Der Tech-Krieg - Wolfgang Hirn - E-Book

Der Tech-Krieg E-Book

Wolfgang Hirn

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Beschreibung

Zwischen den Weltmächten China und USA tobt ein Kampf um die technologische Vorherrschaft. Esgeht um Künstliche Intelligenz, Superchips und -computer, neue Medikamente und Behandlungen, um selbstfahrende Autos und Flüge zum Mond und Mars. Aber es geht auch um Killerdrohnen oder kämpfende Roboter. Chinaexperte Wolfgang Hirn zeigt, dass in vielen Tech-Bereichen China in den vergangenen Jahren gewaltig aufgeholt hat und in manchen gar führend ist, und er fragt: Kann Europa bei diesem Duell mithalten und eventuell seine technologische Souveränität zurückholen? Fazit: Der abgeschlagene Dritte muss endlich massiv in Menschen und Kapital investieren - sonst bleibt nur die Zuschauerrolle.

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Wolfgang Hirn

DER TECH-KRIEG

China gegen USA – Und wo bleibt Europa?

Campus Verlag

Frankfurt/New York

Über das Buch

Zwischen den Weltmächten China und USA tobt ein Kampf um die technologische Vorherrschaft.. Esgeht um Künstliche Intelligenz, Superchips und -computer, neue Medikamente und Behandlungen, um selbstfahrende Autos und Flüge zum Mond und Mars. Aber es geht auch um Killerdrohnen oder kämpfende Roboter. Chinaexperte Wolfgang Hirn zeigt, dass in vielen Tech-Bereichen China in den vergangenen Jahren gewaltig aufgeholt hat und in manchen gar führend ist, und er fragt: Kann Europa bei diesem Duell mithalten und eventuell seine technologische Souveränität zurückholen? Fazit: Der abgeschlagene Dritte muss endlich massiv in Menschen und Kapital investieren - sonst bleibt nur die Zuschauerrolle.

Vita

Wolfgang Hirn studierte Volkswirtschaftslehre und Politische Wissenschaften in Tübingen. Nach Stationen als Wirtschaftsredakteur arbeitete er viele Jahre als Reporter beim manager magazin. Seit 1986 reist er regelmäßig nach China, ist Autor des Bestsellers Herausforderung China (2005) und veröffentlichte bei Campus die Bücher Chinas Bosse (2018) und Shenzhen (2020). Er ist Kopf des Infoportals CHINAHIRN (www.chinahirn.de) und lebt in Berlin.

Übersicht

Cover

Titel

Über das Buch

Vita

INHALT

Impressum

INHALT

EINLEITUNG

Kapitel 1

Der Tech-Krieg — Die Gefechtslage

Eine kleine Vorgeschichte

USA – der Titelverteidiger

China – der Herausforderer

Europa – Mitspieler oder nur noch Schiedsrichter?

Kapitel 2

Künstliche Intelligenz — Taten mit Daten

Nur ein Wettlauf zwischen China und den USA?

Xu Feiyu – Wanderin zwischen den Welten

Wie die Regierungen die KI zähmen wollen

Chatbots: Ernie und Bard

Der Roboter, dein Freund und Helfer

Gesichtserkennung und Gesichtsverlust

Autonomes Fahren: Robotaxis und Roboshuttles

Daten – das neue Öl?

Kapitel 3

Chips — Chinas Schwachpunkt

Der Niedergang der amerikanischen Chipindustrie

Wie der Chip nach Taiwan kam

TSMC – der wichtigste Konzern der Welt

Und wenn China Taiwan angreift?

Die Aufholjagd der Festlandchinesen

Europas unbekannte Juwelen

Europa: Kein Chip, Chip, hurra

USA: Chips Act und andere Aktionen

Deutsche Milliardengeschenke

Kampf um die Rohstoffe

Kapitel 4

Digitalisierung — Anschluss verpasst

Wie Amerika das Internet entdeckte

Ein Deutscher brachte das Internet nach China

China – BAT und mehr

Die Taktik gegen TikTok und Shein-Gefechte

WeChat – Vorbild für Facebook und Co.

Auf dem Weg zur bargeldlosen Gesellschaft

Erst digitaler Yuan, dann digitaler Euro

Smart Cities oder realisierte Utopie

Digitalwüste Deutschland

Regulierungsmacht EU

USA und Europa bei 5G abgehängt – auch bei 6G?

Kein Anschluss für Huawei

Wie du mir, so ich dir – Huawei contra Apple

Europa hat Ericsson und Nokia – und die Amerikaner?

Wolkenlos in Europa

Kabbeln um Kabel

Kapitel 5

Quantentechnologie — Großer Sprung nach vorn

Supercomputer und ihre Grenzen

Quantensprung mit dem Quantencomputer

Das Rennen hat begonnen

Die Heidelberg-Connection

Deutschland mittendrin statt nur dabei

Die militärische Dimension

Kapitel 6

Energie und Verkehr — Heiße Pläne

China – Dominanz bei Sonne und Wind

Wasserstoff – der Stoff, aus dem die Träume sind

Science-Fiction I: Kernfusion oder wie man eine künstliche Sonne erzeugt

Science-Fiction II: Thorium statt Uran

Science-Fiction III: Solaranlagen im All

Chinas Elektroautos – Vorsprung durch Technik

Batterien – europäische Spätzünder

CATL – Konzern mit geballter Ladung

Bahn – Stillstand hier, Fortschritt dort

Hyperloop – menschliche Rohrpost

Das neue Luftfahrt-ABC: Airbus, Boeing und Comac

Öffentlicher Nahverkehr in der Luft

Überschallflugzeuge oder in zwei Stunden von Shanghai nach New York

Kapitel 7

Biotech und Medizin — Doktor Big Data

Biotech: Die neue Front – USA gegen China

Krebsforschung – konkurrieren oder kooperieren?

CRISPR – die zweischneidige Genschere

Speiseplan der Zukunft: Gen-Food und künstliches Fleisch

Digital Healthcare: Diagnose per Bildschirm

Doktor Big Data: Wie KI die Medizin revolutioniert

Präzisionsmedizin: Behandlung à la carte

Geheimnisvolles Hirn

Das Affentheater

Kapitel 8

Raumfahrt — All-Macht-Fantasien

New Space …

… und Old Space

China – der neue Rivale

Das zweite Space-Race

Anarchie im Weltraum

Und Europa? Bleibt am Boden – vorerst

Star Wars – die Militarisierung des Weltraums

Satelliten: Gedränge zwischen Himmel und Erde

GPS und seine Alternativen

Kapitel 9

Patente und Standards — Moderne Papierkriege

Privat oder staatlich – die unterschiedlichen Strategien

Standardorganisationen: Kampf um Posten und Einfluss

Patentweltmeister China, aber auch Weltmacht?

Kopieren? Das war gestern

Kapitel 10

Talente — Globales Buhlen um kluge Köpfe

Chinas Studenten im Westen

Unter Generalverdacht in den USA

… und auch in Europa

Die Lockrufe der Heimat

Berühmte Heimkehrer

Ausländische Talente und gestandene Forscher

Hochschulen: Noch dominiert die Ivy-League

Der Run auf die STEM-Absolventen

Erwünscht, aber nicht willkommen

Kapitel 11

Militär — Killerroboter an die Front

USA – der neue militärisch-industrielle Komplex

Chinas Kopie: Military-Civil-Fusion

Europas Rüstungsindustrie – ein Flickenteppich

Drohnen im kriegerischen Einsatz

Hyperschall – überschätzte Wunderwaffe?

Der Supersoldat aus der Retorte

Killerroboter und Killerwaffen

Kapitel 12

Industriepolitik — Die Renaissance des Staates

Ingenieure statt Juristen

Chinas hybrides System zwischen Plan und Markt

Das Cluster als Muster

Wer hat das Internet erfunden? Bill Gates? Steve Jobs? Nein, DARPA

Französische Träume, deutsche Wirklichkeit

Roberts Liebling Mariana

Amerikas und Europas Milliardenprogramme

Kontrollen, Verbote und Sanktionen

SCHLUSS – KOOPERATION STATT KONFRONTATION

LITERATUR – AUSGEWÄHLTE BÜCHER

ANMERKUNGEN

Einleitung

1 Der Tech-Krieg

2 Künstliche Intelligenz

3 Chips

4 Digitalisierung

5 Quantentechnologie

6 Energie und Verkehr

7 Biotech und Medizin

8 Raumfahrt

9 Patente und Standards

10 Talente

11 Militär

12 Industriepolitik

Schluss Kooperation statt Konfrontation

EINLEITUNG

»Der Technologiekrieg zwischen den beiden Supermächten China und USA wird die entscheidende Auseinandersetzung des 21. Jahrhunderts werden.«

Stephen S. Roach, Ex-Investmentbanker und jetzt Fellow an der Yale University

Der 7. Oktober 2022 war ein Tag, der die Welt veränderte – und fast keiner hat es hierzulande gemerkt. In der Tagesschau wurde nicht darüber berichtet, und in den Printmedien fand das Ereignis nur – wenn überhaupt – als Randnotiz statt. In China hingegen verfolgte man aufmerksam, was an jenem Oktoberfreitag im fernen Washington per Dekret verkündet wurde: Die USA werden keine hochwertigen Chips mehr an China liefern, und sie würden mit all ihrer Macht verhindern, dass dies andere Nationen tun.

Das war eine Kriegserklärung der Vereinigten Staaten an die Volksrepublik China. Keine Kriegserklärung im klassischen militärischen Sinne, sondern eine moderne, eine zeitgemäße. In diesem Krieg kommen keine Gewehre, keine Panzer, keine Flugzeuge und keine Bomben zum Einsatz und deswegen auch keine Menschen zu Schaden. Die Waffen in diesem Konflikt sind andere, denn wir befinden uns im Zeitalter der Geoökonomie. Die Waffen, mit denen man andere treffen will, sind wirtschaftlicher und technologischer Natur. Sanktionen, Export- und Investitionsverbote sind alles Instrumente aus dem Arsenal des Protektionismus. Und eben an diesem 7. Oktober griffen die USA ganz tief in diesen Instrumentenkasten. Spätestens nach jenem Tag war klar: Die USA wollen mit aller Macht verhindern, dass China weiter technologisch aufholt und sie womöglich überholt.

USA gegen China – das ist der Konflikt in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts, wenn nicht gar darüber hinaus. Auch wenn manche Beobachter mit dem Vergleich zögern: Für mich ist diese Auseinandersetzung zwischen den beiden Supermächten ein neuer, ein zweiter Kalter Krieg. Wie der erste Kalte Krieg zwischen den USA und der Sowjetunion, bei dem es um Kapitalismus versus Kommunismus ging, wird auch sein Nachfolger gerne ideologisch aufgeladen: Demokratie versus Autoritarismus. Aber das ist nur eine vordergründige Etikettierung.

Den USA geht es bei der Auseinandersetzung mit China nicht um die Verteidigung westlicher Werte (wie soll ein Trump, der den Konflikt mit China schürte, glaubhaft demokratische Werte verkörpern?). Nein, es geht um Macht, um die Weltmacht, um die globale Nummer eins. Und diese Poleposition beanspruchen die USA nach dem Ende des gewonnenen ersten Kalten Krieges für sich, als sei das ein Naturgesetz oder gottgegeben. Die USA sehen sich als führende Wirtschafts-, Technologie- und Militärmacht, und das soll – God Bless America – gefälligst auch so bleiben.

Diesen Anspruch formuliert die US-amerikanische Führung auch ganz deutlich. Da klingen Donald Trump und Joe Biden gar nicht so unterschiedlich. Der eine sagt ganz simpel: »Make America Great Again.« Der andere weniger plump und etwas differenzierter, aber doch voller Selbstbewusstsein in einem Artikel für Foreign Affairs: »Es gibt keinen Grund, warum wir hinter China oder irgendjemand anderem zurückfallen sollten, wenn es um saubere Energie, Quantencomputing, künstliche Intelligenz, 5G, Hochgeschwindigkeitszüge oder den Wettlauf um die Ausrottung von Krebs, wie wir ihn kennen, geht. Wir haben die besten Forschungsuniversitäten der Welt. Wir haben eine starke Tradition der Rechtsstaatlichkeit. Und was am wichtigsten ist: Wir haben eine außergewöhnliche Zahl von Arbeitern und Innovatoren, die unser Land nie im Stich gelassen haben.«1

Biden stellt ganz bewusst die Technologie in den Mittelpunkt seines Überlegenheitsdenkens. Denn sie entscheidet über die Stärke eines Landes. Nur sie ermöglicht eine wettbewerbsfähige Wirtschaft und ein starkes Militär. Bislang waren die USA der nahezu unangefochtene globale Technologieführer. Aber nun schickt sich China an, zu Beginn der vierten industriellen Revolution diese amerikanische Vormachtstellung infrage zu stellen.

Wenn man die vielen Studien amerikanischer Thinktanks liest oder den Reden amerikanischer Politiker zuhört, hat man den Eindruck, dass sie alle nur noch auf den Zweikampf China versus USA fixiert sind. Europa findet in ihren Augen kaum mehr statt, und wenn dann nur noch als nützlicher Kombattant oder bestenfalls als Juniorpartner der USA, der mithelfen soll, Chinas Einfluss einzuhegen.

Europa spielt in diesem Tech-Krieg zwischen China und den USA in der Tat nur eine zuschauende Rolle, auch weil wir Europäer von falschen Voraussetzungen ausgehen. So haben viele in Europa – vor allem in der Politik – ein antiquiertes China-Bild. Viele denken immer noch, China sei das Land der Kopierer, China sei das böse Land, das unsere Technologie klaut, wie EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen immer wieder gerne betont.

Dieses China-Bild spiegelt sich in einem falschen Selbstbild. Wir schätzen die Chinesen zu schlecht ein und uns zu gut. Viele in der Politik glauben, wir Deutschen und Europäer seien immer noch in vielen Bereichen führend oder könnten mit ein paar Milliarden Euro hier und ein paar EU-Programmen dort wieder an die Spitze zurückkommen. »Deutschland gehört zu den führenden Innovationsnationen und attraktivsten Wissenschaftsstandorten weltweit«2 steht in der Hightech-Strategie 2025 der Bundesregierung. Wie weltfremd ist ein Bundeskanzler Olaf Scholz, der allen Ernstes behauptet, Deutschland habe »die besten Voraussetzungen dafür, dass wir auch in 10, 20 und 30 Jahren technologisch in der Spitzenliga spielen«3? Oder eine Forschungsministerin Bettina Stark-Watzinger, die forsch verkündet: »Wir müssen unsere Technologieführerschaft verteidigen.«4 Sorry, welche Führerschaft? Wo liegt Deutschland vorn? Wo Europa?

Europas Wirtschaft ist da selbstkritischer. »Die Wettbewerbsfähigkeit unseres Kontinents ist geschwunden« heißt es in einem Papier des European Round Table for Industry (ERT), dem 60 Topmanager europäischer Konzerne angehören. Realitätsnah stellen sie fest: »Die USA, China und andere haben die EU bei vielen Indikatoren bereits überholt.«5 Das gilt bei Innovationen in den neuen Technologiefeldern, aber auch bei Patenten und Talenten (siehe die Kapitel 9 und 10).

Diesen Befund bestätigt eine Untersuchung des Australian Strategic Policy Institute (ASPI), das den Critical Technology Tracker herausgibt. Darin wird untersucht, welches Landes in welchen Technologien führend ist. Das Ergebnis: In 37 der 44 analysierten Technologien ist China vorn, in 7 die USA, Europa in keiner.6 Nun kann man natürlich an der Methode rummäkeln. Aber tendenziell liegen die fernen Australier richtig. Das ergab die Recherche zu diesem Buch, bei dem ich mich auf die technologische Auseinandersetzung zwischen China und den USA und die Rolle Europas konzentriert habe. Die zweifellos vorhandenen Erfolge von Ländern wie Indien, Israel, Japan, Kanada, Russland oder Südkorea habe ich deshalb nur am Rande erwähnt.

Ich habe alle wichtigen Zukunftstechnologien unter die Lupe genommen und jeder ein eigenes Kapitel gewidmet – von Künstlicher Intelligenz bis Quantentechnologie, von Chips bis 5G, von Biotech bis Raumfahrt (siehe die Kapitel 2 bis 8). Tendenziell muss ich leider feststellen: Europa verliert gegenüber den beiden Supermächten China und USA immer mehr an Boden. Und weil sich China und USA in ihrem Kampf um die technologische Vorherrschaft gegenseitig pushen, wird der Abstand Europas eher noch größer.

Ja, wir haben in Europa und speziell in Deutschland traditionell eine gute Grundlagenforschung. Aber bei der Umsetzung in marktfähige Produkte hapert es. Das war früher schon so und ist heute immer noch ein Problem. Da sind die USA und China einfach besser und schneller. In beiden Ländern herrscht ein entrepreneurial spirit, der dort auf weniger bürokratische Hindernisse und gleichzeitig auf bereitwillige Geldgeber stößt. Und beide Länder verfolgen sehr unterschiedliche, aber gleichwohl erfolgreiche industriepolitische Ansätze (siehe Kapitel 12).

Wenn ich über den Niedergang oder bestenfalls die Stagnation Europas schreibe, soll das nicht sarkastisch oder resignierend klingen. Im Gegenteil: Ich wünsche mir ein technologisch, wirtschaftlich und damit auch politisch starkes Europa. Ich habe drei Jahre meines Lebens in Brüssel verbracht. In dieser Zeit bin ich zum bewussten Europäer geworden. Ich bin ein großer Anhänger und Verfechter der europäischen Idee. Dieses europäische Identitätsgefühl verstärkte sich noch, als ich ein paar Jahre später für ein Jahr mitten in New York lebte und arbeitete. Da wurde mir klar, dass Europäer und Amerikaner unterschiedlich ticken – in ganz alltäglich-banalen Dingen. Zum Beispiel kann man in Europa nach einem Abendessen einfach sitzen bleiben und wird nicht mit der Killerfrage »Anything else?« zum Gehen aufgefordert. Außerdem besitzt dieses Europa, mein Europa, im Gegensatz zu den USA eine reiche Geschichte und Kultur, vor allem eine Geschichte, die reich an Entdeckungen und Innovationen ist.

Diese persönlichen Reminiszenzen vorausgeschickt, plädiere ich für ein starkes Europa, das auch gegenüber den USA selbstbewusst auftritt, das seine Interessen definiert und artikuliert. Und diese Interessen sind nicht immer identisch mit denen der USA. Wer so etwas schreibt und sagt, dem wird sofort vorgeworfen, er plädiere für eine Äquidistanz Europas zu China und den USA. Das verbuche ich unter Polemik. Natürlich ist mir klar, dass wir Europäer uns in einer Wertegemeinschaft mit zumindest dem Bidenschen Amerika befinden und dass China ein autoritärer Staat ist.

Aber ich bin skeptisch, ob dieser heterogene Staatenbund namens EU fähig und auch willens ist, gegenüber den mächtigen Nationalstaaten China und USA aufzuholen. Denn es fehlt in erster Linie an Einsicht. Um zu dem von mir gewünschten wiedererstarkten Europa zu gelangen, müssen sich die europäischen Politiker – ob in Brüssel oder den nationalen Hauptstädten – erst mal klar werden, wo dieses Europa technologisch steht, nämlich hinter China und den USA. An dieser Erkenntnis mangelt es in einer Mischung aus Nicht-Sehen-Wollen und Nicht-Wissen. Diesem Defizit möchte ich mit diesem Buch entgegentreten.

Der französische Journalist und Politiker Jean-Jacques Servan-​Schreiber – auch unter JJSS bekannt – schrieb 1968 den Bestseller Die amerikanische Herausforderung. Ich habe ihn in Vorbereitung zu diesem Buch nochmals gelesen und einige Parallelen zur heutigen Zeit entdeckt. JJSS machte sich damals Sorgen um Europa, das im Wettstreit mit den USA nicht mehr mithalten könne. Jetzt sind wir Europäer wieder in so einer Situation – allerdings mit dem Unterschied, dass Europa diesmal gleich zwei großen technologischen Kontrahenten gegenübersteht: China und den USA.

Ich mache mir deshalb Sorgen, vielleicht größere als JJSS damals. Deshalb soll – wie sein Buch damals – auch dieses ein Weckruf sein. Denn es ist höchste Zeit für ein Buch über die amerikanisch-chinesische Herausforderung. Jetzt ist es da. Und es liegt in Ihren Händen, um gelesen zu werden, und es liegt in den Händen der deutschen und europäischen Politiker, um auf diese einzigartige doppelte Herausforderung angemessen zu reagieren.

Wolfgang Hirn, Berlin im Dezember 2023

Kapitel 1Der Tech-Krieg

Die Gefechtslage

»Den USA steht nun mit China ein wirtschaftlicher und militärischer Konkurrent gegenüber, der aggressiv versucht, unseren Vorsprung bei neuen Technologien zu verringern.«

Eric Schmidt, ehemaliger Google-Chef, jetzt Berater der US-Regierung

Die Geschichte der Beziehungen zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China ist eine sehr wechselhafte. Lange Zeit nahmen die USA China nicht so richtig ernst, weil sie dem kommunistischen Land weit überlegen waren. In den 1950er Jahren war China wirtschaftlich schwach, technologisch rückständig und militärisch eher ein Papiertiger. Danach folgten in China der »Große Sprung nach vorn« und die Kulturrevolution. Beides warf das Land noch weiter zurück. Doch mitten in diesem Niedergang während der Kulturrevolution entdeckten die USA China neu – aus geostrategischen Motiven.

Die USA befanden sich damals im Kalten Krieg mit der Sowjetunion. China war im ideologischen Zwist mit der UdSSR und lieferte sich gar ein Scharmützel mit ihr am Grenzfluss Ussuri. Angesichts dieser Gemengelage dachten die Strategen um Sicherheitsberater Henry Kissinger: Der Feind meines Feindes ist mein Freund. Also knüpfte Kissinger unter abenteuerlichen Bedingungen – er täuschte bei einem Besuch in Pakistan Übelkeit vor und flog in der Nacht zum 9. Juli 1971 mit Schlapphut und Sonnenbrille von Rawalpindi nach Beijing – die ersten Bande mit dem Mao-Regime. Zwei Tage lang konferierte er mit Ministerpräsident Zhou Enlai. »Eureka«, telegraphierte Kissinger anschließend an seinen Präsidenten Richard Nixon, »wir haben den Grundstein für Sie und Mao gelegt, eine neue Seite in der Geschichte aufzuschlagen.«1

Im Februar 1972 reiste Nixon dann nach China und traf dort auch Mao. Damals wurde die Aufnahme diplomatischer Beziehungen vorbereitet, die schließlich 1979 vollzogen wurde. In der Folgezeit plätscherten die Beziehungen so dahin. Bis zum Ende der Sowjetunion war China noch ein nützlicher »Verbündeter«, danach war China vor allem wirtschaftlich relevant. Die USA sahen China, die Fabrik der Welt, erst als billigen Produktionsstandort und etwas später dann auch als Absatzmarkt. Aber als Wettbewerber oder gar technologischen Herausforderer sah man China lange Zeit nicht. Man drängte China sogar 2001 in die Welthandelsorganisation WTO und hoffte, dass China sich in die westlich dominierte internationale Ordnung einfügen würde. Den Gefallen tat China allerdings nicht. Wie mit diesem immer selbstbewusster werdenden China umgehen? Das war die große strategische Frage in Washington in den ersten Jahren des neuen Jahrtausends. Das politische Establishment und ihr soufflierender Tross von Thinktankern schwankten zwischen Containment (Eindämmung) und Engagement. Entsprechend gab es zwei Lager: Hier die Dragon Slayers, dort die Panda Huggers.

Im Laufe der Jahre gewannen die Containment-Anhänger immer mehr die Oberhand. Je stärker China wirtschaftlich wurde, desto mehr betrachtete man China als Gegner. Schon unter Barack Obama setzte diese Neubewertung Chinas ein. Er beziehungsweise seine Außenministerin Hillary Clinton verkündeten 2011 den Pivot to Asia, die Hinwendung zu Asien. Keine Hinwendung aus Liebe, sondern eher aus berechtigter Sorge, dass sich Chinas wirtschaftliche Stärke auch in militärische verwandeln werde. Deshalb – so der Gedanke Obamas – müsse die USA, die sich nach wie vor als pazifische Macht verstehen, stärkere Präsenz in Asien zeigen und China eindämmen.

Obamas Pivot wurde freilich nicht konsequent umgesetzt. Das erledigte dann sein Nachfolger Donald Trump. Er zettelte den Handelskrieg mit China an, verhängte Strafzölle und Sanktionen. Unter Biden wurde der Anti-China-Kurs fortgeführt, ja noch verstärkt. Er ging dabei viel strategischer vor als der erratische Trump. Biden erkannte richtig, dass China technologisch gegenüber den USA mächtig aufgeholt und diese teilweise schon überholt hat. Deshalb wurden gegen China vor allem Sanktionen bei den Chips verhängt, denn diese sind quasi die Achillesferse der Chinesen, die vor allem bei der Produktion hochwertiger Chips hinterherhinken.

China und die USA spielten bislang nicht in derselben Technologieliga, wie ein Blick in die industrielle Revolutionsgeschichte zeigt. Für die 1776 gegründete USA kam die erste industrielle Revolution zu früh, China hat gar die ersten drei verschlafen. Die erste aus Arroganz, die zweite fiel in das Ende der Kaiserzeit, in der das Land viel zu viel mit sich selbst beschäftigt war. Und bei der dritten befand sich das Land erst auf dem »Großen Sprung nach vorn« und dann in den Wirren der Kulturrevolution. Die USA hingegen haben die zweite (Thomas Alva Edison, Henry Ford!) und dritte industrielle Revolution (Computer!) entscheidend geprägt.

Und nun wollen sie auch die vierte industrielle Revolution anführen. Doch diesmal haben sie einen Gegner – China. Mit ihm führen sie deshalb einen Tech-Krieg, dessen einzelne »Schlachtfelder« ich in diesem Buch beschreiben werde.

Doch vorab eine Übersicht über die beiden Kontrahenten (und den Kombattanten Europa) sowie einen kurzen Ausflug in die ersten Jahre des Industriezeitalters, das zeitlich fern, aber thematisch sehr nah ist.

Eine kleine Vorgeschichte

In den ersten Jahren des frühen 19. Jahrhunderts reiste ein gewisser Francis Cabot Lowell nach England und Schottland. Der Amerikaner aus Massachusetts hatte in den Jahren zuvor in Boston ein erfolgreiches Handelshaus aufgebaut, importierte Tee und Seide aus China, Baumwolle aus Indien. Aber er sah – auch politisch denkend – ein, dass nur durch Handel die junge amerikanische Nation nicht groß und mächtig werden kann. Es musste auch eine eigene Produktion her. Doch das Land hatte in den Gründerjahren nur eine rudimentäre Landwirtschaft, aber keine Industrie und auch kein Know-how, wie man eine solche aufbaut. England hingegen hatte dieses Wissen. Das europäische Land befand sich in jener Zeit bereits mitten in der ersten industriellen Revolution.

So reiste also Francis Cabot Lowell im Juni 1810 nach England. Vordergründig hieß es, der stets kränkelnde Lowell wolle auf der Insel seine Krankheit auskurieren. Doch Lowell hatte Hintergedanken. Er besichtigte in Lancashire und Schottland Spinnereien und Webereien. Sie waren damals State of the Art, betrieben mit Dampf oder Wasser. Zwei Jahre hielt sich Lowell mit seiner Familie auf der Insel auf. Dann hatte er genug gesehen. Er begab sich auf die Rückreise über den Atlantischen Ozean.

Bei seiner Ankunft in Halifax – damals Englands Hauptfestung in Nordamerika – durchsuchten englische Beamte das Gepäck der Familie Lowell. Sie hatten herausbekommen, dass Lowell Fabriken ausspioniert haben sollte. Aber sie fanden in den zahlreichen Koffern der Familie Lowell nichts, keine Notizen, keine Aufzeichnungen. Der schlaue Lowell hatte alles in seinem Kopf notiert beziehungsweise memoriert. Sein phänomenales Gedächtnis reichte aus, um die Fabriken nachzubauen. So startete er 1814 mit ein paar Compagnons die Boston Manufacturing Company, die erste integrierte Textilfabrik in Nordamerika. Lowell starb bereits 1822 und konnte den großen Erfolg seines Unternehmens nicht mehr erleben.

Diese Episode zeigt, dass sich Geschichte wiederholen kann. Ende des 18. Jahrhunderts, anfangs des 19. Jahrhunderts haben die USA das gemacht, was sie heute China vorwerfen: Ideen und Maschinen geklaut, spioniert und Wissensträger mit viel Geld ins Land gelockt. Diese Machenschaften waren von höchster Stelle sanktioniert. Einer der Treiber war Alexander Hamilton, einer der Gründerväter der USA und der erste Finanzminister. 1791 forderte er zum Beispiel die USA auf, »alle in Europa bekannten Maschinen zu beschaffen«2. Egal, ob legal oder illegal. Aber da die Engländer weder Maschinen noch Know-how legal herausrückten, geschah es eben meist illegal. Amerikanischer Ideenklau und das Abwerben und sogar Entführen von britischen Wissensträgern war damals an der Tagesordnung.

Doron Ben-Atar, Geschichtsprofessor an der Fordham University in New York und Buchautor schreibt: »Der Großteil der politischen und intellektuellen Elite der (amerikanischen) Gründergeneration war direkt oder indirekt in Technologiepiraterie verwickelt.«3

In den ersten Jahrzehnten der jungen amerikanischen Nation entstanden vor allem in Boston die ersten großen Fabriken. Nicht nur die von Francis Lowell, sondern auch von anderen Unternehmern. Sie wurden die Boston Associates genannt und waren die Väter der Industrialisierung der USA. Dann in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ging es Schlag auf Schlag. Große Konzerne entstanden, die zum Teil noch heute existieren. Es war die Zeit der großen Industriemagnaten, auch robber barons (Räuberbarone) genannt. Sie gründeten und dominierten beziehungsweise monopolisierten jeweils ganze Branchen: Andrew Carnegie (Stahl), Cornelius Vanderbilt (Eisenbahn), John Pierpont Morgan (Banken), John D. Rockefeller (Öl), später kam dann Henry Ford (Auto) hinzu.

Mit ihnen begann der Siegeszug der USA an die wirtschaftliche und technologische Weltspitze, an der sie sich bis heute befinden.

USA – der Titelverteidiger

Die USA sind die moderne Hightech-Nation. Dort wurde die zweite industrielle Revolution gestartet, als Thomas Alva Edison mit seinen Erfindungen die Elektrizität und Henry Ford die Massenfertigung begründeten. Dort begann auch die dritte Revolution mit dem Computer. Von dort kamen die wichtigsten Erfindungen der vergangenen Jahrzehnte – der Chip zum Beispiel oder das Internet. Der erste Mensch auf dem Mond war ein Amerikaner. Aber auch die erste Atombombe zündete ein Amerikaner.

Warum die USA so erfolgreich sind, erklärt sich mit zwei Begriffen: Know-how und Kapital – beides ist in Amerika ausreichend vorhanden. Zuerst zum Know-how: In den USA sind die besten und attraktivsten Universitäten der Welt. Zu den Topadressen der Ivy-League im Osten gehören Harvard, MIT, Princeton und Yale. Dazu kommt noch Stanford im Westen. Einen Großteil der über 350 amerikanischen Nobelpreisträger haben diese Hochschulen »produziert«. Keine Nation kann bei dieser Zahl an Laureaten auch nur annähernd mithalten.

Neben den Eliteunis entstanden – und das ist durchaus wörtlich beziehungsweise räumlich zu nehmen – innovative Cluster wie zum Beispiel das legendäre Silicon Valley in Kalifornien oder die etwas weniger bekannte legendäre Route 128 südlich von Boston. Neu hinzugekommen sind die Silicon Hills in der texanischen Hauptstadt Austin, das sich in den letzten Jahren zu einem veritablen Hightech-Standort entwickelt hat. Austin ist inzwischen auch der Sitz des Tech-Tausendsassas Elon Musk.

Zum Know-how kommt das Kapital. Hier spielen zwei Straßen eine zentrale Rolle: die Wall Street und die Sand Hill Road, oder nur Sand Hill. Die fast sechs Meilen lange Sand Hill geht durch Palo Alto, Menlo Park und Woodside, alles legendäre Orte der Hightech-Branche. In Palo Alto startete einst Google, in Menlo Park hat Meta (die Facebook-Mutter) das Headquarter und in Woodside wohnte Steve Jobs. Hier in der Sand Hill wurde die Idee des Venture Capital (VC) geboren. Mutige Investoren geben jungen Unternehmen quasi Startgeld in der Hoffnung, dass sie später ein Vielfaches davon zurückbekommen. Danach, wenn die Unternehmen erfolgreich sind und an die Börse gehen, kommt die Wall Street ins Spiel. Dort residieren die New York Stock Exchange (NYSE), die größte Börse der Welt, und die Nasdaq, die Technologiebörse für die Hoffnungsträger. So entstanden die weltweit dominierenden Onlinekonzerne mit Amazon, Facebook (inzwischen Meta) und Google (inzwischen Alphabet).

Hinzu kommt, dass US-Firmen im Marketing unschlagbar sind. Sie können Produkte – auch solche, die die Welt eigentlich nicht braucht – bestens vermarkten, und zwar global. Beste Beispiele: erst Coca-Cola, dann McDonalds und schließlich Starbucks. Kaffeekultur assoziiert man eigentlich mit Europa, mit Italien, vielleicht auch noch mit Österreich. Doch ist ein Italiener auf die Idee gekommen, eine globale Kaffeekette aufzuziehen? Nein, der italienische Barista begnügt sich mit seiner Bar am Ort und denkt nicht mal an eine zweite. So war es ein gewisser Howard Schultz, ein Verkäufer aus Brooklyn, der die erfolgreichste Kaffeekette der Welt kreierte. Ich hatte ihn mal 2001 zu einem Interview in Seattle getroffen. Zu der Zeit hatte Starbucks rund 5 000 Filialen, die meisten in den USA. Schultz sprach damals von einem Ziel von 25 000 Starbucks-Shops. Ich dachte nur: »Träumer«. Heute hat Starbucks über 36 000 Filialen.

Amerikas Gründer und Unternehmer denken eben big. Aber nicht nur die Markenartikler in der Konsumbranche, sondern auch die vielen Technologie-Unternehmer. In der Tech-Welt sind beziehungsweise waren solche Vordenker der eher introvertierte, inzwischen verstorbene Apple-Mitgründer Steve Jobs und der extrovertierte Bill Gates (Microsoft), heute »nur« noch der weltgrößte Philanthrop, aber in diesem Metier nicht minder visionär.

Zu der neuen Generation der weitblickenden Tech-Unternehmer zählen Amazon-Gründer Jeff Bezos und Multi-Unternehmer Elon Musk, der uns in diesem Buch noch öfter begegnen wird. Letzterer ist kein lupenreiner Amerikaner, denn er besitzt drei Pässe (Südafrika, Kanada, USA). Aber Musk versteht sich sowieso als Weltbürger, der ähnlich wie Bill Gates die Menschheit von allen Übeln retten will: Hunger, Klimawandel und Krankheiten jeder Art. Und wenn es hier zu voll wird, dann schickt man – so Musks Idee – eben einen Teil der Menschheit auf den Mars.

Musk ist der Prototyp einer Spezies, die Daron Acemoğlu und Simon Johnson in ihrem Buch Macht und Fortschritt als »Visionsoligarchie« bezeichnen. Das ist ein treffender Ausdruck für diese zwischen Vision und Wahnsinn vagabundierenden Vordenker.

Sie sind sehr einflussreich, schreiben Acemoğlu und Johnson: »Sie üben große Faszination auf die einflussreichen Hüter der öffentlichen Meinung aus, nämlich auf Journalisten, andere Unternehmensleiter, Politiker, Wissenschaftler und verschiedenste Intellektuelle.«4 Ihr unbändiger Optimismus paart sich mit dem der amerikanischen Politiker, die seit der Gründung der Vereinigten Staaten ein ebenfalls sehr ausgeprägtes Selbst- und Sendungsbewusstsein haben. Sie leben alle ihren American Dream und fühlen sich als Repräsentanten eines ausgewählten Volkes, gerne mit christlichem Pathos unterlegt. Es gibt keine Präsidentenrede, die nicht mit God Bless America endet. In dieser Grundhaltung unterscheiden sich Donald Trump und Joe Biden nicht voneinander. Für sie sind die USA die führende Technologie- und Wirtschaftsnation – und diese Position wollen sie mit aller Macht verteidigen.

Wehe, dieser Status wird von außen attackiert, dann kennen sie keine Freunde. Das bekamen die Japaner in den 1980er Jahren zu spüren, als sich die USA gegen die Flut japanischer Auto-Importe wehrten. Und auch die Europäer mussten erfahren, wie das ist, wenn man eine wichtige US-Branche herausfordert. Mit dem Airbus gelang den Europäern eine eindrucksvolle Attacke auf Boeing, und prompt wurden sie von den USA in einen jahrelangen Subventionsstreit verwickelt.

Das war nur Geplänkel unter Freunden und auch nur in einer Branche. Was derzeit ansteht, hat aber eine völlig andere Dimension. Jetzt werden die USA erstmals gleichzeitig in vielen Hightech-Industrien attackiert und das auch noch von einem Land, das man eher in die Kategorie Feind oder – etwas wohlwollender ausgedrückt – Rivale einstuft: China.

China – der Herausforderer

Lang, lang ist es her, dass China mal das innovativste Land der Welt war. Die vier großen Erfindungen – Papier, Druckkunst, Schwarzpulver und der Magnetkompass – wurden in China gemacht und zwar zu Zeiten, als Europa noch im finsteren Mittelalter versunken war und Amerika von indigenen Völkern bewohnt war. Die Londoner Ökonomieprofessorin Keyu Jin schreibt in ihrem Buch The New China Playbook: »Zur Zeit der Song-Dynastie (960–1279) war China in Wissenschaft und Technologie unangefochten an der Weltspitze.«5

Aber es waren nicht nur die berühmten vier Entdeckungen, die China einst weit vor den Europäern hervorbrachte. Der britische Naturwissenschaftler und Sinologe Joseph Needham benötigte sage und schreibe 24 Bände, um in seinem Monumentalwerk Science and Civilisation in China all die chinesischen Errungenschaften der vergangenen Jahrhunderte aufzuschreiben, was ihm – dem China- und Kommunistenfreund – von Kritikern aber als überzogene Glorifizierung chinesischer Wissenschaftsaktivitäten ausgelegt wurde.

Aber unbestritten ist, dass das chinesische Kaiserreich lange Zeit wirtschaftlich und technologisch führend war, was allerdings die Herrschenden am Hofe zu Abschottung und Überheblichkeit verleitete. Legendär war der Besuch des Gesandten des englischen Könighauses Lord Macartney, der 1793 in Beijing am kaiserlichen Hofe auftauchte, um diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen bettelte, aber brüsk abgewiesen wurde. Kaiser Qianlong teilte ihm in einem Edikt mit: »Wir haben raffinierte Artikel nie geschätzt noch haben wir den geringsten Bedarf an den Erzeugnissen Eures Landes.«6

Welch Ironie der Geschichte, denn just zu der Zeit, als der britische Emissär in Beijing seine Aufwartung machte und von den chinesischen Herrschern streng zurückgewiesen wurde, weil diese irrglaubten, sie seien immer noch an der Spitze der technologischen Entwicklung, war in jenem England bereits eine Revolution im Gange – die erste industrielle Revolution. Es folgte ein rasanter Niedergang Chinas, in dem das Land nicht zur Ruhe kam: die verlorenen Opiumkriege, das Ende des Kaiserreichs, Bürgerkriege, unter Mao der Große Sprung nach vorn und schließlich die Kulturrevolution.

Dann endlich 1978 ein Neuanfang. Aber nur langsam erholten sich danach die Wirtschaft wie auch die Wissenschaft. Unter Mao-Nachfolger Deng Xiaoping wurde ein Kurs der Reformen und der Öffnung gefahren. Marktwirtschaftliche Elemente wurden in das System integriert, Universitäten wieder geöffnet. Ausländische Unternehmen wurden in Joint Ventures gezwungen, um so an Know-how zu kommen. Es wurde viel kopiert. Die Zeiten des Kopierens sind jedoch vorbei, aber trotzdem schwebt in vielen Köpfen noch der Gedanke herum, dass die Chinesen nur nachahmen können, dass sie nicht innovativ sein können. Weil ihr autoritäres System Kreativität unterdrücke, weil sie in den Schulen nur zum Auswendiglernen erzogen würden.

Dieses Fehlurteil hielt sich hartnäckig in den USA und auch in Europa. Schon legendär und immer wieder süffisant zitiert sind die Falschaussagen von Leuten, die es eigentlich besser wissen müssten. So Harvard-Professor William C. Kirby in einem 2014 erschienenen Artikel im Harvard Business Review: »China ist weitgehend ein Land von Auswendiglernern, die nur nachahmen, aber nicht innovativ sein können.«7 Oder die ehemalige Hewlett-Packard-Chefin Carly Fiorina, die noch 2015 in einem Interview behauptete: »Die Chinesen können Tests bestehen, aber sie können nicht innovativ sein. Sie sind nicht besonders einfallsreich. Sie sind nicht unternehmerisch, sie bringen keine Innovationen hervor, deshalb stehlen sie unser geistiges Eigentum.«8 Eric Schmidt, der ehemalige Google-Chef und inzwischen in vielen Tech-Gremien der US-Regierung aktiv, sagt hierzu nur kopfschüttelnd: »Viele Amerikaner haben immer noch eine veraltete Vorstellung von China.«9

Die Realität sieht anders aus: China fliegt zum Mond, und zwar auf die Rückseite, wo die USA noch nie waren. China ist bei der Digitalisierung weltweit vorn. In einigen Teilbereichen, zum Beispiel bei Künstlicher Intelligenz, Quantentechnologien oder autonomem Fahren, steht chinesische Forschung an der Weltspitze.10 Das behaupte nicht ich, sondern dieser letzte Satz steht so wortwörtlich im China-Strategiepapier der Bundesregierung.

China hat nicht die großen Grundlagenforscher (deshalb ist auch die Zahl der chinesischen Nobelpreisträger überschaubar), aber die schnellen Umsetzer. Um das zu verstehen, muss man einen kurzen Exkurs über Innovationen einfügen. Bei ihnen unterscheidet man zwischen Produkt- und Prozessinnovationen. Während es bei Ersterem um die Entwicklung eines neuen Produktes geht, geht es bei dem anderen um Verfahren, wie ein Produkt hergestellt wird, zum Beispiel durch den Einsatz neuer Maschinen oder eine neue Organisation der Abläufe in der Produktion.

Bei diesen Prozessinnovationen ist China stark. China, das sich in den vergangenen Jahrzehnten zur Fabrik der Welt entwickelte, hat ein Produktions-Know-how wie kein anderes Land. Dort weiß man, wie man Lieferketten organisiert und Wertschöpfungsketten optimiert. Der Tech-Experte Dan Wang, der derzeit in Yale forscht, nennt deshalb China eine »manufacturing superpower«. Wang schreibt in einem Foreign-Affairs-Artikel: »In den letzten zwei Jahrzehnten hat China eine beispiellose Produktionskapazität für technologieintensive Industrien entwickelt, die sich durch ein großes Angebot an Arbeitskräften, ein dichtes Netz von Zulieferern und umfangreiche staatliche Unterstützung auszeichnet.«11

Chinas Strategie ist es gar nicht, als Erstes irgendwelche neuen Produkte zu entwickeln. »China ist Meister in der second generation innovation«12, ist die These von Dan Breznitz und Michael Murphree, die in ihrem Buch Run of the Red Queen den Innovationspfad Chinas analysierten. Die Chinesen marschieren nicht vorweg, sondern studieren sehr genau, was die vor ihnen gemacht haben. Dann machen sie es nach und verbessern es. Die Nachzügler sind dabei oft im Vorteil. Dieser Gedanke geht auf die Forschung von Alexander Gerschenkron zurück, einem geborenen Russen, der später 25 Jahre als Professor in Harvard Wirtschaftsgeschichte gelehrt hatte. Er entwickelte die Theorie der »Vorteilhaftigkeit der Rückständigkeit«13.

Und noch einen Vorteil hat China: eine Bevölkerung, die neuen technologischen Dingen gegenüber extrem aufgeschlossen ist. Das schreibt der Amerikaner Zak Dychtwald in dem Artikel »China’s New Innovation Advantage«. China habe »eine riesige Bevölkerung, die beispiellose Veränderungen erlebt hat und infolgedessen eine erstaunliche Neigung zur Übernahme und Anpassung an Innovationen entwickelt hat, und zwar in einem Tempo und Ausmaß, das anderswo auf der Erde seinesgleichen sucht.«14 Die zentrale Rolle spielt dabei Chinas junge Generation unter 40 Jahren. Rund 700 Millionen umfasst dieser technikaffine Teil der chinesischen Bevölkerung.

Da kann weder eine USA noch eine EU mithalten. Welche Rolle spielt überhaupt Europa in diesem Zweikampf der beiden Großmächte? Wo steht Europa? Wird es von Amerikanern und Chinesen ins Abseits gestellt? Manche sagen sogar, wir seien gar nicht mehr auf dem Platz, sondern nur noch Zuschauer bei diesem Zweikampf. Andere wiederum glauben, wir seien immerhin noch Teil des Spiels – allerdings nur als Schiedsrichter.

Europa – Mitspieler oder nur noch Schiedsrichter?

Am 23. und 24. März 2000 trafen sich die EU-Regierungschefs zu einem Sondergipfel in Lissabon. Die Jahrtausendwende war ein guter Zeitpunkt, um Bilanz zu ziehen und vor allem in die Zukunft zu blicken. Ergebnis des kollektiven Nachdenkens war die Lissabon-Strategie. Deren Kernaussage war: Europa solle bis 2010 zum »wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensgestützten Wirtschaftsraum der Welt«15 heranwachsen. Das klang toll, das klang nach Aufbruch und nach Zukunft. Und das war sehr ambitiös. Zu ambitiös. Zehn Jahre später, also 2010, musste die EU-Kommission kleinlaut eingestehen: Ziele deutlich verfehlt. Macht aber nichts, dann erstellt man eben eine neue Strategie mit schönen Zielen und nennt sie »Europa 2020«.

Dauernd werden große Ziele proklamiert, die nicht eingehalten werden. Die 2019 angetretene Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bleibt in dieser Tradition. Große Ankündigungen durchziehen ihre Reden, verbunden mit viel Selbstlob. Aber offenbar traut sie ihren eigenen Worten nicht so ganz, denn in ihrer letzten Rede zur Lage der Union am 13. September 2023 kündigte sie an, dass der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi einen Bericht über die Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit erstelle. Als ob es an Analysen über den Zustand Europas mangele.

Der Befund ist seit Jahren klar: Europa hängt bei vielen Zukunftstechnologien hinter den USA und China hinterher. Bei Künstlicher Intelligenz sitzen die besten Forscher in China und den USA, bei Chips müssen ausländische Hersteller mit Milliardensubventionen nach Europa geködert werden, bei der Digitalisierung spielen europäische Unternehmen keine Rolle, in der Raumfahrt fehlt eine Trägerrakete. Ja, selbst in der europäischen Paradebranche, der Autoindustrie, fahren bei den Megathemen Elektro und autonomes Fahren Volkswagen und Co. hinterher.

Dabei kann Europa auf eine lange Geschichte von Ideen und Innovationen zurückblicken. Hier ein paar Namen von europäischen Ideengebern im Schnelldurchlauf: Erst tauchten die großen griechischen Denker auf, danach folgten ihre römischen Pendants. Die Renaissance, die Epoche zwischen Mittelalter und Neuzeit, ist mit großen Künstlern, aber auch den Namen vieler bedeutender Wissenschaftler gespickt, zum Beispiel Galileo Galilei, Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler, Paracelsus und Francis Bacon. Die erste industrielle Revolution begann wie gesagt in Europa, in England. Vor fast 100 Jahren heimsten Europäer Nobelpreise in Serie ein. In den ersten beiden Jahrzehnten nach Beginn der Preisverleihung anno 1901 dominierten in den Naturwissenschaften und der Medizin vor allem Deutsche und Franzosen. Nur ein paar Namen zur Erinnerung: Marie Curie, Wilhelm Conrad Röntgen, Robert Koch, Max Planck, Antoine Henri Becquerel und Albert Einstein.

Auch wenn die aktuellen Wissenschaftler nicht an diese glorreichen Zeiten heranreichen, ist Europa immer noch stark in der Forschung, vor allem in der Grundlagenforschung. Insbesondere sind hier in Deutschland die beiden angesehenen »Wissensfabriken« der Fraunhofer Gesellschaft und der Max-Planck-Gesellschaft zu nennen oder in Frankreich das Centre national de la recherche scientifique (CNRS). Dort entstehen viele gute Ideen, aber bei der Umsetzung hapert es häufig. Das »European Paradox«16 nannte die EU-Kommission dieses Missverhältnis bereits in ihrem 1995 erschienen Green Paper on Innovation.

Im – so der Fachterminus – »Tal des Todes« zwischen Grundlagenforschung und Marktreife liegen viele europäische Ideen begraben. Es fehlt an entrepreneurial spirit und an Wagniskapital in der Wirtschaft. Es fehlt den Politikern an Einsicht, wie es um Europa steht, und an Weitsicht, wie man aus der Misere herauskommt. Woran es nicht fehlt, ist Bürokratie. Da ist Europa an der Spitze. Statt mit Produkten versucht sich die EU mit Gesetzen zu profilieren. Sie will sich als globale Regulationsmacht präsentieren. Eine stolze Ursula von der Leyen verkündete: »Europa hat sich zum weltweiten Vorreiter für die Bürgerrechte in der digitalen Welt entwickelt.«17 Die Europäer schreiben die Regeln für die Internetwelt, haben aber keine Unternehmen, die in dieser Welt mitspielen können. Ebenso ist es bei der Künstlichen Intelligenz.

Alles schön und gut, aber als Regulierer ist man nur Beobachter und nicht Mitspieler bei den neuen Technologien, und Arbeitsplätze schafft das auch nicht – außer ein paar Bürokratenjobs. Guntram Wolff, früher beim Brüsseler Thinktank Bruegel, nun Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin, hat dazu treffend bemerkt: »Schiedsrichter gewinnen keine Spiele.«18

Zudem herrscht in Europa, und speziell in Deutschland, eine gewisse Technologieskepsis bis hin zu einer Technologiefeindlichkeit. Saori Dubourg – ein Vierteljahrhundert beim Chemiekonzern BASF, zuletzt im Vorstand – fragte beim SZ-Nachhaltigkeitsgipfel in Berlin rhetorisch, »ob wir (in Deutschland) noch Lust auf Innovationen haben.«19 In unseren satten Gesellschaften scheint sich eine risikoaverse Stimmung ausgebreitet zu haben.

Ein sehr aktuelles Beispiel ist der Umgang mit der Künstlichen Intelligenz. Amerikaner und Chinesen sind viel technikaffiner und auch risikobereiter als Europäer. »Die meisten Menschen [hier] wissen wenig über Künstliche Intelligenz. Vielen ist schon der Begriff unsympathisch«20, schreibt Renate Köcher, Geschäftsführerin des Instituts für Demoskopie Allensbach, in der FAZ. Entsprechend überwiege oft die Skepsis, wenn über KI diskutiert werde. Die Chancen, die durch die KI entstehen, werden hingegen weniger gesehen. Dabei kann und wird die KI unsere Leben verändern, auch zum Positiven.

Kapitel 2Künstliche Intelligenz

Taten mit Daten

»Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg ist Amerikas technologische Vorherrschaft bedroht. China besitzt die Macht, das Talent und den Ehrgeiz, die USA im nächsten Jahrzehnt als Vorreiter bei Künstlicher Intelligenz zu übertreffen, wenn sich die aktuellen Trends nicht ändern.«

National Security Commission on Artificial Intelligence (USA)

Künstliche Intelligenz ist das Megathema dieser Tage. Spätestens mit dem Aufkommen von ChatGPT sind die zwei Buchstaben KI so bekannt, dass man ihre Bedeutung nicht mehr in voller Länge ausschreiben muss. Das Thema beherrscht die Politik, die Wirtschaft und die Wissenschaft. Selbst in den Feuilletons wird über Sinn und Unsinn der KI diskutiert.

Wie so häufig bei disruptiven Entwicklungen mischen sich Ängste mit Hoffnungen. Das Thema polarisiert. Für die einen ist KI die Apokalypse, die den Menschen zum Knecht der Maschinen degradiert. Für die anderen ist sie der Heilsbringer, der viele Probleme dieser Welt lösen könne – von Hunger bis Krankheiten. Die Künstliche Intelligenz ist eine sogenannte Enabling Technology. Darunter versteht man eine Technologie, die viele Bereiche und Branchen gravierend verändern wird. Das Internet war zum Beispiel eine solche Enabling Technology.

Dabei ist die KI eigentlich gar kein neues Phänomen. Den Begriff Artificial Intelligence verwendete zum ersten Mal der Computerwissenschaftler John McCarthy bei der Dartmouth Conference im Sommer 1956. Dort trafen sich junge Wissenschaftler auf einer von der Rockefeller Foundation finanzierten Konferenz. 1965 prognostizierte der Ökonom und spätere Nobelpreisträger Herbert Simon, dass »Maschinen in 20 Jahren in der Lage sein werden, jede Arbeit zu verrichten, die ein Mensch erledigen kann.«1 Ähnlich euphorisiert zeigte sich Marvin Minsky, einer der Organisatoren der Dartmouth Konferenz, 1970 in einem Life-Artikel: »In drei bis acht Jahren werden wir eine Maschine mit der allgemeinen Intelligenz eines durchschnittlichen Menschen haben.« Und dann wurde er noch etwas konkreter: »Damit meine ich eine Maschine, die in der Lage sein wird, Shakespeare zu lesen, mechanische Bauteile eines Autos zu schmieren, im Büro zu klüngeln, Witze zu erzählen, sich mit jemandem zu streiten.«2

Doch diesen fantastischen Ankündigungen folgten damals keine Taten. Anfang der 1970er Jahre trat daher der erste sogenannte KI-Winter ein. So bezeichnet man die dunklen Phasen der KI-Forschung, in denen keine großen Fortschritte gemacht wurden und öffentliche wie private Geldgeber keine Lust mehr verspürten, diese Ankündigungspropheten zu unterstützen. In der ersten Hälfte der 1980er Jahre gab es nochmals ein kurzes Aufflammen der KI-Begeisterung, ehe nach 1987 der zweite KI-Winter folgte.

Nun sind wir also wieder in einem KI-Hype. Stellvertretend für die vielen KI-Schwärmer sei Google-Chef Sundar Pichai zitiert: »Die KI ist wahrscheinlich das Wichtigste, woran die Menschheit je gearbeitet hat.«3 Ähnlich euphorisch ist Demis Hassabis, einer der Gründer von DeepMind. Für ihn hat KI »ein unglaubliches Potential, das Leben von Milliarden Menschen zu verbessern«4.

Diesmal soll der Optimismus nicht in einem nächsten KI-Winter enden. Der chinesische Tech-Experte Kai-Fu Lee schreibt: »KI steht jetzt an einem Wendepunkt. Sie hat den Elfenbeinturm der Wissenschaft verlassen, und die Tage langsamer Fortschritte sind vorbei.«5 Die KI ist in der Tat im Alltag angekommen. Wir sehen die ersten selbst fahrenden Autos und erstaunlich leistungsfähige Roboter. Wir kommunizieren mit einem ChatBot, der Fragen beantworten und ganze Texte schreiben kann. Wir nutzen Sprach- und Gesichtserkennung zur Identifikation. In der Medizin wird KI eingesetzt (siehe Kapitel 7), aber auch beim Militär (siehe Kapitel 11). Fast täglich werden neue praktische Anwendungen der KI verkündet.

Die Künstliche Intelligenz ist ein globales Phänomen. Sie hat in einer zeitlichen Parallelität alle erfasst – Amerikaner, Chinesen und Europäer. Alle drei wetteifern darum, bei dieser Technologie die Nase vorn zu haben. Oder sind es doch nur zwei?

Nur ein Wettlauf zwischen China und den USA?

Go ist ein asiatisches Brettspiel, das ursprünglich aus China stammt. Es ist dort sehr beliebt, aber es ist auch sehr kompliziert, auf jeden Fall viel komplizierter als Schach. Deshalb konnte schon 1997 ein Computer den damaligen Schach-Weltmeister Garri Kasparow besiegen. Aber dass ein Computer den besten Go-Spieler schlagen könnte, hielten viele Experten – ob Go-Fans oder Computer-Experten – für unmöglich. No Go!

Aber dann passierte das Unmögliche: Mitte März 2016 traten im Four Seasons Hotel in Seoul zwei ungewöhnliche Partner aufeinander. Der damals weltbeste Go-Spieler, der Südkoreaner Lee Sedol, und AlphaGo, ein Computer, entwickelt von der Google-Tochter DeepMind. Fünf Partien wurden ausgetragen. Viermal siegte AlphaGo. Es war vor allem der Sieg der KI.

Entsprechend groß war das Erstaunen und bei manchen auch das Entsetzen, vor allem in China. Zwar hat sich China schon vorher mit dem Thema Künstliche Intelligenz beschäftigt, aber eher halbherzig. Es war für die Chinesen noch zu weit weg, zu futuristisch.

Doch die chinesische Regierung erholte sich schnell von dem Schock und präsentierte schon 2017 den »Next Generation Artificial Intelligence Plan«. Warum China so schnell reagierte, erklärt Nigel Inkster, Autor des Buches The Great Decoupling: »China sieht in der KI eine bahnbrechende Technologie, die das Potenzial bietet, den Westen zu überholen.«6

In drei Phasen will China – so steht es in dem Plan – den Westen bei KI ein- und überholen. Bis 2020 wollte man in den Kreis der innovativen Länder vordringen, bis 2025 sich auf Weltniveau bei der KI bewegen und 2030 schließlich das »major AI innovation centre in the world«7 sein. Das erste Ziel hat man erreicht, dem zweiten ist man sehr nahe. Und dass China 2030 das KI-Zentrum der Welt sein könnte, ist nicht auszuschließen, wenn man sieht, mit welchem Nachdruck Chinas Führung KI fördert und Wirtschaft und Wissenschaft den Forderungen der Politik nachkommen.

In der Wirtschaft wurde ein »AI National Team« gebildet. Es bestand zunächst aus vier Hightech-Unternehmen, die jeweils ihre eigenen Schwerpunkte haben. Baidu kümmert sich um das autonome Fahren, Alibaba um Smart Cities, Tencent um Medical Imaging, iFlytek um Spracherkennung. Später kam noch Sensetime für die Gesichtserkennung dazu. Inzwischen befinden sich in dem Team 15 Unternehmen, von denen jedes wie zu Beginn für einen definierten Bereich zuständig ist, unter anderem sind das Huawei (Hard-/Software), Hikvision (Video Perception), Xiaomi (Smart Home) und Yitu (Vision Computing). Diese Vielfalt an KI-Unternehmen hat keine USA und erst recht kein Europa.

Aber die USA haben große Tech-Konzerne, die das Thema KI beherrschen. An vorderster Front stehen dabei die Giganten Google, Amazon, Facebook und Microsoft. Diese Unternehmen sind in den USA die Treiber bei dieser Enabling Technology. Und darin zeigt sich auch der unterschiedliche Ansatz: In China gibt der Staat die Richtung vor, in den USA die Konzerne. Die amerikanische Regierung flankiert aber deren Bemühungen. So trat am 1. Januar 2021 »The National AI Initiative Act« in Kraft. Darin heißt es: »Die Mission der National-AI-Initiative besteht darin, sicherzustellen, dass die USA weiterhin eine Führungsrolle in der KI-Forschung einnehmen und bei der Entwicklung und Nutzung vertrauenswürdiger KI im öffentlichen und privaten Sektor weltweit führend sind.«8