundlegend in Ordnung, ja vielversprechend gewesen, dass sie damit einen Priester behelligt, Schwüre geleistet, Zeugen, Freunde und Verwandte zu einem größeren Fest gebeten hatten, das organisatorisch aufwendig und finanziell nicht unerheblich war. Sie hatten das Café Marly im Louvre gemietet, dessen geräumige, beheizte Terrasse den Blick auf die gläserne Pyramide im Innenhof des alten Königshofes freigab. Als Ehepaar überstrahlten sie ihren winterlichen Hochzeitstag. Sie tanzten und tranken, lauschten dankbar oder respektvoll mehr und weniger talentierten Rednern und nahmen die üblichen Geschenke entgegen: Blumenvasen, Silberschalen, Espressotassen. Sie bedankten sich bei Tanten und Onkeln und Kollegen und Freunden, zwinkerten sich dabei zu; sie gingen früher als alle anderen und fuhren in die Normandie, in Marcel Prousts Lieblingshotel Le Grand Hotel Cabourg, wo sie ihr Zimmer mit Meerblick drei Tage lang nicht verließen und sich so sehr liebten, dass Taft angenommen hatte, es wäre die Besiegelung der Ewigkeit.
Keiner ihrer Hochzeitsgäste, weder das Hotelpersonal in Cabourg noch der Bräutigam wäre auf die Idee gekommen, ein paar Monate später könnte alles vorbei sein. Natürlich war Taft klar: Die prägnante Stimme der Fremden konnte für Veronika nur der Anlass gewesen sein. Mit der Stimme allein, so bemerkenswert sie war, ließ sich ihr Verschwinden unmöglich begründen. Trotzdem war die Erinnerung an ihren Klang für ihn die Apokalypse. Aus heiterem Himmel – und heiter kam ihm sein Himmel zu diesem Zeitpunkt durchaus vor – zerbarst seine Ehe. Einer Nichtigkeit wegen, eines einzigen Wortes wegen.
‚Sturm‘.
Taft hatte die Dummheit begangen, in der Fluggastbrücke, diesem zwischen Flughafengebäude und Maschine schwebenden Schlauch, mit Veronika zu telefonieren. Eingepfercht in den grauen, von Schuhen und Kofferrollen verdreckten Ziehharmonikafinger zum Flugzeug, der ihm stets wie eine an ein Euter angesaugte Melkmaschine vorkam, teilte er Veronika seine verspätete Ankunft aus Berlin mit, während schlangestehende Passagiere Taschen, Brüste und Bäuche in die Rücken Mitreisender drückten. Die Menge konnte sein Telefonat mithören, es war allen egal. Ihm auch. Man wartete, dass sich der Stau löste, den die Handgepäckarrangierer im Mittelgang des Flugzeugs verursachten, man hing seinen Gedanken nach, tippte oder redete ins Telefon. Manche waren gekleidet, als wollten sie zum Strand statt nach Paris. Zwei Männer vor ihm trugen fransige Shorts und ärmellose Shirts, die wie Unterhemden aussahen, die zugehörigen dickeren Frauen sehr dünne und kurze Stoffe um die Hüften, die mehr preisgaben als bedeckten, was andere vermutlich versteckt hätten. Die Familie gleich hinter ihm, es waren fünf Personen, hatte ausnahmslos schlammbraune Wandersandalen mit Klettverschluss an den nackten Füßen, als ginge es in die Berge. Und Taft in seiner Jeans, seinem weißen Hemd und dem blauen Sommersakko überlegte beiläufig, während er Veronikas Nummer wählte, ob dies nur ihm unpassend erschien, ob er mit fortschreitendem Alter möglicherweise spießig wurde. Die Luft schweißschwer, subtropisch. Der klimatisierte Bauch der Maschine eine Verheißung. Dazu: Wasser auf Eis. Ein Weißwein vielleicht später.
Kein Wunder, dass ihr später startet, antwortete Veronika angenehm kühl ins Telefon. Es scheint ein gewaltiger Gewittersturm über Europa zu ziehen. Ich habe es eben in den Nachrichten gehört. Schwere Sommergewitter.
Wirklich, ein Sturm?, antwortete er arglos. Hier sieht alles bestens aus, aber das heißt ja nichts.
Die Frau vor ihm drehte sich derart schnell um und griff so zielsicher nach seinem Telefon, dass Daniel Taft nicht wusste, wie ihm geschah.
Sturm?, schrie sie in seinen Apparat zu Veronika. Eine starke Stimme, hell, sie tanzte durch den Tunnel wie eine Königskobra zur Flöte. Sturm? Sie sagen, es gibt Sturm?
Dann hörte sie einen Moment zu, in dem Veronika offenbar aus Reflex antwortete und Daniel zu perplex war, um etwas Vernünftiges gegen diesen Übergriff zu unternehmen. Sein Telefon lag am rechten, roten Ohr des fremden, sonnenhaarigen Kopfes mit aufgeregt rotgeäderten Augen, die an der Tunnelwand einen Fixpunkt suchten. Den Mund halb geöffnet, gewappnet für den Warnschrei vor Schlimmerem, wehte unbekannter, aufgewühlter Atem an seine Sprechmuschel und verursachte ihm Unbehagen. Dann drückte ihm die Fremde wortlos das Telefon zurück in die Hand, drehte sich um und floh. Er konnte sich nicht erinnern, ob der Apparat tatsächlich Schwitzspuren ihrer Hand getragen oder er solche nur befürchtet hatte. Ganz in Rot, aber immerhin anständig gekleidet, ihr Schopf wie eine knallgelbe Mütze, stolperte die Frau fluchend mit ihrem Handgepäck an den Wartenden vorbei zurück zum Flughafengebäude. Ein hüpfender Tennisball im Aus, hysterisch übers Netz in den Sand geschleudert. Nicht mit mir! Mit ihrem grauen Lederkoffer rempelte sie die anderen Passagiere an. Nicht mit mir, mein Lieber! Ein durchdringendes Organ. Glockenhell. Markant. Sie ließ offen, wer „mein Lieber“ war: der Sturm, der Flugkapitän, der Wettergott oder der Wetterdienst. Die anderen Reisenden vermieden sorgfältig, Notiz von ihr zu nehmen. Sogar die, die sie anstieß, wollten von Sturm nichts wissen. Allen war zu heiß für Komplikationen. Taft wischte mit dem Hemdsaum das Telefon sauber und legte es wieder an sein Ohr. Er wollte gerade anheben, seiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen, sich zu entschuldigen, da hörte er Veronikas Stimme wie einen Luftzug, leise, beherrscht.
Versuch nicht, mir das zu erklären, Daniel. Und damit legte sie auf.
--- THEY ALL LAUGHED. Seine Kundin schob, gut lesbar, die Karte ‚Koulrophobie‘ vor ihn auf den Tresen. An diesem Tresen hatte der Vormieter Schuhe entgegengenommen und ausgehändigt. Immer noch gab es an der Wand dahinter die Stange mit dem Papier zum Abrollen und Abreißen, Papier, in das der Schuster die Schuhe eingewickelt hatte. Rotweiß kariert, gewachst, fest und glatt und auch ein wenig störrisch, schön und altmodisch. ‚Koulrophobie‘. Schon wieder Jazz in seinem Kopf. They all laughed. Chet Baker? Fred Astaire? Die Angst vor Clowns, sagte die Frau, ihr Blick aufgeweckt. ‚Koulrophobie‘. Wie kommen Sie nur auf diesen Begriff? – Ich lese viel. – Sie legte das Geld auf den Kassentisch: Sieh an, Sie antworten mir, das freut mich. Ich würde mich nämlich gern ein bisschen mit Ihnen unterhalten … Sie haben hier einen schönen und ebenso sonderbaren Laden eröffnet. – Taft nickte dankend, ließ das Geld unangetastet und steckte die Karte in eine weiße Papiertüte. Seine mit Theorie bedruckten Papiertüten trugen erheblich zum Geschäftserfolg bei. Nur in dieser Tüte waren die Karten echt. Alles so simpel. – Mein Name ist Olivia… Ihre Augen groß, schattenblau, frei heraus. Eine Karte mit ‚Liebe‘ habe ich nicht gefunden, sprach sie weiter, finden Sie nicht auch, dass das zu einfach gewesen wäre? Sie hielt einen Moment inne, lachte dann. Ja, natürlich finden Sie das, sonst würden Sie eine solche Karte anbieten. – Taft wusste nichts zu entgegnen. Er brauchte zu lange, um eine geeignete Antwort überhaupt zu denken. Ich werde jedenfalls gern wiederkommen, fuhr Olivia unbeirrt fort, ich werde wiederkommen und nachsehen, welche Begriffe Sie dann im Sortiment haben. Ich bin gespannt, mir sind beim Lesen einige eingefallen, die ich vermisst habe. – Taft reichte ihr die Tüte mit der Karte: Natürlich, gab er behäbig zur Antwort. – Jetzt haben Sie schon wieder gesprochen. – Und ich mache es noch einmal: Auf Wiedersehen, Olivia. – Auf Wiedersehen, Herr … Sie blieb an der Tür stehen. Wartete. Ihr Gesicht zeigte die Frage, ihre Herzlichkeit war staunenswert. – Daniel Taft, antwortete er also. Aber das wissen Sie doch längst. Aus den Zeitungsberichten, die Sie eben erwähnten. – Aber so ist es verdammt noch mal höflicher. Auf Wiedersehen, Taft. ---
In den anderthalb Stunden im Flugzeug bemühte sich Taft tatsächlich nicht, Veronika über das Bordtelefon zu erreichen, um etwas zu erklären. Er hielt das Ganze abwechselnd für einen Witz und ein Missverständnis, das nach seiner Ankunft in Paris, sofern überhaupt nötig, leicht genug aus der Welt zu räumen war. Sie würden sich, wie verabredet, am Pariser Flughafen Charles de Gaulle treffen. Von dort würden sie, weil Ticketpreis und Flugzeit günstig waren, bereits drei Stunden später ihren Nachtflug nach Amerika antreten und zwei Wochen durch Kalifornien reisen. Im Halbschlaf zwischen Sicherheitshinweisen und Getränkeservice sah er den Tennisball vor sich durch den Tunnel springen wie eine im Zeitraffer auf- und untergehende Sonne, die einprägsame Stimme – eine Mischung aus dramatischem Sopran und E-Gitarre – noch im Ohr. Nicht mit mir, mein Lieber, nicht mit mir! Dann dachte er Veronika dazu. Ja, sagte sie ins Telefon zu der Fremden, vielleicht stand sie in der Küche oder lag auf dem Sofa, die langen, tiefroten Haare über der Lehne, neben ihr der gepackte Koffer für die Ferien, es wird Sturm geben, wo genau, das kann man natürlich schlecht voraussagen bei derartigen Gewitterwelten über dem Kontinent. Aber Unwetter sind vorhergesagt. Eine schöne Phantasie: Worte der Beruhigung aus Veronikas Mund … Flugzeuge sind stabil, sehen Sie, mein Mann ist auch in der Maschine, ich würde ihn doch nicht einsteigen lassen, wenn ich es für gefährlich hielte oder die Wetterprognose wirklich besorgniserregend wäre, meinen Sie nicht? Taft saß mit einem Glas neuseeländischem Grauburgunder in klimatisierter Flugzeugluft. Der Gewittersturm mit seinen stummen Blitzen und stammelnden Luftlöchern, dieser gramgefüllte Himmel konnte ihm nichts anhaben. Der Tennisball … Dieser Auftritt im grauen Schlauch am Flugzeug – ein Witz! Wie sich die Frau ihren Gefühlen hingegeben hatte ohne Rücksicht auf ihn und sein Telefongespräch, ohne Beachtung von Mitreisenden und ohne Sorge, sich zum Gespött der hartgesotteneren Passagiere zu machen, die eine Schlechtwetterfront nicht fürchteten. Was für ein bedauernswertes, ausgeliefertes Geschöpf! Machtlos gegen innere Gewalten, unfähig jeder Selbstkontrolle.
Später jedoch, als er am Flughafen vergeblich auf Veronika gewartet und schließlich, statt nach Kalifornien zu fliegen, beunruhigt nach Hause in die Rue de la Tour im Sechzehnten Arrondissement gefahren war, sah sich Taft dem Gefühl zum ersten Mal in seinem Leben ebenso bedingungslos ausgeliefert. Die wilde Entschlossenheit der Frau am Flughafen, da war sie wieder, in anderem Gewand, und sie hüllte ihn kalt ein. Eine Entschlossenheit, die er bis dahin für eine literarische, jedenfalls nicht wirklich mögliche gehalten hatte. Die Kommoden und Bücherregale zu Hause leer. Veronikas Kleiderschrank ausgeräumt. Nichts mehr von ihr im Bad, auf dem Schreibtisch, in der Diele. Die grauen Wolken rasten von draußen in jede Leerstelle seiner Wohnung wie Feuer an einer Zündschnur, unter den Türen hindurch, durchs Küchenfenster, hüllten ihn in Rauch und Nebel, nahmen ihm die Luft. Dabei hörte er die bestürzende Stimme wieder, ihren unverschämt vertraulichen Ton, ihre aggressive Unbeherrschtheit, den lichten Aufschrei der Angst: Sturm? Taft stand da, vor Veronikas Kleiderschrank. Lange. Fahl. Mit flauem Magen und sehr kalten Händen. Und während er die Dinge zu begreifen suchte, kam es ihm vor, als bewegten sich die Kleiderbügel noch.
Mann auf Sofa. Ermattet. Unrasiert. Der Anfang des Alleinseins prosaisch, musikalisch untermalt von Tom Waits’ Invitation to the Blues. Schmutziges Geschirr in der Spüle. Pizzakartons, möglichst schimmelnd, auf dem Fußboden. Leere Flaschen auf dem Tisch. Die Requisite eines resigniert blinkenden Anrufbeantworters, wenn Taft noch einen besessen hätte, aber kein Mensch besaß noch lexikongroße Anrufbeantworter mit Kassetten, die ihr Band verschlangen und, später wenigstens, zwei Tonspuren übereinanderlegten. Lexika hatte im Übrigen auch niemand mehr. Zwei Tage lang wollte er sich vormachen, es handele sich um Veronikas extreme Reaktion auf einen ersten Ehestreit. Doch er wusste es – eigentlich – von Anfang an besser. Sie hatten ja nicht mal gestritten. Ans Telefon ging sie nicht. Sie war nicht mehr erreichbar. Am dritten Tag brach Taft zusammen. Er konnte nicht sprechen, aß überhaupt nur etwas, weil ihm schlecht vor Hunger war. Er konnte sich kaum rühren, nichts denken, wollte nur Whisky trinken, bis seine Sinne verglühten. In diesen zwei Wochen, seinen Urlaubswochen immerhin, nichts als unerträglicher Schmerz. Zwei Tage und Nächte lag er auf ihrer Seite des Bettes und hielt ihr Kopfkissen, weinte es nass, schluchzte, bis sein Kopf, sein ganzer Körper tyrannisch schmerzte. Er setzte sich vor ihren Kleiderschrank und suchte nach einer Spur, einer Nachricht, nach irgendwas. Er starrte auf die Handtücher im Badezimmer, stundenlang, als würden sie ihm letztlich sagen, welches Veronika zuletzt benutzt hatte. Seine Welt maßlos. Kein Gefühl mehr für Raum und Zeit, kein Halt mehr, nur das wabernde Nichts ihrer Abwesenheit. Taft sah sich in diesen ersten Wochen selbst zu, und was er sah, war ein Mann aus dem Vorabendprogramm, für den jeder wohlmeinende Freund einer zu viel war auf dem weiten Feld des Selbstmitleids. Das half immerhin ein wenig: sich selbstmitleidig zu nennen, die Verzweiflung herabzusetzen statt die objektive Grausamkeit seiner Situation anzuerkennen. Dieses Gefühl, ausgebootet worden zu sein. Die ihm widerfahrene Ungerechtigkeit wie selbstgebrannter Schnaps, der die Magenwände verätzt. Seine Sorge um Veronika gründlich. Die Schlaflosigkeit erschöpfend. Verzweiflung, Trotz und Zorn, kurzum: Kummer von einer Größenordnung, die das Denken eindimensioniert und schließlich lähmt. Selbstmitleid. Der Begriff suggerierte zumindest sein Dazutun, während er doch ohnmächtig war. ‚Hingebungstoll‘. Später, in Deutschland, notierte Taft das Wort. Und schmiss die Karte sogleich in den Mülleimer. Was er nicht erwartet hatte, war Veronikas Allgegenwart, seine Unfähigkeit, auch nur den kleinsten Raum für andere Themen in sich zu finden. Bisweilen versetzte er sich wider besseres Wissen, geradezu mutwillig in Panik: Niemand hatte Kenntnis über ihren Verbleib. Sie konnte in Not sein. Gefangen. Tot. Keiner hatte eine Idee, wo sie sich aufhielt. Auch ihre Eltern nicht, die Schirmers, die – als er sie nach zwei Wochen informierte, ja informieren musste – nur die Nerven behielten, weil Veronika gepackt und sogar unwichtige Dinge mitgenommen hatte. Der Polizist bestätigte schließlich ihre und Tafts Schlussfolgerung mit sachtem Blick: dass auch Fotos, Medikamente und Bücher fehlten, deute auf eine sorgfältig vorbereitete Flucht hin. Nichts spräche für eine Entführung oder sonstige Straftat. Auch ein Kidnapping mit Hilfe von Drogen sähe in aller Regel anders aus. Ob es Eheprobleme gegeben habe? Vielleicht könne ein Privatdetektiv die Sache aufklären?
Veronikas Eltern hatten Taft lange angesehen. Ihr Vater Walter, Chirurg. Ein stiller, gehetzter Charakter, oft kühl, wobei eine latente Erbarmungslosigkeit seinem Beruf sicher zuträglich war. Und ihre Mutter Agnes, Gartenarchitektin. Selbstvergessen. Eine unzugängliche Dame mit fest umrissenen Vorstellungen von allen Dingen ihres Lebens und übrigens dem gleichen roten Haar wie Veronika. Beide hatten nicht gefragt. Sie hatten Taft lange angesehen und, so wenigstens war es ihm vorgekommen, sämtliche Begegnungen mit ihm Revue passieren lassen, als liege darin die Antwort auf die Frage, wovor ihre Tochter geflohen war. Sie waren besorgt, nicht ängstlich, vor allem aber wirkten sie nicht schockiert, was Taft kränkte. Wie er zu einem Privatdetektiv stehe, fragte sein Schwiegervater knapp.
Darüber muss ich nachdenken.
Ich verstehe. Aber wenn es ihre Entscheidung war – wozu ein Detektiv?
Dem war nichts entgegenzusetzen. Überdies: Die Vorstellung, einen Detektiv zu beschäftigen, gehörte in eine irreale Welt, den Poirot-, Marlowe-, Rockford-Kosmos, das war Kino. Taft rief immerhin Veronikas Steuerberaterin an, wenngleich er im Voraus wusste, wie unsinnig es war. Natürlich würde seine Frau keine nennenswerten Steuerschulden angesammelt oder sich sonst eines Delikts schuldig gemacht haben, das einer Flucht würdig wäre. Aber der Begriff – Flucht – beunruhigte Taft zutiefst. Bedrohung. Verfolgung, Geheimnis, Schuld. Möglicherweise hatte Veronika Feinde, von denen er nichts ahnte. Und wenn sie imstande war, so plötzlich zu verschwinden – warum sollte sie nicht ebenso fähig gewesen sein, neben dem Leben mit ihm ein anderes zu führen, nicht nur die Frau zu sein, die er zu kennen geglaubt hatte, sondern eine Betrügerin, Spielerin, Süchtige mit Schulden bei den falschen Leuten? Eine Prostituierte, der es gefiel, wenn jemand ihr Geld zusteckte, bevor sie sich auszog und vor ihm auf die Knie ging – irgendwo in einem verkommenen oder auch gar nicht verkommenen Hotelzimmer. Möglicherweise fürchtete sie die Eifersucht eines Freiers, eines Perversen, der sich nicht mehr an die Spielregeln hielt. Vielleicht arbeitete sie auch für den Geheimdienst, irgendjemand musste das ja machen. Und die Zahnklinik nur bürgerliche Tarnung? Taft überlegte und recherchierte in alle Richtungen, in Zeitungen, im Internet: Hatte es einen Unfall mit Fahrerflucht gegeben, einen Überfall irgendwo? Unzählige waren schon in Situationen geraten, die sie unschuldig zur Flucht getrieben hatten. Er fand nichts. Und glaubte es auch nicht. Welche Möglichkeiten er auch durchdachte: Veronika hatte kein abgeschmacktes Zweitleben geführt. Sie hatte einen Grund gehabt, ihn zu verlassen. Einen sehr guten Grund, den er erfahren würde. Eines Tages.