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Seit Kindertagen verbindet Helen eine enge Freundschaft mit Joseph. Zweimal träumt die Bibliothekarin Josephs Tod so real, dass sie es schließlich für eine Weissagung hält. Verängstigt beginnt Helen in ihrem Kopf vorsorglich Josephs Leben zu ordnen. Während sie in Abwesenheit ihrer Mutter den alten Vater betreut, hofft sie, mit Joseph dem fortschreitenden Verlust ihrer Familie etwas entgegensetzen zu können. Aber können Freunde einem Menschen die Familie sein, nach der man sich in seinem Leben sehnt? Oder muss Helen am Ende doch Abschied von ihrem Freund nehmen und ihr Leben ändern?
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Cover & Impressum
Sieben Uhr fünfundvierzig
Gegen Mittag
Nach dem Essen
Nächster Morgen
Später Nachmittag
Sein Wohnzimmer ist von großbürgerlicher Selbstironie. Pinienholzmöbel aus amerikanischen Kolonialtagen, Erbstücke von einigem Gewicht mit eingeschnitzten Miniaturszenen der Boston Tea Party. Joseph setzt sich nicht wie sonst aufs Sofa, das mit dem schwarzen Bezug. Er legt sich ins kardinalrote Seidenpolster des Sargs, der vor dem Kamin auf dem Boden steht. »Slainte Mhath«, sagt er seinen Trinkspruch. Gälisch, nasal: slantsche wah. Er hebt das Glas Gin und prostet Helen und ihrer Kaffeetasse zu. Das Kristallglas, in dessen Wand spitze Rauten geschliffen sind, stellt er auf dem Tisch neben dem Sarg ab. Er rückt seine braune Seidenkrawatte unter dem hellgrauen Sakko zurecht. Sein weißes Hemd ist makellos, Kragen und Manschetten sind gestärkt. Er setzt sich auf, um Helen mit gespitzten Lippen auf den Mund zu küssen, wie er es seit Kindertagen tut. Dann legt er sich wieder hin und klappt den Deckel zu. So schnell, dass Helen ihn nicht festhalten kann. So entschlossen, dass sie einen Moment lang nichts zu tun weiß, als laut zu lachen. Der Sarg, eben erst angeliefert, ist die Replik eines römischen Sarkophags. Steinfarben gebeiztes Holz mit Kapitellen an jeder Ecke. Spitz zulaufender Deckel. Schwere Eisenringe für die Träger und Totengräber. Die Kopie eines antiken Klassikers. Meine theatralische Verneigung vor der Geschichte zivilisierten Dahinscheidens, hat Joseph gesagt. »Eine perfide Geschmacklosigkeit. Genau richtig für mein Vorhaben.«
Helen klopft mit lahmer Hand auf den Sargdeckel, verunsichert. »Joseph, komm jetzt da raus, das ist nicht witzig. Hör auf mit dem Quatsch. Du spinnst doch.« Tatsächlich erwartet sie nur halbherzig, dass er den Deckel wieder öffnet. Er hat auch damals Ernst gemacht, als er von der Empore im zweiten Stock seines Elternhauses gesprungen ist – einer Burg aus dem 12. Jahrhundert mit hohen Decken. »Wetten?«
»Nie und nimmer springst du. Du wirst dir den Hals brechen.«
»Wetten? Ich springe runter, genau zwischen, nein: besser auf die chinesischen Vasen.«
»Hör auf mit dem Quatsch, du spinnst doch.«
»Ich bitte dich, Helen: Die Vasen sind abscheulich.«
Minuten ziehen dahin und Helen ruft lauter. Überlegt, wie oft sie ihm diese Worte in den über dreißig Jahren ihrer Freundschaft an den Kopf geworfen hat. Hör-auf-mit-dem-Quatsch-Du-spinnst-doch. Als hätte sie nie verstanden, worum es ging. Helen weiß, dass er die Angst in ihrer Stimme erkennt, sofern er überhaupt etwas hört. Keine Antwort. Der Deckel sitzt wie verschraubt. Unnachgiebig. Dicht. Helen schreit noch einmal. Beherrscht zunächst. Hysterischer dann: »Ich bitte dich, Joseph, komm da raus, lass uns reden, komm jetzt da raus!« Aber er rührt sich nicht. Wahrscheinlich hat er längst diese kleinen Stöpsel in seinen Ohren, die er auch beim Spazierengehen trägt, hört Kantaten von Bach, während er erstickt. Herz und Mund und Tat und Leben. Sich zu ersticken sei besser als der plötzliche Herztod, hat er beschlossen und dazu gelacht. Dieser Herztod, der mehreren Ärzten zufolge unausweichlich auf ihn zurase. So legt Helen schließlich ihre Hände auf das Holz. Sie weint nicht, weil der Tod in diesem Raum trotz seiner Berührbarkeit unwahrscheinlich bleibt. Dann geht sie und glaubt ihm. Nach Minuten oder Stunden – die Zeit ist aus ihrem Rahmen gefallen – verlässt Helen sein Wohnzimmer, das kalt ist wie immer und dessen Dekorationen, penibel abgestaubt, auf den einzelnen Möbelstücken aufgebahrt sind in der Reihenfolge, die schon Josephs stinkreicher Großvater Rodman für richtig hielt. Ein Meissner Pagode aus der Mitte des 18. Jahrhunderts – lächelnder Buddha mit beweglichem Kopf. Schubst man ihn, nickt er lange und willenlos glücklich. Ein Kandelaber aus Baccarat-Kristall, die Zapfen und Blätter an seinen Ästen derart geschliffen, dass Schnittverletzungen möglich scheinen. Die Partagas-Tabakfabrik auf Kuba als Humidor – nikotingeschwängertes Puppenhaus mit drei Etagen und prall gedrehten, braunen Bewohnern, weitläufigen Terrassen und handgeschnitzten Türen.
Dann irgendwo eine Krankenwagensirene. Für einen Moment hofft Helen, dass sie Joseph gilt und näher kommt, bis ihr Lärm ein paar Straßen weiter austönt. Sie schaut zurück auf die dunkelroten Brokatstoffe an Josephs Fenstern. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo Helen wohnt, haben Bauarbeiter begonnen, ein Gerüst zur Fassadensanierung aufzubauen. Genau vor Helens Haus. Aus ihrem Wohnzimmer und aus ihrer Küche kann sie in Josephs Wohnung schauen. Die Bauarbeiter sitzen auf dem Brett vor der ersten Etage und rauchen, einer trägt geblümte Hosen und einen roten Sweater und tippt in sein Handy. Helen beguckt Josephs Wohnzimmer. Das dunkle Parkett und den schwarzen Kamin. Die Pinienmöbel, Entwürfe von Großvater Rodman, die den Börsenkrach von 1929 überstanden haben und nach einer abenteuerlichen Überseefahrt auch noch fünfzehn Jahre in schlecht beheizten Burgmauern. Ein letzter Blick auf den Sarg ihres Freundes, dieses zudringliche, pathetische Möbel, von dem sie nichts zu halten weiß, dessen Funktion ihr mindestens erratisch erscheint. Wozu überhaupt ein Kasten? Wozu jeglicher Tand? Zur Verwesung reicht ein Tuch. Laub. Nichts. Der Schmuck spielt nur für die Bleibenden eine Rolle, für ihr Gewissen, ihnen zum Trost, ein Auftritt von wenigen Minuten. Geldverschwendung. Wenn die Nachwelt wenigstens dauerhaft etwas davon hätte. Aber nicht für jeden kann eine Pyramide oder ein Taj Mahal errichtet werden, die Erdoberfläche wäre voll von Tod und Gedenken. Ohnehin stellte sich die Frage, auf wie vielen Toten man tagtäglich herumtrampelte, unweigerlich, die ganze Erdoberfläche war von ihnen gedüngt – die Welt ein einziges Totenbett.
Benommen steigt Helen die Treppen von Josephs Haus hinunter, die sich auf halbem Weg in die Terrazzostufen ihres Elternhauses verwandeln. Dem Haus in der Zugasse, wo sie seit drei Tagen als Krankenvertretung ihren Vater bemuttert und in ihrem alten Kinderzimmer schläft. Und gerade, als sie den kühlen und über Jahre klebrig gewordenen Handlauf loslässt, die schwarze Plastikbahn, auf der Joseph früher Spielzeugautos heruntersausen ließ und jubelte, wenn sie den Weg bis zum Ende schafften, in dem Moment also, in dem ihr klar wird, dass sie ihren Freund verloren hat und dies einen unsäglichen, unerträglichen, unermesslichen Schmerz wird nach sich ziehen müssen, in diesem Moment fühlte sie den Zeigefinger an ihrer Schulter: »Helen. H-e-l-e-n!« Ihr Vater war bereits angekleidet und blickte dumpf erstaunt aus wässrigen Augen auf sie hinunter. Herr Nienhaus besah sie wie das Kind, das schon wieder verschlafen hat, weil es die halbe Nacht unter der Bettdecke gelesen hat. Frühstück war für sieben Uhr dreißig vorgesehen, sagten seine Augen, sieben Uhr dreißig.
Nun sitzt Herr Nienhaus hinter ihr und wartet, während Helen den Abend besichtigt. Der Himmel ist betörend. Rot. Uneben. Göttliche Wischtechnik. Sie steht am Fenster und besieht die Abendglut. Eine Offerte zur Aufforstung des Tages durch Brandrodung – und der Tag wäre wert, aus dem Kalender gerodet zu werden. Jede einzelne Sequenz ihres Traumes auch jetzt noch, zehn zerstreuungsgeeignete Arbeitsstunden später, so klar vor ihr wie Sekunden nach dem Aufwachen im Kindergästezimmer. Das haben ihre Eltern aus ihrem Zimmer gemacht: ein Gästezimmer, in dem in zwanzig Jahren kein Gast gelegen hat. Herr Nienhaus sitzt im Lehnstuhl neben dem Fenster, in dem er seit seiner Pensionierung sitzt. Ununterbrochen, sieht man von Bedürfnisgängen ab. Sein Radius hat sich nicht allmählich eingeschränkt. Ihr Vater selbst hat ihn aus freien Stücken und buchstäblich von jetzt auf gleich auf ein Minimum begrenzt. An seinem letzten Feierabend vor fünfzehn Jahren war das. Einem Abend, an dem er wohlgelaunt und ohne Wehmut mit einem Karton Fotos und Unterlagen aus seinem Büro im Patentamt kam. Er hat den braunen Karton neben sich auf den Boden gestellt und sich in den honiggelben Holzstuhl gesetzt, dessen alternder Bezug aus bunten Samtstreifen seinem Gesicht Farbe verleiht. Unerhörte Fröhlichkeit geradezu, deren er nicht bedarf: Herr Nienhaus ist ohnehin froh in seinem Lehnstuhl, glücklich womöglich, bei Sinnen, soweit feststellbar. Er schaut aus dem Fenster. Er liest. Er schreibt. Er spricht ins Telefon ab und an; zu wem, ist Helens Mutter so unklar wie gleichgültig. Alte Kollegen, was weiß ich. Helen weiß es auch nicht. Mitgebracht hat ihr Vater in ihrer Kindheit und Jugend jedenfalls nie jemanden. Betriebsklimatische Zusammenkünfte, Weihnachtsfeiern, Sommerfeste waren ihm ein Gräuel, das er pflichtbewusst und in höflicher Freundlichkeit über sich ergehen ließ. Bei seiner Beförderung zum Abteilungsleiter verköstigte er seine Mitarbeiter im Amt mit den für solche Anlässe üblichen Häppchen und, um keinen prahlerischen Eindruck zu machen, Sekt »aus dem oberen Bereich des mittleren Preissegments«. Es wäre ihm nicht eingefallen, sie nach Hause oder wenigstens in ein Restaurant einzuladen. Zweifellos verfügte Herr Nienhaus über die Kompetenz des Eremitischen. Alte Kollegen am Telefon waren Helen darum schwer vorstellbar, andererseits war ein Telefon noch keine Weihnachtsfeier, und überdies wusste sie nicht mit letzter Gewissheit, ob seine Einstellung zur Gesellschaft seit ihrem Auszug unverändert geblieben war.
Dass sich ihr Vater zu festen Uhrzeiten am Esstisch einfindet und zu Bett geht, findet sie angesichts seiner Zufriedenheit in dem gestreiften Sessel erstaunlich. Er saß dort und dachte vor sich hin, nichts Mürrisches im Ausdruck, wie manche Alte es sich ins Gesicht lebten. Vielleicht rechnete er im Geiste physikalische Formeln durch, rief sich abgelehnte oder stattgegebene Patentanträge aus seiner Laufbahn vor Augen, vielleicht entwarf er auch ein eigenes Konzept des Raum-Zeit-Kontinuums. Was immer er tat: Er war zufrieden damit und mit den wenigen Worten, die er mit seiner Frau und Helen tauschte. Die Regelmäßigkeit eines von Mahlzeiten bestimmten Tagesablaufs war ihm genug. Und wenn Helen dieser Tage in Vertretung ihrer Mutter den Tisch deckte, mit dem Geschirr klapperte, die Getränke auftrug, dann war es, als läute sie. Er legte, Stück für Stück und im Rhythmus ihrer Geschäftigkeit, seine Sachen beiseite und bereitete sich für den Weg zum Esstisch vor. Vier Schritte, wenn überhaupt. Er verfolgte den Fortgang ihrer Arbeiten, um zur Punktlandung mit der Butter anzusetzen, die Helen immer zuletzt brachte, damit sie kühl war. Und streichfest.
Helen lässt die Gardine über den Tag fallen. Über die schlackenhafte Wirklichkeit. Was für ein Bild zu diesem Tag, der sich seit dem Traum anfühlt, als sei er ihr versehentlich zugeteilt worden, Secondhand, gebraucht von jemand anderem, sowieso nicht für sie bestimmt. Sie wendet sich Herrn Nienhaus zu, der geduldig wartet, dass sie ihm aus der Zeitung vorliest. Betrachtet seine grünbraunen Augen. Die hohe, dünnhäutige Stirn mit den Altersflecken. Das weiße Resthaar, das in letzten Locken um seinen Kopf liegt und aus Ohren und Nase wächst. Helen lässt die besonderen Merkmale des Alters auf sich wirken. Absurd, die Gelegenheit nicht zu ergreifen. Die Zeit zu zweit, die zufällig anfallende, räumliche Nähe ließe sich zweifellos besser nutzen, als sie beide es tun. Sie ließe sich mit einem Versuch von Vertraulichkeit oder, weniger hochtrabend, einem Gesprächsbeginn füllen. Statt der Endlosschleife wiederkehrender Weltnachrichten in konfusem Turnus und von fehlender Systematik könnte am Ende Wichtiges gesagt sein. Aber welchen Wert hat das ihr Wichtige für ihn, zumal jetzt, da es bei ihm im weitesten Sinne um Größeres geht, ums Finale? Irgendwo in den Hauptsachen hat sie es gelesen: »Das Problem mit dem Leben (so denkt der Romanschriftsteller) ist seine Formlosigkeit, seine lächerliche Veränderlichkeit. Seht doch nur: es ist schlecht entworfen, hat selten ein Thema, es ist sentimental und unentrinnbar banal. Die Dialoge sind ärmlich, auf jeden Fall entsetzlich holprig. Die Wendungen sind entweder vorhersehbar oder effekthascherisch. Und immer hat es denselben Anfang und dasselbe Ende.
Unweigerlich würde das Gespräch mit ihrem Vater ärmlich, denn das Thema, sofern es diese Bezeichnung verdient, wäre unentrinnbar banal, natürlich, und Banalität verzeiht ihr Vater nicht. Herr Nienhaus hat auch etwas gegen Sentimentalitäten. Es ist ja nicht einmal so, dass es schlecht um seine Gesundheit stünde und die in Leben und Literatur gern genommene Zeit für ultimative, effekthaschende Weichheit knapp würde. Mit sechsundsiebzig erfreut er sich einer robusten Gesundheit. Es gibt, neben Haarwuchs an den falschen und Altersflecken an präsenten Stellen, nur die gängigen Begleiterscheinungen körperlichen Verfalls. Unfälle mit Inkontinenz, dem Geruch nach zu urteilen. Nachlassendes Hörvermögen, deutlich, gelegentlich auch strategisch. Kreislaufmalaisen, die Helen seiner jahrelangen Unbeweglichkeit statt seinem Alter zuordnet. Und Blähungen, knallende, pfeifend verebbende Laute mit Dämpfen von Ammoniak. Doch alles in allem ist er gut beieinander, und ausgerechnet diese für eine, nun ja: ernstere Unterhaltung sprechende Tatsache steht mindestens so gewichtig dagegen. Es wäre nur eigennützig, ihm die Laune zu verderben mit einem Thema, das ihm bestenfalls unverständlich, schlimmstenfalls peinlich wäre. Andererseits bleibt es prosaisch, dieser Tage vor ihm zu sitzen, Tee zu trinken, den Part ihrer Mutter zu übernehmen und ihm aus der Zeitung vorzulesen. Amoklauf erschüttert das Land. Opposition zieht Steuererhöhung vor. 100 Milliarden neue Schulden. Die Rückkehr ihrer Mutter ist absehbar. Noch zwei Tage. Heilungsverlauf nach Entfernung der harmlosen Zyste am linken Eierstock optimal, sagt die behandelnde Ärztin Stumpenhott, Vorname Sabine. Wie immer gibt es keine eindeutige Antwort für Helen. Nur eine Tendenz. Das Bemühen, Wahrheiten fernzuhalten. Wahrheit. Illusion von Tiefsinn und Erkenntnis. Es geht natürlich nicht um Wahrheiten. Nur um ein bisschen Wahrheit. Um ein paar Details.
Die Zeitung liegt auf seinem Schoß, gleich wird Herr Nienhaus sie gegen die Tasse Tee tauschen, den Kopf zurücklehnen und Helen zuhören. Er kann noch gut lesen, aber es strengt ihn an. Lieber konzentriert er sich auf den Inhalt als auf die Geradlinigkeit der Zeilen oder die Druckschärfe einzelner Buchstaben. Ihr Vater ist ein aufmerksamer Zuhörer. War es immer. Mit den Jahren jedoch wandelte sich sein wacher Blick in einen wachsamen – geprägt von der Unsicherheit des nachlassenden Hörvermögens und der Frage, ob seine retardierenden Synapsen die Zusammenhänge richtig fügten. Ließ sich früher in seinem Gesicht ablesen, was er dachte, ist es inzwischen ein Rätselraten. Das Alter hat ihm eine formlose Undurchdringlichkeit verliehen, die gleichermaßen Ablehnung, Überraschung, Freude, Missbilligung bedeuten kann. Jeder, wirklich jeder Reaktion geht der dumpf erstaunte Blick voraus, mit dem er Zeit schindet. Zeit, die sein Gehirn für die Verarbeitung der jeweiligen Information benötigt. Er blickt dumpf erstaunt aus seinen Waldaugen, den Mund halb geöffnet. Er blickt sogar dann so, wenn er nicht im Mindesten erstaunt darüber ist, dass die Opposition die Steuererhöhung für die bessere Variante hält oder einem Politiker ein Zitat zum Verhängnis wird, weil das N-Wort darin vorkam. Liest Helen ihm dergleichen vor, blickt er dumpf erstaunt und schüttelt dann resigniert den Kopf. Die Dummheit ist das Gefährlichste, sagt sein Blick. Sie ist die größte Gefahr der Menschheit. Spräche er das aus, wäre es eine bodenlose Banalität, er guckt also nur. Familienvater ersticht Frau und Kind aus Eifersucht. Jugendlicher bei Prügelei vor die U-Bahn gestoßen. Er hört zu, was Helen über anderer Leute Dasein und Ende liest, und denkt dabei an die lächerliche Veränderlichkeit des Lebens. Und über den Tod dasselbe wie sie: dass es sich um einen Gefährten handelt, dessen Freundschaft man sich zeitlebens sichern sollte.
Ab und zu blickt Herr Nienhaus auch dumpf erstaunt und lächelt dann leise. Etwa, als sie ihm die Meldung über den ansehnlichen Versteigerungswert eines fast zweihundert Jahre alten Minichronometers vortragen konnte – vorgestern war das. Dann fühlt er, der Physiker mit der Vorliebe für Astronomie, seine Welt wieder in den Fugen. Als sei noch nicht alles verloren. Wenn die Menschheit sich noch die Mühe macht, die Schätze ihrer Geschichte zu achten und neu zugänglich zu machen, wenn die Leute hingehen und Zeit als messbare Größe in limitierter Pro-Kopf-Auflage ernst nehmen, sagen seine Augen, dann haben wir noch eine faire Chance. Vermutlich gibt es ihm Trost, sich zu vergegenwärtigen, dass manches von Wert überdauert. Ihn, die Nachrichten, Helen. »Machst du das Fenster noch auf, bevor du anfängst?« fragt er, als Helen mit dem Hagebuttentee aus der Küche zurückkommt. Sie stellt die Tasse auf dem Beistelltisch ab. Zieht die weiße Gardine wieder zurück und öffnet weit das Fenster. Kein Rot mehr zu sehen. Der Himmel ist jetzt dunkelblau; die Luft entschleiert.
Auf dem Bürgersteig gegenüber zwei Stockwerke tiefer sieht Helen zunächst nur Verrenkungen. Hampeln, das zweifellos ihr gilt. Ein ausladendes Winken mit beiden Armen, als tue es not, einem Papierflugzeug die Landebahn zu weisen. Dann kommt die Stimme dazu. »Helen! Das glaub ich nicht! Helen! Hallo!«
Auch Herr Nienhaus hört das und blickt wie zu erwarten.
Unverkennbar. »Da unten steht Klio«, konstatiert Helen und findet es selbst unglaublich. Klio. Auch das noch. »Eine alte Klassenkameradin. Sie wohnte zwei Straßen weiter.«
Der Ausdruck ihres Vaters verändert sich kaum merklich. Klio, sagt sein Blick, wer, um Gottes willen, benennt ein Kind nach der Muse der Heldendichtung und mit einem Namen, der pubertäre Verunglimpfungen geradezu herausfordert?
»Komm runter, Helen! Komm doch mal runter«, schallt Klios Stimme nach oben. Die Erinnerung an früher, an die Schultage dreißig und fünfundzwanzig und zwanzig Jahre zuvor, an denen sie ebenso gerufen hat, Klio, die Heldin der Dichtung – ganz sicher nicht Muse –, wird lebensgroß. Helen hebt die Hand zum Zeichen ihres Kommens, befremdet über die Rückblende in eine Zeit mit ledernen Ranzen, muffigen Sportbeuteln und hautbekränzter Milch aus gepunkteten Plastikbechern. Eine Zeit mit gekneteten Zettelchen in der Hosentasche, luftgetrockneten Kaugummis unter dem Pult und Zigarettenbrandringen auf Klobrillen. Eine Zeit, in der Erlebnisse zu Erinnerungen wurden und Geschehnisse ihre Schwerelosigkeit verloren. Auch das noch. Ausgerechnet heute. Noch ein Alptraum. Als Helen hinuntergeht, werden die schwarzweiß geflockten, rot umrahmten Terrazzostufen im Flur, diese Stufen mit ihrer kosmischen Maserung, zum ersten Mal seit Jahren als die identifizierbar, die sie als Kind abgelaufen ist. Mit und ohne Joseph. Zum hundertsten Mal an diesem Tag Joseph in ihrem Kopf. Joseph und der Traum und die Treppe. Nicht abzustreifen, das nächtliche Blendwerk. Wahrscheinlich wäre die Menschheit besser dran, jedenfalls wäre sie unter den besonderen Umständen dieses Tages besser dran, wenn Terrazzo grundsätzlich und allerorten erinnerungsfreier Terrazzo wäre. Diese Zeit und Klio und ihre Geschichten – kaum zu glauben, dass es sie überhaupt einmal gegeben hatte.
Unten auf der Straße Begrüßungsgeschrei und dunkle Locken in Helens Gesicht. Klio riecht nach Lotus und Orangen, Tabak und Pfefferminze. Ihr Lippenstift klebt.
»Das ist verrückt! Gerade habe ich Paco gezeigt, dass du hier gewohnt hast. Und da stehst du am Fenster, überhaupt nicht verändert. Na ja, gut, keine Zöpfe mehr, aber immer noch die langen, blonden Haare.« Ein Schritt zurück, um die ganze Helen zu begucken. »Als wäre kein Tag vergangen.«
Zerschlissene Jeans, ein schwarzes Hemd und silberne Ketten um ihren Hals. Klios hellbraune Lederjacke sehr weich. Sie sieht aus wie ein Teenager nach durchfeierter Nacht, übermüdet, selbstzufrieden. Die Heldin der Dichtung betrachtet Helen traulich. Die schwarzen Stiefel, die schwarzen Strümpfe, das schwarze Strickkleid, die breite Kette aus Horn und die cognacfarbene Strickjacke. Sie studiert jedes Detail, derweil Helen keines der Komplimente zurückgibt und ihr Blick auf Klios Gesicht verweilt.
»Das ist mein Sohn Paco«, erklärt Klio. »Paco, das ist Helen. Eine besondere, liebe Freundin. Mein Fels in der Brandung wilder Jugendzeit.«
Helen, die nie eine besondere Freundin von Klio und auch kein Fels war und die sich sehr wohl verändert hat, wendet sich dem Burschen zu. Obwohl sie ihn aus dem Fernsehen und den Rezeptheften im Supermarkt kennt, diesen Heften, die zu Weihnachten, Ostern, zur Spargelzeit und Grillsaison an der Kasse ausliegen, erkennt sie erst jetzt, was sie am Gesicht dieses Fernsehkochs immer irritiert hat. Es ist unübersehbar, nun, da er neben seiner Mutter steht, von der Helen nicht wusste, dass sie seine Mutter ist. Nun also, da eine Verbindung überhaupt herstellbar wird. Paco sieht Joseph so ähnlich, dass es sich wie eine Verletzung anfühlt. Wie ein Schnitt. Abgerutschtes Tomatenmesser an kaltem, wassernassem Zeigefinger. Keine große, eine beharrliche Angelegenheit. Aufbrennen, das mit dem Eindringen von Tomatensaft in die Wunde einhergeht. Aber natürlich deutet Paco Helens Gesichtsausdruck anders. Seine Eitelkeit, weiteres Indiz in Richtung Joseph, lässt nicht zu, dass er ihrem Erstaunen eine unerfreuliche Ursache zuschreibt. Paco ist zufrieden, dass sie auf seine Berühmtheit reagiert. Dass die episodisch sein wird, ist nach allem, was Helen über ihn weiß, so sicher, dass sie ihm zurufen möchte, er solle rennen. Gleich. Sofort. Die Lawine steten Erneuerungsbedarfs wird ihn begraben, ihn, seinen Zynismus, seine Täuschungsmanöver, seine Frische, seine Eitelkeiten, seine Überzeugungen. Seine Tage als Unterhalter an brodelnden Töpfen sind gezählt, und dann kommen die Wiederholungen. Vielleicht noch Auftritte auf Pfarrfesten und Flusskreuzfahrtschiffen. Soll er rennen? Helen ruft nichts. Unter Umständen weiß er ja, was er tut.
Paco ist klein und beleibt und schlecht gelaunt und scheint, aus dieser Nähe betrachtet, den gröbsten Jugendschwierigkeiten gerade erst entwachsen. Als habe seine Mutter ihn soeben im Turnverein abgeholt und ihm einen Vortrag über seine abendlichen Ausgehzeiten und die Gefahr maßlosen Schokoladenverzehrs gehalten. Joseph ist nicht klein und nicht beleibt, im Gegenteil. Aber der Rest ist sein Ebenbild. Verwandte Gesichtszüge, gleiche Hautbeschaffenheit, bartlos, ebenmäßig. Ausgeprägte Kiefer- und Wangenknochen. Kreisrunde, grünblaue Augen, gleichmütig. Schulterlange blonde Haare, beide. Wieder das Messer. Wieder Tomatensaft im Blut. Pacos Miene unbeteiligt, als er Helens Hand nimmt. »Freut mich.« Er sieht auf die andere Straßenseite. Gesichtsausdruck, Mundwinkel, Nase. Letztere formvollendet wie ein rhinoplastisches Muster. Alles bekannt, vertraut, geliebt.
»Wie gesagt«, plaudert Klio zur Einleitung dessen, was noch nicht gesagt wurde, »gerade habe ich Paco erzählt, dass du die Einzige aus meinem Freundeskreis von früher bist, die genau das tut, was sie immer tun wollte. Und die damit auch erfolgreich ist!«