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Im Laufe der Geschichte hatten große Anführer, Denker, Künstler und Visionäre die Eigenschaft, Launen zu überwinden, Ablenkungen zu vermeiden und das Richtige zu tun. Die Zen-Buddhisten beschrieben es als inneren Frieden und wussten, dass es wichtig war, ob man ein Samurai-Krieger oder ein Mönch ist. Die Stoiker und Epikureer nannten es Ataraxie und glaubten, dass es ein Bollwerk gegen die Leidenschaften des Mobs, eine Voraussetzung für gute Führung und ein Weg zur tiefen Wahrheit sei. Ryan Holiday nennt es Stille – stabil sein, während sich die Welt um einen dreht. In diesem Buch skizziert er einen Weg zu dieser zeitlosen, aber dringend notwendigen Lebensweise. Ausgehend von den größten Denkern der Geschichte, von Konfuzius bis Seneca, von Mark Aurel bis Thích Nhât Hahn, von John Stuart Mill bis Nietzsche, zeigt er, dass Stille nicht nur Untätigkeit ist, sondern das Tor zur Selbstbeherrschung, Disziplin und Konzentration.
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RYAN HOLIDAY
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie. Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Für Fragen und Anregungen
5. Auflage 2024
© 2020 by FinanzBuch Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH
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80799 München
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Copyright der Originalausgabe © 2019 by Ryan Holiday. All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. Published by arrangement with Portfolio, an Imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC. Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel Stillness ist the Key.
Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme gespeichert, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.
Übersetzung: Thomas Gilbert
Redaktion: Anne Büntig-Blietzsch
Korrektorat: Dr. Manuela Kahle
Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, in Anlehnung an das Cover des Originals
Satz: Carsten Klein, Torgau
eBook: ePubMATIC.com
ISBN Print 978-3-95972-254-4
ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-475-3
ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-476-0
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Vorwort
Einleitung
TEIL I: GEIST
Die Domäne des Geistes
Widme dich dem Hier und Jetzt
Begrenze deinen Input
Löse dich von deinen Gedanken
Verlangsame dich, denk nach
Führe ein Tagebuch
Kultiviere die Stille
Strebe nach Weisheit
Vertrau dir selbst und vermeide es, egoistisch zu sein
Lass los
Was als Nächstes kommt
TEIL II: SEELE
Die Domäne der Seele
Die Kraft der Tugend
Heile das Kind in dir
Vorsicht vor dem Verlangen
Genug
Bade in Schönheit
Akzeptiere eine höhere Macht
Geh Beziehungen ein
Beherrsche deine Wut
Alles ist eins
Was als Nächstes kommt
TEIL III: KÖRPER
Die Domäne des Körpers
Sag Nein
Geh spazieren
Gewöhn dir eine Routine an
Werd dein Zeug los
Such die Einsamkeit
Sei ein Mensch
Leg dich schlafen
Such dir ein Hobby
Hüte dich vor dem Eskapismus
Sei mutig
Der Schlussakt
Nachwort
Was kommt als Nächstes?
Danksagung
Quellen und Literatur
Wir schreiben das späte erste Jahrhundert nach Christus. Lucius Annaeus Seneca, Roms erfolgreichster politischer Strippenzieher, der größte lebende Bühnenautor seiner Zeit und zugleich der weiseste Philosoph seiner Ära, konnte sich nicht recht auf die Arbeit konzentrieren. Das Problem war der markerschütternde unerträgliche Lärm, der von der Straße nach oben drang.
Rom war schon immer eine laute Stadt gewesen – man muss sie sich von der Lautstärke her so vorstellen wie eine große Baustelle in New York City –, aber der Häuserblock, in dem
Seneca wirkte, dröhnte geradezu aufgrund einer ohrenbetäubenden Kakophonie von Störgeräuschen. In der direkt unterhalb seiner Räumlichkeiten gelegenen Sporthalle trainierten die Athleten mit schweren Gewichten, die sie immer wieder fallen ließen. Eine Masseurin knetete die Rücken dicker alter Männer. Schwimmer plantschten im Becken herum. Am Eingang zum Gebäude wurde soeben ein Taschendieb festgenommen, der sich laut und bitterlich beschwerte. Auf den Pflastersteinen der Straße rumpelten Wagen vorbei; Zimmermänner hämmerten in ihrer Werkstatt und Straßenverkäufer priesen lauthals ihre Waren an. Kinder spielten und lachten. Hunde bellten.
Doch der Lärm vor seinem Fenster war noch das geringere Übel. Senecas Leben stand kurz vor dem Zusammenbruch. Er taumelte nahezu von einer Krise in die nächste. Politische Unruhen in Übersee bedrohten seine Finanzen. Das Alter machte sich zunehmend bemerkbar. Er war von seinen Feinden aus der Welt der Politik ins Abseits gedrängt worden, und nun, da er sich mit Nero zerstritten hatte, war es durchaus möglich, dass er seinen Kopf verlieren würde, sofern der Kaiser dies verlangte.
Wenn wir das von unserer Warte aus betrachten, mit unserem eigenen stets beschäftigten Leben, können wir gut nachvollziehen, dass dies nicht unbedingt ein positives Umfeld war, in dem ein Mensch viel würde erreichen können. Die Bedingungen waren alles andere als förderlich für das Denken, das Schreiben, die Kreativität oder für das Treffen sinnvoller Entscheidungen. Seneca gestand einem Freund, dass der Lärm und die Ablenkungen des Römischen Reiches ausreichten, »dass ich meine eigene Fähigkeit zu hören, hasse«.
Und doch hat diese Konstellation aus gutem Grund schon seit Jahrhunderten die Bewunderer Senecas fasziniert. Wie kann ein Mann, der sich zu allen Seiten Feindseligkeiten und Schwierigkeiten ausgesetzt sieht, nicht nur nicht verrückt werden, sondern auch noch die Seelenruhe finden, um in eben diesem Raum so klar zu denken und prägnant zu schreiben, dass Traktate entstanden, die nicht nur perfekt durchdacht und aufgebaut waren, sondern die Abermillionen von Lesern fanden und die grundlegenden Wahrheiten des Lebens ansprechen, deren Tiefe nur wenige Menschen überhaupt jemals durchdringen können?
»Ich habe meine Nerven gegen alle diese Dinge gestählt«, erklärte Seneca dem oben erwähnten Freund mit Bezug auf den Lärm. »Ich zwinge meinen Geist, sich zu konzentrieren und nicht zu all den Dingen abzuwandern, die sich außerhalb des Geistes abspielen; draußen kann das schlimmste Chaos herrschen, solange in mir keine Unruhe herrscht.«
Ist es nicht das, wonach wir uns alle sehnen? Welch eine Disziplin! Welch eine Konzentration! Fähig zu sein, alles, was sich um uns herum abspielt, auszublenden, jederzeit, an jedem Ort, unter jeglichen erschwerten Bedingungen Zugang zu haben zu den größten eigenen Fähigkeiten … wie wunderbar das wäre! Was wir nicht alles würden erreichen können! Wie viel glücklicher wir dann wären!
Für Seneca und die anderen Anhänger der stoischen Philosophie ging es darum, eine Form des inneren Friedens zu erlangen. Wenn sie den Zustand dieser sogenannten apatheia erreichten, dann konnte die ganze Welt im Kriegszustand sein, und sie würden trotzdem gut denken und gut arbeiten können, und es ginge ihnen gut. »Du weißt, dass du den inneren Frieden erlangt hast«, schrieb Seneca, »wenn kein Lärm dich erreicht, wenn kein Wort es schafft, dich aus deiner Gemütsruhe herauszuschütteln, seien es Worte des Lobes oder Drohungen oder einfach nur ein leeres Geräusch, das ohne bedeutungsvolle böse Absicht um dich herum brummt.« In einem solchen Zustand konnte nichts ihnen etwas anhaben (noch nicht einmal ein geisteskranker Imperator), kein Gefühl konnte sie aufwühlen, keine Bedrohung konnte sie unterbrechen, und jeder Herzschlag des Hier und Jetzt stand ihnen voll und ganz zur Verfügung.
Dies ist eine sehr wirkmächtige Vorstellung, deren Kraft ungebrochen ist, zumal, wenn man bedenkt, dass fast jede andere Philosophie der Antike – unabhängig, wie anders oder entfernt sie zu sein schien – zu fast genau dem gleichen Schluss kam. Ob man nun als Student im Jahre 500 vor Christus zu Füßen des Konfuzius saß, 100 Jahre später ein Schüler des frühen griechischen Philosophen Demokrit war oder eine Generation später im Garten des Epikur verweilte – stets hörte man mit ähnlichem Nachdruck die Forderung nach solcher Unerschütterlichkeit, Gelassenheit und innerer Ruhe.
Die Buddhisten bezeichneten diesen Zustand als upekkha. Die Muslime sprachen von aslama. Für die Hebräer war es hishtavut. Im zweiten Buch des Bhagavad Gita, des epischen Gedichts rund um den Krieger Arjuna, ist von samatvam die Rede, einer »Ausgeglichenheit des Geistes – ein Friede, der immer identisch ist«. Für die Griechen waren das euthymia und hesychia. Die Epikuräer nannten es ataraxia. Die Christen aequanimitas.
Auf Englisch heißt es stillness. Und auf Deutsch Ruhe.
Ruhe zu bewahren, während die Welt um einen herum sich immer schneller dreht. Ohne Hast zu handeln. Nur das zu hören, was gehört werden muss. Auf Kommando eine innere und äußere Stille erlangen zu können.
Einen Zugang zu haben zum dao und zum logos – zum Weg und zum Wort.
Buddhismus. Stoizismus. Epikureismus. Christentum. Hinduismus. Es ist nahezu unmöglich, eine philosophische Schule, Strömung oder eine Religion zu finden, die diesen inneren Frieden – diese Ruhe – nicht als höchstes Gut anpreist, als den Schlüssel zu den anspruchsvollsten Leistungen und zu einem glücklichen Leben.
Wenn sich also nahezu die gesamte Weisheit der Antike auf eine Sache einigen kann, dann wäre man doch schön dumm, wenn man sich weigerte, gut zuzuhören.
Der Ruf nach Stille kommt auf leisen Pfoten. Die moderne Welt tut das nicht.
Neben all dem Klappern und Gequatsche, dem Gezeter, den Intrigen und Kämpfen, die den Bürgern zu Zeiten Senecas geläufig gewesen sein dürften, haben wir auch noch Autohupen, Musikanlagen, die Klingeltöne von Mobiltelefonen und Social-Media-Apps, Motorsägen und Flugzeuge.
Unsere privaten und beruflichen Probleme sind ähnlich überwältigend. Mitbewerber machen sich in unserem Berufszweig breit. Unser Schreibtisch ächzt unter Stapeln von Papieren und unsere Mailbox versinkt unter einer Flut von Nachrichten. Wir sind jederzeit erreichbar, und das bedeutet auch, dass Gegenargumente und Updates stets in greifbarer Nähe sind. In den Nachrichten bombardiert man uns mit einer Krise nach der nächsten, egal auf welchen Bildschirm und welches Display wir blicken – und wir haben derer viele. Die tägliche Arbeitslast zermürbt uns und scheint niemals aufzuhören. Wir sind übersättigt, aber gleichzeitig unterernährt. Übermäßig stimuliert, übermäßig verplant, aber unsäglich einsam.
Wer hat die Kraft, dem ein Ende zu setzen? Wer findet die Zeit zum Nachdenken? Gibt es irgendjemanden, dem der Lärm und die vielen Störungen unserer Zeit nicht zusetzen?
Das Ausmaß und die Dringlichkeit unserer Kämpfe mögen zwar modern sein, aber dennoch wurzeln sie in einem zeitlosen Problem. Ein Blick auf die Geschichte zeigt uns, dass es immer schon äußerst schwierig gewesen ist, die Fähigkeit zu entwickeln, innere Ruhe zu finden und den Aufruhr in uns zu besänftigen, die Gedanken dazu zu bringen, dass sie sich nicht länger überschlagen, unsere Gefühle zu verstehen und Herr über unsere Körper zu sein. Schon 1654 sagte der französische Philosoph Blaise Pascal: »Alle Probleme der Menschheit resultieren aus der Unfähigkeit des Menschen, allein in einem Raum zu sitzen.«
In der Evolution haben bestimmte Spezies – etwa Vögel oder Fledermäuse – oft ähnliche Anpassungsmuster entwickelt, um zu überleben. Ganz ähnlich verhält es sich mit philosophischen Schulen, die durch gigantische Ozeane und riesige Entfernungen voneinander getrennt waren. Sie entwickelten jede für sich einzigartige Wege und hatten dasselbe grundlegende Ziel vor Augen: die Ruhe, der es bedarf, um sein eigenes Leben meistern zu können. Die Möglichkeit zu überleben und zu wachsen, egal in welchem Umfeld man sich befindet, egal wie laut es ist oder wie viel Trubel herrscht.
Deswegen ist diese Idee von der Wichtigkeit der Ruhe nicht irgendeine weiche New-Age-Mode oder den zurückgezogen lebenden Mönchen und Weisen vorenthalten, sondern Ruhe ist für uns alle ein grundlegendes Bedürfnis, ob wir jetzt Hedgefonds-Manager oder Leistungssportler sind, ob wir bahnbrechende neue Forschungen betreiben oder Kinder großziehen. Dies ist ein gangbarer Weg zu Erkenntnis und Spitzenleistungen, zu Größe und Glück, Leistung und Präsenz für jeden Menschen.
Ruhe ist das, was dem Pfeil des Bogenschützen die Treffsicherheit gibt. Sie inspiriert uns zu neuen Ideen. Sie verschärft unsere Perspektive und zeigt Verbindungen auf. Sie verlangsamt den Ball, so dass wir ihn sicher schießen können. Sie lässt Visionen entstehen, sie hilft uns, die überhitzten Gemüter eines Mobs zu vermeiden, sie schafft Raum für Dankbarkeit und Wunder. Ruhe erlaubt es uns, beharrlich zu bleiben. Unser Ziel zu erreichen. Sie ist der Schlüssel, mit dem ein Genie seine Erkenntnisse generiert, und sie macht es möglich, dass die Normalsterblichen diese Erkenntnisse verstehen können.
Dieses Buch vermittelt, wo sich jener Schlüssel befindet. Es hilft nicht nur dabei, die innere Ruhe zu finden, sondern auch, sie nach außen auszustrahlen – wie die Sonne, die mit ihrem Licht eine ganze Welt erhellt.
Zu Beginn des US-amerikanischen Bürgerkriegs gab es mehr als 100 verschiedene Pläne, wie der Sieg zu erlangen sei und wem man diesen Kampf anvertrauen solle. Jeder General bot vor jeder einzelnen Schlacht eine unzählige Menge an Kritikpunkten und gefährlichen, weil leidenschaftlichen Appellen – es herrschten Paranoia und Angst, Selbstsucht und Arroganz, und es gab so gut wie gar keinen Hoffnungsschimmer.
Es gibt eine wunderbare Szene inmitten dieser angespannten ersten Momente, als Abraham Lincoln sich in seinem Büro im Weißen Haus an eine Delegation von Generälen und Politikern wandte. Damals waren die meisten Menschen davon überzeugt, dass man den Krieg nur gewinnen könne, wenn man in den größten Städten des Landes, etwa in Richmond, New Orleans und vielleicht sogar auch in Washington, D.C., die entscheidenden Schlachten ausfocht: Episch und blutig sollten sie sein.
Lincoln, der sich selbst als Militärstratege weitergebildet hatte, indem er Bücher las, die er aus der Kongressbibliothek ausgeliehen hatte, breitete auf einem großen Tisch eine Landkarte aus und deutete stattdessen auf Vicksburg, Mississippi, eine Kleinstadt tief in den Südstaaten. Diese Stadt lag wie eine Festung auf den Klippen hoch über dem Mississippi River, und sie wurde von den härtesten Rebellentruppen gehalten. Die Stadt kontrollierte die Schifffahrt auf diesem strategisch wichtigen Fluss, in den an dieser Stelle noch weitere wichtige Flüsse mündeten. Außerdem führten hier Eisenbahnlinien entlang, die die Truppen der Konföderierten Armee ebenso versorgten wie die gigantischen Sklavenplantagen des gesamten Südens.
»Vicksburg ist der Schlüssel«, sagte er der anwesenden Menge mit der Inbrunst der Überzeugung eines Mannes, der sein Thema so intensiv studiert hat, dass er es in ganz einfachen Worten zum Ausdruck bringen kann. »Wir werden den Krieg nie beenden können, bis dieser Schlüssel in unserer Tasche steckt.«
Und Lincoln hatte Recht behalten. Es sollte zwar noch Jahre dauern, es sollte noch unglaubliche Gelassenheit und Geduld sowie einen unbändigen Glauben an die Aufgabe kosten, aber es war genau die Strategie, die er an jenem Tag in seinem Büro vorgestellt hatte, mit der letzten Endes der Krieg gewonnen und in den USA für immer die Sklaverei abgeschafft wurde. Jeder andere wichtige Sieg in diesem Bürgerkrieg – von Gettysburg über Shermans Marsch zum Meer bis hin zu Lees Kapitulation – war nur möglich, weil Ulysses S. Grant auf Anweisung von Lincoln im Jahr 1863 Vicksburg belagerte und weil er, nachdem er die Stadt erobert hatte, den Süden in zwei Teile aufspalten konnte und die Kontrolle über diese wichtige Wasserstraße gewann. In seiner reflektierten, intuitiven Art, ohne sich hetzen oder ablenken zu lassen, hatte Lincoln erkannt (und hielt unerschütterlich an dieser Überzeugung fest), was seine eigenen Berater und auch seine Feinde übersehen hatten. Das lag daran, dass er den Schlüssel besaß, der den Sieg greifbar machte – trotz all des Irrsinns und der heimlichen Feindschaft jener frühen rivalisierenden Seiten.
Auch wir stehen in unserem Leben einer scheinbar ähnlichen Anzahl von Problemen gegenüber; wir werden hierhin und dorthin gezerrt, in unzählige Richtungen, mit gegeneinander ankämpfenden Prioritäten und Überzeugungen. Egal, was unsere Ziele sind, ob wir etwas im Privatleben oder im Beruf erreichen wollen, immer sind uns Feinde und Hindernisse im Weg. Martin Luther King Jr. hat einmal festgestellt, dass im Inneren eines jeden Menschen ein gewaltiger Bürgerkrieg tobt – zwischen unseren Impulsen, Gutes oder Schlechtes zu tun, zwischen unseren Ambitionen und unseren Prinzipien, zwischen dem, was wir sein könnten, und den Schwierigkeiten, ein solches Ziel auch umzusetzen.
In diesen Kämpfen, in diesem Krieg, ist Ruhe sowohl der Fluss als auch jener Kulminationspunkt, von dem so viel abhängt. Ruhe ist der Schlüssel …
zu klarem Denken.
dazu, dass wir das ganze »Spielbrett« erkennen.
dazu, dass wir schwierige Entscheidungen treffen können.
dazu, dass wir unsere Gefühle im Griff haben.
dazu, dass wir die richtigen Ziele erkennen.
dazu, dass wir Momente extremer Anspannung aushalten.
dazu, dass wir Beziehungen aufrechterhalten können.
dazu, dass wir uns gute Angewohnheiten aneignen.
dazu, dass wir produktiv sein können.
zu körperlicher Bestleistung.
dazu, dass wir uns erfüllt fühlen.
dazu, dass wir Augenblicke von Glück und Freude genießen können.
Die Ruhe ist tatsächlich der Schlüssel zu nahezu allem.
Dazu, dass man eine bessere Mutter oder ein besserer Vater ist, ein besserer Künstler, ein besserer Investor, ein besserer Sportler, ein besserer Wissenschaftler, ein besseres menschliches Wesen. Sie öffnet uns die Türen zu allem, was wir in diesem Leben zu erreichen vermögen.
Jeder, der sich schon einmal so stark konzentriert hat, dass er einen plötzlichen Einblick oder eine Inspiration erlebt hat, weiß, was diese innere Ruhe ist. Jeder, der sich schon einmal voll und ganz einer Sache gewidmet hat, der den Stolz erlebt hat, etwas vollendet zu haben, der kennt diese Ruhe. Jeder, der schon einmal vor eine große Menschenmenge getreten ist und alles, was er je gelernt hat, in diesem einen Augenblick gebündelt hat, um es auf der Bühne zu präsentieren, der weiß, was innere Ruhe ist, selbst wenn sie während einer aktiven Bewegung zutage tritt. Jeder, der schon einmal Zeit mit einem besonderen, weisen Menschen verbracht hat und Zeuge wurde, wie dieser Mensch binnen zwei Sekunden ein Problem gelöst hat, mit dem wir uns monatelang beschäftigt haben, der kennt diese Ruhe. Jeder, der schon einmal allein nachts auf einer einsamen Straße unterwegs war, während es schneite, und der zugesehen hat, wie die Straßenlaternen die langsam treibenden Schneeflocken beleuchten, und der bei dieser Beobachtung von einem wohligen Glück erfasst wurde und das Leben genossen hat, auch der kennt diese Ruhe.
Wir starren auf die leere, weiße Seite vor uns und sehen zu, wie sie sich langsam mit perfekt formulierten Sätzen füllt, ohne so recht zu verstehen, wo diese Worte herkommen; wir stehen auf feinstem weißen Sand und blicken aufs Meer hinaus, oder überhaupt, wir beobachten die Natur und haben das Gefühl, dass wir Teil von etwas sind, das viel größer ist als wir selbst; ein ruhiger Abend mit jemandem, den wir lieben; die Zufriedenheit, die wir empfinden, wenn wir einem anderen Menschen Gutes haben tun können; wir sitzen allein, gedankenverloren und merken zum ersten Mal, dass wir darüber nachdenken und reflektieren, wie und was wir denken. Innere Ruhe.
Natürlich ist das Thema, über das wir hier reden, in gewissem Maße unergründlich, und es ist schwer in Worte zu fassen, was der Dichter Rainer Maria Rilke als »so ganz stille« beschreibt, »wenn das Zufällige und Ungefähre verstummte«.
Lao-Tse hat einmal gesagt: »Obwohl wir davon reden, das Tao zu erlangen, gibt es nichts wirklich, das wir erhalten.« Einem Schüler, der fragte, wo er wohl das Zen finden könne, antwortete der Meister: »Du suchst nach einem Ochsen, während du schon darauf sitzt.«
Du hast die Ruhe schon einmal gekostet. Du hast sie bereits in deiner Seele gespürt. Doch du willst noch mehr davon. Du brauchst mehr.
Darum ist es das Ziel dieses Buches, ganz einfach zu zeigen, wie wir die innere Ruhe, die wir tatsächlich schon längst besitzen, neu entdecken und Kraft aus ihr schöpfen können. Es geht darum, diese kraftvolle Quelle, die uns von Geburt an gegeben ist, zu kultivieren und eine Verbindung zu ihr herzustellen, obwohl sie in unserer modernen, vielbeschäftigten Welt viel zu oft verkümmert. Dieses Buch hat es sich zum Ziel gesetzt, die drängende Frage unserer Zeit zu beantworten: Wenn die stillen Momente die besten sind und wenn so viele weise und tugendhafte Menschen sie lobpreisen, warum nur sind diese Momente dann so rar gesät?
Die Antwort ist, dass wir zwar naturgegeben einen Zustand der inneren Ruhe besitzen, aber dass der Zugang nicht so einfach ist. Man muss ganz genau zuhören, um zu hören, wie die Ruhe zu uns spricht. Ihrem Ruf zu folgen, erfordert Durchhaltevermögen und Selbstbeherrschung. »Die Gedanken zur Ruhe zu bringen, das erfordert unglaubliche Disziplin«, schrieb der inzwischen verstorbene Komiker Garry Shandling in sein Tagebuch, während er sich bemühte, Status, Beruf und gesundheitliche Probleme unter einen Hut zu bringen. Und er fuhr fort: »Dieser Aufgabe muss man sich mit der größten Anstrengung widmen, die man im Leben aufbieten kann.«
Auf den folgenden Seiten werden dir die Geschichten und Strategien von Männern und Frauen präsentiert, die genau so waren wie du: Sie kämpften sich durch den Lärm und die vielen Verantwortlichkeiten im Leben genau wie du, doch es gelang ihnen, Ruhe zu finden und sie sich anzueignen. Du wirst Berichte lesen über die Triumphe und Durststrecken von Menschen wie John F. Kennedy und Fred Rogers, Anne Frank und Königin Victoria. Es wird Geschichten geben über Jesus Christus und Tiger Woods, Napoleon, den Komponisten John Cage, Sadaharu Oh, Rosanne Cash, Dorothy Day, Buddha, Leonardo da Vinci, Sokrates und Marc Aurel.
Wir werden uns auch mit Gedichten und Romanen, philosophischen Texten und wissenschaftlichen Publikationen beschäftigen. Wir werden uns bei jeder Strömung und Schule und bei jeder Epoche, die wir finden können, bedienen, um Strategien zu finden, die uns helfen, unsere Gedanken zu leiten, an unseren Gefühlen zu arbeiten und den Körper zu beherrschen. So können wir beides tun: weniger . . . und mehr. Mehr erreichen, es aber weniger brauchen. Uns besser fühlen und zugleich besser sein.
Um den Zustand der inneren Ruhe zu erreichen, müssen wir uns auf drei Bereiche konzentrieren: die zeitlose Trinität von Geist, Seele und Körper – von Kopf, Herz und Fleisch.
In jedem dieser Bereiche werden wir versuchen, das zu minimieren, was Störungen und Aufruhr hervorruft und somit die Ruhe unmöglich macht. Wir werden nicht mehr mit uns selbst und der Welt um uns herum im Streit sein, sondern stattdessen einen bleibenden inneren und äußeren Frieden etablieren.
Du weißt, dass es das ist, was du willst – und dass du es verdienst. Deswegen hast du dieses Buch in die Hand genommen.
Lass uns nun also gemeinsam dem Aufruf folgen. Lass uns die innere Ruhe finden, die wir suchen, und sie ganz genau betrachten.
Der Geist ist rastlos, Krishna, ungestüm, eigensinnig und schwer zu kontrollieren. Den Geist zu beherrschen, scheint so schwierig zu sein, wie die mächtigen Winde zu beherrschen.
DIE BHAGAVAD GITA
Die ganze Welt änderte sich innerhalb der wenigen kurzen Stunden, zwischen denen John F. Kennedy am 15. Oktober 1962 zu Bett ging und am folgenden Morgen aufwachte. Denn während der Präsident schlief, entdeckte die CIA, dass soeben auf der Insel Kuba, die nur 90 Meilen von der amerikanischen Küste entfernt liegt, Startrampen für sowjetische Mittel- und Langstreckenatomraketen gebaut wurden. Wie Kennedy später der konsternierten Öffentlichkeit berichtete: »Jede dieser Raketen ist in der Lage, Washington, D.C., den Panamakanal, Cape Canaveral, Mexiko City oder jede andere Stadt im Südosten der Vereinigten Staaten, in Mittelamerika oder in der Karibik zu treffen.«
Als Kennedy sein erstes Briefing über das erhielt, was wir heute als die Kubakrise bezeichnen – oder einfach als die Dreizehn Tage –, konnte der Präsident zunächst nur die möglichen erschreckenden Risiken in Betracht ziehen. Sollte es zu einem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und Russland kommen, so könnten bei den ersten Angriffen bis zu 70 Millionen Menschen sterben. Aber das war nur eine Vermutung – niemand kannte die möglichen katastrophalen Auswirkungen eines Atomkriegs.
Kennedy wusste genau, dass er einer beispiellosen Eskalation des seit Langem andauernden Kalten Kriegs zwischen den Vereinigten Staaten und der UdSSR gegenüberstand. Und was auch immer zu seiner Entstehung beigetragen hatte, egal wie unvermeidlich ein Krieg nun auch erscheinen musste, seine Aufgabe war es, die Dinge nicht noch schlimmer zu machen. Weil es das Ende des Lebens auf dem Planeten Erde bedeuten könnte.
Kennedy war ein junger Präsident aus gutem Hause, er war von einem aggressiven Vater erzogen worden, der es hasste zu verlieren, und in seiner Familie galt das nicht ganz ernst gemeinte Motto: »Rege dich nicht auf, räche dich«. Da er über nahezu keinerlei Erfahrung in einer Führungsposition verfügte, war es keine Überraschung, dass die ersten anderthalb Jahre von Kennedys Regierung nicht gut verlaufen waren.
Im April 1961 war ein Versuch Kennedys, von der Schweinebucht aus eine Invasion auf Kuba zu starten und Fidel Castro zu stürzen, kläglich gescheitert. Nur wenige Monate später wurde er bei einer Reihe von Treffen in Wien vom sowjetischen Ministerpräsidenten Nikita Chruschtschow diplomatisch überragt. (Kennedy nannte es später »die härteste Zeit meines Lebens«.) Als Chruschtschow die politische Schwäche seines Gegners erkannte und sich wahrscheinlich auch der chronischen körperlichen Gebrechen bewusst wurde, an denen Kennedy durch die Addison-Krankheit und die Rückenverletzungen aus dem Zweiten Weltkrieg litt, belog er Kennedy wiederholt bezüglich aller Waffen, die in Kuba stationiert wurden, und versicherte, dass sie nur zu Verteidigungszwecken verwendet würden.
Das heißt, dass Kennedy während der Kubakrise – wie jeder Regierungschef irgendwann in seiner Amtszeit – vor einer schwierigen Prüfung stand, die von persönlichen und politischen Umständen noch erschwert wurde. Es stellten sich zahlreiche Fragen: Warum sollte Chruschtschow so etwas tun? Was war sein endgültiges Ziel? Was wollte dieser Mann überhaupt erreichen? Gab es eine Möglichkeit, das Problem zu lösen? Was hielten Kennedys Berater davon? Welche Möglichkeiten gab es für Kennedy? War er dieser Aufgabe gewachsen? Hatte er das Zeug dazu?
Das Schicksal von Millionen von Menschen hing von seinen Antworten ab.
Der Rat von Kennedys Beratern erfolgte umgehend und mit Nachdruck: Die Raketenbasen mussten mit der geballten Kraft des militärischen Arsenals der USA vernichtet werden. Jede Sekunde, die ungenutzt blieb, riskierte die Sicherheit und den Ruf der Vereinigten Staaten. Nach dem Überraschungsangriff auf die Raketen müsse eine groß angelegte Invasion von US-amerikanischen Truppen auf Kuba folgen. Dies, so sagten sie, sei nicht nur durch die Handlungen der UdSSR und Kubas mehr als gerechtfertigt, sondern sei auch die einzige Option für Kennedy.
Ihre Logik war so elementar wie überzeugend: Aggression musste mit Aggression begegnet werden. Auge um Auge, Zahn um Zahn.
Das einzige Problem war, dass, wenn sich ihre Logik als falsch herausstellte, niemand da sein würde, um für diesen Fehler geradezustehen. Weil alle tot sein würden.
Anders als in den ersten Tagen seiner Präsidentschaft, als sich Kennedy von der CIA dazu drängen ließ, das Fiasko in der Schweinebucht zu unterstützen, überraschte er diesmal alle, indem er dagegenhielt. Er hatte kürzlich Barbara Tuchmans The Guns of August gelesen, ein Buch über den Beginn des Ersten Weltkriegs, das ihm das Bild von übertrieben selbstbewussten Weltherrschern einprägte, die sich in einen Konflikt stürzten, den sie, sobald er einmal losgebrochen war, nicht mehr aufhalten konnten. Kennedy wollte das Tempo drosseln, damit alle Beteiligten ernsthaft über das vorliegende Problem nachdenken konnten.
Dies ist in der Tat die erste Pflicht eines Anführers und eines Entscheidungsträgers. Unsere Aufgabe ist es nicht, auf unser Bauchgefühl zu hören oder uns auf den ersten Eindruck zu versteifen, den wir von einem Problem gewinnen. Nein, wir müssen stark genug sein, um uns jenem Denken zu widersetzen, das zu einfach, zu plausibel und damit fast immer falsch ist. Denn wenn sich der Anführer nicht die Zeit nehmen kann, sich einen klaren Gesamteindruck zu verschaffen, wer dann? Wenn der Anführer nicht alle Optionen bis zum Ende durchdenkt, wer dann?
In Kennedys handschriftlichen Notizen, die er während der Krise verfasste, können wir eine Art meditativen Prozess erkennen, mit dem er genau dies zu tun versuchte. Auf zahlreichen Seiten schreibt er »Rakete. Rakete. Rakete« oder »Veto. Veto. Veto. Veto« oder »Anführer. Anführer. Anführer.«. Auf einer Seite, die seinen Wunsch zeigt, nicht allein oder egoistisch zu handeln: »Konsens. Konsens. Konsens. Konsens. Konsens. Konsens.«. Auf einen länglichen gelben Notizblock zeichnete Kennedy zwei Segelboote und beruhigte sich mit Gedanken an das Meer, das er so sehr liebte. Schließlich schrieb er, auf Briefpapier des Weißen Hauses, als ob er sich selbst das einzig Wichtige erklären wollte, einen einzigen kurzen Satz: »Wir fordern den Abzug der Raketen.«
Vielleicht war es genau da, als Kennedy mit seinen Beratern zusammensaß und vor sich hin kritzelte, dass er sich an eine Passage aus einem anderen Buch erinnerte, das er gelesen hatte, ein Buch des Strategen B. H. Liddell Hart über die Nuklearstrategie. In Kennedys Rezension von Harts Buch für die Saturday Review of Literature ein paar Jahre zuvor hatte er diese Passage zitiert:
Bleiben Sie stark, wenn möglich. Bleiben Sie auf jeden Fall ruhig. Haben Sie grenzenlose Geduld. Drängen Sie niemals einen Gegner und helfen Sie ihm immer, sein Gesicht zu wahren. Versetzen Sie sich in seine Lage – damit Sie die Dinge durch seine Augen sehen können. Vermeiden Sie Selbstgerechtigkeit wie den Teufel – nichts ist so selbstblendend.
Es wurde während der Kubakrise zu Kennedys Leitmotiv. »Ich glaube, wir sollten darüber nachdenken, warum die Russen das getan haben«, sagte er seinen Beratern. Welchen Vorteil versprechen sie sich davon?, fragte er sich mit echtem Interesse. »Es muss einen wichtigen Grund für die Sowjets geben, so aufzurüsten.« Arthur Schlesinger Jr., Kennedys Berater und Biograf, schrieb dazu: »Mit seiner Fähigkeit, die Probleme anderer zu verstehen, konnte der Präsident erkennen, wie bedrohlich die Welt für den Kreml ausgesehen haben musste.«
Dieses Verständnis sollte ihm helfen, angemessen auf diese unerwartete und gefährliche Provokation zu reagieren – und ihm Aufschluss darüber geben, wie die Sowjets wiederum auf diese Reaktion reagieren würden.
Kennedy wurde klar, dass Chruschtschow die Raketen auf Kuba stationiert hatte, weil er glaubte, dass Kennedy schwach sei. Aber das bedeutete nicht, dass die Russen ihre eigene Position für besonders stark hielten. Nur eine verzweifelte Nation würde ein solches Risiko eingehen, erkannte Kennedy. Mit dieser Erkenntnis, die in langen Diskussionen mit seinem als ExComm bezeichneten Team entstand, begann er, einen Aktionsplan zu entwickeln.
Zweifellos war ein Militärschlag die irreversibelste aller Optionen (und nach Ansicht seiner Berater würde er wahrscheinlich nicht einmal zu 100 Prozent erfolgreich sein). Wie viele Soldaten würden bei einer Invasion sterben? Wie würde die Welt reagieren, wenn ein größeres Land in ein kleineres einfällt, selbst wenn es eine nukleare Bedrohung zu verhindern versucht? Was würden die Russen tun, um das Gesicht zu wahren oder ihre Soldaten auf der Insel zu schützen?
Diese Fragen veranlassten Kennedy zu einer Blockade Kubas. Fast die Hälfte seiner Berater lehnte diesen weniger aggressiven Schritt ab, aber er zog ihn gerade deshalb vor, weil er damit seine Optionen offenhielt.
Die Blockade war auch Ausdruck der Weitsichtigkeit, die in einem von Kennedys Lieblingsaphorismen steckte: Sie setzte auf den Faktor Zeit. Sie gab beiden Seiten die Chance, sich genau zu überlegen, was bei dieser Krise auf dem Spiel stand, und bot Chruschtschow die Möglichkeit, seinen Eindruck von Kennedys vermeintlicher Schwäche neu zu überdenken.
Diese Entscheidung Kennedys wurde von mancher Seite heftig kritisiert. Warum sollte man Russland überhaupt herausfordern? Warum waren die Raketen so eine große Sache? Hatten die Vereinigten Staaten nicht viele eigene Raketen, die auf die Sowjets gerichtet waren? Kennedy war diesem Argument gegenüber durchaus aufgeschlossen, aber wie er der amerikanischen Öffentlichkeit in einer Rede am 22. Oktober erklärte, war es nicht möglich, einfach klein beizugeben:
Die 1930er-Jahre haben uns eine deutliche Lektion erteilt: Aggressives Verhalten führt, wenn man es unkontrolliert und unwidersprochen wachsen lässt, in letzter Konsequenz zum Krieg. Unser Land ist gegen den Krieg. Wir stehen aber auch zu unserem Wort. Unser festes Ziel muss es daher sein, zu verhindern, dass diese Raketen gegen unser oder gegen irgendein anderes Land eingesetzt werden und ihren Rückzug aus der westlichen Hemisphäre oder ihre Beseitigung sicherzustellen […] Wir wollen nicht voreilig und ohne zwingenden Grund das Risiko eines weltweiten Atomkriegs auf uns nehmen, in dem auch die Früchte des Sieges bitter schmecken müssten. Aber wir werden auch vor diesem Risiko nicht zurückschrecken, wenn wir uns ihm stellen müssen.
Das Bemerkenswerteste an dieser Schlussfolgerung ist, mit welcher Ruhe Kennedy sie getroffen hatte. Trotz des enormen Drucks der Situation können wir den Tonbandaufnahmen, Transkripten und Fotos entnehmen, wie kooperativ und offen alle miteinander umgingen. Kein heftiger Streit, keine erhobenen Stimmen, keine Schuldzuweisungen (und wenn die Dinge mal zu heftig wurden, tat Kennedy sie mit einem Lachen ab). Kennedy ließ weder zu, dass sein eigenes Ego die Gespräche beherrschte, noch erlaubte er es jemand anderem. Als er bemerkte, dass seine Anwesenheit die Fähigkeit seiner Berater, offen zu sprechen, beeinträchtigte, verließ er den Raum, damit sie frei diskutieren und sich beraten konnten. Er ging über Parteigrenzen und frühere Rivalitäten hinaus, beriet sich freimütig mit den drei noch lebenden Ex-Präsidenten und lud den ehemaligen Außenminister Dean Acheson gleichberechtigt zu den hochgeheimen Treffen ein.
In den angespanntesten Momenten suchte Kennedy die Abgeschiedenheit im Rosengarten des Weißen Hauses (später bedankte er sich bei der Gärtnerin für ihren wertvollen Beitrag während der Krise). Er ging lange schwimmen, sowohl um seinen Kopf klar zu bekommen als auch um nachzudenken. Er saß in seinem speziell angefertigten Schaukelstuhl im Oval Office, badete im Licht dieser riesigen Fenster und linderte den Schmerz in seinem Rücken, damit dieser den Nebel des Kalten Kriegs, der so tief über Washington und Moskau lag, nicht noch verstärkte.
Es gibt ein Bild von Kennedy mit dem Rücken zum Raum, vornübergebeugt und mit beiden Fäusten auf jenen Schreibtisch gestützt, an den ihn Millionen von Wählern gebracht hatten. Das Schicksal der Welt lastete auf den Schultern dieses Mannes. Es war von einer atomaren Supermacht in einem überraschenden Akt der Arglistigkeit provoziert worden. Kritiker stellten seinen Mut infrage. Es gab politische Aspekte, persönliche Überlegungen, alles in allem mehr Faktoren, als eine Person auf einmal abwägen kann.
Doch nichts brachte ihn dazu, irgendetwas zu überstürzen. Nichts davon trübte sein Urteilsvermögen und hinderte ihn daran, das Richtige zu tun. Auf dem Foto ist er die Ruhe selbst.
Kennedy musste weiterhin die Ruhe behalten, denn die bloße Entscheidung zur Errichtung einer Blockade war nur der erste Schritt. Als Nächstes wurde dieser Sperrgürtel, der 500 Meilen rund um Kuba reichte, angekündigt und durchgesetzt. (Kennedy bezeichnete ihn klugerweise als »Quarantäne«, um den aggressiveren Unterton einer »Blockade« zu vermeiden.) Es gab weitere kriegstreiberische Anschuldigungen seitens der Russen und Auseinandersetzungen vor den Vereinten Nationen. Führende Kongressabgeordnete äußerten ihre Zweifel. Hunderttausende Soldaten machten sich in Florida einsatzbereit.
Dann waren da noch die anderen, konkreten Provokationen. Ein russisches Tankschiff näherte sich der Quarantänegrenze. Russische U-Boote tauchten auf. Ein US-amerikanisches Spionageflugzeug vom Typ U2 wurde über Kuba abgeschossen und der Pilot getötet.
Die beiden größten und mächtigsten Länder der Welt standen sich Auge in Auge gegenüber. Es war tatsächlich beängstigender und schlimmer, als die meisten Menschen ahnten – einige der sowjetischen Raketen, die zuvor als nur teilweise montiert gegolten hatten, waren bereits scharf und einsatzbereit. Doch auch wenn dies nicht bekannt war, war die große Gefahr spürbar.
Würde Kennedy seine Emotionen im Griff haben? Würde er nachgeben? Würde er einknicken?
Nein. Das würde er nicht.
»Es ist nicht der erste Schritt, der mich beunruhigt«, sagte er ebenso zu seinen Beratern wie zu sich selbst, »sondern dass beide Seiten es bis zum vierten und fünften Schritt eskalieren lassen – und wir nicht zum sechsten kommen, weil es niemanden mehr gibt, der das tun könnte. Wir müssen uns darüber klar sein, dass wir einen sehr gefährlichen Kurs eingeschlagen haben.«
Der Raum, den Kennedy Chruschtschow zum Durchatmen und Nachdenken ließ, zahlte sich gerade noch rechtzeitig aus. Am 26. Oktober, elf Tage nach Beginn der Krise, schrieb der sowjetische Ministerpräsident Kennedy einen Brief, in dem er mitteilte, dass er nun erkannt habe, dass die beiden an einem Seil mit einem Knoten in der Mitte – einem Knoten des Kriegs – zögen. Je stärker beide zögen, desto unwahrscheinlicher sei es, dass sie den Knoten jemals lösen könnten, bis es schließlich keine andere Wahl mehr gebe, als das Seil mit einem Schwert zu durchtrennen. Und dann lieferte Chruschtschow eine noch anschaulichere Analogie, die in der Geopolitik ebenso zutrifft wie im Alltag: »Wenn die Menschen keine staatsmännische Weisheit zeigen«, sagte er, »werden sie schließlich den Punkt erreichen, an dem sie aufeinandertreffen werden wie blinde Maulwürfe, und dann wird die gegenseitige Vernichtung beginnen.«
Plötzlich war die Krise so schnell vorbei, wie sie begonnen hatte. Die Russen, die erkannten, dass ihre Position unhaltbar war und dass sie gescheitert waren in ihrem Ansinnen, die Entschlossenheit der Vereinigten Staaten auf die Probe zu stellen, machten Anzeichen, dass sie verhandlungsbereit seien – dass sie die Raketen abziehen würden.
Die Schiffe hielten unverzüglich an. Auch Kennedy zeigte sich bereit. Er versprach, dass die Vereinigten Staaten nicht in Kuba einmarschieren würden, was den Russen und ihren Verbündeten einen Sieg bescherte. Im Geheimen ließ er die Russen wissen, dass er bereit sei, amerikanische Raketen in der Türkei abzuziehen, dies aber erst in einigen Monaten tun würde, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er so stark unter Druck gesetzt werden könnte, dass er einen Verbündeten aufgeben würde.
Mit klarem Verstand, Weisheit, Geduld und einem scharfen Blick für die Wurzel eines komplexen, provokativen Konflikts hatte Kennedy die Welt vor einem nuklearen Holocaust bewahrt.
Man könnte sagen, dass Kennedy – wenn auch nur für diesen kurzen Zeitraum von etwas weniger als zwei Wochen – es geschafft hatte, jenes Stadium der geistigen Klarheit zu erreichen, über das im alten chinesischen Text Tao te King gesprochen wird. Als er sich der nuklearen Vernichtung gegenübersah, muss er sich förmlich gesagt haben:
Vorsichtig, wie jemand, der einen gefrorenen Fluss überschreitet.
Auf der Hut wie ein Krieger in Feindesland.
Höflich wie ein Gast.
Glatt wie schmelzendes Eis.
Formbar wie ein Stück Holz.
Weit wie ein Tal.
Klar wie ein Glas Wasser.
Die Taoisten würden sagen, dass er das getrübte Wasser in seinem Kopf beruhigt hatte, bis er es durchschauen konnte. Oder um das Bild des Kaisers Marc Aurel, des stoischen Philosophen, der selbst unzählige Krisen und Herausforderungen ausgestanden hatte, zu zitieren: Kennedy war »wie der Fels gewesen, über dem die Wellen immer wieder zusammenbrachen. Er steht ungerührt und das Meer tost weiterhin um ihn herum«.
Jeder von uns wird in seinem eigenen Leben mal mit einer Krise konfrontiert. Die Einsätze mögen niedriger sein, aber für uns mögen sie nicht minder von Bedeutung sein. Ein Unternehmen am Rande des Zusammenbruchs. Eine erbitterte Scheidung. Eine Entscheidung über die Zukunft unserer Karriere. Ein Moment, in dem alles, was auf dem Spiel steht, von uns selbst abhängt. Diese Situationen erfordern alle unsere geistigen Ressourcen. Eine emotionale, spontane Reaktion, eine unbedachte, halbgare Antwort wird sie nicht lösen. Nicht, wenn wir es richtigmachen wollen. Nicht, wenn wir unser Bestes geben wollen.
Was wir dann brauchen werden, ist die gleiche innere Ruhe, auf die Kennedy zurückgegriffen hat. Seine Gelassenheit. Seine Aufgeschlossenheit. Sein Mitgefühl. Seine Klarheit darüber, was wirklich wichtig war.
In diesen Situationen müssen wir
vollständig im Hier und Jetzt sein.
uns von allen Vorurteilen befreien.
uns Zeit nehmen.
uns in Ruhe hinsetzen und nachdenken.
uns nicht ablenken lassen.
Ratschläge gegenüber unseren eigenen Überzeugungen abwägen.
alle Optionen in Betracht ziehen, ohne uns gelähmt zu fühlen.
Wir müssen mentale Ruhe kultivieren, um im Leben erfolgreich zu sein und die vielen Krisen, die sich uns in den Weg stellen, erfolgreich bewältigen zu können. Es wird nicht einfach sein. Aber es ist enorm wichtig.
Für den Rest seines kurzen Lebens fürchtete Kennedy, dass die Menschen aus seinen Handlungen während der Kubakrise die falschen Lehren ziehen würden. Es war nicht so, dass er sich den Sowjets entgegengestellt und sie mit überlegenen Waffen bedroht hatte, bis sie sich zurückzogen. Stattdessen hatte sich eine ruhige und rationale Führung gegenüber schnelleren, leichtsinnigen Stimmen durchgesetzt. Die Krise wurde dank seiner eigenen Selbstbeherrschung und der Selbstbeherrschung seiner Untergebenen gelöst – und es waren diese Eigenschaften, auf die Amerika in den kommenden Jahren immer wieder zurückgreifen musste. Die Lektion bestand nicht aus Gewalt, sondern aus der Kraft der Geduld, des gegenseitigen Vertrauens und der Demut, der Weitsicht und Präsenz, des Mitgefühls und der unbeugsamen Überzeugung, der Zurückhaltung und Zähigkeit, der inneren Einkehr, kombiniert mit weisem Rat.
Wie viel besser wäre die Welt, wenn dieses Verhalten weiter verbreitet wäre? Wie viel besser wäre dein eigenes Leben?
Kennedy wurde, wie Lincoln, nicht mit dieser Ruhe und Gelassenheit geboren. In der Highschool war er ein aufsässiger Unruhestifter, in den meisten College-Jahren verhielt er sich ebenso dilettantisch wie später sogar als Senator. Er hatte seine Laster, und er machte viele Fehler. Aber mit harter Arbeit – Arbeit, zu der auch du in der Lage sein wirst – überwand er seine Schwächen und entwickelte eben die Gelassenheit, die ihm in jenen schrecklichen dreizehn Tagen so gute Dienste leistete. Es war die Arbeit in nur wenigen Bereichen, die fast jeder andere vernachlässigt.
Wir werden uns nun auf das Meistern dessen konzentrieren, was wir in diesem Teil des Buches als »die Domäne des Geistes« bezeichnen – denn alles, was wir tun, hängt davon ab, ob wir es richtig verstehen.
Trau der Zukunft nicht, – begraben
Lass Vergangenheit, was tot;
Freudig schaffen soll uns laben,
Herz in der Brust und über uns Gott!
HENRY WADSWORTH LONGFELLOW
Die Entscheidung im Jahr 2010, die vier Schaffensdekaden umfassende Retrospektive von Marina Abramović im MoMA in New York City The Artist Is Present zu nennen, nahm die monumentale Performance, die daraus entstehen sollte, fast schon vorweg. Natürlich würde Marina auf die eine oder andere Art präsent sein müssen. Aber niemand hätte zu hoffen gewagt, dass sie tatsächlich die ganze Zeit über da sein würde … leibhaftig.