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Wie findet man das wahre Glück? Wie lässt sich Erfolg wirklich bemessen? Und wie geht man mit den Herausforderungen des Alltags wie Wut, Trauer und der Frage nach dem Sinn des Ganzen um? Was große Geister wie George Washington, Friedrich der Große, Weltklassesportler oder Top-Performer längst für sich entdeckt haben, liegt mit »Der tägliche Stoiker« erstmals gesammelt vor. New York Times-Bestsellerautor Ryan Holiday und Stephen Hanselman haben das Wissen der Stoiker in 366 zeitlose Lektionen verpackt und zeigen, dass die Philosophie des Stoizismus nicht nur zeitlos, sondern gerade für unsere hektische und unsichere Zeit ein Segen ist. Weisheit, Mut, Gerechtigkeitssinn und Selbstbeherrschung sowie Gelassenheit lassen sich erlernen und helfen uns, in der zunehmenden Komplexität unserer Welt zu bestehen. Die uralten Weisheiten der Stoiker, gesammelt und kommentiert, unterstützen bei diesen alltäglichen Herausforderungen.
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Seitenzahl: 456
RYAN HOLIDAY
366 NACHDENKLICHE BETRACHTUNGEN ÜBER WEISHEIT, BEHARRLICHKEIT UND LEBENSSTIL
Mit einmaliger Neuübersetzung der größten Philosophen aller Zeiten: Seneca, Epiktet und Marcus Aurelius
RYAN HOLIDAY
New York Times-Bestsellerautor
STEPHEN HANSELMAN
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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de/ abrufbar.
Für Fragen und Anregungen:
18. Auflage 2024
© 2017 by FinanzBuch Verlag,
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80799 München
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Die englische Originalausgabe erschien 2016 bei Portfolio unter dem Titel The Daily Stoic: 366 Meditations on Wisdom, Perseverance, and the Art of Living. © 2016 by Portfolio, an Imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC. All rights reserved.
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Übersetzung: Elisabeth und Thomas Gilbert
Redaktion: Palma Müller-Scherf
Korrektorat: Silvia Kinkel
Umschlaggestaltung: Laura Osswald, München
Satz: Röser MEDIA, Karlsruhe
eBook: ePUBoo.com
ISBN Print 978-3-95972-045-8
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-070-0
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-071-7
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Von Stephen für meine geliebte Julia, die mir geholfen hat, Freude zu finden.
»Von allen Menschen ruhen nur diejenigen in sich, die sich Zeit für Philosophie nehmen – nur sie verstehen es zu leben. Sie geben sich nicht bloß damit zufrieden, gut durch ihre Tage zu kommen, sondern genießen jedes Lebensalter. Die Früchte der Vergangenheit bewahren sie. Nur einem undankbaren Menschen würde es misslingen zu erkennen, dass diese großen Architekten ehrwürdiger Gedanken für uns ins Leben gerufen wurden und einen Weg des Lebens für uns entworfen haben.«
Seneca
Einleitung
Teil I: Die Disziplin der Wahrnehmung
Januar: Erkenntnis
Februar: Leidenschaften und Gefühle
März: Aufmerksamkeit
April: Denken ohne Vorurteile
Teil II: Die Kategorie des Handelns
Mai: Richtiges Handeln
Juni: Problemlösung
Juli: Pflicht
August: Pragmatismus
Teil III: Die Disziplin des Willens
September: Innere Stärke und Belastbarkeit
Oktober: Tugend und Freundlichkeit
November: Akzeptanz/Amor Fati
Dezember: Betrachtungen über die Sterblichkeit
Stoisch bleiben
Ein Übungsmodell der jüngeren Stoiker und ein Glossar der Schlüsselbegriffe und Textstellen
Einige Bemerkungen zu den Übersetzungen und Quellen
Weitere Lektüreempfehlungen
Über den Autor
Die privaten Tagebücher eines der größten Kaiser Roms, die persönlichen Briefe eines der besten Dramatiker und klügsten politischen Strippenzieher Roms sowie die Vorträge eines ehemaligen Sklaven und Verbannten, der zum einflussreichen Lehrer wurde – allen Widrigkeiten zum Trotz sind uns noch zwei Jahrtausende später diese unglaublichen Dokumente erhalten geblieben.
Was sagen sie uns? Können diese antiken und weithin unbekannten Schriften wirklich etwas beinhalten, das für das heutige Leben von Relevanz ist? Die Antwort lautet tatsächlich: ja. Sie enthalten einige der bedeutsamsten Lebensweisheiten der Weltgeschichte.
Gemeinsam stellen diese Dokumente das Fundament dessen, was man Stoizismus nennt, eine antike Philosophie, die einst in der westlichen Welt sehr populär war und in dem Streben nach dem guten Leben von Reichen und Verarmten, Mächtigen und am Hungertuch Nagenden gleichermaßen verfolgt wurde. Aber über die Jahrhunderte verblasste allmählich das Wissen um diese Lebenshaltung, die einst so essentiell war.
Abgesehen von jenen, die sich mit Eifer der Suche nach Weisheit widmen, ist Stoizismus entweder unbekannt oder wird missverstanden. Tatsächlich gibt es kaum eine andere Bezeichnung, der so viel Ungerechtigkeit widerfahren ist, wie der des »Stoikers«. Für die meisten ist diese dynamische und handelsorientierte Lebensweise, die einen veranlasst, seine Grundsätze neu zu überdenken, zum Kürzel für »Emotionslosigkeit« geworden. Angesichts der Tatsache, dass schon die bloße Erwähnung von Philosophie viele Menschen ungeduldig macht oder bei ihnen Langeweile auslöst, klingt »stoische Philosophie« erst einmal wie das Letzte, womit man sich beschäftigen will, geschweige denn nach etwas, das man für sein tägliches Leben benötigt.
Was für ein trauriges Schicksal für eine Philosophie, die selbst einer ihrer gelegentlichen Kritiker, Arthur Schopenhauer, als »das Höchste, was ein Mensch erreichen kann, wenn er einfach nur seinen Verstand einsetzt«, beschrieben hat.
Mit diesem Buch verfolgen wir das Ziel, dem Stoizismus seinen rechtmäßigen Platz wiederzugeben – als Methode, um Selbstbeherrschung, Ausdauer und Weisheit zu erlangen: etwas, das man anwendet, um ein erstrebenswertes Leben zu führen, nicht irgendein esoterischer Ansatz der Geisteswissenschaften.
In der Tat haben viele Geistesgrößen nicht nur die Wahrhaftigkeit des Stoizismus erkannt, sie haben sie auch aktiv angewandt, etwa George Washington, Walt Whitman, Friedrich der Große, Eugene Delacroix, Adam Smith, Immanuel Kant, Thomas Jefferson, Matthew Arnold, Ambrose Bierce, Theodore Roosevelt, William Alexander Percy oder Ralph Waldo Emerson. Sie alle studierten, zitierten oder bewunderten die Stoiker.
Die antiken Stoiker selbst waren bemerkenswerte Persönlichkeiten. Die Namen, denen du in diesem Buch begegnen wirst – Marc Aurel, Epiktet, Seneca – gehörten einem römischen Kaiser, einem ehemaligen Sklaven, der später als einflussreicher Lehrer und Freund von Kaiser Hadrian triumphierte, sowie einem berühmten Dramatiker und politischen Berater. Es gab zudem Stoiker wie den bewunderten Politiker Cato den Jüngeren; Zenon, ein wohlhabender Kaufmann (wie viele andere Stoiker); Kleanthes, ein ehemaliger Faustkämpfer, der als Wasserträger arbeitete, um sich die Schule leisten zu können; Chrysippos, dessen Schriften heute allesamt verloren sind, der jedoch 700 Schriftrollen anfertigte und ein durchtrainierter Langstreckenläufer war; Poseidonios, der als Botschafter diente; der Lehrer Musonius Rufus und noch viele weitere.
Heutzutage hat der Stoizismus, besonders seit der jüngsten Veröffentlichung von The Obstacle Is The Way, eine neue und vielfältige Anhängerschaft gefunden, die sich von den Trainern der New England Patriots und Seattle Seahawks über den Rapper LL Cool J und die amerikanische Sportmoderatorin Michele Tafoya bis hin zu Sportlern, Firmenchefs, Hedgefonds-Managern, Führungskräften, Künstlern und etlichen anderen Frauen und Männern des öffentlichen Lebens erstreckt.
Was haben diese bedeutenden Männer und Frauen im Stoizismus gefunden, was anderen entgangen ist?
Eine ganze Menge. Während Akademiker den Stoizismus häufig als eine wenig inspirierende Methodenlehre abtun, sind es immer schon die Macher dieser Welt gewesen, die befanden, dass die stoische Lehre ihnen für ihre Lebensaufgaben die nötige Stärke und Ausdauer bot. Als der Journalist und Bürgerkriegsveteran Ambrose Bierce einen jungen Schriftsteller darauf hinwies, dass das Studium der Stoiker ihn lehren würde, »wie man ein würdiger Gast an der Tafel der Götter wird«, oder als der Maler Eugene Delacroix (berühmt für sein Gemälde Die Freiheit führt das Volk) den Stoizismus seine »tröstende Religion« nannte, sprachen sie aus Erfahrung.
Das gilt auch für den tapferen Gegner der Sklaverei, Colonel Thomas Wentworth Higginson, der das erste rein schwarze Regiment im amerikanischen Bürgerkrieg anführte und eine der denkwürdigsten englischsprachigen Übersetzungen von Epiktet anfertigte.
Der aus den Südstaaten stammende Plantagenbesitzer und Schriftsteller William Alexander Percy, der die Rettungsbemühungen während der großen Flut des Jahres 1927 leitete, nutzte den Stoizismus als maßgebliche Orientierungshilfe, als er feststellte: »Wenn alles verloren ist, kann man daran festhalten.« Das gilt auch für den Autor und Investor Tim Ferriss, der den Stoizismus als sein ideales »persönliches Betriebssystem« bezeichnete (dem haben auch andere hochrangige Manager wie Jonathan Newhouse, der Geschäftsführer von Condé Nast International, zugestimmt).
Der Stoizismus scheint jedoch insbesondere für das Schlachtfeld zu taugen. Als im Jahr 1965 James Stockdale, Hauptmann der Luftwaffe, über Vietnam abgeschossenen wurde und mit dem Fallschirm absprang, und als er daraufhin knapp fünf Jahre lang Folter und Kriegsgefangenschaft aushalten musste, wofür er später mit der Ehrenmedaille ausgezeichnet wurde, wessen Name war da auf seinen Lippen? Epiktet. Augenzeugen berichteten, dass Friedrich der Große mit den Werken der Stoiker in seinen Satteltaschen in die Schlacht ritt, und auch der US-Marine- und NATO-Kommandant General James »Mad Dog« Mattis führte die Selbstbetrachtungen von Marc Aurel mit sich, als er zum Persischen Golf aufbrach und in Afghanistan und in den Irak einmarschierte. Diese Männer waren keine Professoren, sondern Menschen der Tat, und sie empfanden den Stoizismus als praktische Philosophie, die perfekt zu ihren Zielsetzungen passte.
Der Stoizismus ist eine Schule der Philosophie, die ungefähr 300 v. Chr. in Athen entstand. Als ihr Gründer gilt Zenon von Kition. Der Name leitet sich aus dem Griechischen stoa ab, was Vorhalle bedeutet, weil Zenon in einer solchen anfangs seine Schüler unterrichtete. Die stoische Philosophie geht davon aus, dass Tugendhaftigkeit (gemeint sind in erster Linie die vier Kardinaltugenden Selbstbeherrschung, Mut, Gerechtigkeit und Weisheit) gleichbedeutend ist mit dem Gefühl von Glück, und dass unsere Wahrnehmung der Umstände – und nicht die Umstände selbst – bestimmt, ob wir uns glücklich oder unglücklich fühlen. Der Stoizismus lehrt, dass wir nichts beherrschen und uns auf nichts verlassen können, was außerhalb dessen liegt, das Epiktet unsere »Entscheidungsgewalt« nennt – unsere Fähigkeit, den Verstand zu nutzen, um zu entscheiden, wie wir Ereignisse von außen einordnen, auf sie reagieren oder uns in der Folge neu orientieren.
Der frühe Stoizismus war eher eine allumfassende Philosophie, ähnlich anderen antiken Schulen, deren Namen entfernt vertraut sein mögen, wie Epikureismus, Zynismus, Platonismus, Skeptizismus. Deren Anhänger beschäftigten sich mit diversen Themengebieten, darunter Physik, Logik, Kosmologie und viele andere. Eine der Analogien, die von den Stoikern bevorzugt wurde, um ihre Philosophie zu beschreiben, war das fruchtbare Feld: Logik war der schützende Zaun, Physik war das Feld, und die Ernte, die dadurch hervorgebracht wurde, war die Ethik – oder die Anleitung zum Handeln.
Mit der Zeit konzentrierte sich der Stoizismus jedoch im Wesentlichen auf zwei Themengebiete: Logik und Ethik. Auf seinem Weg von Griechenland nach Rom wurde der Stoizismus wesentlich praxisorientierter, er wurde den aktiven, pragmatischen Lebensgewohnheiten der geschäftigen Römer angepasst. So konstatierte Marc Aurel später: »Als ich mein Herz der Philosophie schenkte, konnte ich mich glücklich schätzen, weder in die Falle der Sophisten geraten zu sein, noch mich ganz an den Schreibtisch zurückgezogen, mich der Haarspalterei oder nur noch dem Studium der Himmelsgewölbe hingegeben zu haben.«
Stattdessen konzentrierte er sich (ebenso wie Epiktet und Seneca) auf eine Reihe von Fragen, die denjenigen ganz ähnlich sind, die wir uns heutzutage stellen: »Auf welche Art und Weise soll ich am besten leben?« »Wie gehe ich mit meiner Wut um?« »Was sind meine Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber?« »Ich habe Angst zu sterben: Warum ist das so?« »Wie gehe ich mit schwierigen Situationen um, mit denen ich konfrontiert werde?« oder »Wie gehe ich damit um, dass ich mächtig und erfolgreich bin?«
Dies waren keine abstrakten Fragen. In ihren Schriften – zumeist private Briefe oder Tagebucheinträge – und in ihren Vorträgen bemühten die Stoiker sich, realistische und umsetzbare Antworten zu entwickeln. Schließlich orientierten sie ihre Philosophie an einer Reihe von Übungen, die sich von drei theoretischen Kategorien ableiten lassen:
Die Wahrnehmung (wie wir die Welt um uns herum sehen und wahrnehmen)
Das Handeln (die Entscheidungen und die Handlungen, die wir vollziehen – und mit welchem Ziel)
Der Wille (wie wir mit den Umständen umgehen, die wir nicht ändern können; klare und überzeugende Urteile erlangen und unseren Platz auf dieser Welt wahrhaft verstehen)
Indem wir unsere Wahrnehmungen beherrschen, so die Stoiker, können wir einen klaren Verstand formen. Wenn wir unsere Handlungen ordentlich und angemessen steuern, werden wir die gewünschten Ergebnisse erzielen. Wenn wir unseren Willen einsetzen und der Situation anpassen, werden wir Weisheit erlangen und den rechten Blickwinkel, um mit allem, womit wir in der Welt konfrontiert werden, umgehen zu können. Es war die Überzeugung der Stoiker, dass sie, wenn sie sich selbst und ihre Mitbürger in diesen Bereichen schulten, zu mehr Resilienz, Zielgerichtetheit und sogar Freude fänden.
Der Stoizismus, der in der unwägbaren Welt der Antike entstand, nahm die Unvorhersehbarkeit des Lebens ins Visier und bot eine Reihe praktischer Tipps für den täglichen Gebrauch. Unsere moderne Welt mag radikal anders erscheinen als die bemalte Vorhalle (Stoa Poikilê) der Agora von Athen und des Forums und Gerichtshofs von Rom. Aber die Stoiker gaben sich große Mühe, sich zu vergegenwärtigen (siehe 10. November), dass sich im Vergleich zu ihren Vorfahren nichts Grundlegendes geändert hatte, und dass sich auch in der Zukunft das Wesen und das Streben der Menschheit nicht ändern würden. Ein Tag ist wie alle Tage, pflegten die Stoiker zu sagen. Und das stimmt noch immer. Was uns zu dem Punkt bringt, an dem wir jetzt sind.
Manche von uns sind gestresst. Andere fühlen sich überarbeitet. Vielleicht kämpfst du mit der neuen Verantwortung, die Elternschaft mit sich bringt? Oder mit dem Chaos eines neuen Unternehmens? Oder du bist schon erfolgreich und haderst mit den Pflichten von Macht und Einfluss? Plagt dich eine Sucht? Bist du schwer verliebt? Oder hangelst du dich von einer gescheiterten Beziehung zur nächsten? Steuerst du auf den Lebensabend zu? Oder genießt die Verführungen der Jugend? Bist du ausgelastet und aktiv? Oder zu Tode gelangweilt?
Was auch immer es ist, ganz gleich, was du durchmachst, die Stoiker halten Weisheiten parat, die helfen können. Tatsächlich haben sie sich in vielen Fällen mit Fragen befasst, die erstaunlich modern wirken. Genau darauf werden wir uns in diesem Buch konzentrieren.
Aus dem Kanon der Stoiker präsentieren wir eine Auswahl von Übersetzungen der bedeutendsten Textstellen aus dem Werk der drei wichtigsten Vertreter des späten Stoizismus: Seneca, Epiktet und Marc Aurel – darüber hinaus einige ausgewählte Zitate ihrer Vorgänger (Zenon, Kleanthes, Chrysippos, Musonius, Hekaton). Mit dem Begleittext zu jedem Zitat wollen wir versuchen, eine Geschichte zu erzählen, Zusammenhänge herzustellen, eine Frage aufzuwerfen, zu einer Übung anzuregen oder die Sichtweise der jeweils zitierten Stoiker zu erklären, sodass du ein tieferes Verständnis erlangst, egal, welche Antworten du auch suchst.
Die Werke der Stoiker sind schon immer erfrischend und zeitgemäß gewesen, unabhängig von den historischen Hochs und Tiefs ihrer Popularität. Mit diesem Buch haben wir nicht beabsichtigt, sie zu rehabilitieren, zu modernisieren oder aufzufrischen (es gibt bereits viele exzellente Übersetzungen). Stattdessen haben wir versucht, die gewaltige Menge an Weisheiten, die die Stoiker zusammengetragen haben, neu zu ordnen und in gut verdaulicher, zugänglicher und schlüssiger Form zu präsentieren. Man kann, besser sollte, aber auch zu den Originalwerken der Stoiker greifen (siehe Empfehlungen zur weiteren Lektüre hinten im Buch).
Für den beschäftigten und aktiven Leser haben wir hier den Versuch unternommen, ein Brevier für den täglichen Gebrauch zu erstellen, das ebenso funktional und auf den Punkt gebracht ist, wie das Denken der Philosophen, die dahinterstehen. Und in der Tradition der Stoiker haben wir noch Stoff hinzugefügt, um tiefer gehende Fragen anzuregen und ihnen Raum zu geben.
Aufgebaut ist das Buch nach den drei oben vorgestellten Kategorien Wahrnehmung, Handlung und Wille, und dann weiter unterteilt nach wichtigen Themen innerhalb dieser Kategorien. Jeder Monat widmet sich einem besonderen Wesenszug und jeder Tag bietet einen neuen Denkansatz oder eine neue Handlungsweise. Alle Themen, die für die Stoiker von großem Interesse waren, tauchen hier auf: Tugendhaftigkeit, Sterblichkeit, Gefühle, Selbstwahrnehmung, Tapferkeit, richtiges Handeln, das Lösen von Problemen, Anerkennung, geistige Klarheit, Pragmatismus, Unbefangenheit und Pflichtbewusstsein.
Die Stoiker waren Pioniere morgendlicher und abendlicher Rituale: Vorbereitung am Morgen, Reflektion am Abend. Wir haben dieses Buch geschrieben, um dich darin zu unterstützen. Eine Betrachtung für jeden Tag im Jahr (inklusive einem zusätzlichen Tag für Schaltjahre!). Wenn du magst, kannst du es mit einem Notizbuch kombinieren, in dem du deine Gedanken und Reaktionen zum Ausdruck bringst und aufzeichnest (siehe 21. Januar und 22. Dezember), wie dies auch die Stoiker oft taten.
Das Ziel dieser sehr praxisbezogenen Herangehensweise an die Philosophie ist es, dir zu helfen, ein besseres Leben zu führen. Wir tragen die Hoffnung, dass sich in diesem Buch nicht ein Wort findet, dass man nicht, um es mit Seneca zu sagen, in die Tat umsetzen könnte oder sollte.
Das ist es, wofür wir dieses Buch gemacht haben.
1. JanuarMACHT UND ENTSCHEIDUNG
»Die wesentliche Aufgabe im Leben besteht darin, die Dinge zu erkennen und voneinander zu unterscheiden, um mir klar machen zu können, über welche äußeren Umstände ich keine Macht habe, und welche von Entscheidungen abhängen, die in meiner Macht stehen. Wo finde ich dann das Gute oder Böse? Nicht in den Dingen, die nicht in meiner Macht stehen, sondern in mir selbst, in den Entscheidungen, die ich treffe ...«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.5.4–5
Der wichtigste Ansatz der stoischen Philosophie ist, zu unterscheiden zwischen dem, was wir verändern können, und dem, was wir nicht verändern können. Worauf wir Einfluss nehmen können und worauf nicht. Wenn ein Flug wegen schlechten Wetters Verspätung hat, nutzt es nichts, Flughafenmitarbeiter zu beschimpfen. Das verändert die Wetterlage nicht. Wie sehr du es dir auch wünschen magst, du wirst nicht größer oder kleiner oder in einem anderen Land geboren. Wie sehr du dich auch bemühst, du kannst niemanden zwingen, dich zu mögen. Darüber hinaus ist die Zeit, die du aufwendest, um dich auf unveränderliche Dinge zu stürzen, Zeit, die du nicht auf Dinge verwenden kannst, die wir verändern können.
Die Recovery Community (US-amerikanische Selbsthilfebewegung, Anm. d. Ü.) praktiziert ein sogenanntes Gebet der Gelassenheit: »Gott, gib mir die Gelassenheit, die Dinge, die ich nicht ändern kann, zu akzeptieren, den Mut, die mir möglichen Dinge zu verändern, und die Weisheit, den Unterschied zu erkennen.« Abhängige können den Missbrauch, den sie in ihrer Kindheit erlitten haben, nicht ändern. Sie können die Entscheidungen, die sie getroffen haben, oder den Schmerz, den sie verursacht haben, nicht ungeschehen machen. Aber sie können ihre Zukunft verändern – durch die Kraft, die sie im gegenwärtigen Moment haben. In den Worten Epiktets: Sie haben die Macht über die anstehenden Entscheidungen.
Dasselbe gilt heute für uns. Wenn wir uns vergegenwärtigen, welche Teile des Tages wir beeinflussen können und welche nicht, werden wir nicht nur glücklicher sein, sondern einen entscheidenden Vorteil gegenüber anderen Menschen haben, die nicht einsehen wollen, dass sie einen Kampf führen, den sie nicht gewinnen können.
2. JanuarBILDUNG BEDEUTET FREIHEIT
»Was sind die Früchte dieser Lehrstunden? Nur der schönste und angemessenste Ertrag der wahrhaft Gebildeten: Gelassenheit, Angstlosigkeit und Freiheit. Wir sollten nicht den Massen trauen, die sagen, nur wer frei ist, kann gebildet sein, sondern vielmehr den Weisen, die sagen: Nur die Gebildeten sind frei.«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.1.21–23a
Warum hast du zu diesem Buch gegriffen? Warum greift man überhaupt zu einem Buch? Nicht, um klüger zu erscheinen. Nicht, um sich die Zeit in einem Flugzeug zu vertreiben. Nicht, um zu erfahren, was du ohnehin schon weißt – es gibt genügend andere Möglichkeiten als zu lesen.
Nein, du hast zu diesem Buch gegriffen, weil du lernen möchtest, wie man lebt. Weil du dich freier und furchtloser fühlen sowie deinen inneren Frieden finden willst. Bildung – die weisen Worte großer Geister zu lesen und über sie nachzudenken – betreibt man nicht um ihrer selbst willen. Man verfolgt ein Ziel.
Merke dir dies für die Tage, an denen du dich leicht ablenken lässt, wenn das Fernsehgucken oder die kleine Zwischenmahlzeit dir verlockender erscheint als Philosophisches zu lesen oder zu studieren. Wissen – besonders Selbsterkenntnis – ist Freiheit.
3. JanuarHABE KEIN MITLEID MIT BEDEUTUNGSLOSEN DINGEN
»Wie viele haben dein Leben vergeudet, ohne dass du dir bewusst warst, wie viel du verlierst. Wie viel hast du auf sinnlosen Kummer, haltlose Freude, gieriges Verlangen oder gesellschaftliche Vergnügungen verschwendet – wie wenig von dir selbst ist dabei übrig geblieben. Du wirst erkennen, dass du vor deiner Zeit stirbst!«
Seneca, Über die Kürze des Lebens, 3.3b
Eines der schwierigsten Dinge im Leben ist, »Nein« zu sagen. Zu Einladungen, zu Bitten, zu Verpflichtungen, zu all dem, was jeder andere zu machen scheint. Noch schwieriger ist es, Nein zu zeitraubenden Gefühlen zu sagen: Wut, Begeisterung, Ablenkung, Besessenheit, Begierde. Keine dieser Regungen müsste man für sich genommen als eine große Sache betrachten, aber wenn sie außer Kontrolle geraten, können wir uns ihnen nicht mehr entziehen.
Wenn du nicht aufpasst, werden sie zu Problemen, die dich überwältigen und dein Leben bestimmen. Hast du dich jemals gefragt, wie du etwas von deiner Zeit zurückbekommen kannst, wie du dich weniger eingespannt fühlst? Fang an, indem du dir die Macht des »Nein« aneignest – wie etwa »Nein, danke« und »Nein, damit möchte ich nichts zu tun haben« und »Nein, ich kann gerade nicht«. Mag sein, dass du Gefühle anderer verletzt. Mag sein, dass du Leute vor den Kopf stößt. Es mag dir mühsam erscheinen. Aber je häufiger du Nein zu Dingen sagst, die nicht von großer Bedeutung für dich sind, desto häufiger kannst du Ja zu den Dingen sagen, die dir wichtig sind. Nur so kannst du aufblühen und dein Leben genießen – das Leben, das du willst.
4. JanuarDIE GROSSEN DREI
»Alles, was du brauchst, ist folgendes: sicheres Urteilsvermögen im gegenwärtigen Augenblick; Einsatz für das Gemeinwohl im gegenwärtigen Augenblick; und ein Gefühl von Dankbarkeit im gegenwärtigen Augenblick für alles, was dir begegnet.«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 9.6
Wahrnehmung, Handeln, Wille. Dies sind die drei ineinandergreifenden und ausschlaggebenden Disziplinen des Stoizismus (sie spiegeln sich ebenso im Aufbau dieses Buches und in der ein Jahr währenden Reise, die du gerade begonnen hast). Die Philosophie geht mit Sicherheit noch viel weiter – wir könnten den ganzen Tag damit verbringen, über die einzigartigen Ansichten verschiedener Stoiker zu reden. »So dachte Heraklit ...« »Zeno stammt aus Kition, einer Stadt auf Zypern, und er glaubte ...« Aber würden dir solche Fakten Tag für Tag helfen? Welche Erkenntnis würden solche Nebensächlichkeiten bringen?
Die folgende kleine Gedächtnishilfe, die dich an jedem Tag, bei jeder Entscheidung begleiten soll, fasst die drei essentiellen Aspekte der stoischen Philosophie zusammen:
Steuere deine Wahrnehmungen. Führe deine Handlungen angemessen aus. Akzeptiere bereitwillig, was außerhalb deiner Macht steht.
Das ist alles, was wir tun müssen.
5. JanuarDEFINIERE DEINE ABSICHTEN
»Lasse alle deine Bemühungen zielgerichtet sein und behalte dieses Ziel im Blick. Es ist nicht das Handeln, das die Menschen beunruhigt, sondern falsche Vorstellungen von Dingen, die sie um den Verstand bringen.«
Seneca, Von der Ruhe des Gemüts, 12.5
Das Gesetz 29 aus dem Buch The 48 Laws of Power von Robert Greene lautet: Plane alles ganz bis zum Ende durch. Er schreibt: »Wenn man etwas bis zum Ende durchplant, wird man nicht von äußeren Umständen aus der Bahn geworfen und man weiß, wann man aufhören muss. Wer weit vorausdenkt, kann dem Glück auf die Sprünge helfen und dazu beitragen, die Zukunft selbst zu gestalten.« Die zweite Gewohnheit in dem Buch The 7 Habits of Highly Effective People lautet: Beginne mit einem gesteckten Ziel.
Ein Ziel im Hinterkopf zu haben, bedeutet nicht, dass du garantiert dein Ziel erreichen wirst – kein Stoiker würde eine solche Annahme tolerieren – aber kein Ziel zu haben führt mit Sicherheit zu gar nichts. Für die Stoiker sind oiêsis (falsche Vorstellungen) nicht nur für Seelenqualen verantwortlich, sondern auch für chaotische und zerrüttete Lebensläufe und ins Leere laufende Handlungen. Wenn deine Bemühungen keinem Zweck dienen oder auf kein Ziel gerichtet sind, wie willst du dann wissen, was du tagein, tagaus tun sollst? Wie willst du wissen, zu was du Nein sagen sollst und zu was Ja? Wie willst du erkennen, wann es reicht, wann du dein Ziel erreicht hast, wann du vom Weg abgekommen bist, wenn du zuvor diese Dinge nicht festgelegt hast?
Die Antwort lautet: Es wird dir nicht möglich sein. Und du wärst zum Scheitern verurteilt – oder schlimmer noch, du würdest durch diese Orientierungslosigkeit in den Wahnsinn getrieben.
6. JanuarWO, WER, WAS UND WARUM
»Ein Mensch, der nicht weiß, was das Universum ist, weiß nicht, wo er ist. Ein Mensch, der den Zweck seines Lebens nicht kennt, weiß nicht, wer er ist, und auch nicht, was das Universum ist. Ein Mensch, der keins von beiden weiß, weiß auch nicht, warum er existiert. Was soll man also mit Menschen machen, die die Anerkennung von jenen Menschen suchen oder meiden, die nicht wissen, wo und wer sie sind?«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.52
Der verstorbene Comedian Mitch Hedberg pflegte in seinen Shows eine lustige Geschichte zu erzählen. Während eines live ausgestrahlten Radiointerviews fragte ihn der Moderator: »Nun, wer sind Sie?« In diesem Augenblick schoss ihm durch den Kopf: ›Ist der Typ tiefsinnig oder bin ich zum falschen Sender gefahren?‹
Wie oft wird uns eine einfache Frage gestellt wie »Wer bist du?« oder »Was machst du?« oder »Wo kommst du her?« In Anbetracht dessen, dass es eine oberflächliche Frage ist – wenn wir uns überhaupt darüber Gedanken machen – begnügen wir uns mit nicht viel mehr als einer oberflächlichen Antwort.
Aber selbst wenn man ihnen die Pistole auf die Brust setzte, könnten die meisten Menschen wohl keine substantielle Antwort geben. Wie sieht es bei dir aus? Hast du dir die Zeit genommen, um dir darüber klar zu werden, wer du bist und wofür du stehst? Oder bist du zu sehr damit beschäftigt, unwichtigen Dingen hinterherzujagen und den falschen Vorbildern nachzueifern? Schlägst du etwa Pfade ein, die dich enttäuschen, nicht erfüllen oder überhaupt nicht existieren?
7. JanuarSIEBEN KLARE FUNKTIONEN DES VERSTANDES
»Die wahre Arbeit des Verstandes besteht in der Ausführung von Entscheidung, Verweigerung, Sehnsucht, Abwehr, Vorbereitung, Zweckbestimmung und Zustimmung. Was kann dann noch die angemessene Funktion unseres Verstandes vergiften und verstopfen? Nichts außer seine eigenen korrupten Entscheidungen.«
Epiktet, Lehrgespräche, 4.11.6–7
Lasst uns diese Aufgaben jede für sich entschlüsseln:
Entscheidung – richtig handeln und denken
Verweigerung – von Verführung
Sehnsucht – sich zu verbessern
Abwehr – von Negativität, schlechten Einflüssen und Unwahrheiten
Vorbereitung – auf das, was vor uns liegt oder was immer passieren kann
Zweckbestimmung – unser Leitprinzip und unsere höchste Priorität
Zustimmung – frei von Selbsttäuschung sein darüber, was innerhalb und außerhalb unserer Macht steht (und bereit zu sein, Letzteres zu akzeptieren)
Dafür sollten wir unseren Verstand einsetzen. Wir müssen sicherstellen, dass er dazu bereit ist – und alles andere als Vergiftung oder Korruption betrachten.
8. JanuarUNSERE ABHÄNGIGKEITEN ERKENNEN
»Wir müssen viele Dinge aufgeben, von denen wir abhängig sind und die wir als gut erachten. Andernfalls wird der Mut schwinden, der sich andauernd bewähren muss. Die Einzigartigkeit der Seele wird verloren gehen, denn sie kann sich nur abgrenzen, wenn sie das als nichtig abtut, was das Volk am meisten begehrt.«
Seneca, Moralische Briefe, 74.12b–13
Was wir als harmlose Schwäche betrachten, kann leicht zu einer ausgeprägten Abhängigkeit werden. Wir beginnen den Morgen mit einem Kaffee, und schon bald können wir nicht mehr ohne ihn in den Tag starten. Wir checken unsere E-Mails, weil es zu unserem Job gehört, und schon bald fühlen wir das Phantomklingeln unseres Handys in der Hosentasche. Schneller als wir denken, bestimmen diese harmlosen Angewohnheiten unser Leben.
Diese kleinen Triebe und Zwänge nagen nicht nur an unserer Freiheit und Souveränität, sie vernebeln unsere klaren Gedanken. Wir denken, wir hätten alles unter Kontrolle – aber haben wir das wirklich? Ein Abhängiger hat es einmal so beschrieben: Abhängigkeit ist »der Verlust der Freiheit, verzichten zu können«. Lasst uns diese Freiheit zurückerobern.
Was deine Abhängigkeit ist, kann ganz unterschiedlich sein: Limonade? Drogen? Meckerei? Klatsch? Das Internet? Fingernägelkauen? Aber du musst die Fähigkeit zurückgewinnen, darauf zu verzichten, denn das ist der Schlüssel zu Klarheit und Selbstbeherrschung.
9. JanuarWAS IN UNSERER MACHT STEHT UND WAS NICHT
»Einige Dinge stehen in unserer Macht, andere nicht. Wir beherrschen unser Denken, unsere Entscheidungen, unsere Wünsche und Abneigungen, kurzum, alles, was sich aus uns selbst heraus entwickelt. Wir beherrschen nicht unsere Körper, unseren Besitz, unser Ansehen und unsere Stellung, kurzum, alles, was sich nicht aus uns entwickelt. Die Dinge, die wir beherrschen, sind sogar von Natur aus frei, ohne Hindernisse und Beschränkungen, während jene Dinge, die wir nicht beherrschen, anfällig, abhängig und beschränkt sein können, und sie sind nicht unser eigen.«
Epiktet, Enchiridion, 1.1–2
Auf die Ereignisse, die heute von außen auf dich zukommen, hast du keinen Einfluss. Ist das beängstigend? Ein wenig, aber das gleicht sich aus, sobald wir erkennen, dass es an uns liegt, welche Meinung wir über solche Ereignisse haben. Du entscheidest, ob sie gut oder schlecht sind, ob sie gerecht oder ungerecht sind. Du beherrschst die Situation nicht, aber es steht in deiner Macht, wie du darüber denkst.
Siehst du, wie das funktioniert? Jede einzelne Sache, die außerhalb deiner Macht steht – die Außenwelt, andere Menschen, Glück, Karma, was auch immer – hat eine zweite Interpretationsebene, über die du selbst bestimmst. Das allein gibt uns Gestaltungsspielraum und Macht.
Das Beste: Wenn wir verstehen, was in unserer Macht steht, gewinnen wir eine klare Erkenntnis über die Welt. Alles, was wir haben, ist unser Verstand. Rufe dir das heute in Erinnerung, wenn du versuchst, deine Fühler nach außen zu strecken – dass es besser und angemessener ist, sie nach innen zu richten.
10. JanuarWENN DU NACH BESTÄNDIGKEIT SUCHST
»Die Essenz des Guten ist eine bestimmte Form der bewussten Entscheidung, so wie die Essenz des Bösen eine andere Form ist. Welche Rolle spielen dann die äußeren Umstände? Sie sind bloß das Rohmaterial für unsere bewusste Entscheidung, erst im Zusammenspiel mit ihnen entwickelt sich das Gute oder Böse. Wie finden wir das Gute? Doch nicht, indem wir staunend das Rohmaterial betrachten. Denn wenn unsere Urteile über das Material geradlinig sind, dann treffen wir gute Entscheidungen, aber wenn diese Urteile verworren sind, dann fällen wir schlechte Entscheidungen.«
Epiktet, Lehrgespräche, 1.29.1–3
Die Stoiker strebten nach Beständigkeit, Stabilität und Gelassenheit – Eigenschaften, die auch wir oftmals anstreben, auch wenn unsere Erfahrungen nur flüchtig zu sein scheinen. Wie haben die Stoiker dieses hehre Ziel erreicht? Wie verkörpert man eustatheia (dieses Wort benutzte Arrian, um diese Lektion des Epiktet zu beschreiben)?
Nun, das ist keine Sache des Glücks. Es bedeutet nicht, dass wir Einflüsse von außen meiden oder uns in Stille und Abgeschiedenheit flüchten. Stattdessen bedeutet es, dass wir die Außenwelt mit der Richtschnur unseres Urteilsvermögens sondieren. Das ist es, was unser Verstand vermag: Er kann den verworrenen, verwirrenden und uns überwältigenden äußeren Einflüssen Ordnung geben. Doch wenn unsere Urteile verworren sind, weil wir unseren Verstand nicht einsetzen, dann wird alles, was folgt, ebenfalls verworren sein und wir sind nicht mehr fähig, inmitten des unüberschaubaren Alltagstrubels unsere innere Ruhe zu finden. Wenn du Beständigkeit suchst, wenn du Klarheit anstrebst, dann ist ein gutes Urteilsvermögen der beste Weg.
11. JanuarWENN DU NACH UNBESTÄNDIGKEIT SUCHST
»Denn wenn jemand darauf bedacht ist, bewusste Entscheidungen zu fällen, und die Konsequenzen bedenkt, dann gewinnt er gleichsam an Willenskraft, anderes zu vermeiden. Doch wenn er sich mit Bedacht von der bewussten Entscheidung abwendet und sich Dingen zuwendet, die nicht in seiner Macht stehen, mit dem Wunsch, das zu vermeiden, was andere beeinflussen, dann wird er nervös, ängstlich und unbeständig sein.«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.1.12
Wenn wir an einen Zen-Philosophen denken, sehen wir vor unserem inneren Auge einen Mönch hoch oben in den grünen, abgeschiedenen Bergen oder in einem wunderschönen Tempel auf einer steinigen Klippe. Die Stoiker sind das genaue Gegenteil von dieser Vorstellung. Sie sind vielmehr der Mann auf dem Marktplatz, der Senator im Forum, die tapfere Gattin, die darauf wartet, dass ihr Soldat von der Schlacht heimkehrt, die Bildhauerin in ihrem Atelier. Dennoch ruht der Stoiker gleichermaßen ganz in sich.
Epiktet unterstreicht, dass deine innere Ruhe und Beständigkeit aus deinen Entscheidungen und Urteilen resultieren, nicht aus dem, was dich umgibt. Wenn du versuchst, alles zu vermeiden, was deine Gelassenheit stören könnte – andere Menschen, äußere Ereignisse, Stress – wirst du damit keinen Erfolg haben. Deine Probleme werden dich verfolgen, wo immer du gehst und stehst. Aber wenn du danach trachtest, jene schmerzlichen und zerstörerischen Urteile zu meiden, die diese Probleme verursacht haben, wirst du ruhig und gelassen sein, wo immer du dich gerade befindest.
12. JanuarDER GUTE PFAD ZUR GELASSENHEIT
»Greife diesen Gedanken auf, sobald der Tag anbricht, und denke Tag und Nacht daran: Es gibt nur einen Weg zum Glück, und der besteht darin, alles, worauf du keinen Einfluss hast, aufzugeben, darüber hinaus nichts als deinen Besitz zu betrachten, alles andere Gott und dem Schicksal zu überlassen.«
Epiktet, Lehrgespräche, 4.4.39
Rufe dir am Morgen ins Gedächtnis, was in deiner Macht steht und was nicht. Denke daran, dich auf Ersteres und nicht auf Letzteres zu konzentrieren.
Erinnere dich am Mittag daran, dass das Einzige, was du wirklich besitzt, deine Fähigkeit ist, Entscheidungen zu treffen (und dabei deinen Verstand und dein Urteilsvermögen zu gebrauchen). Das ist das Einzige, was man dir nie nehmen kann.
Bedenke am Nachmittag, dass dein Schicksal, im Gegensatz zu den von dir getroffenen Entscheidungen, nicht vollkommen von dir abhängt. Die Welt dreht sich und wir drehen uns mit ihr – in welche Richtung auch immer, zum Guten oder Schlechten.
Am Abend erinnere dich noch einmal daran, wie viel außerhalb deiner Macht steht und wo deine Entscheidungen beginnen und enden.
Wenn du im Bett liegst, denke daran, dass Schlaf eine Form der Hingabe und des Vertrauens ist, und wie leicht er kommt. Und bereite dich vor, morgen den ganzen Zyklus von vorne zu beginnen.
13. JanuarDER ZIRKEL DER MACHT
»Wir beherrschen unsere bewussten Entscheidungen und alle Handlungen, die von dem moralischen Willen abhängen. Was wir nicht beherrschen, sind unsere Körper und all seine Einzelteile, unsere Besitztümer, Eltern, Geschwister, Kinder oder unser Land – alles, womit wir in Verbindung stehen.«
Epiktet, Lehrgespräche, 1.22.10
Dies hier ist so wichtig, dass man es nicht oft genug wiederholen kann: Ein weiser Mensch weiß, was im Bereich seiner Macht liegt und was nicht.
Glücklicherweise ist es ziemlich einfach, sich daran zu erinnern, was in unserer Macht steht. Den Stoikern zufolge enthält der Zirkel der Macht nur eine einzige Sache: DEINEN VERSTAND. Genau, selbst unser Körper ist nicht innerhalb dieses Bereichs. Schließlich könntest du jederzeit von einer Krankheit oder physischen Beeinträchtigung heimgesucht werden. Du könntest durch ein fremdes Land reisen und ins Gefängnis geworfen werden.
Aber das sind gute Neuigkeiten, denn es verringert in drastischer Weise die Menge der Dinge, an die du denken musst. In der Einfachheit liegt die Klarheit. Während jeder mit einer ellenlangen Liste an Verantwortlichkeiten herumläuft – Dinge, für die man eigentlich nicht verantwortlich ist – hast du nur eine einzige Sache, um die du dich kümmern musst: deine Entscheidungen, deinen Willen, deinen Verstand.
Behalte das im Kopf.
14. JanuarBEFREIE DEINEN VERSTAND
»Du musst begreifen, dass es etwas Kraftvolleres und Göttlicheres in dir gibt als das, was die körperlichen Leidenschaften erregt und dich wie eine Marionette bewegt. Welche Gedanken beherrschen deinen Geist? Doch nicht etwa Angst, Misstrauen, Begierde oder etwas dieser Art?«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 12.19
Denke an all jene, die dir an den Geldbeutel wollen oder um ein paar Sekunden deiner Aufmerksamkeit buhlen. Ernährungswissenschaftler entwickeln Produkte, die genau auf deine Geschmacksnerven abgestimmt sind. Ingenieure im Silicon Valley entwickeln Apps, die so süchtig machen wie Glücksspiele. Die Medien präsentieren Sensationsgeschichten, die in uns Wut und Entsetzen hervorrufen.
Dies ist nur ein kleiner Teil der Verführungen und Kräfte, die an uns zerren – uns ablenken und von den Dingen abbringen, die wahrhaft von Bedeutung sind. Marc Aurel war dankbarerweise diesen Extremen unserer modernen Gesellschaft nicht ausgeliefert. Aber er kannte eine Menge verführerischer Fallstricke: Klatsch, nicht enden wollende Arbeit, aber auch Angst, Misstrauen und Begierde. Jedes menschliche Wesen ist diesen inneren und äußeren Mächten ausgesetzt; sie werden zunehmend mächtiger und es wird immer schwerer, ihnen zu widerstehen.
Die Philosophie fordert uns auf, achtsam zu sein und danach zu streben, mehr als nur eine Schachfigur zu sein. So formulierte es Viktor Frankl in seinem Buch Der Wille zum Sinn: »Der Mensch ist hin- und hergerissen zwischen Tatendrang und Werten.« Diese Werte und innere Achtsamkeit schützen uns davor, Marionetten zu sein. Sicherlich erfordert es Arbeit, stets aufmerksam zu sein, aber ist das nicht besser, als an einer Strippe zu hängen?
15. JanuarFRIEDE BEDEUTET, SEINEN WEG ZU FINDEN
»Gelassenheit können nur jene erreichen, die ein unerschütterliches und klares Urteilsvermögen haben – der Rest hadert ständig mit seinen Entscheidungen, schwankt hin und her zwischen Ablehnung und Akzeptanz. Woher kommt dieses Für und Wider? Es rührt daher, dass nichts klar ist und sie sich auf den unsichersten Ratgeber verlassen: die öffentliche Meinung.«
Seneca, Moralische Briefe, 95.57b–58a
Seneca benutzt in seiner Abhandlung über die Gelassenheit das griechische Wort euthymia, das er folgendermaßen definiert: »An dich selbst zu glauben und zu vertrauen, dass du auf dem richtigen Weg bist; dich nicht abbringen zu lassen, indem du den unzähligen Fußpfaden derer folgst, die in alle möglichen Richtungen aufbrechen.« Es ist diese Gemütsverfassung, die laut Seneca Gelassenheit hervorruft.
Wir können nur an uns glauben, wenn wir den Weg klar vor Augen haben. Das soll nicht bedeuten, dass wir uns bei allem immer hundertprozentig sicher sind oder dies sein sollten. Wir brauchen lediglich die Zuversicht, dass wir uns grundsätzlich in die richtige Richtung bewegen – dass wir uns nicht ständig mit anderen Leuten vergleichen müssen oder alle paar Sekunden unsere Meinung ändern, je nachdem, ob wir etwas Neues erfahren.
Stattdessen finden wir Gelassenheit und Frieden, wenn wir unseren Weg erkennen und ihm treu bleiben, auch wenn hier und da kleine Korrekturen nötig sind – aber wir sollten die verführerischen Sirenen ignorieren, die uns zu den Klippen locken.
16. JanuarTUE NIE ETWAS AUS GEWOHNHEIT
»So wenden wir uns neuen Lebenslagen meist nicht in Einklang mit den richtigen Annahmen zu, sondern folgen dabei eher unliebsamen Gewohnheiten. Wenn dies der Fall ist, muss der Lehrling versuchen, darüber hinauszuwachsen, um nicht bloß nach Vergnügungen zu suchen oder sich vom Schmerz abzulenken; er muss aufhören, sich ans Leben zu klammern und den Tod zu verabscheuen; und, was Besitz und Geld betrifft, darf er das Nehmen nicht höher wertschätzen als das Geben.«
Musonius Rufus, Lehrgespräche, 6.25.5–11
Ein Arbeiter wird gefragt: »Warum machst du das so?« Und er antwortet: »Weil ich es schon immer so gemacht habe.« Diese Antwort frustriert jeden guten Vorgesetzten und lässt jeden Unternehmer aufhorchen, denn der Arbeiter hat aufgehört, mitzudenken und handelt ohne Verstand, nur aus Gewohnheit. Dieser Betrieb wird wohl bald von einem Mitbewerber zerstört werden, und der Arbeiter wird von einem vorausschauenden Chef wahrscheinlich gefeuert.
Mit der gleichen Konsequenz sollten wir bei unseren eigenen Gewohnheiten vorgehen. Tatsächlich beschäftigen wir uns genau deswegen mit Philosophie, um unser angelerntes Verhalten abzulegen. Finde heraus, was du aus Routine tust oder weil du es auswendig gelernt hast. Frage dich: Ist das wirklich der beste Weg, dies zu tun? Verstehe, warum du tust, was du tust – mache es aus den richtigen Gründen.
17. JanuarWAGE DEN NEUANFANG
»Ich bin dein Lehrer und du lernst in meiner Schule. Mein Ziel ist es, dass du die Vollendung erlangst, ohne Bürden, frei von zwanghaftem Verhalten, ohne Scham, befreit, aufblühend und glücklich, in kleinen und großen Dingen zu Gott aufschauend – dein Ziel ist es, all diese Dinge zu lernen und zu praktizieren. Warum vollendest du die Arbeit nicht, wenn du doch das richtige Ziel hast und ich sowohl das richtige Ziel als auch die richtige Vorbereitung habe? Was fehlt? ... Die Arbeit ist gut ausführbar und das Einzige, das in unserer Macht steht ... Lass die Vergangenheit hinter dir. Wir müssen nur beginnen. Glaube mir und du wirst sehen.«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.19.29–34
Erinnerst du dich daran, dass du in der Schule oder früher in deinem Leben Angst vor etwas hattest, weil du befürchtetest, dabei zu versagen? Die meisten Teenager albern lieber herum als sich anzustrengen. Halbherzig und bequemlich zu handeln gibt ihnen eine vorgefertigte Entschuldigung: »Spielt doch keine Rolle. Ich habe mir noch nicht einmal Mühe gegeben.«
Wenn wir älter werden, ist das Scheitern nicht mehr ohne Konsequenzen. Was auf dem Spiel steht, ist nicht irgendein Zeugnis oder eine Sporttrophäe an der Uni, sondern deine Lebensqualität und deine Fähigkeit, mit der Welt um dich herum klarzukommen.
Doch davon solltest du dich nicht einschüchtern lassen. Du hast die besten Lehrer der Welt: die weisesten Philosophen, die jemals gelebt haben. Und du bist nicht nur fähig dazu, dein Lehrer gibt dir eine sehr einfache Aufgabe: Fang an zu arbeiten! Der Rest folgt von allein.
18. JanuarBETRACHTE DIE WELT WIE EIN DICHTER UND KÜNSTLER
»Durchlaufe diese kurze Zeitspanne in Einklang mit der Natur, und erreiche deine letzte Ruhestätte in Würde, so wie die reife Olive, die vom Baum fällt und die Erde preist, die sie ernährt hat, und dem Baum dankbar ist, der sie wachsen ließ.«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 4.48.2
In den Selbstbetrachtungen von Marc Aurel gibt es überwältigend schöne Redewendungen – ein überraschendes Vergnügen, wenn man sein Publikum (er selbst) in Betracht zieht. In einem Abschnitt preist er den »Charme und Reiz« der Vorgänge in der Natur, die »Halme des reifen Korns, die sich nach unten biegen, die Falten werfende Braue des Löwen, der Schaum, der aus dem Maul eines Wildschweins tropft«. Dem Privatlehrer für Rhetorik, Marcus Cornelius Fronto, haben wir die Bildhaftigkeit dieser lebendigen Passagen zu verdanken. Fronto, der weithin als bester Redner neben Cicero galt, war von Marcs Adoptivvater ausgewählt worden, um ihn im Denken, Lesen und Schreiben zu unterrichten.
Mehr als nur schöne Redewendungen, vermittelte der Unterricht Marc – und nun uns – eine beeindruckende Betrachtungsweise einfacher und scheinbar bedeutungsloser Phänomene. Man muss den Blick eines Künstlers haben, um zu erkennen, dass das Ende des Lebens vergleichbar ist mit einer reifen Frucht, die vom Baum fällt. Nur eine Dichterseele bemerkt die Art und Weise, wie »gebackenes Brot an einigen Stellen bricht und diese Risse, auch wenn sie nicht zur Backkunst gehören, unseren Blick gefangen nehmen und unseren Appetit anregen«, und findet darin eine Metapher.
Es drückt sich eine Klarheit (und eine Freude) darin aus, etwas zu erkennen, was andere nicht wahrnehmen, Anmut und Harmonie an Stellen zu finden, die andere übersehen. Ist das nicht viel besser, als die Welt als einen düsteren Ort zu betrachten?
19. JanuarWO DU AUCH HINGEHST, DIE ENTSCHEIDUNG LIEGT BEI DIR
»Ein Podium und ein Gefängnis sind jeder ein Ort für sich, der eine liegt oben, der andere unten. Aber an beiden Orten wirst du die Entscheidungsfreiheit behalten, wenn du es wünschst.«
Epiktet, Lehrgespräche, 2.6.25
Die Stoiker stammten aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten innerhalb Roms strenger Hierarchie. Einige waren reich, andere kamen aus einfachsten Verhältnissen. Einige hatten es leicht, andere hingegen unvorstellbar schwer. Das gilt auch für uns – wir alle sind mit den unterschiedlichsten Vorgeschichten auf diese Philosophie gestoßen und haben in unserem Leben individuell glückliche Phasen und Pechsträhnen erfahren.
Aber unter allen Umständen – in der Not wie in der Überlegenheit – gibt es nur eine Sache, die wir tun müssen: uns auf das zu konzentrieren, was wirklich in unserer Macht steht. Im Moment mögen wir abgekämpft am Boden liegen, während wir vor einigen Jahren in Saus und Braus gelebt haben, und in nur ein paar Tagen haben wir vielleicht so viel Erfolg, dass es uns zu viel wird. Eine Sache bleibt unabänderlich: unsere Entscheidungsfreiheit – sowohl im kleinen als auch im großen Rahmen.
Das ist im Grunde genommen Erkenntnis. Wer wir auch sind, wo wir auch stehen – was zählt, sind unsere Entscheidungen. Worin bestehen sie? Wie werden wir sie bewerten? Wie nutzen wir sie bestmöglich? Das sind die Fragen, die das Leben uns stellt, ganz gleich, welche Position wir bekleiden. Wie wird deine Antwort lauten?
20. JanuarENTFLAMME DEINE GEDANKEN VON NEUEM
»Deine Prinzipien können nicht getilgt werden, es sei denn, du löschst alle Gedanken aus, von denen sie zehren. Es liegt immer in deiner Macht, neue zu entflammen ... Es ist möglich, ein neues Leben zu beginnen! Betrachte die Dinge so, wie du sie einst betrachtet hast – so beginnt man das Leben neu!«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 7.2
Hast du in den letzten Wochen viel durchmachen müssen? Bist du von deinen Prinzipien und Überzeugungen abgewichen, die dir so viel bedeuten? Das ist absolut in Ordnung. Das passiert uns allen.
Wahrscheinlich ist genau das auch Marc Aurel passiert, vielleicht hat er sich deswegen diese Notiz gemacht. Möglicherweise hatte er Probleme mit opponierenden Senatoren oder seinem verstörten Sohn. In diesen denkbaren Szenarios hat er womöglich seine Beherrschung verloren, ist depressiv geworden oder hat aufgehört, sich zu hinterfragen. Wer würde nicht so reagieren?
Aber hier soll daran erinnert werden, dass, ganz gleich, was passiert, ganz gleich, wie ernüchternd unser Verhalten in der Vergangenheit war, die Prinzipien selbst unverändert bleiben. Wir können sie in jedem Moment wieder aufgreifen und uns zu eigen machen. Was gestern geschah – was vor fünf Minuten geschah – gehört der Vergangenheit an. Wir können uns wieder neu entflammen und neu anfangen, wann immer wir es wollen.
Warum nicht jetzt gleich?
21. JanuarEIN MORGENDLICHES RITUAL
»Stelle dir als erstes am Morgen folgende Fragen:
Was fehlt mir, um mich von Leidenschaft zu befreien?
Wie steht es um meine Gelassenheit?
Was bin ich? Ein reiner Körper, ein Besitzender, ein guter Ruf? Nichts davon.
Was dann? Ein vernunftgesteuertes Wesen.
Was wird dann von mir verlangt? Bedenke deine Handlungen.
Wie konnte ich aus der Ruhe gebracht werden?
Was habe ich getan, was unfreundlich, unsozial oder unaufmerksam war?
Was habe ich bei all diesen Dingen unterlassen?«
Epiktet, Lehrgespräche, 4.6.34–35
Viele erfolgreiche Menschen haben ein morgendliches Ritual. Für einige ist es die Meditation. Für andere sind es Sportübungen. Manche führen ein Tagebuch – nur ein paar Seiten, in denen sie ihre Gedanken, Ängste und Hoffnungen niederschreiben. In diesen Beispielen geht es nicht um die Handlung an sich, sondern um die ritualisierte Reflexion. Die Idee dabei ist, nach innen zu schauen und sich genau zu betrachten.
Sich diese Zeit zu nehmen, ist das, wofür Stoiker eintraten, mehr als alles andere. Wir wissen nicht, ob Marc Aurel seine Selbstbetrachtungen am Morgen oder in der Nacht notierte, aber wir wissen, dass er sich Zeit für sich allein nahm – und dass er für sich selbst schrieb und für niemand anderen. Wenn du danach trachtest, dein eigenes Ritual zu starten, wären Marc Aurels Beispiel oder Epiktets Checkliste wahrlich nicht die schlechteste Wahl.
Stelle dir jeden Tag dieselben kniffligen Fragen. Fang noch heute an. Lass dich von der Philosophie und harter Arbeit zu besseren Antworten leiten, jeden Morgen aufs Neue, ein ganzes Leben lang.
22. JanuarDER TAG IM RÜCKBLICK
»Ich will mich ständig unter Beobachtung halten und – was am sinnvollsten ist – jeden Tag reflektieren. Denn was uns schlecht macht, ist, dass niemand von uns auf unser Leben zurückschaut. Wir beschäftigen uns nur mit dem, was wir gerade vorhaben. Und dabei stammen doch unsere Pläne für die Zukunft aus der Vergangenheit.«
Seneca, Moralische Briefe, 83.2
In einem Brief an seinen älteren Bruder Novatus beschrieb Seneca eine vorteilhafte Übung, die er sich bei einem anderen berühmten Philosophen abgeschaut hatte. Am Ende eines jeden Tages stellte er sich in steter Abwandlung folgende Fragen: Welche schlechte Angewohnheit habe ich heute im Zaum gehalten? Fühle ich mich jetzt besser? Waren meine Handlungen gerecht? Wie kann ich mich verbessern?
Zu Beginn oder am Ende jeden Tages setzt sich der Stoiker mit seinem Tagebuch hin und blickt auf das zurück, was er getan und gedacht hat, und was er verbessern könnte. Aus diesem Grund sind Marc Aurels Selbstbetrachtungen in gewisser Weise ein unergründliches Buch – es galt der persönlichen Einsicht, nicht dem öffentlichen Nutzen. Stoische Schreibübungen waren und sind auch eine Form, diese Philosophie zu praktizieren, genauso wie es ein wiederholtes Gebet oder ein Mantra ist.
Führe dein eigenes Tagebuch, ob auf dem Computer oder in einem kleinen Notizheft. Nimm dir Zeit, dir bewusst die Ereignisse des Tages in Erinnerung zu rufen. Sei unnachgiebig in deinen Beurteilungen. Notiere, was zu deiner Zufriedenheit beigetragen und was sie beeinträchtigt hat. Schreibe auf, woran du noch arbeiten möchtest, und notiere Zitate, die dir gefallen. Indem du dir die Mühe machst, solche Gedanken aufzuzeichnen, wirst du sie nicht so schnell vergessen. Ein zusätzlicher Bonus: Du kannst dich stets vergleichen und deine Fortschritte dokumentieren.
23. JanuarDIE WAHRHEIT ÜBER REICHTUM
»Lasst uns nun die ganz Reichen betrachten. Wie oft geschieht es, dass sie genauso ausschauen wie die Armen! Wenn sie weit reisen, müssen sie ihr Gepäck einschränken. Wenn Eile geboten ist, müssen sie auf ihre Entourage verzichten. Und diejenigen, die in der Armee sind, können kaum etwas von ihrem Besitz bei sich haben ...«
Seneca, Trostschrift an seine Mutter Helvia, 12.1.b–2
Der Schriftsteller F. Scott Fitzgerald, der häufig den Lebensstil der Reichen und Berühmten in Büchern wie The Great Gatsby glorifizierte, begann eine seiner Kurzgeschichten mit diesen inzwischen klassischen Zeilen: »Lass dir von den Steinreichen erzählen. Sie sind nicht wie du und ich.« Ein paar Jahre nachdem diese Geschichte veröffentlicht worden war, ärgerte Ernest Hemingway seinen Freund Fitzgerald, als er schrieb: »Ja, sie haben mehr Geld.«
Daran wollte uns auch Seneca erinnern. Als jemand, der zu den reichsten Männern Roms zählte, wusste er aus erster Hand, dass Geld nur oberflächlich das Leben verändert. Es löst die Probleme nicht, auch wenn Menschen ohne Geld meinen, dass sich mit Geld Probleme lösen ließen. Tatsächlich hängt das nicht vom materiellen Besitz ab. Äußere Dinge können keine inneren Konflikte lösen.
Wir vergessen das ständig – und es verursacht so viele Irritationen und Schmerzen. So schrieb Hemingway später über Fitzgerald: »Er dachte [die Reichen] wären eine besonders glamouröse Spezies, und als er herausfand, dass sie das nicht waren, war er genauso am Boden zerstört wie bei jeder anderen Sache, die ihn zerstört hat.« Wenn wir nichts ändern, gilt dasselbe für uns.
24. JanuarBEMÜHE DICH UM TIEFE EINSICHT
»Von Rusticus ... lernte ich, sorgfältig zu lesen und mich nicht damit zufriedenzugeben, etwas nur oberflächlich zu verstehen, und den Schwätzern nicht vorschnell zuzustimmen.«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 1.7.3
Das erste Buch von Marc Aurels Selbstbetrachtungen beginnt mit einer Reihe von Danksagungen. Nach und nach bedankt er sich bei jedem, der ihn in seinem Leben beeinflusst hat. Darunter befindet sich Quintus Iunius Rusticus, ein Lehrer, der in seinem Schüler die Liebe zu großer Klarheit und tiefer Einsicht weckte – den Wunsch, nicht nur an der Oberfläche zu bleiben, wenn es ums Lernen ging.
Durch Rusticus lernte Marc Aurel auch Epiktet kennen. Denn Rusticus lieh ihm sein persönliches Exemplar von Epiktets Vorträgen. Marc Aurel gab sich offensichtlich nicht damit zufrieden, nur das Wesentliche dieser Vorträge mitzubekommen und schlicht die Vorschläge seines Lehrers zu befolgen. Paul Johnson machte einmal den Witz, dass der Autor Edmund Wilson Bücher lese, »als kämpfe er vor Gericht um sein Leben«. Marc Aurel las Epiktet genauso – und genügten die Lektionen seinen Anforderungen, dann sog er sie förmlich in sich auf. Sie wurden Teil seiner DNA. Sein Leben lang zitierte er sie ausführlich, fand Klarheit und wahre Stärke in Worten, selbst angesichts des großen Luxus und der unbegrenzten Macht, die er später besitzen sollte.
Das ist die Art des vertieften Lesens und Studierens, die wir ebenfalls kultivieren sollten, weshalb wir pro Tag nur eine Seite lesen anstatt eines ganzen Kapitels. So können wir uns Zeit nehmen, aufmerksam zu lesen und uns darin zu vertiefen.
25. JanuarDER WAHRE LOHN
»Was ist noch lohnenswert? Ich glaube, dies: Unser Handeln und Nicht-Handeln einzig auf das zu reduzieren, was wir für unsere eigene Vorbereitung benötigen ... Darauf laufen alle Anstrengungen in der Erziehung und im Unterricht hinaus – das ist wirklich lohnenswert! Wenn du daran festhältst, wirst du aufhören, nach all den anderen Dingen zu streben ... Anderenfalls wirst du nicht frei, unabhängig und bar jeder Leidenschaft sein, sondern zwangsläufig neidisch, eifersüchtig und misstrauisch gegenüber jenen, die in der Lage sind, dir diese Dinge wegzunehmen, und du wirst dich gegen jene verschwören, die das besitzen, was du als erstrebenswert empfindest ... Aber Selbstachtung und die eigene Wertschätzung werden dazu führen, dass du mit dir zufrieden bist, mit deinen Mitmenschen besser auskommst und mit den Göttern stärker im Einklang bist – und alles preisen wirst, was sie für dich vorgesehen und dir auferlegt haben.«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 6.16.2b–4a
Warren Buffett, dessen Vermögen schätzungsweise 65 Milliarden Dollar beträgt, lebt immer noch in dem Haus, das er 1958 für 31 500 Dollar gekauft hat. John Urschel, ein American-Football-Spieler der Baltimore Ravens, verdient Millionen, gibt aber nur 25 000 Dollar im Jahr aus. Kawhi Leonard, Basketball-Star der San Antonio Spurs, fährt seit seiner Jugend noch immer einen 1997er Chevy Tahoe, obwohl sich sein Vertrag auf gut 94 Millionen Dollar beläuft. Warum? Das liegt nicht daran, dass diese Männer geizig sind, sondern dass die Dinge, die ihnen etwas bedeuten, nicht so viel kosten.
Weder bei Buffett noch bei Urschel oder Leonard ist dies ein Zufall. Ihr Lebensstil ist eine Sache der Priorität. Sie pflegen Interessen, die entschieden unter ihren finanziellen Möglichkeiten bleiben, und daher würde jedes Einkommen ihnen die Freiheit geben, den Dingen nachzugehen, die sie am meisten schätzen. Dass sie jenseits der Erwartungen reich geworden sind, ist nun mal so geschehen. Diese Art der Einsicht – zu wissen, was sie am meisten auf dieser Welt lieben – bedeutet, dass sie ihr Leben genießen können. Es bedeutet, dass sie noch immer glücklich wären, wenn der Markt zusammenbrechen oder ihre Karriere aus anderen Gründen ein jähes Ende finden würde.
Je mehr Dinge wir uns wünschen und je mehr wir tun müssen, um diese zu verdienen oder zu erreichen, desto weniger genießen wir tatsächlich unser Leben – und desto unfreier sind wir.
26. JanuarDIE KRAFT EINES MANTRAS
»Lösche die falschen Vorstellungen aus deinem Geist, indem du dir stets selbst versicherst: Ich habe die Seelenkraft, alles Böse, alle Begierden und jegliche Beunruhigung von mir fernzuhalten – stattdessen erkenne ich die wahre Natur der Dinge und ich gestehe ihnen nur das zu, was sie verdienen. Denke immer an diese Kraft, die die Natur dir gegeben hat.«
Marc Aurel, Selbstbetrachtungen, 8.29
Wer schon einmal an einem Yoga-Kurs teilgenommen hat oder sich mit der Gedankenwelt der Hindus oder Buddhisten beschäftigt hat, wird wahrscheinlich von dem Konzept eines Mantras gehört haben. In Sanskrit bedeutet es »heilige Äußerung« – im Grunde ein Wort, ein Ausdruck, ein Gedanke, sogar ein Klang, mit dem beabsichtigt wird, Einsicht zu erlangen und spirituelle Anleitung zu finden. Ein Mantra kann besonders beim Meditieren hilfreich sein, weil es uns ermöglicht, alles auszublenden, während wir uns konzentrieren.
Daher passt es, dass Marc Aurel dieses stoische Mantra empfahl – eine Orientierungshilfe oder Redewendung, die wir ergreifen, wenn wir spüren, dass falsche Eindrücke, Ablenkungen oder das tägliche Leben auf uns einstürzen. Im Wesentlichen besagt es: »Ich habe die Kraft in mir, das alles fernzuhalten. Ich kann die Wahrheit erkennen.«
Ändere den Wortlaut, wie es dir gefällt. Das ist ganz dir überlassen. Aber mache dir ein Mantra zu eigen und setze es ein, um die von dir ersehnte innere Klarheit zu finden.
27. JanuarDIE DREI BEREICHE DER AUSBILDUNG
»Es gibt drei Bereiche, in denen ein Mensch, der gut und weise sein will, ausgebildet werden muss. Der erste Bereich betrifft die Begierden und Abneigungen: Unsere Begierden dürfen uns nicht dazu treiben, Grenzen zu überschreiten, und unsere Abneigungen dürfen uns nicht in die Tiefe ziehen. Der zweite Bereich betrifft unsere Impulse, zu handeln oder es zu unterlassen – und im allgemeineren Sinne unsere Pflichten: Ein Mensch soll absichtsvoll handeln, aus gutem Grund, nicht unüberlegt. Der dritte Bereich befasst sich damit, frei von Trugschlüssen zu sein, er beinhaltet eine gewisse Gefasstheit und generell das Urteilsvermögen, die Bestätigung, die unser Verstand den Wahrnehmungen gewährt. Von all diesen Bereichen ist der wichtigste und dringlichste der erste, derjenige, der die Leidenschaften reguliert, denn wir entwickeln nur dann starke Gefühle, wenn wir hinsichtlich unserer Begierden und Abneigungen scheitern.«
Epiktet, Lehrgespräche, 3.2.1–3a
Heute wollen wir uns auf die drei Bereiche der Ausbildung konzentrieren, die Epiktet uns dargelegt hat.
Zuerst müssen wir uns überlegen, was uns wünschenswert erscheint und wogegen wir abgeneigt sind. Warum? Damit wir nach dem Guten streben und das Üble vermeiden. Es genügt nicht, nur auf den eigenen Körper zu hören, weil das, wozu wir uns hingezogen fühlen, uns auch in die Irre leiten kann.
Als nächstes müssen wir unsere Handlungsimpulse unter die Lupe nehmen, also unsere Motivation. Handeln wir aus den richtigen Gründen? Oder handeln wir, weil wir nicht nachgedacht haben? Oder glauben wir, dass wir etwas tun müssen?
Abschließend geht es um unser Urteilsvermögen. Unsere Fähigkeit, Dinge klar und deutlich einzuschätzen, verdanken wir dem größten Geschenk der Natur: der Vernunft.