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14. November 2015: Am Morgen nach den verheerenden Terroranschlägen von Paris macht sich die Reporterin Caren auf den Weg in die französische Hauptstadt. Doch ihr Flug verzögert sich, die Lage ist angespannt, am Heathrow Airport herrscht nach einem anonymen Anruf Alarmbereitschaft. Die bedrohliche Situation und wachsende Nervosität der Sicherheitsbeamten bringen Carens älteren Sitznachbarn allerdings nicht aus der Ruhe, stoisch liest er weiter in Wittgensteins »Tractatus«. Der gleichermaßen unbefangene wie charismatische Philosoph und Zufallsforscher verwickelt Caren, mit deren Gelassenheit es seit Monaten nicht zum Besten steht, in ein faszinierendes Gespräch. Und offeriert ihr dabei – zufällig oder absichtsvoll? – die unmögliche Geschichte, nach der die Journalistin ihr Leben lang gesucht hat.
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Für Henriette – und ihren Sinn für Unmögliches
ISBN 978-3-8270-7930-5
März 2017
Deutschsprachige Ausgabe: © Piper Verlag GmbH, München 2017 / Berlin Verlag, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2017
Covergestaltung: ZERO Media, München
Covermotiv: Alamy/Anna Berkut
Datenkonvertierung: abavo GmbH, Buchloe
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»Denn um dem Denken eine Grenze zu ziehen,
müßten wir beide Seiten dieser Grenze denken
können (wir müßten also denken können,
was sich nicht denken läßt).«
(Ludwig Wittgenstein,
Die Hallendecke senkte sich langsam. Unaufhörlich. Gleichmäßig. Sie kam geräuschlos herab, verschlang Zentimeter um Zentimeter der wolkenweißen Spanndecke, der spiegelnden Wandpaneele im Obergeschoss des Terminals, die Werbebilder für Trenchcoats, Parfüm und Versicherungsunternehmen, das silberne Geländer, sodann die Köpfe und Körper der im ersten Stock herumlaufenden Fluggäste. Die Decke krauchte tiefer und tiefer nach unten, stauchte die Halle auf die Höhe eines Schuhkartons zusammen, und Caren sah zu. Seit Monaten passierte ihr das. Zu Hause, im Hotel, im Zug, in der Redaktion, am Flughafen wie hier. Sie saß irgendwo oder lag auf ihrem Bett, dachte nach oder dachte an nichts, und auf einmal kam die Decke herab. Na gut, hatte sie sich in den ersten Wochen gesagt, steckte sie also in einer merkwürdigen Phase mit sinkenden Zimmer- und Hallendecken. Es würde vorübergehen. Sie versuchte es mit Meditation, schließlich sollte man – hatte sie anfangs gemeint – herabkommenden Decken etwas Sinnvolles entgegensetzen. Aber Caren gelang es nicht, sich auch nur zwei Minuten auf ihr Atmen zu konzentrieren. Die Gedanken trudelten sofort, mäanderten durch ihr Hirn, lenkten vom Luftholen und Luftlassen ab, forderten ihre Aufmerksamkeit. Und wenn sie die Augen schloss, sich das kinnlange, blonde Haar aus dem Gesicht strich und ans Atmen dachte, wenn sie versuchte, sich darauf zu konzentrieren, wähnte sie zu hyperventilieren und lenkte sich flink mit dem Erstellen von Einkaufslisten, Staubsaugen, noch zu erledigenden Anrufen ab; Dingen, bei denen man vor sich hin atmen und die anstrengende Angelegenheit des Luftholens vergessen konnte.
Verwirrung, als es das erste Mal geschehen war: in Paris, auf ihrem Hotelbett, zehn Monate zuvor. Sie hatte gezwinkert, sich in den Arm gekniffen, hatte aufstehen, nach ihrem Handy greifen wollen, aber es war ihr nicht möglich gewesen. Sie war verunsichert, zugleich so gebannt gewesen, dass sie sich nicht hatte rühren, kaum atmen können. Natürlich, hatte sie in diesem Moment gedacht, natürlich hatte das mit Charlie zu tun, dem Anschlag, über den sie gerade berichtet hatte. Natürlich war das eine Reaktion, musste das eine hysterische Reaktion sein auf die Geschehnisse des siebten Januars, die sie aufgewühlt hatten – anders als jedes der Attentate, über die sie geschrieben hatte. In Paris, in der Métro, hatte Caren sich erstmals zwingen müssen, keine Angst zu haben, sich nicht umzusehen nach Gesichtern, die verdächtig aussahen (wie genau sähe so ein Gesicht aus?), nach Menschen, die große Taschen mit sich trugen, in denen sie vielleicht Bomben, Gewehre, Handgranaten und nicht einfach Akten oder die Wäsche aus der Reinigung transportierten. Vorher war es ihr nicht so gegangen. Nicht nach New York. Nicht nach Boston. Beide Male war sie mit dem Leben davongekommen. Unverletzt. Beide Male hatte sie nur durch glückliche Fügungen die Flugzeuge und Detonationen verpasst. Damals, an diesem Septembermorgen in New York. Dann, Jahre später, am Patriots’ Day in Boston. Zufall, dass sie als Praktikantin bei WABC TV als Botin eingesprungen war, aus dem 110. Stock einen Umschlag zum Portier gebracht und danach, weil das Wetter so schön gewesen war, Bagels zum Frühstück für sich und ihre Kollegen geholt hatte, als das Flugzeug in den Nordturm gerast war. Fatum, dass sie mit den Freunden, die den Boston Marathon mitgelaufen waren, verabredet hatte, sie nicht an der Ziellinie, sondern ein paar Blocks weiter, fernab des Trubels zu treffen. So hatte sie es all die Jahre gesehen. Doch dann Paris. Keine unmittelbare Gefahr mehr für sie, kein Dabeisein, sondern ein normaler Arbeitsauftrag. Fang mal ein bisschen die Stimmung ein, erzähl, wie sich Paris gerade anfühlt. Auf dem Bürgersteig noch das Blut des ermordeten Polizisten. Ahmed Merabet. Caren war stehengeblieben und hatte den braunroten Fleck betrachtet. Die Bilder, die ein Zeuge versehentlich, wie er später behauptete, ins Internet gestellt hatte, so drastisch in ihrem Kopf, als sei sie dabei gewesen. Wie er verletzt daliegt. Um sein Leben bittet. Stirbt. Sie hatte ihn sterben sehen. Sie war dabei gewesen. Wieder einmal.
Der Moment der Ergebenheit. Als die Decke erstmals herabgesunken war, hatte sie auf ihrem Bett im Pavillon des lettres gelegen. Dem kleinen, windschiefen Hotel im Achten, in dem sie schon gewohnt hatte, als es noch L’Élysée geheißen und vergilbte Blümchentapeten hinter quietschenden Messingbetten geklebt hatten, in dem sie wohnte, seit ihre Familie nicht mehr in Paris lebte, und sie hatte gedacht: Wenn ich jetzt – jetzt also doch – sterben soll, ist dagegen wirklich nichts zu machen. Wenn es ein Kreislaufzusammenbruch, Herzinfarkt oder Schlaganfall ist, kündigt er sich immerhin friedlich an. Denn nach dem ersten Schrecken war nichts Bedrohliches an der herabkommenden Decke und dem schwindenden Raum gewesen. Was sie gefühlt hatte, war warm und sacht und so tröstlich gewesen, dass sie es regelrecht bedauert hatte, als es nach fünf oder fünfzehn Minuten – jegliches Zeitgefühl verloren – vorbei gewesen war. Die herabkommende Decke ein schützendes Plumeau, das sie und ihr Übrigsein behaglich zudeckte. Denn Caren war übrig. Schuldig. Unschuldig. Wer wusste das schon. Jedenfalls übrig. Ihre Familie und Freunde, überhaupt jeder, hatte von Glück und Schutzengeln gesprochen und allem, was man in Fällen wie diesem eben sagte. Kollegen hatten über sie schreiben wollen, sie in ihre Talkshows eingeladen. Caren hatte abgelehnt, obwohl sie als Journalistin durchaus die Geschichte sah und verstand, wie ungewöhnlich das alles war. Davonzukommen. Zweimal. Aber ihre war eine abwegige Geschichte, eine Version der Wirklichkeit, die Schweigen gebot, da sie dem, was den anderen und was tatsächlich passiert war, nie Rechnung tragen konnte. Sie war nur übrig. Das erste Mal als Einundzwanzigjährige. Und dann wieder, vor zwei Jahren erst, mit dreiunddreißig.
Bis zum siebten Januar in Paris hatte Caren es so nie betrachtet. Für sie waren es nichts als Zufälle gewesen. Doch mit Charlie traten Zweifel an die Stelle der Schicksalsergebenheit. Skrupel. Die Gewissheit, dass manches einfach geschah, löste sich in Luft auf. Sie konnte sich nicht erklären, warum ausgerechnet dieses Attentat, dem sie nicht ausgesetzt, dem sie nicht unmittelbar entronnen war, sie derart drangsalierte und dies neue, schonungslose Licht auf die Vergangenheit warf. Doch sie, die als Kind wegen ihrer Weichherzigkeit, ihrer Schwäche für Außenseiter und Schwächlinge unablässig als Butterbirne gehänselt worden war, die sich früh gepanzert und schließlich angeeignet hatte, zu sämtlichen Dingen des Lebens eine abwehrbereite, beobachtende Distanz zu wahren, fühlte sich mit einem Mal wie die einzige Überlebende eines Infernos, das niemand hätte überleben sollen. Überleben dürfen. Eigentlich.
Meist sank die Decke ihres Schlafzimmers herab. Es war quadratisch und hatte bodentiefe Fenster Richtung Süden, vor denen zwei Rotbuchen mit wächsern glänzenden Blättern standen. Wenn der Herbst kam, sich das kernige Grün färbte, die Sonne darauf schien, loderten die Bäume wie Feuer. Ein wärmendes, knisterndes Flammengeäst nur für sie, Caren, die es dann andächtig bestaunte und würdigte. Da sie die erste Etage eines kleinen Londoner Mietshauses in Brook Green bewohnte, eines, das ihr Freund Ben als biederen Zuckergusskarton bezeichnete, war das herbstliche Feuer im Garten genau genommen kein Schauspiel für sie allein, sondern auch für Mr Russell aus dem zweiten Stock und das Ehepaar Liman aus dem Parterre. Allerdings bezweifelte Caren, dass ihre Mitmieter ihre Vision vom Flammengeäst teilten. Sie waren umgänglich, pragmatisch, korrekt, Bankangestellter, Taxiunternehmer und Physiotherapeutin, mit Kehrdienst und Schornsteinfegen beschäftigt, nicht mit Naturphantastik. Sie leerten Carens Briefkasten, wenn sie verreiste, gossen ihre Pflanzen, eine Orchidee und zwei Grünlilien, und Caren revanchierte sich, selten, da die anderen längst nicht so viel unterwegs waren wie sie. Seit Jahren gab es im Sommer einen nachbarschaftlichen Grillabend bei den Limans, zu dem Laternen in die Äste der Rotbuchen gehängt wurden. Das legte nahe, dass die anderen Hausbewohner durchaus einen Bezug zu den Bäumen in ihrem Garten hatten, aber sicher keinen so innigen wie Caren, die mit ihnen sprach, mit ihnen die Jahreszeiten durchlebte und sich bereits beim Augustgrillen auf den Herbst freute, auf seine Farben und sein Feuer. Das Ende des Sommers rätselhaft, ein theatralischer Abschied auf Zeit. Der pensionierte Mr Liman bemerkte dazu im Vorjahr, er frage sich neuerdings, wie viele Sommer ihm und den anderen im Haus wohl noch blieben. Er äußerte das ohne Pathos und besonderen Anlass, zumindest wusste niemand um einen akuten oder aktuellen. Er sagte es vor sich hin, als konstatiere er, dass die Grillkohle nicht richtig glühe oder der Wind ungünstig stehe. Ihm schien es unbedenklich, ab einem bestimmten Zeitpunkt Jahresringe zu zählen. Für einen Augenblick waren alle Gäste still beklommen, fragten sich, ob sie etwas verpasst hätten oder bemerkt haben müssten. Aber es fiel ihnen nichts ein, also befreiten sie sich mit Serviertätigkeiten und allerhand Wetterbeobachtungen zügig aus dem Ernst. Die neue Freundin von Tim Russell, eine forsche Brünette von einigem Gewicht, steckte Rotbarschhappen nebst Zucchini auf einen Grillspieß und erzählte von ihrer Stelle als Kostümbildnerin am Royal Court, die junge Miss Leigh von gegenüber referierte kämpferisch über Rassismus unter amerikanischen Polizisten – Drecksbande, rief sie, unkultiviertes Pack, das seit dem Bürgerkrieg nichts gelernt hat –, Russell gab Eiswürfel in einen Bottich und las laut und betulich Weinetiketten vor (S-c-h-a-r-d-o-n-ä), derweil Jack Liman in der Holzkohle stocherte. Er war in Gedanken längst woanders, es war doch nur eine Idee gewesen, eine abstrakte Frage, schließlich brachte es nichts, rein gar nichts, Jahre zu zählen oder melancholisch zu werden. Solche Bilder und Momente gingen Caren durch den Kopf, wenn sie irgendwo saß, wie jetzt am Flughafen, oder wenn sie auf ihrem Bett lag und die Decke sank. Sie sah Liman mit seinen Taxis und der Grillkohle, Waldbrände, Bühnenbilder, Rassismus, Straßenkämpfe, Schneestürme, Laternen, Briefkästen und anderes zusammenhangloses Zeug. Sie sah Menschen unter der Decke verschwinden und fürchtete sich nicht. Ihr war klar, dass die sinkende Decke kein Anzeichen einer bedrohlichen Krankheit, kein neurologisches Warnzeichen war, sondern eine Bedeutung hatte. Reduktion. Verengung. Fokussierung. Nur: auf was?
Heathrows Terminal 2 war nun auf diese Weise verschwunden. Nichts als Weiß von berückender Unerschütterlichkeit. Kein Wunder, dachte Caren, dass es ausgerechnet jetzt passierte, da sie wieder auf dem Weg nach Paris, erneut dorthin unterwegs war, um über Attentate zu berichten. Zehn Monate später. Diesmal also Bars, Restaurants, ein Fußballstadion, ein Konzertsaal. Die vermehrte Erfahrung mit den Attacken ließ sie abstumpfen und auch die Konsequenzen zunehmend vertrauter erscheinen: Notstand, Militär, Grenzschließungen, der Ruf nach Vergeltung. Und wieder war sie in vollem Gange, wie ein Automatismus, die Diskussion über den Krieg der Kulturen (hatten Terroristen Kultur? Und falls ja: welche?), über den Glaubenskampf (wer glaubte noch, dass es um Religion ging?), über die Versäumnisse des Westens und die Perspektivlosigkeit der Jugend (ach Gott, ja, Bausteine in der verzweifelten Suche nach Ursachen). Aber tatsächlich ging es, davon war Caren inzwischen überzeugt, ums Übertrumpfen des Bisherigen. Das Nachspiel jedes Attentats nur Vorspiel zum nächsten schwereren. Eskalation des Horrors. Terror als medialer Wettkampf.
Was ist mit den Müttern?, hatte sie ihren Chefredakteur gefragt.
Dan Lieberman und sie hatten die Nacht in der Redaktion vor dem Fernseher und ihren Computern zugebracht, verstört, entrüstet, ausgelaugt; Nachrichten, die sich überschlugen, eine schauerlicher als die andere, und immer noch eine mehr. Auf ihre Frage hin hatte Dan zunächst verständnislos geschwiegen.
Wenn ihre Söhne Kalaschnikows einpacken, führte Caren daher aus, wenn sie sich mit einem Kuss verabschieden, losfahren, um wahllos Menschen zu erschießen und sich dann in die Luft zu sprengen – was nicht heißt, dass eine gezielte Wahl die Sache besser machen würde: Was ist mit den Müttern, mit denen diese Männer eben noch zu Mittag gegessen oder telefoniert und über dies und das und auch das Wetter gesprochen haben?
Das ist so typisch für dich, du Anthropologin!, hatte Dan grinsend geantwortet, den Bierflaschenhals dabei ans Kinn gelehnt. Was weiß ich, was mit denen ist? Vielleicht sind sie stolz und preisen Allah, vielleicht haben sie keine Ahnung, was ihre Söhne tun, vielleicht sind die Kinder ihren Eltern längst entglitten, vielleicht interessiert es die Eltern nicht oder andersherum: Die Kinder interessiert nicht, was ihre Eltern, die sie für Abtrünnige halten, von ihnen halten. Hat nicht neulich ein Islamist seine Mutter auf einem Marktplatz erschossen, weil sie ihn angefleht hatte, sich vom Kampf für den Glauben loszusagen? Eigentlich, er hatte mit einer desillusionierten Handbewegung Richtung Bildschirm eine lange Pause gemacht, eigentlich ist das auch völlig egal.
Ist es nicht, hatte Caren entgegnet. Vor kurzem habe ich ein Video gesehen, in dem es um Plünderungen in Syrien ging. Jugendliche überfielen einen Laden, verprügelten den Inhaber, griffen sich seine Waren. Und plötzlich siehst du auf diesem Video, wie einer der Jungen von einer Frau am Nacken aus dem Tohuwabohu gezogen und geohrfeigt wird. Es war seinem Gesicht abzulesen: Für ihn geschah etwas Unfassbares. Er wurde vor seinen Kumpanen gemaßregelt und gedemütigt. Aber er ging mit, er ging mit seiner Mutter fort.
Dan hatte sie spöttisch angesehen. Dann war das vielleicht die eine Ausnahme. Ganz ehrlich? Ich glaube nicht, dass die Mutter eines fanatischen Kämpfers überhaupt noch eine Chance hat, an ihn heranzukommen. Aber finde eine, sagte er matt, finde eine dieser Mütter und frag sie. Du fliegst sowieso morgen früh.
Langsam tauchte der Flughafenterminal von Heathrow wieder auf, lichtete sich die Decke. So war es. Immer. So unerwartet alles sank, so plötzlich fand sich die Realität wieder ein. Caren atmete durch. Die Digitaluhr an der Wand rücksichtslos. Stechend orange flirrte die Zeit. 9.46 Uhr. Auf den stummen Fernsehbildschirmen die nimmermüden Bilder der vergangenen Nacht. Einschusslöcher in den Fenstern des Lokals Le Carillon. Menschen mit angstverzerrten Gesichtern auf dem Rasen des Stade de France. Ein Feuerball am Hinterausgang des Bataclan. Aufnahmen prominenter Facebook-Profile, die über Nacht samt und sonders mit der französischen Flagge unterlegt worden waren. Und dazwischen wieder und wieder: Soldaten unter schweren Waffen. Polizisten in Schutzwesten. Vibrierendes Blaulicht. Vor Caren, auf dem weißgrauen Steinboden des Airports, lag ein Mann in blauer Trainingshose und gestreiftem Polohemd, barfuß, den Kopf auf seinen Rucksack gebettet, im Schlaf war ihm das Hemd verrutscht, sodass Teile der weißen Unterhose und seines bleichen Rückens freilagen. Sternförmig darauf blühende, rötliche Pusteln verdarben Caren den Appetit auf das Thunfisch-Sandwich in ihrer Tasche. Sie wendete den Blick ab. Der Terminal war noch recht neu. Unverbraucht, sauber, glänzend. Ein neonfarben leuchtendes Londoner Taxi, nur seine Umrisse, unverkennbar, als Skulptur im Zentrum. Kaffeebars, Restaurants, Souvenirshops, Parfümerien. Eine Filiale von Harrods mit grünen Teedosen, eine Dependance des Spielwarenladens Hamleys, in der man in letzter Sekunde als rettendes Mitbringsel ein batteriebetriebenes Schwein oder Beefeaters aus Plüsch erstehen konnte. Ein Kaviarhändler und Koffergeschäfte. Mehrere Läden hatten die Trikolore in ihre Fenster gehängt und in deren Mitte jeweils eine schwarze Schleife. Trauerflor. Penibel solidarisch. Vor einem französischen Geschäft für Lederwaren Kerzen. Penetrant korrekt. Wie zur Garnitur dazwischen Hunderte von Passagieren, die vor den Anzeigetafeln warteten, zu ihren Gates hasteten, die Zeit totschlugen, weitermachten. Zu jeder Tages- und Nachtzeit unendlich viele Menschen unterwegs. Wenn man glaubte, gegen drei oder vier Uhr in der Früh die Straße für sich allein zu haben, überzeugt, dass der Rest der Bevölkerung um diese Zeit Vernünftigeres mit sich anzufangen wusste, brausten Tausende durch die Dunkelheit der Autobahn. Keine Ruhe mehr. Nirgendwo. Das Surren der Rollkoffer auf dem weißgrauen Stein eine grollende Melodie, unterbrochen vom Refrain, dass man sein Gepäck nie unbeaufsichtigt lassen sollte und dass die Maschine nach Zürich, so gab eine schnarrende Stimme per Lautsprecheransage durch, zum Einsteigen bereit sei. Das gewaltige Lichtobjekt in der Mitte der Hallendecke – funkelnde Silberschlangen, spiralförmig – entbrannte bläulich von oben nach unten, wieder und wieder von oben nach unten, dass man den Blick kaum abwenden konnte, die Sekunden zählte, bis es von vorne losging. Carens Maschine hätte längst da sein müssen, aber der Parkplatz draußen im Regen, am anderen Ende der Fluggastbrücke, war nach wie vor leer. Sie fröstelte und legte die Arme enger um ihren Körper. Manchmal wusste man solche Dinge intuitiv: Ihre Reise würde an diesem Novembermorgen nicht wie geplant stattfinden. Ein Unwetter. Ein Defekt am Flugzeug. Ein fehlender Copilot. Probleme am Pariser Flughafen. Eine Terrorwarnung. Etwas würde sie aufhalten, da war sich Caren plötzlich sicher, vielmehr wäre es erstaunlich, wenn nach dieser Nacht ein Flugzeug nach Paris planmäßig abheben und ankommen würde. Sie konnte nicht einmal den Zug nehmen. Seit Tagen Stillstand. Die Mitarbeiter auf beiden Seiten des Ärmelkanals streikten wegen zunehmender Sicherheitsanforderungen aufgrund von Bombendrohungen sowie todesmutigen Flüchtlingen aus sämtlichen Krisengebieten der Welt – Exodus –, die durch den Tunnel in ein besseres Leben laufen wollten. Zu wenig Personal, um das Gelände zu bewachen und die Passagiere überhaupt noch abfertigen zu können, mit Handtaschenkontrollen und Kofferdurchleuchtung. In Heathrow hatte man auf den Streik sofort reagiert. Eine Billig-Airline bot in diesen Tagen zusätzliche Flüge nach Paris an, weswegen Caren in Terminal 2 und nicht in Nummer 4 oder 5 saß, von wo die regulären Paris-Maschinen von Air France und British Airways starteten. Was für ein Schlamassel, dachte Caren, dass ihr Verlag grundsätzlich die günstigsten Flüge buchte. Draußen vor dem Terminal winkten Lotsen und Techniker unablässig andere Flugzeuge ein, versorgten, betankten, warteten sie, ihre grellgelben Jacken regenschwer, Wasser von den Helmen tropfend. Und alsdann, endlich und erwartungsgemäß, erschien die Schrift auf der Anzeigentafel von A17: Delayed. Caren nahm es zur Kenntnis, sie hätte darauf gewettet. Wie viel Verspätung einzukalkulieren war, wurde nicht angegeben (schlechtes Zeichen), niemand erklärte etwas, keiner beschwerte sich, und die brünette Stewardess, die zum Boarding hinter dem Schalter saß und nun mit einem Mal nichts mit sich anzufangen wusste, tippte angelegentlich in ihren Computer, betrachtete ihre tiefroten Fingernägel, nuschelte dann und wann in ihr rauschendes Funkgerät und ignorierte die Wartenden mit leiser Geringschätzung. Die Fluggäste nahmen es hin wie eine hirtenlose Herde. Stoisch. Gefügig. An Kummer gewöhnt. Man blätterte in Zeitungen und Zeitschriften, telefonierte, rückte Kopfhörer gerade, biss in Äpfel, trank aus Plastikflaschen und Pappbechern, starrte in die Menge. Sie alle hatten erwartet, dass ein Flug nach Paris an diesem Morgen nur mit Schwierigkeiten an den Start kommen würde. Wenn überhaupt.
Der Mann, der Caren gegenübersaß, las Wittgenstein. Sie hatte ihn vorher nicht bemerkt. Ende fünfzig, vielleicht Mitte sechzig. Sehr hohe Stirn. Zerfurcht. Grauschwarze Haare. Buschige, mittig gespitzte Augenbrauen. Er trug verwaschene Jeans, ein schwarzes Hemd und ein ebenso schwarzes Sakko. Augen so hellblau wie Badewasser, durchscheinend, klug, selbstbewusst.