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Viele Menschen glauben, dass die Gründe, die sie daran hindern, erfolgreich zu sein, in ihrer Umwelt zu finden sind. Aber in Wirklichkeit steckt der größte Feind in jedem von uns selbst: unser Ego. Es macht uns blind für unsere Fehler, verhindert, dass wir aus ihnen lernen, und hemmt unsere Entwicklung. Denn gerade in Zeiten, in denen die schamlose Selbstdarstellung in sozialen Netzwerken oder im Reality-TV eine Selbstverständlichkeit ist, liegt die wahre Herausforderung in der Idee, weniger Zeit in das Erzählen der eigenen Größe zu stecken und stattdessen die wirklich wichtigen Missionen des Lebens zu meistern. Mit einer Fülle an Beispielen aus Literatur, Philosophie und Geschichte zeigt Ryan Holiday eindrucksvoll und praxisnah, wie die Überwindung des eigenen Egos zum unnachahmlichen Erfolg verhilft. Bewaffnet mit den Erkenntnissen aus diesem Buch kann sich jeder seinem größten Feind stellen – dem eigenen Ego.
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Seitenzahl: 282
»Glauben Sie nicht, dass der, welcher Sie zu trösten versucht, mühelos unter den einfachen und stillen Worten lebt, die Ihnen manchmal wohltun. Sein Leben hat viel Mühsal und Traurigkeit und bleibt weit hinter Ihnen zurück. Wäre es aber anders, so hätte er jene Worte nie finden können.«
Rainer Maria Rilke
Dieses Buch handelt nicht von mir. Aber da es nun einmal vom Ego handelt, werde ich eine Frage ansprechen, die nicht zu stellen mich als scheinheiligen Heuchler dastehen lassen würde.
Wer zum Teufel bin ich, dass ich es mir herausnehme, ein Buch über das Ego zu schreiben?
Meine Geschichte hat keine besondere Relevanz für die Lektionen in diesem Buch, dennoch möchte ich sie, um die ganze Sache in einen Zusammenhang zu stellen, zu Beginn kurz erzählen. Immerhin habe ich in meinem kurzen Leben das Ego in all seinen Stufen durchlebt: Aufstieg. Erfolg. Scheitern. Immer und immer wieder.
Als sich mir mit 19 Jahren ein paar außergewöhnliche und alles Bisherige auf den Kopf stellende Möglichkeiten eröffneten, schmiss ich das College. Ich hatte Mentoren, die um meine Aufmerksamkeit buhlten und mich als ihren Protegé unter die Fittiche nahmen. Ich war der Junge der Stunde, man traute mir alles zu, und der Erfolg ließ nicht lange auf sich warten.
Nach meinem Aufstieg zum jüngsten Manager in einer Talentagentur in Beverly Hills half ich mit, eine Reihe berühmter Rockbands zu verpflichten und mit ihnen zu arbeiten. Ich beriet Autoren, deren Bücher sich anschließend millionenfach verkauften und ein neues literarisches Genre begründeten. Mit 21 ging ich als Strategieberater zu American Apparel, damals eines der angesagtesten Modelabels weltweit. Es dauerte nicht lange, und ich war Marketingdirektor.
Mit 25 veröffentlichte ich mein erstes Buch. Das Buch, auf dessen Cover mein Gesicht prangte, wurde sofort zu einem Bestseller, der sehr umstritten war. Ein Filmstudio sicherte sich die Rechte für eine TV-Show über mein Leben. In den folgenden fünf Jahren sammelte ich viele Insignien des Erfolgs – Einfluss, eine Plattform, Presse, Geld und sogar einen schlechten Ruf. Auf dieser Grundlage baute ich in der Folgezeit ein erfolgreiches Unternehmen auf, bei dem ich mit ebenso bekannten wie gut zahlenden Klienten arbeitete und die Art Dinge tat, die einem Einladungen als Redner bei Konferenzen und exklusiven Events einbringt.
Mit dem Erfolg einher geht die Versuchung, sich selbst eine Geschichte zu erzählen, die Kanten zu glätten, die Rolle der glücklichen Zufälle herunterzuspielen und der ganzen Sache einen geheimnisvollen Anstrich zu verleihen. Sie wissen schon, das groß angelegte Narrativ eines herkulischen Kampfes gegen anscheinend unüberwindbare Hindernisse: Ich schlief auf dem nackten Boden, ich wurde von meinen Eltern verstoßen und ich litt unter meinem Ehrgeiz. Es ist die Art von Erzählung, in der am Ende dein Talent zu deiner Identität wird und dein Erfolg deinen Selbstwert ausmacht.
Aber solche Storys sind niemals ehrlich oder hilfreich. In meiner kurzen Schilderung habe ich eine Menge weggelassen: Der ganze Stress und die vielen Versuchungen, die schwindelerregenden Abstürze und die Fehler – alle Fehler –, sie alle landeten zugunsten der Hochglanz-Spule auf dem Boden des Schnittraums: die Momente, über die ich lieber nicht reden möchte; die öffentliche Bloßstellung durch jemanden, zu dem ich aufschaute und die mich zu der Zeit so sehr niederwarf, dass ich schließlich in der Notaufnahme landete; der Tag, an dem ich die Nerven verlor, in das Büro meines Bosses stiefelte und ihm eröffnete, dass ich der Sache nicht gewachsen war und zurück an die Uni gehen würde – und das auch genau so meinte; die flüchtige Natur des Bestseller-Ruhms und wie kurz dieser in Wahrheit anhielt (eine Woche); die Lesung, zu der ein einziger Besucher kam; das Unternehmen, das ich gegründet hatte, nur um es an die Wand zu fahren und dann wieder aufbauen zu müssen. Nicht nur ein Mal, sondern gleich zwei Mal. Das sind nur ein paar der Episoden, die bequemerweise der Schere des Egos zum Opfer fallen.
Auch dieses etwas vollständigere Bild bildet nur den Bruchteil eines Lebens ab, aber wenigstens zeigt es mehr von den Dingen, die wichtig sind – zumindest wichtig für dieses Buch: Ehrgeiz, Erfolg und Scheitern.
Ich gehöre nicht zu den Menschen, die an eine Epiphanie glauben, an das eine entscheidende Ereignis, das einen Mensch von Grund auf verändert. Es gehören viele dazu. In meinem Fall war es ein Zeitraum von rund sechs Monaten im Jahr 2014, in dem alle diese Ereignisse aufeinander zu folgen schienen.
Erstens, American Apparel – wo ich einen guten Teil meiner besten Arbeit geleistet hatte – stand mit mehreren Hundert Millionen Dollar Schulden am Rande des Bankrotts und war nur noch die Hülle seines früheren Selbst. Sein Gründer, den ich seit meiner Jugendzeit zutiefst bewundert hatte, wurde ohne viel Federlesens von dem von ihm selbst handverlesenen Vorstand gefeuert und musste am Ende auf der Couch eines Freundes schlafen. Dann geriet die Talentagentur, in der ich mir die ersten Sporen verdient hatte, in eine ähnliche Schieflage, als sie von Klienten verklagt wurde, denen sie einen Haufen Geld schuldete. Und schließlich erlitt um etwa dieselbe Zeit ein weiterer meiner Mentoren Schiffbruch – und damit auch unsere Geschäftsbeziehung.
Das waren Leute, an denen ich mein Leben ausgerichtet hatte. Die Leute, zu denen ich aufgeschaut und von denen ich gelernt hatte. Ihre Stabilität – finanziell, emotional und psychisch – war für mich nicht einfach selbstverständlich, sie war für meine Existenz und mein Selbstwertgefühl entscheidend. Und doch, hier implodierten sie, direkt vor meinen Augen, einer nach dem anderen.
Alles löste sich auf, oder zumindest fühlte es sich für mich so an. Wenn man sein ganzes Leben lang wie eine bestimmte Person sein wollte und plötzlich erkennen muss, dass man niemals wie diese Person werden will, erleidet man ein Trauma, auf das man nicht vorbereitet ist.
Diese Auflösung betraf auch mich selbst. Gerade als ich es mir am wenigsten leisten konnte, drängten sich Probleme in den Vordergrund, die ich in meinem eigenen Leben vernachlässigt hatte.
Ungeachtet meiner Erfolge landete ich wieder in der Stadt, in der ich begonnen hatte, gestresst und überarbeitet, hatte einen guten Teil meiner hart erworbenen Freiheit aufgegeben, weil ich nicht Nein sagen konnte zum Geld und dem Nervenkitzel einer guten Krise. Ich war dermaßen angespannt, dass die kleinste Störung mich in rasende, unversöhnliche Rage versetzte. Meine Arbeit, die mir immer leicht von der Hand gegangen war, geriet zur reinen Plackerei. Mein Glaube an mich und an andere zerbrach. Und meine Lebensqualität litt.
Einmal kam ich nach einer wochenlangen Geschäftsreise nach Hause und wurde von einer schweren Panikattacke erfasst, weil das WLAN nicht funktionierte – Wenn ich diese E-Mails nicht jetzt sofort rausschicke. Wenn ich diese E-Mails nicht jetzt sofort rausschicke. Wenn ich diese E-Mails nicht sofort jetzt rausschicke …
Du denkst, du tust alles, was von dir erwartet wird. Die Gesellschaft belohnt dich dafür. Doch dann musst du mit ansehen, wie deine künftige Frau das Haus verlässt, weil du nicht mehr der Mensch bist, der du einmal warst.
Wie passieren solche Dinge? Ist es wirklich möglich, an einem Tag das Gefühl zu haben, auf den Schultern von Giganten zu stehen, und am nächsten Tag unter dem Schutt mehrfacher Implosionen begraben zu liegen und zu versuchen, die Ruinen zur Seite zu räumen?
Ein Gutes allerdings hatte die Sache. Sie zwang mich, mich der Tatsache zu stellen, dass ich ein Workaholic war. Nicht in der »Oh, er arbeitet einfach zu viel«-Art oder auf die »Jetzt entspann dich halt mal«-Weise, sondern mehr wie in »Wenn er nicht bald mit einer Therapie anfängt und wieder runterkommt, wird er eines frühen Todes sterben«. Der Antrieb und der Druck, die mir so früh so viel Erfolg beschert hatten, hatten, so erkannte ich, einen genauso hohen Preis von mir gefordert – wie von so vielen anderen auch. Das Problem war weniger die Menge der Arbeit als vielmehr die exzessive Rolle, die sie in meinem Selbstverständnis eingenommen hatte. Ich steckte ganz und gar in meinem eigenen Kopf fest, sodass ich ein Gefangener meiner Gedanken geworden war. Das Resultat war eine Tretmühle aus Qual und Frustration, und ich musste herausfinden, warum das so war, wenn ich nicht auf ebenso tragische Weise wie meine früheren Vorbilder zerbrechen wollte.
Als Forscher und Autor habe ich mich über lange Zeit hinweg mit Geschichte und Wirtschaft beschäftigt. Wie bei allem, bei dem Menschen eine Rolle spielen, treten bestimmte universelle Themen zutage, sobald man weit genug gespannte Zeiträume betrachtet. Das sind die Themen, die mich seit Langem faszinierten. Und darunter stand an allererster Stelle das Ego.
Das Ego und seine Auswirkungen waren mir keineswegs fremd. Tatsächlich hatte ich schon knapp ein Jahr für dieses Buch recherchiert, bevor die angesprochenen Ereignisse geschahen. Doch die schmerzhaften Erfahrungen, die ich in dieser Zeit machte, erschlossen mir die Konzepte, die ich untersuchte, auf eine Weise, die mir zuvor nicht zugänglich gewesen wäre.
Das ermöglichte es mir, die negativen Auswirkungen des Egos nicht nur in mir selbst oder auf den Seiten der Geschichtsbücher zu sehen, sondern auch bei Freunden und Klienten und Kollegen, darunter etliche, die in ihren Branchen auf den höchsten Posten saßen. Ihr Ego hat Menschen, die ich bewundere, Hunderte Millionen Dollar gekostet und sie wie Sisyphus just in dem Moment in den Abgrund gestürzt, als sie den Gipfel erreicht zu haben glaubten. Zumindest habe ich jetzt selbst einen Blick über diese Klippe geworfen.
Ein paar Monate nach dieser Erkenntnis ließ ich mir den Satz »EGO IS THE ENEMY« auf den rechten Unterarm tätowieren. Woher diese Worte kamen, weiß ich nicht, vielleicht aus einem Buch, das ich vor langer, langer Zeit gelesen hatte, aber sie waren mir sofort ein Quell von großem Trost und Richtungsweiser. Auf meinem linken Unterarm prangt ein Satz gleichermaßen ungewisser Herkunft: »THE OBSTACLE IS THE WAY« – »Das Hindernis ist der Weg«. Diese beiden Sätze sehe ich vor mir, jeden Tag, und ich nutze sie als Richtschnur für die Entscheidungen, die ich treffe. Ich kann nicht anders, als sie anzuschauen – wenn ich schwimme, wenn ich meditiere, wenn ich schreibe, wenn ich morgens aus der Dusche steige, und beide bereiten mich darauf vor – ermahnen mich –, in so gut wie jeder Situation, in die ich geraten könnte, den richtigen Weg einzuschlagen.
Ich habe dieses Buch nicht geschrieben, weil ich irgendeiner Weisheit teilhaftig geworden wäre und mich deshalb zum Prediger berufen fühlen würde, sondern weil es das Buch ist, von dem ich wünschte, es hätte es an entscheidenden Wendepunkten meines Lebens bereits gegeben. Als ich, wie jeder andere Mensch, die wichtigsten Fragen zu beantworten hatte, die man sich stellen kann: Wer möchte ich sein? Und: Welchen Lebensweg soll ich einschlagen? Quod vitae sectabor iter?
Und weil ich erkannt habe, dass diese Fragen zeitlos und allgemeingültig sind, habe ich – diese Vorrede einmal ausgenommen – versucht, mich in diesem Buch auf die Philosophie und historische Beispiele und nicht auf mein persönliches Leben zu beziehen.
Die Geschichtsbücher mögen voller Geschichten von besessenen, visionären Genies sein, die die Welt mit schierer, fast schon irrationaler Kraft nach ihren Vorstellungen umgestaltet haben. Aber wenn man nur nach diesen Dingen schaut, wird man schnell erkennen, dass die Geschichte ebenso sehr von Menschen bestimmt wurde, die unablässig gegen ihr Ego ankämpften, die die große Bühne scheuten und die ihre höheren Ziele über den Wunsch nach Anerkennung stellten. Mich in die Geschichte dieser Menschen zu vertiefen und sie nachzuerzählen, war mein Weg, von ihnen zu lernen und sie in mich aufzunehmen.
Wie meine anderen Bücher ist auch dieses stark beeinflusst von der Philosophie der Stoiker und überhaupt allen großen Denkern der klassischen Antike. So, wie ich mein gesamtes Leben an ihren Lehren ausgerichtet habe, beziehe ich mich auch in allem, was ich schreibe, auf sie. Falls es irgendetwas in diesem Buch gibt, das Ihnen hilft, dann verdanken Sie das diesen Philosophen, nicht mir.
Der Anfang aller Tugend, verkündete der griechische Redner Demosthenes einst, ist die Weisheit, ihre Vollendung aber die Tapferkeit. Wir müssen damit beginnen, uns selbst und die Welt zum ersten Mal auf eine neue Weise zu sehen. Dann müssen wir darum kämpfen, anders zu werden und – und das ist der schwierige Part – darum, anders zu bleiben. Ich sage nicht, dass Sie jede Anwandlung des Egos in Ihrem Leben unterdrücken oder ausmerzen sollten – geschweige denn, dass das möglich wäre. Was ich Ihnen hier erzähle, sind nur Mahnungen, Moralstücke, dazu gedacht, unsere edleren Impulse zu stärken.
In seiner berühmten Ethik bedient sich Aristoteles des Bildes eines krummen Holzes zur Beschreibung der menschlichen Natur. Um nun eine Windung oder Krümmung zu glätten, übt der erfahrene Zimmermann langsam und so lange Druck in die entgegengesetzte Richtung aus, bis das Holzstück gerade ist. Natürlich deklamierte Kant ein paar Jahrtausende später: »Aus so krummem Holz, als woraus der Mensch gemacht ist, kann kein ganz Gerades gezimmert werden.« Wir werden vielleicht niemals ein ganz Gerades werden, aber wir können danach streben, gerader zu sein.
Ja, es ist immer schön, wenn jemand dafür sorgt, dass man sich besonders fühlt, inspiriert und zu allem fähig. Doch das ist nicht das Ziel dieses Buches. Vielmehr habe ich mich bemüht, diese Seiten auf eine Weise anzuordnen, dass Sie an denselben Punkt gelangen, an dem ich war, als ich die Arbeit an diesem Buch abgeschlossen habe – sprich, dass Sie sich selbst weniger wichtig nehmen. Dass Sie weniger an der Geschichte festhalten, die Sie über Ihre eigene Besonderheit erzählen, und eben dadurch die Freiheit erringen, die die Welt verändernde Arbeit zu vollbringen, die Sie sich vorgenommen haben.
»Das erste Prinzip lautet, dass man sich selbst nicht täuschen darf, denn man selbst ist die Person, die man am leichtesten täuschen kann.«
Richard Feynman
Vielleicht sind Sie jung und brennen vor Ehrgeiz. Vielleicht sind Sie jung und ringen mit der Welt. Vielleicht haben Sie gerade Ihre erste Million gemacht, Ihren ersten Deal abgeschlossen, die Einladung in irgendeine elitäre Gruppe erhalten, oder vielleicht haben Sie bereits so viel vollbracht, dass es für ein ganzes Leben reicht. Vielleicht sind Sie bestürzt über die Erkenntnis, wie einsam es da oben an der Spitze ist. Vielleicht ist es Ihre Aufgabe, andere durch eine Krise zu führen. Vielleicht sind Sie eben erst gefeuert worden. Oder Sie sind am Boden zerstört.
Wer auch immer Sie sind und was auch immer Sie tun, Ihr schlimmster Feind lebt bereits in Ihnen: Ihr Ego.
»Nicht in meinem Fall«, denken Sie jetzt. »Niemand käme je auf die Idee, mich einen Egomanen zu schimpfen.« Möglicherweise halten Sie sich seit jeher für einen ziemlich ausgeglichenen Menschen. Aber bei Menschen mit Ambitionen, mit Talenten, mit Triebkräften und dem Potenzial, alles zu erreichen, was sie sich vorgenommen haben, geht das Ego mit einem genauso hohen Anspruch einher. Genau das, was uns als Denker, Macher, Kreative und Unternehmer so vielversprechend macht, was uns an die Spitze in unseren Branchen katapultiert, macht uns auch anfällig für diese dunkle Seite der Psyche.
Dieses Buch handelt nicht vom Ego im Freud’schen Sinne des Wortes. Freud gefiel es, das Ego per Analogie zu erklären – das Ego als Reiter auf einem Pferd, wobei das Tier unsere unbewussten Triebe repräsentiert und das Ego versucht, diese zu steuern. Heutzutage dagegen verwenden Psychologen den Begriff »Egotist« zur Bezeichnung von Menschen, die in gefährlichem Maße auf sich selbst konzentriert sind und allen anderen nur Missachtung entgegenbringen. So zutreffend diese Definitionen sein mögen, außerhalb eines klinischen Kontexts sind sie nur von geringem Nutzen.
Das Ego, mit dem wir es gemeinhin zu tun haben, folgt einer etwas salopperen Definition: Es ist der ungesunde Glaube an die eigene Bedeutung. Arroganz. Ichbezogener Ehrgeiz. Das ist die Definition, die ich in diesem Buch verwenden werde. Das renitente Kind, das in jedem von uns steckt, das Kind, das entschlossen ist, seinen Willen gegen jeden und alles durchzusetzen. Der Drang, besser zu sein als, mehr zu sein als, respektiert zu werden für, weit über jedes angemessene Maß hinaus – das ist Egotismus. Es ist ein Gefühl der Überlegenheit und der Gewissheit, das alle Grenzen des Selbstvertrauens und der Begabung sprengt.
Wenn das Bild von uns selbst und der Welt solche Ausmaße annimmt, dass es die uns umgebende Realität verzerrt; wenn, wie der Footballcoach Bill Walsh es ausdrückte, »Selbstsicherheit in Arroganz umschlägt, Entschlossenheit in Halsstarrigkeit und Selbstbewusstsein in rücksichtslose Herrschsucht« – dann spricht man von Egotismus. Das ist ein Ego, das uns, wie der Schriftsteller Cyril Connolly warnte, »wie die Schwerkraft unweigerlich nach unten zieht«.
So gesehen ist das Ego der Feind all dessen, was Sie wollen und was Sie besitzen: Beherrschung einer Fertigkeit, wahrhaftige kreative Erkenntnis, gute Zusammenarbeit mit anderen, Aufbau von Loyalität und Unterstützung, Langlebigkeit, Wiederholung und Bewahrung Ihres Erfolgs. Dieses Ego stößt Vorteile und Chancen ab und zieht Feinde und Fehler an. Es ist Skylla und Charybdis.
Auch wenn die wenigsten von uns »Egomanen« sind, wurzelt so gut wie jedes denkbare Problem und Hindernis im Ego. Es geht darum, warum wir nicht gewinnen können, bis hin zu der Frage, warum wir zur Not auch auf Kosten anderer unbedingt gewinnen müssen. Es geht darum, dass wir oft nicht bekommen, was wir haben möchten, und um die Frage, warum es uns nicht glücklicher zu machen scheint, wenn wir das bekommen, was wir unbedingt haben wollen.
Normalerweise sehen wir das nicht so. Wir glauben, etwas anderes wäre für unsere Probleme verantwortlich (in der Regel jemand anderes). Wir gleichen, wie es der Dichter Lukrez vor ein paar Tausend Jahren formulierte, dem sprichwörtlichen Mann, der »weil krank, die Ursache seiner Krankheit nicht erkennt«. Das gilt insbesondere für erfolgreiche Menschen, die nicht sehen können, was zu erreichen ihr Ego ihnen unmöglich macht, weil sie nur das sehen, was sie bereits erreicht haben.
Bei jedem Anliegen und Ziel, das wir verfolgen – ob klein oder groß –, schwächt uns das Ego auf eben dem Weg, auf dem wir mit all unserer Kraft vorankommen wollen.
Der langjährige ITT-CEO Harold Geneen setzte Egotismus mit Alkoholismus gleich: »Der Egotist torkelt nicht oder wirft Dinge zu Boden. Er stottert nicht und er sabbert nicht. Nein, stattdessen wird er immer arroganter, und ohne zu wissen, was sich hinter einer solchen Haltung verbirgt, missverstehen viele Leute seine Arroganz als Zeichen von Machtinstinkt und Selbstbewusstsein.« Man könnte sagen, auch die Betroffenen beginnen, sich selbst zu betrachten, ohne die Krankheit zu erkennen, die sie sich zugezogen haben und mit der sie sich selbst ein Grab schaufeln.
Wenn das Ego die Stimme ist, die uns sagt, dass wir besser seien, als wir tatsächlich sind, dann steht das Ego wirklichem Erfolg im Weg, indem es eine direkte und ehrliche Verbindung mit unserer Umwelt verhindert. Ein frühes Mitglied der Anonymen Alkoholiker definierte das Ich, das Ego, einmal als »eine bewusste Trennung von«. Wovon? Von allem.
Die negativen Folgen dieser Trennung sind vielfältig und unübersehbar: Wenn wir Mauern errichten, können wir nicht mit anderen Menschen zusammenarbeiten. Wenn wir uns selbst nicht verstehen, können wir die Welt nicht verbessern. Wenn das, was andere zu sagen haben, uns nicht interessiert oder wir unfähig sind, es zu hören, können wir kein Feedback annehmen oder empfangen. Wenn wir, statt zu sehen, was vor uns liegt, in unserer eigenen Fantasiewelt leben, können wir keine Chancen erkennen – oder erschaffen. Ohne eine genaue Bilanzierung unserer eigenen Fähigkeiten im Vergleich zu den Fähigkeiten anderer ist das, was wir haben, kein Selbstvertrauen, sondern eine Selbsttäuschung. Wie sollen wir andere Menschen erreichen, motivieren oder führen, wenn wir uns – weil wir die Verbindung zu unseren eigenen Bedürfnissen verloren haben – nicht auf ihre Bedürfnisse beziehen können?
»Wenn du anfängst, an deine eigene Großartigkeit zu glauben, ist das der Tod deiner Kreativität«, so drückt es Performance-Künstlerin Marina Abramović ganz direkt aus.
Vor allem eine Sache befördert das Ego – Bequemlichkeit. Große Ziele zu verfolgen – ob im Sport, in der Kunst oder im Geschäftsleben –, kann mit großen Ängsten einhergehen. Das Ego lindert diese Angst, ist Balsam für die nagende Unsicherheit. Indem es die rationalen und bewussten Teile unserer Psyche durch Gepolter und Selbstbefangenheit ersetzt, sagt uns das Ego, was wir hören wollen und wann wir es hören wollen.
Aber das ist eine kurzfristige Lösung mit einer langfristigen Konsequenz.
Mehr denn je facht unsere Kultur heute die Flamme des Egos an. Niemals fiel es den Menschen leichter, sich großzureden, sich vor anderen aufzuplustern. Wir können uns vor Millionen von Fans und Followern produzieren und mit unseren Zielen prahlen – Dinge, die früher Rockstars und Sektenführern vorbehalten waren. Wir können unseren Idolen auf Twitter folgen und dort mit ihnen kommunizieren; wir können Bücher lesen, Webseiten besuchen und TED-Talks anschauen, wie nie zuvor aus einem üppig sprudelnden Quell an Inspirationen und Bestätigungen trinken (es gibt dafür eine App). Wir können uns zum CEO unseres Existiert-nur-auf-dem-Papier-Unternehmens ernennen. Wir können großartige Neuigkeiten in den Sozialen Medien verkünden und in den Glückwünschen baden, mit denen wir überschüttet werden. Wir können Lobpreisungen über uns selbst in Medienportalen publizieren, die früher einmal Quellen des objektiven Journalismus waren.
Manche unter uns tun das mehr als andere. Aber das ist nur eine Frage des Ausmaßes.
Abgesehen von den technologischen Veränderungen wird uns permanent vorgebetet, vor allem anderen an unsere Einzigartigkeit zu glauben. Man sagt uns, groß zu denken, groß zu leben, unvergesslich zu sein und Großes zu wagen. Erfolg, so glauben wir, verlangt eine kühne Vision oder einen grandios angelegten Plan – eben das, was die Gründer der erfolgreichsten Unternehmen und besten Teams hatten. (Aber hatten sie das? Hatten sie das wirklich?) Die Medien sind voller Berichte über risikofreudige Unternehmer und erfolgreiche Menschen, und in dem Bemühen, selbst Erfolg zu haben, versuchen wir daraus die richtige Haltung, die richtige Strategie für uns abzuleiten.
Wir unterstellen eine kausale Beziehung, die gar nicht vorhanden ist. Wir setzen die Symptome des Erfolgs mit dem Erfolg selbst gleich und verwechseln in unserer Naivität das Nebenprodukt mit der Ursache.
Klar, für manche funktioniert das Ego. Viele der berühmtesten Männer und Frauen der Weltgeschichte waren ausgemachte Egotisten. Dasselbe gilt aber auch für viele der berüchtigtsten historischen Figuren. Für viel mehr, um genau zu sein. Doch wir leben in einer Kultur, die uns drängt, den Würfel rollen zu lassen. Das Wagnis einzugehen und die Gefahren zu ignorieren.
Zu jedem gegebenen Zeitpunkt im Leben befinden Menschen sich in einem von drei Zuständen. Wir streben nach etwas – versuchen einen Eindruck im Universum zu hinterlassen. Wir haben Erfolg – vielleicht wenig, vielleicht viel. Oder wir haben versagt – einmal oder immer wieder. Die meisten von uns befinden sich im fließenden Übergang zwischen diesen Zuständen – wir erstreben etwas, bis wir Erfolg haben, wir haben Erfolg, bis wir scheitern oder bis wir nach mehr streben, und nachdem wir versagt haben, fangen wir wieder an, nach etwas zu streben und wieder Erfolg zu haben.
Bei jedem Schritt auf diesem Weg ist das Ego unser Feind. In gewissem Sinne ist das Ego der Feind des Aufbauens, des Bewahrens und des Erholens. Solange alles schnell und problemlos läuft, mag das in Ordnung sein. Aber in Zeiten des Wandels, der Probleme …?
Deshalb ist dieses Buch auch in drei Abschnitte unterteilt: Aufstieg. Erfolg. Scheitern.
Der Zweck dieser Unterteilung ist einfach: Erstens soll sie Ihnen helfen, das Ego frühzeitig einzudämmen, bevor schlechte Gewohnheiten eine Chance haben, sich einzuschleifen; zweitens soll es Sie dabei unterstützen, die Versuchungen des Egos, wenn Sie Erfolg haben, durch Bescheidenheit und Disziplin zu ersetzen, und drittens will es sie ermutigen, Stärke und innere Kraft zu kultivieren, sodass Sie an Misserfolgen nicht zerbrechen, wenn das Schicksal sich gegen Sie wendet. Kurz gesagt, das Buch wird uns helfen …
– bescheiden im Aufstieg,– gütig im Erfolg,– und widerstandsfähig im Scheitern
… zu sein. Damit will ich nicht sagen, dass Sie als Mensch nicht einzigartig wären und in Ihrer kurzen Zeit auf der Erde nicht etwas ganz Besonders beizutragen hätten. Ebenso wenig will ich damit sagen, dass es keinen Raum dafür gäbe, kreative Grenzen zu überwinden, Neues zu erfinden, sich inspiriert zu fühlen oder wirklich große Veränderungen und Innovationen ins Visier zu nehmen. Im Gegenteil, um das auf die richtige Weise tun und die damit einhergehenden Risiken meistern zu können, benötigen wir Balance. Wie der Quäker und Begründer von Pennsylvania William Penn es formulierte: »Gebäude, die dem Wetter stark ausgesetzt sind, bedürfen eines stabilen Fundaments.«
Das Buch, das Sie gerade in Händen halten, baut auf einer optimistischen Grundannahme auf: Ihr Ego ist keine Macht, die Sie ständig und dauernd befrieden müssen. Sie können Ihr Ego in den Griff bekommen. Und Sie können es steuern.
In diesem Buch wird die Rede sein von bedeutenden Persönlichkeiten wie William Tecumseh Sherman, Katharine Graham, Jackie Robinson, Eleanor Roosevelt, Bill Walsh, Benjamin Franklin, Belisar, Angela Merkel und George C. Marshall. Hätten sie das erreichen können, was sie erreichten – vor dem Bankrott stehende Unternehmen retten, die Kunst der Kriegsführung voranbringen, die Rassentrennung im Baseball durchbrechen, das Angriffsspiel im Football revolutionieren, gegen Tyrannei aufbegehren und tapfer schwere Missgeschicke meistern –, wenn das Ego sie zu selbstabsorbierten und abgehobenen Menschen gemacht hätte? Nein, ihre großartige Kunst, großartigen Schriften, großartigen Entwürfe, großartigen Unternehmen und ihre großartige Führerschaft gründeten in ihrem Wirklichkeitssinn und ihrer Aufgeschlossenheit – etwas, von dem der Autor und Stratege Robert Greene einmal sagte, wir müssten damit umgehen wie eine Spinne in ihrem Netz.
Wenn wir uns mit diesen Personen befassen, erkennen wir, dass sie geerdet waren, umsichtig und kompromisslos realistisch. Nicht, dass sie ohne Ego gewesen wären. Aber wenn es darauf ankam, dann verstanden sie ihr Ego zu zügeln, zu kanalisieren und einzuordnen. Sie waren groß und zugleich bescheiden.
Halt, sagen Sie jetzt, aber Soundso hatte ein gewaltiges Ego und war dennoch sehr erfolgreich. Was zum Beispiel ist mit Steve Jobs? Oder mit Kanye West?
Wir können das schlimmste Verhalten mit dem Verweis auf Ausnahmen rationalisieren. Aber niemand ist wirklich erfolgreich, weil er selbstillusorisch ist, von sich selbst absorbiert oder den Kontakt zur Welt um sich herum verloren hat. Gewiss, diese Eigenschaften korrelieren mit bestimmten bekannten Personen oder können mit ihnen assoziiert werden, aber das gilt auch für etliche andere Eigenschaften: Abhängigkeit, Depression, Manie, Missbrauch (von anderen und von sich selbst). In der Tat zeigt sich, wenn wir uns mit diesen Personen befassen, dass sie ihre beste Arbeit in den Phasen vollbrachten, in denen sie gegen diese Impulse, Störungen und Fehler ankämpften. Nur wer frei von Ego und Ballast ist, kann sein Potenzial ganz ausschöpfen.
Aus diesem Grund werden wir uns auch mit Individuen wie Howard Hughes, dem persischen König Xerxes, John DeLorean, Alexander dem Großen und den vielen mahnenden Geschichten anderer Leute befassen, die die Verbindung zur Realität verloren hatten und uns vor Augen führen, welche Gefahr das Ego darstellen kann. Wir werden die teuer bezahlten Lehren betrachten, die sie daraus gezogen haben, und was es sie an Not und Selbstzerstörung gekostet hat. Und wir werden sehen, wie selbst die erfolgreichsten Menschen oftmals zwischen Demut und Ego schwanken und welche Probleme das nach sich zieht.
Das, was bleibt, wenn wir das Ego entfernen, ist real. An die Stelle des Egos tritt Demut, ja – aber eine felsenfeste Demut und ein ebenso felsenfestes Selbstvertrauen. Anders als das künstliche Ego ist diese Form des Selbstvertrauens belastbar. Das Ego ist gestohlen, Selbstvertrauen ist verdient. Das Ego ist Selbstbeweihräucherung und Großspurigkeit. Selbstvertrauen wappnet, das Ego verführt – es geht um den Unterschied zwischen Kraft und Gift.
Dieses Selbstvertrauen verwandelte – wie Sie auf den folgenden Seiten lesen werden – einen bescheidenen und unterschätzten General in einen der größten Soldaten und Strategen des amerikanischen Bürgerkriegs. Das Ego stürzte einen anderen General in demselben Krieg von den Höhen der Macht und des Einflusses hinab in die Tiefen der Not und Schmach. Selbstvertrauen ließ eine zurückhaltende, nüchterne Wissenschaftlerin in Deutschland nicht nur zu einer Führungspersönlichkeit ganz neuer Art aufsteigen, sondern auch zu einer Vorkämpferin für den Frieden. Das Ego führte zwei gleichermaßen brillante wie kühne technische Visionäre zu sagenhaftem Erfolg und Ruhm, nur um sie dann in Misserfolg, Bankrott, Skandalen und Wahnsinn versinken zu lassen. Selbstvertrauen führte eines der schlechtesten Teams in der Geschichte der nordamerikanischen Footballliga innerhalb von drei Spielzeiten zum Gewinn des Superbowls und weiter zu einer der dominantesten Mannschaften in der Geschichte des Sports – während zahllose andere Trainer, Politiker, Unternehmer und Schriftsteller vergleichbare Widrigkeiten überwunden haben, nur um (und was auch weitaus wahrscheinlicher ist) die Spitzenposition dann postwendend wieder an jemand anderes abzugeben.
Manche Menschen lernen Bescheidenheit. Andere wählen das Ego. Manche sind vorbereitet auf die – guten wie schlechten – Wechselfälle des Lebens. Andere sind das nicht. Wofür werden Sie sich entscheiden? Wer werden Sie sein?
Sie haben sich für dieses Buch entschieden, weil Sie spüren, dass Sie letztlich diese Frage werden beantworten müssen, ob bewusst oder nicht.
Nun denn, hier sind wir. Machen wir uns an die Arbeit.
Wir machen uns auf, etwas zu erreichen. Wir haben ein Ziel, eine Berufung, wagen einen Neuanfang. Jede große Reise beginnt hier – und doch erreichen viel zu viele von uns niemals das angestrebte Ziel. In den meisten Fällen ist das Ego daran schuld. Wir reden uns mit fantastischen Geschichten groß, wir geben vor, alles durchschaut zu haben, lassen unseren Stern hell und gleißend strahlen, um dann mit ansehen zu müssen, wie er verglüht, ohne dass wir eine Ahnung hätten, warum. Das sind Symptome des Egos, und die Heilmittel dafür sind Demut und Realitätssinn.
»Man pflegt zu sagen, dass derjenige ein mutiger Chirurg sei, dessen Hand nicht zittert, wenn er an sich selbst eine Operation vornimmt; ebenso kühn aber ist derjenige, der nicht zögert, den geheimnisvollen Schleier der Selbsttäuschung wegzureißen, der seinem Blick sonst die Hässlichkeiten seines eigenen Verhaltens verbirgt.«
Adam Smith
Irgendwann um das Jahr 374 v. Chr. verfasste Isokrates, einer der bekanntesten Lehrer und Rhetoriker des antiken Athen, einen Brief an einen jungen Mann namens Demonikus. Isokrates war mit dem unlängst verstorbenen Vater des jungen Mannes befreundet gewesen und wollte diesem nun einige Ratschläge dahingehend erteilen, wie er dem Vorbild seines Vaters nacheifern könnte.
Die Ratschläge reichten vom Praktischen bis hin zum Moralischen – samt und sonders ausgedrückt in Form von, wie Isokrates dazu sagte, »edlen Leitsätzen«, bei denen es sich, wie er es formulierte, um »untrügliche Anweisungen auf die künftige Zeit« handelte.
»Suche an dir in Sonderheit zu zeigen eine Liebe […] zur Schamhaftigkeit, zum rechtschaffenen Wandel und zur Mäßigung; denn all diese Eigenschaften schicken sich sonderlich für junge Leute.«
»Übe dich in Selbstbeherrschung«, schrieb er und warnte Demonikus, seine Seele nicht von »Zorn, Wollust und Gram bemeistern« zu lassen. Und »hasse den Schmeichler ebenso sehr als den Betrüger, denn beide sind dem, der ihnen Glauben schenkt, ungetreu«.
»Im Umgang mit anderen«, forderte Isokrates weiter, »sei gesprächig und ja nicht hoffärtig, denn auch die Knechte lassen sich nicht gerne verachten.« Und »wenn du dich beratschlagst, so verfahre zwar langsam, hast du dich aber entschlossen, so vollführe es bald«. Das Beste, »was wir in uns tragen, ist unser kluges Urteil«, und da »das Große entstehet vom Kleinen und die edle Seele wohnet im menschlichen Leibe«, solle er sich bemühen, stets »selbst klüglich zu handeln«.
Einiges von dem, was Isokrates dem jungen Demonikus da ans Herz legte, dürfte uns vertraut sein, hat es doch den Weg über zwei Jahrtausende bis hin zu William Shakespeare gefunden, der in seinen Dichtungen oft genug vor dem Amok laufenden Ego warnte. Im Hamlet nahm Shakespeare Isokrates’ Brief zum Vorbild und legte dem Polonius in einer Rede an seinen Sohn Laertes dessen Worte in den Mund, die er mit dem folgenden kurzen Vers schließen ließ:
»Dies über alles: Sei dir selber treu.Und daraus folgt, so wie die Nacht dem Tage,Du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.Leb wohl! Mein Segen fördre dies an dir!«
Wie es sich ergab, fanden Shakespeares Zeilen ihren Weg zu einem jungen Offizier in der Armee der Vereinigten Staaten namens William Tecumseh Sherman, der zum wohl größten General und Strategen des Landes aufsteigen sollte. Sherman mochte von Isokrates nie gehört haben, doch das Bühnenstück liebte er und zitierte häufig aus ebendieser Rede.