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Zoom auf die Hightech-Megacity Shenzhen ist die Stadt der Superlative: die am schnellsten wachsende Metropole der Welt, die jüngste, offenste, reichste und teuerste Stadt Chinas. Ob Elektromobilität, Gentechnik oder Künstliche Intelligenz – bei den wichtigen Zukunftstechnologien werden hier die Trends gesetzt. Wenn Chinaexperte Wolfgang Hirn Shenzhen beschreibt, entwirft er damit gleichzeitig das Bild der Urbanität von morgen. Er bereist die Region seit vielen Jahren und beobachtet die rasante Entwicklung. Auch immer mehr ausländische Konzerne – ob Airbus, Apple, Daimler oder Lufthansa – installieren Labs in der Megacity. Die Weltwirtschaft bekommt mit Shenzhen ein neues Gravitationszentrum, die neue Maßeinheit heißt Shenzhen-Speed.
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Seitenzahl: 372
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Wolfgang Hirn
SHENZHEN
Die Weltwirtschaft von morgen
Campus VerlagFrankfurt/New York
Über das Buch
Zoom auf die Hightech-Megacity Shenzhen ist die Stadt der Superlative: die am schnellsten wachsende Metropole der Welt, die jüngste, offenste, reichste und teuerste Stadt Chinas. Ob Elektromobilität, Gentechnik oder Künstliche Intelligenz – bei den wichtigen Zukunftstechnologien werden hier die Trends gesetzt. Wenn Chinaexperte Wolfgang Hirn Shenzhen beschreibt, entwirft er damit gleichzeitig das Bild der Urbanität von morgen. Er bereist die Region seit vielen Jahren und beobachtet die rasante Entwicklung. Auch immer mehr ausländische Konzerne – ob Airbus, Apple, Daimler oder Lufthansa – installieren Labs in der Megacity. Die Weltwirtschaft bekommt mit Shenzhen ein neues Gravitationszentrum, die neue Maßeinheit heißt Shenzhen-Speed.
Vita
Wolfgang Hirn studierte Volkswirtschaftslehre und Politische Wissenschaften in Tübingen. Nach Stationen als Wirtschaftsredakteur arbeitete er als Reporter beim manager magazin. Seit 1986 reist er regelmäßig nach China, veröffentlichte den Bestseller Herausforderung China (2005) und zuletzt bei Campus Chinas Bosse (2018). Er lebt als Autor in Berlin und schreibt über China-relevante Themen.
EINLEITUNG
ES WAREN EINMAL EIN PAAR FISCHERDÖRFER – Der märchenhafte Aufstieg Shenzhens zu einer globalen Modellstadt
Zwei unterschiedliche Vorbilder
Deng Xiaoping – der Wegbereiter
Die Reformen der 1980er Jahre
Wilde Gründerjahre und ein jähes Ende
Dengs berühmte Reise in den Süden
Neuorientierung in den 1990ern
Shenzhen heute
Xi Jinping und Shenzhen
MASSE UND KLASSE – Wo die Fabrik der Welt entstand und immer noch steht
Die ersten Schritte mit Schuhen
Dongguan – Produktion und Prostitution
Das Phänomen der Clusterstädte
Braune Ware, weiße Ware, schwarze Zahlen
Foxconn – der Bösewicht
Smartphones für die Welt
Afrikas Handykönig sitzt in Shenzhen
Der Einzug der Roboter
SHENZHEN VALLEY – Eine Stadt im Gründungsrausch
Huaqiangbei – größter Markt der Welt
Einfach machen lassen
Hax und die Beschleuniger
Die Stars der Szene
Der fliegende Holländer
Der deutsche Träumer
Schnell und fleißig
Wettbewerbe um Ideen
Woher das Geld kommt
Connections ins Silicon Valley
Heißer Kampf um heiße Getränke
ALLE MACHT DEN ALGORITHMEN – Wie die Konzerne Tencent und Ping An ganze Branchen revolutionieren
Nabelschau in Nashan
Tencent – turmhoch überlegen
Pony Ma, der Glücksritter
Spielend zum Erfolg
Tencents Ecosystem
Schau an, Ping An
Peter, Jonathan und Jessica
Mit Sicherheit erfolgreich
Das Ecosystem von Ping An
Good Doctor in der Telefonzelle
Der Computer als Anlageberater
Shenzhen – die Fintechhauptstadt
BIG BROTHER IS CATCHING YOU – Wie mithilfe neuer Technologien eine Smart City entsteht
Helfende öffentliche Hände
Alles okay bei 5G
Huawei – das Vorzeigeunternehmen
Trump gegen Huawei
ZTE – der kleine Nachbar
Eine Smart City entsteht
Gute Seiten, schlechte Seiten der KI
Kollege Roboter
Drohnen – die Highflyer
Autonome Autos
EINE STADT IST GELADEN – Warum in Shenzhen die Elektromobilität Vorfahrt hat
Die Steuerbehörde
Unter Strom
Eine Stadt ist geladen
BYD – ein Traum wird wahr
Verfolger im Rückspiegel
Vorfahrt für die Bahn
Pilotprojekte ohne Piloten
Die Paketlösung
Grün und blau
HOHER AUFWAND, HOHER ERTRAG – Unternehmen, nicht Universitäten dominieren die Forschungslandschaft
Schulprobleme
Junge Universitäten
Platz für neue Hochschulen
Nobel, nobel
Bonbons für Talente
Good-bye USA – Hello Shenzhen
Die Patentweltmeister
Know-how-Transfer mal anders herum
Das Wachstumsgen
Der entschlüsselte Mensch
Der kontrollierte Mensch
Der Fall He Jiankui
KUNST AM BAU – Architekten, Künstler und Designer kreieren eine Stadt
Ein Museum klärt auf
Wie man eine Stadt plant
Vom Luxus des Wohnens
Erst horizontal, dann vertikal
Paradies für Architekten
Können Chinesen kreativ sein?
Neue kreative Klasse
Leselust und Bildungshunger
Dafen – Künstler oder Kopierer?
Touristische Attraktionen
ZWEI SCHWIERIGE NACHBARN – Wie Shenzhen vom Niedergang Hongkongs profitiert
Eine poröse Grenze
Mit Fäusten gegen Festländer
Verwöhnte Muttersöhnchen
Steinreiche Tycoons
Finanzplatz unter Druck
Qianhai – das neue Hongkong
Universitäten – Hongkongs Trumpf
Annäherung im Sumpf
Kleiner Grenzverkehr
Hongkongs schwindende Rolle
BUCHT MIT WUCHT – Warum die Greater Bay Area ein neues Machtzentrum der Welt wird
Geschichte eines Deltas
Eine Idee wird Realität
Guangzhou – das politische Zentrum
Der Westen holt auf
Macau – die Spielhölle
Zhuhai – der Nachzügler
Zhongshan – das Mauerblümchen
Foshan – die Clusterstadt
Jiangmen und Zhaoqing – die Außenseiter
Der Osten rüstet um
Dongguan – zwischen hightech und lowtech
Huizhou – der Hinterhof Shenzhens
Gordon Wu, der Wegbereiter
Brückenbauer und Weichensteller
Der lange Weg zur Greater Bay Area
Sprung über die Einkommensfalle
SCHLUSS
Shenzhen – ein Modell. Aber für wen?
DANKSAGUNG
LITERATUR
Bücher
Dokumente, Studien und Zeitschriftenaufsätze
Regelmäßige Publikationen
REGISTER PERSONEN* UND UNTERNEHMEN
Das Silicon Valley in Kalifornien hat für viele Politiker, Manager und Unternehmer, aber auch für Medienleute immer noch eine magische Anziehungskraft. Dort vermuten sie Antworten auf die Frage zu finden, wie die Welt von morgen aussehen wird. Silicon Valley gilt als avantgardistisch, als hipp, als Laboratorium der Welt. Dort sind Apple, Facebook, und Google zu Hause, aber auch viele unbekannte Start-up-Unternehmen, die so groß werden wollen wie die eben genannten. Dort kann man – so glauben viele – in die Glaskugel schauen, denn dort sei man der Zeit immer ein paar Jahre voraus.
Deshalb muss man dorthin, das muss man gesehen haben. Deshalb die vielen Pilgerreisen in das gelobte Land südlich von San Francisco. Einst trieb sich dort der damalige Bild-Chefredakteur Kai Diekmann ein ganzes Jahr herum und kam mit Bart und ganz großen Augen zurück. Dann folgte ihm Springer-Vorstand Christoph Keese und erzählte uns in seinem Buch – so der Untertitel – »was aus dem mächtigsten Tal der Welt auf uns zukommt«.
Unzählige Politikerdelegationen tourten eilig durch das Silicon Valley, um danach den Daheimgebliebenen mit leuchtenden Augen zu erzählen, was dort alles abgeht.
Die Damen und Herren sollten mal die Richtung wechseln. Statt in den Westen sollten sie in den Osten, den Fernen Osten, nach China fliegen. Zwar reisen viele Delegationen inzwischen auch dorthin, aber meist nur nach Beijing und Shanghai. Shenzhen liegt meist nicht auf ihrer Route.
Shenzhen? Wo liegt das denn?
Shenzhen liegt direkt gegenüber von Hongkong, von diesem – inzwischen muss man ja leider sagen – Unruheherd nur durch eine ziemlich poröse Grenze getrennt.
Immerhin war Bundeskanzlerin Angela Merkel auf ihrer elften China-Reise im Mai 2018 für ein paar Stunden in Shenzhen. Sie resümierte, nachdem sie das vernetzte Shenzhen mit eigenen Augen gesehen hatte, »dass wir uns ganz strategisch mit der Digitalisierung befassen müssen.« Was aber – und das sei nur am Rande vermerkt – bislang nicht passiert ist.
Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier war noch nicht in Shenzhen. Er flog im Juli 2019 – noch ganz alte Schule – nach San Francisco. Doch immerhin verkündete er ausgerechnet dort seine neue Sicht der Dinge: »Wir müssen auch den Blick darauf lenken, dass das Silicon Valley nur ein Ort ist, wo die Zukunft gestaltet wird«, sagte er etwas verquer, »heute gibt es auch in vielen Städten wie in Shenzhen oder Shanghai sehr viel Innovation, sehr viel Zukunft, sehr viel Offenheit.«
Einer seiner Vorgänger als Bundeswirtschaftsminister, Karl-Theodor zu Guttenberg, ist da gedanklich schon etwas weiter. In der Frankfurter Alten Oper appellierte er bei einem Unternehmerkongress an die versammelte Managerschar: »Schicken Sie Ihre Mitarbeiter zum Lernen nicht ins Silicon Valley, sondern nach Shenzhen. Dann spüren Sie die globalen Machtverschiebungen.«
Und diesmal stimmt das Zitat von ihm.
Wer wissen will, wie – im Guten wie im Bösen – die Welt von morgen aussehen könnte, der muss nach Shenzhen fahren. Er wird dann sehen, wie man den Nahverkehr einer Millionenstadt auf Elektro umrüstet, wie Roboter zunehmend den Alltag beherrschen, wo man per Gesichtserkennung schon überall Zutritt hat, wie Drohnen Verkehrssünder verfolgen, wie zwei ortsansässige Konzerne das Gesundheitswesen revolutionieren oder – ganz bodenständig – Mülleimer sich via Sensoren melden, wenn sie voll sind.
Shenzhen und seine zehn Stadtbezirke
© Shutterstock/Weredragon
Shenzhen ist eine Modellstadt, ein großes Reformlabor. Für das restliche China war Shenzhen schon immer das Vorbild, seit die Stadt 1979, die damals noch eine Ansammlung von Dörfern war, von Chinas oberstem Reformer Deng Xiaoping zur Sonderwirtschaftszone auserkoren wurde. In Shenzhen durfte immer mehr experimentiert werden als anderswo in China. Und hier gibt es seit eh und je eine Stadtregierung, die stets offen für neue Ideen war und Entrepreneurship gefördert hat.
Deshalb ist man hier auf dem Weg vom Made in China zum Created in China schon am weitesten vorangeschritten. In Shenzhen wird längst nicht mehr nur kopiert, sondern innoviert. An keinem Ort in China wird der von der Führung vorgegebene Masterplan Made in China 2025 schon so konsequent umgesetzt wie in Shenzhen.
Hier herrscht ein sehr innovatives Klima. Nach Shenzhen kommen viele junge Menschen aus China – aber auch zunehmend aus dem Ausland – mit unternehmerischen Träumen und Wünschen, die sie hier realisieren wollen und häufig auch können. Das Faszinosum Shenzhens erinnert mich ein bisschen an das frühere Amerika, das einst das gelobte Land für Leute mit Ideen war.
Viele vergleichen Shenzhen mit dem Silicon Valley in Kalifornien. Doch es gibt nach meiner Meinung einen großen Unterschied. Anders als das auf IT und Software basierende Silicon Valley hat Shenzhen eine viel breitere industrielle Basis und deshalb auch die nötige Hardware. Anders ausgedrückt: In Shenzhen kannst du sozusagen morgens eine Idee haben und am Abend schon den Prototypen in der Hand. Shenzhen profitiert immer noch sehr davon, dass in seinem Umland die größte Fabrikdichte der Welt herrscht.
Wie diese entstanden ist, konnte ich mit eigenen Augen verfolgen, als ich Anfang der 1990er Jahre zum ersten Mal nach Shenzhen reiste. Ich besorgte mir in einer der vielen kleinen Reisebüros in Hongkong ein Visum, das man damals problemlos und fix bekam. Zwei Tage später stieg ich in Hongkong in die Metro und fuhr nach Lo Wu, der Endstation der MTR aus Hongkong. Ich trug meinen Koffer über eine Brücke, die über einen kleinen Fluss, der eigentlich eher ein Rinnsal war, führte, und passierte die Grenzkontrolle. Draußen lungerten schon die Taxifahrer und in den Hotels die Prostituierten. Es war keine schöne Stadt, aber es war schon damals eine pulsierende Stadt, eine geschäftige Stadt.
Immer wieder fuhr ich in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nach Shenzhen und konnte so den Aufstieg dieser Stadt authentisch verfolgen. Jedes Mal musste ich mich neu orientieren, weil sich die Geometrie der Stadt schon wieder einmal verschoben hatte. Jedes Mal staunte ich, welche neuen architektonischen Wunderbauten binnen kurzer Zeit aus dem Boden gestampft worden waren.
Im Sommer 2019 verbrachte ich dann zur finalen Recherche dieses Buches mehrere Wochen in der Stadt. Anfangs war es für mich ein nur schwer durchschaubarer Moloch. Gigantisch in seinen Ausmaßen. Von Ost nach West sind es rund 40 Kilometer. Offiziell wohnen 12 Millionen Menschen dort. Aber fast jeder sagte mir, es seien wohl mindestens 20 Millionen. Keine Stadt der Welt ist so schnell gewachsen.
Und trotzdem: Es ist kein monotones Häusermeer wie viele vermuten würden. Shenzhen ist eine sehr grüne Stadt. Es ist eine supermoderne Stadt, wo sich Architekten aus aller Welt austoben dürfen. Und Shenzhen ist zunehmend eine lebenswerte Stadt mit Bars, Galerien, Malls und Restaurants.
Dieses Buch versucht, allen Facetten dieser Metropole gerecht zu werden. Es ist in zehn Kapitel unterteilt. Jedes Kapitel steht für sich, kann also separat gelesen werden. Wen zum Beispiel die Geschichte vom märchenhaften Aufstieg Shenzhens und seiner Umgebung nicht interessiert, kann die ersten beiden Kapitel auslassen. Wer wissen will, wie die Start-up-Szene tickt, kann das im dritten Kapitel erfahren. Im vierten Kapitel beschreibe ich die Strategien der beiden Giganten Tencent und Ping An, die um ihr ursprüngliches Kerngeschäft herum weltweit einzigartige Ecosysteme geschaffen haben. Im fünften Kapitel versuche ich zu erläutern, wie sich all die neuen Technologien in Shenzhen zu einer Smart City fügen.
Das sechste Kapitel ist dem Thema Verkehr gewidmet und hat natürlich zum Schwerpunkt, wie es Shenzhen als erste Stadt der Welt geschafft hat, alle Busse und Taxen auf Elektro umzurüsten. Im siebten Kapitel folgt eine Übersicht über die wissenschaftliche Basis dieser Stadt. Das achte Kapitel zeigt das etwas andere Gesicht Shenzhens, nämlich das von Architektur, Design und Kultur. Die beiden letzten Kapitel widmen sich dem geografischen Umfeld Shenzhens. Das neunte Kapitel beschreibt das – nicht ganz einfache – Verhältnis zum Nachbarn Hongkong. Und im Kapitel zehn wird das Mammutprojekt Greater Bay Area (GBA) vorgestellt, das den größten Wirtschaftsraum der Welt kreieren soll.
Die anhaltenden Unruhen in Hongkong werden die Rolle Shenzhens verändern. Je schwächer Hongkong wird, desto stärker wird Shenzhen. Dieser Prozess wird auch bewusst von der Regierung in Beijing unterstützt, in dem sie Shenzhen immer mehr aufwertet.
Im August 2019 wurde Shenzhen vom Staatsrat und dem Zentralkomitee – höher geht es nicht mehr – in einem viel beachteten Dokument zur Modellstadt für die nächsten Jahrzehnte erklärt. Nicht Beijing, nicht Shanghai, sondern Shenzhen. Damit steht Shenzhen über diesen Städten. Das bedeutet eine enorme Aufwertung, aber auch die Anerkennung des bislang Geleisteten.
Shenzhen wird also politisch, wirtschaftlich und technologisch eine neue Macht werden. Doch Shenzhen wird anders sein als die anderen chinesischen Metropolen. Beijing ist die Stadt der Bürokraten und der Staatskonzerne. Shanghai ist die Stadt der internationalen Multis, des Kapitals und der neureichen Schickeria. Shenzhen dagegen ist die Stadt der Ideen, der Innovationen, der Jungen.
Oder anders ausgedrückt: Beijing ist die Stadt der Vergangenheit, Shanghai die Stadt der Gegenwart, aber Shenzhen ist die Stadt der Zukunft. Eben Weltwirtschaft von morgen – heute schon zu besichtigen. Live oder in diesem Buch.
Wolfgang Hirn, Berlin
»Shenzhen – ein Wunder in der Weltgeschichte von Industrialisierung, Urbanisierung und Modernisierung«
Hu Jintao, ehemaliger chinesischer Präsident
Die Zahl 40 verfolgte einen in Shenzhen im Jahr 2019 auf Schritt und Tritt. Auf Plakaten, an Baustellen, in den Metrostationen – überall prangte die Zahl 40. Vierzig Jahre ist es nämlich erst her, dass hier in Shenzhen, der Nachbarstadt von Hongkong, das chinesische Wirtschaftswunder begann.
Es war einmal ein Fischerdorf mit 30 000 Einwohnern – so beginnt fast jede Erzählung über den märchenhaften Aufstieg Shenzhens, das heute eine 20-Millionen-Metropole ist. Letzteres stimmt, aber die Ausgangslage nicht. Es war nicht ein Fischerdorf, es waren mehrere Fischerdörfer, und sie hatten immerhin zusammen etwas mehr als 70 000 Einwohner. Das mit dem Fischerdorf, aus dem eine Weltstadt wurde, ist ein netter Marketinggag, der aber gerne – auch von den Offiziellen der Stadt – kolportiert wird.
Trotz der kleinen Unwahrheit zu Beginn des wundersamen Aufstiegs ist natürlich das Wachstum gigantisch, atemberaubend, verrückt oder welchen Superlativ man auch immer verwenden mag. Das britische Wirtschaftsmagazin The Economist nannte es schlicht »Das Wunder von Shenzhen«. Keine Sonderwirtschaftszone der Welt sei erfolgreicher gewesen als dieser Streifen am Südzipfel Chinas.
Unter Mao war Shenzhen, an der Grenze zum erzkapitalistischen Hongkong gelegen, noch die letzte Bastion, die gegen den barbarischen Kapitalismus und den kolonialistischen Westen verteidigt werden musste. Doch als Mao weg war, wich auch die Angst vor dem Klassenfeind.
Nach Mao kam Deng Xiaoping. Der große kleine Mann war der Vater der Reformpolitik, die 1978 begann. Er setzte seine vier Modernisierungen (Landwirtschaft, Industrie, Verteidigung, Wissenschaft und Technik) zwar im ganzen Lande um. Doch eine Ecke des Landes lag ihm besonders am Herzen – der Küstenstreifen in den beiden Südprovinzen Fujian und Guangdong. Dort sah er aufgrund deren Nähe zu Taiwan und Hongkong die Möglichkeit eines kleinen Grenzverkehrs, durch den ausländisches Kapital und Know-how ins Land kommen sollten. Nach langen Diskussionen genehmigten die Parteigremien schließlich im Sommer 1979 vier Sonderwirtschaftszonen, drei in Guangdong, eine in Fujian. Die Vorbilder für diese Gebilde waren in Irland – ja, Sie haben richtig gelesen: Irland – und Singapur.
Shenzhen war eine der vier Sonderwirtschaftszonen. Es wurde die erfolgreichste, weil es nahe an Hongkong lag, und weil es eine sehr aktive und reformorientierte Stadtverwaltung hatte. Schon in den 1980er Jahren investierten viele ausländische Firmen in Shenzhen. Ein Boom, der durch das Tiananmen-Massaker 1989 jäh unterbrochen wurde. Partei wie Nation waren verunsichert. Da machte sich 1992 Deng Xiaoping auf seine inzwischen legendäre Reise in den Süden, nach Shenzhen. Es war ein Signal: freie Fahrt für weitere Reformen.
In den folgenden Jahren und Jahrzehnten profitierte Shenzhen wie keine andere Stadt von der fortgesetzten Reform- und Öffnungspolitik des Landes. Sie mutierte erfolgreich von einem Lowtech- zu einem Hightechstandort. Sie produziert permanent wirtschaftliche Rekordzahlen und ist in vielerlei Hinsicht eine Modellstadt.
Und das soll auch so bleiben, auch unter dem Staatspräsidenten und KP-Chef Xi Jinping, der eine enge, private Beziehung zu der Stadt hat. Obwohl er teilweise restriktiv im Rest des Landes vorgeht, darf in Shenzhen weiter reformiert werden. Shenzhen darf weiterhin die Modellstadt sein.
Dabei standen ganz zu Beginn der Entwicklung zwei andere Städte Modell für Shenzhen.
Die Älteren werden sich noch erinnern. Wollte man früher von Europa in die USA fliegen, musste man im irischen Shannon zwischenlanden. Es gab noch keine Flugzeuge, die diese lange Strecke nonstop bewältigen konnten. Deshalb musste in Shannon aufgetankt werden, bevor der Flug über den Großen Teich beginnen konnte. 1945 landete eine PanAm-Maschine nach dem ersten Transatlantikflug in Shannon.
Doch es war in den 1950er Jahren absehbar, dass es irgendwann Flugzeuge geben wird, die es ohne Zwischenlandung in Shannon von Europa nach Amerika schaffen werden, und dass deshalb der Boom in und rund um Shannon nur von kurzer Dauer sein werde. Was also tun, damit dieser karge landwirtschaftlich geprägte Landstrich im Westen Irlands nicht wieder in der Bedeutungslosigkeit versinkt?
Die Iren etablierten 1959 in Shannon eine Freihandelszone. Mit Steuervorteilen und einfachen Zollprozeduren köderten sie so ausländische Investoren. Shannon war damals die weltweit erste Freihandelszone – und hatte Erfolg. Das muss sich bis Beijing herumgesprochen haben. Denn 1980 besuchte eine achtköpfige chinesische Bürokraten-Delegation Shannon. An ihrer Spitze war ein gewisser Jiang Zemin, damals Vizeminister der staatlichen Import- und Exportverwaltung. Jiang Zemin wurde später Parteichef (1989–2002) und Staatspräsident (1993–2003).
Die Jiang-Truppe war auf Weltreise, studierte Sonderwirtschaftszonen oder ähnliche Modelle in aller Welt. Drei Wochen blieben sie in Shannon, ließen sich sehr detailliert das Modell Shannon erklären. Brian Callanan war damals Chef der strategischen Planung bei Shannon Development. Er betreute die Gäste aus dem fernen China. Am Anfang hätten sie kaum ein Wort gesprochen, erinnert er sich in einem Gespräch mit China Daily. Sie hätten keine Fragen gestellt, sie schrieben alles auf, was ihnen gesagt und gezeigt wurde. Doch langsam wären sie aufgetaut. Vor allem, als sie mehr über die irische Geschichte erfuhren, dass die Insel ein verdammt armes Land gewesen sei, in dem im 19. Jahrhundert eine Million Menschen an Hunger starben. Solche Horrorgeschichten kannten die Chinesen aus ihrer allerjüngsten Geschichte.
Armes China, armes Irland – die gemeinsame bittere Erfahrung ließ die Iren und Chinesen einander näherkommen und besser verstehen. Sicher trug zur Aufheiterung auch bei, dass man sich abends im Durty Nelly’s Pub auf ein paar Bierchen und Liedchen traf. Karaoke auf Irisch. Nach drei Wochen voller Eindrücke und Notizbücher kehrte die Delegation nach China zurück.
Die Dankbarkeit der chinesischen Führer hält übrigens bis heute an. Präsident Jiang Zemin kam später nochmals vorbei. Die Ministerpräsidenten Zhu Rongji und Wen Jiabao besuchten in ihrer Amtszeit Shannon. Und selbst Xi Jinping tauchte, als er noch Vizepräsident war, in Shannon auf und ließ sich in Bunratty Castle zu einem Bankett nieder.
Es ist schon eine irre Geschichte: Das kleine Shannon (10 000 Einwohner) als Pate für das – heute – große Shenzhen (20 Millionen Einwohner). Aber es war nicht nur Shannon.
Heute weiß man, dass die chinesischen Herren, die damals durch die Welt reisten, zwei Modelle als Vorbilder priesen: Eben Shannon – und Singapur. Shannon als Blaupause, wie man eine Sonderwirtschaftszone organisiert, Singapur dagegen als politisch-ökonomisches Modell eines autoritären Kapitalismus.
In Singapur, dem Stadtstaat am Südzipfel der malaysischen Halbinsel, herrschte und herrscht eine Technokratenregierung, die zwar steuernd in die Wirtschaft eingreift, indem sie zum Beispiel bestimmte Technologien fördert, aber keine Planwirtschaft klassischen Stils mit staatlich fixierten Preisen und Produktionsquoten betreibt.
Dieses Modell gefiel auch dem nach dem Tode Maos mächtigsten Mann der Volksrepublik China: Deng Xiaoping.
Es ist sehr heiß an diesem Sonntag im Juli. Die Sonne knallt von einem nahezu blauen, wolkenlosen Himmel auf die Stadt Shenzhen. Der Thermometer zeigt zwar nur 33 Grad, aber es ist sehr schwül. Trotzdem pilgern viele Chinesen hoch in den Lianhuashan Park, einer der höchsten Erhebungen der Stadt. Stufe um Stufe klettern sie einzeln oder in Gruppen treu hinter einem Fähnchen schwingenden Anführer her die am Schluss immer steiler werdenden Treppen hoch. Viele Hemden und Kleider kleben an den Körpern.
Der Lohn des Schweißes: Oben hat man eine tolle Aussicht auf das Zentrum der Stadt, auf die breite Diagonale, an deren Ende das Gebäude der Stadtverwaltung mit seinem geschwungenen Dach steht. In der Ferne sieht man das bergige Hinterland Hongkongs. Doch die meisten Chinesen kommen gar nicht wegen diesem fantastischen Blick auf Shenzhen hierher. Nein, sie posieren vor einer Statue, sechs Meter hoch. Der Mann in brauner Bronze zeigt auf das ferne Hongkong, als ob dort das gelobte Land sei.
Es ist die Statue von Deng Xiaoping, der nach Mao Zedongs Tod im Jahr 1976 das Land führte und nach den wirren Jahren unter Mao auf einen stetigen Reformkurs brachte. Nur zwei dieser Monumente gibt es in ganz China. Eine in Dengs Heimatstadt Guang’an in der Provinz Sichuan, wo er in einem Sessel sitzt, und eine eben hier in Shenzhen, wo er überlebensgroß mit forschem Schritt posiert.
Deng und Shenzhen – das ist eine besondere Beziehung. Ohne ihn gäbe es Shenzhen nicht in dieser Dimension. Deng wird deshalb in dieser Stadt verehrt wie kein anderer chinesischer Politiker in irgendeiner anderen Stadt Chinas.
Neben der Statue im Lianhuashan Park tritt Deng Xiaoping noch auf der berühmten Plakatwand an der Ecke Shennan Boulevard und Hongling Road auf. 30 Meter breit, zehn Meter hoch. Das Original war ein Ölgemälde. Darauf der Spruch: »Das Nicht-Festhalten am Sozialismus sowie an der Reform- und Öffnungspolitik, die Nicht-Entwicklung der Wirtschaft und die Nicht-Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen führt geradeaus in die Sackgasse.« 2004 änderte sich das Bild: Das Ölgemälde wurde durch ein Computerbild ersetzt. Vorn ein lächelnder Deng, dahinter verschiedene Wahrzeichen der Stadt Shenzhen. Und auch der Spruch wurde gestrichen. Er lautet jetzt: »Halten Sie sich 100 Jahre unerschütterlich an die Parteilinie.« Das Blumenmeer vor der Plakatwand ist in sehr gepflegtem Zustand. Die Ecke ist immer noch eine Touristenattraktion. Viele Fotos werden hier geschossen.
Auch das Drehrestaurant im Shenzhen International Trade Center ist für viele Nostalgiker noch eine Pilgerstätte. Dort oben auf der 53. Etage speiste einst Deng bei einer seiner Reisen nach Shenzhen.
Drei mehr oder weniger berühmte Reisen hat Deng Xiaoping in diese Stadt unternommen. Sie alle prägten und veränderten Shenzhen – und auch ganz China.
Die erste Deng-Reise fand im November 1977 statt. Zu der Zeit erholte sich die Volksrepublik China nur langsam von den Wirren der Kulturrevolution unter Mao. Die Wirtschaft lag am Boden. Viele Chinesen hätten das Land gerne verlassen in Richtung kapitalistischen Westen. Nirgendwo war dieses gelobte Land näher als in Shenzhen. Drüben über der Shenzhen Bay lag die britische Kronkolonie Hongkong. Man konnte das bergige Hinterland der New Territories sehen.
Einige flüchteten übers Wasser in das nahe Hongkong, viele versuchten es nur und wurden auf der Flucht erschossen. Für Deng war die Flucht und die Schüsse auf die Flüchtenden nicht die Lösung. Das Problem könne nicht von der Armee oder Polizei gelöst werden, sagte er vor Ort. Sein Ausweg: Wir müssen die Lebensbedingungen in China verbessern, damit unsere Landsleute keinen Grund mehr haben zu fliehen.
Ihm schwebten Sonderzonen an der Grenze zu Hongkong vor, in denen auch ausländische Investitionen erlaubt sein sollten. Nach Dengs Besuch im Süden interessierten sich plötzlich auch die anderen Spitzengenossen in Beijing für Guangdong, die Provinz im Süden. Es gab weitere Erkundungsreisen in den Süden und mehrere Diskussionsrunden im Zentralkomitee. Vor allem der neue Parteichef von Guangdong, Xi Zhongxun, machte Druck.
Am 15. Juli 1979 gab dann das Zentralkomitee seinen Segen. Den beiden Küstenprovinzen Guangdong und Fujian wurde das Recht eingeräumt, in speziellen Zonen ausländisches Kapital ins Land zu lassen.
Es folgte ein Jahrzehnt der Reformen in der Provinz Guangdong, angetrieben von einem charismatischen und reformwilligen Provinzgouverneur.
Ren Zhongyi war der Parteisekretär in der Provinz Guangdong von November 1980 bis Juli 1985. Er stammte nicht von hier, sondern aus dem Norden, aus Tianjin, der großen Nachbarstadt von Beijing. Ren brachte aber keine Gefolgsleute mit, sondern suchte sich Verbündete in der Provinz, der er vorstand. In den ersten Monaten seiner Amtszeit tourte er durch die Provinz, um von den lokalen Kadern zu erfahren, wo die Probleme lagen und was es zu ändern galt.
Für Ezra Vogel war Ren »der große Ideengeber und Macher der Reformperiode.« Er habe früh erkannt, dass die Infrastruktur eine Schwachstelle in der Region war. Deshalb habe er seit 1982 den Bau von Straßen, Brücken und Kraftwerken gepusht. Und Ren forcierte den Umbau des Wirtschaftssystems, baute systematisch die Planwirtschaft ab und marktwirtschaftliche Elemente ein. In diesem Sinne wurden in verschiedenen Bereichen grundlegende Reformen durchgezogen:
Landwirtschaft: Bauern bekamen zunächst kleine Flächen zugewiesen, auf denen sie anbauen und anpflanzen konnten, was sie wollten. Die Ernte durften sie dann auf Märkten zu Marktpreisen verkaufen. Sukzessive wurde so die kollektivierte Landwirtschaft privatisiert. Zum Wohle aller: Den Bauern ging es besser, weil sie mehr verdienten, und den Verbrauchern, weil sie eine größere Auswahl hatten.
Unternehmen: Erst zögerlich, dann aber immer schneller entwickelte sich ein privates Unternehmertum. Es entstanden Handelsgeschäfte, Werkstätten, erste kleine Fabriken. Ihre Besitzer durften Gewinne machen und diese auch behalten. Parallel dazu bekamen die Staatsunternehmen größere Freiheiten. Wenn sie ihre Ziele überschritten, durften sie mit den Mehreinnahmen machen, was sie wollten. Zum Beispiel die Löhne erhöhen oder neue Maschinen kaufen, um die Produktion zu steigern.
Arbeitsmarkt: Schon 1979, gleich zu Beginn der Reformen, wurde für die Arbeiter ein Bonussystem eingeführt. Das alte, anreizlose System, in dem alle den gleichen Lohn bekamen, wurde sukzessive abgeschliffen. Geradezu basisdemokratisch war die Entscheidung, dass die Arbeiter selbst bestimmen durften, wie sie die Boni untereinander aufteilten. Mitte der 1980er Jahre kam dann eine weitere Reform: die Einführung von Arbeitsverträgen.
Preise: Das war eine der zentralen Fragen. Unter Mao waren die Preise staatlich festgelegt, egal ob für Gemüse, Kleidung oder Maschinen. Guangdong reduzierte Stück für Stück diese Preiskontrollen, besonders für Agrarprodukte. Die Preise für Konsumgüter wurden schneller freigeben als die für Industriegüter. 1988 gab es in Guangdong fast keine regulierten Preise mehr.
Eine der zentralen Reformen war jedoch die Schaffung von Sonderzonen. Vier solcher Gebiete mit höheren Freiheitsgraden als im Rest des Landes wurden am 26. August 1979 offiziell etabliert: eine in der Provinz Fujian (in der Stadt Xiamen), drei in Guangdong (in Shantou, Zhuhai und Shenzhen). Kurz danach gab es eine heftige innerparteiliche Diskussion. Die Zonengegner stießen sich an dem Begriff Sonderzone. Sie befürworteten zwar wirtschaftliche Reformen, aber keine politischen.
Der Begriff Sonderzone – so ihre Argumentation – würde dazu einladen, auch politische Reformen zu wagen und gar das Machtmonopol der Partei infrage zu stellen. Die Bedenkenträger setzten sich durch. Deshalb erfolgte im März 1980 die Namensänderung: Statt Sonderzone hießen die vier Gebiete nun Sonderwirtschaftszone, damit jedem klar war, dies ist ein wirtschaftliches Experiment und kein politisches.
Warum wurden gerade diese Küstenstädte im Süden ausgewählt und nicht etwa Shanghai? Shanghai wäre zu risikoreich gewesen, argumentiert Ezra Vogel. Shanghai war bereits eine Industriemetropole. Hätte man Shanghai zu einer Sonderwirtschaftszone gemacht und wäre diese gescheitert, hätte das katastrophale Folgen gehabt. Guangdong und Fujian dagegen hatten eine geringe industrielle Basis, also wären die Folgen eines möglichen Scheiterns eher gering gewesen.
Doch ein viel wichtigeres Argument, das für die vier ausgewählten Städte sprach, war deren Lage. Sie lagen alle in der Nähe zu Hongkong und Taiwan, beide waren damals wirtschaftlich sehr erfolgreich. Man erhoffte sich in Beijing, dass Unternehmer aus Hongkong und Taiwan auf dem nahen Festland investieren würden (was sie dann ausgiebig taten). Und im Hinterkopf hatten Deng und seine Denker, dass der wirtschaftlichen Annäherung auch irgendwann eine politische folgen werde (was im Falle Hongkong eintrat, dessen Sonderstatus 2047 enden wird; anders Taiwan, das zum Missfallen der Beijinger Regierung weiterhin auf seine Unabhängigkeit pocht).
Und noch ein ganz anderes, wichtiges Argument sprach für die Auswahl der vier Küstenstädte in Fujian und Guangdong als Sonderwirtschaftszonen: Die meisten Überseechinesen – so heißen Chinesen, die ihr Mutterland verlassen haben – stammen aus den Provinzen Fujian und Guangdong. Obwohl sie zum Teil schon vor Generationen ausgewandert waren, hatten sie immer noch sehr enge Bindungen zu ihrer Heimat. Man erhoffte sich in Beijing, dass über diese privaten Kanäle Geld und Know-how zurückfließen würden.
Besonders viel floss zwischen Hongkong und Shenzhen, das deshalb von den vier Sonderwirtschaftszonen mit großem Abstand die dynamischste und erfolgreichste wurde.
Es ist eine hippe Gegend in Shekou, draußen im westlichen Stadtteil von Shenzhen. Sie heißt NH E-Cool und ist auch cool. Mehrere längliche, begrünte Gebäude, durchtrennt von Fußgängerzonen, beherbergen unten Cafés, Galerien, Restaurants, oben in loftigen Räumen Büros von Start-ups und Designern.
Nichts mehr deutet darauf hin, dass hier der Aufstieg Shenzhens begonnen hat. In diesen Gebäuden produzierte einst der japanische Elektronikhersteller Sanyo Radios und Videorecorder.
Sanyo war eine der ersten ausländischen Firmen, die in den 1980er Jahren nach Shenzhen kamen. Wobei schon einige Hongkonger Firmen früher da waren, aber die zählen nach chinesischer Lesart nicht. Sanyo war damals eine ganz große Marke. Rund 5 000 Beschäftigte arbeiteten für Sanyo in Shekou. Weil das damals weitab vom Schuss lag, bekam jeder von ihnen ein Fahrrad geschenkt.
Nach Sanyo siedelten sich immer mehr ausländische Firmen an. Es kursierte damals das Sprichwort: »Nach einem kommen zwei, nach zwei kommen drei, nach drei kommen alle.« Es kamen nicht alle, aber es kamen viele. Auch Firmen aus dem restlichen China kamen hierher und gründeten Niederlassungen. Sie mussten weniger Steuern zahlen und durften einen Großteil ihrer verdienten Devisen behalten. Einzige Bedingung: Sie mussten für den Export produzieren. Joint Ventures – also Gemeinschaftsunternehmen zwischen chinesischen und ausländischen Unternehmen – wurden erlaubt. Deren Manager waren nur dem Board verantwortlich und nicht irgendwelchen Bürokraten.
In den Unternehmen gab es Boni, bezahlt wurde nach Leistung, nicht nach Stellung. Außerdem bekamen die Beschäftigten Arbeitsverträge, die meist eine Laufzeit zwischen ein und fünf Jahren hatten. So etwas hatte es vorher im maoistischen Arbeiterstaat China nicht gegeben. Diese Annehmlichkeiten lockten Zehntausende von Arbeitern aus ganz China an.
Es war Wilder Westen im Fernen Osten. Für vieles Handeln fehlten gesetzliche Grundlagen. Es wurde erst einmal probiert, dann legalisiert. Ezra Vogel meint: »Shenzhen wurde ein großes Laboratorium.« Shenzhen wurde angesichts solch leicht anarchistischer Zustände zu einem Magnet für Glücksritter und Intellektuelle, die dem bürokratischen Alltag im Rest-China entfliehen wollten. Willem van Kemenade schreibt: »In nur wenigen Jahren verwandelte sich Shenzhen in einen dynamischen Schmelztiegel von Pionieren aus allen Provinzen Chinas.«
Shenzhen wurde so attraktiv, dass die Herrschenden sogar bereits 1984 eine zweite Grenze einführen mussten. Auf 86 Kilometern trennte sie das Stadtgebiet Shenzhens vom restlichen China. Gesichert war sie teilweise mit Stacheldraht. Grenzposten kontrollierten Papiere. Nur wer eine Genehmigung für Shenzhen hatte, durfte passieren.
Shenzhen war aber auch ein attraktiver Platz für junge Kader. Einige der besten und talentiertesten Stadtplaner und Architekten kamen in die Stadt, weil sie dort viele Dinge machen durften, die woanders nicht genehmigt wurden. Und zudem reizte sie die Aufgabe, eine Stadt neu zu konzipieren.
Beim Aufbau stand ihnen das Army Engineering Corps zur Seite, eine Truppe von Ingenieuren und Soldaten, die einen exzellenten Ruf im Bauwesen hatten. Rund 20 000 Corps-Soldaten wurden 1980 nach Shenzhen abkommandiert, um Straßen und Gebäude zu bauen. Sie kamen direkt aus Tangshan im Norden Chinas, wo es 1976 ein gewaltiges Erdbeben gab und das Army Engineering Corps den Wiederaufbau organisierte. Als das Corps 1983 aufgelöst wurde, blieben viele in Shenzhen, gingen in die Verwaltung oder machten sich als Bauunternehmer selbstständig.
Dank ihrer Arbeit konnte Deng Xiaoping einiges sehen, als er Ende 1984 zu seiner zweiten Reise nach Shenzhen (und Zhuhai) aufbrach. Positive Worte fand er vor allem für Shenzhen: »Shenzhens Entwicklung beweist, dass die Etablierung von Sonderwirtschaftszonen eine richtige politische Entscheidung war.«
Doch dieses Selbstlob Dengs war nicht common sense in der Beijinger Führung. Immer wieder gab es kritische Stimmen, die warnend fragten, ob man in Shenzhen nicht zu weit gehe. Mitte der 1980er Jahre zum Beispiel reiste eine Delegation von Veteranen nach Shenzhen. Einzelne Teilnehmer lamentierten noch vor Ort: »Wir haben unser ganzes Leben lang gegen den Kapitalismus gekämpft.« Und nun diese »kapitalistische Kolonialisierung«.
Die zweite Hälfte der 1980er Jahre war in ganz China geprägt von zunehmend ideologischen Auseinandersetzungen und Spannungen. Die Schar der Reformer wuchs, doch die Hardliner wehrten sich. Der Machtkampf kulminierte in einem traurigen und schrecklichen Ereignis: Auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Beijing wurde Anfang Juni 1989 die Demokratiebewegung niedergeschlagen.
Das Massaker vom Tiananmen hinterließ ein verunsichertes China und eine verunsicherte Partei. Und, obwohl geografisch weit weg, auch ein verunsichertes Shenzhen.
Als kurze Zeit später, im August 1989, der zehnte Jahrestag der Sonderwirtschaftszone (SWZ) in Shenzhen begangen wurde, wurde auf kleiner Flamme gefeiert, kein Parteiführer ließ sich blicken. Die Sonderwirtschaftszonen kamen unter Beschuss der Hardliner in der Partei, die diese als Enklaven des Kapitalismus betrachteten. Im Februar 1990 fand eine nationale Konferenz statt, auf der über die SWZ diskutiert wurde. Immerhin bekannte sich der damalige Premier Li Peng in seiner Rede dazu, dass sich die SWZ schneller entwickeln sollten als der Durchschnitt des Landes.
Aber der Kongress wies auch einen Vorschlag zurück, dass Shenzhen seine eigene Währung einführen sollte, was damals ernsthaft in der Diskussion war. Noch im Mai 1989 – also kurz vor Tiananmen – hatte der Nationale Volkskongress beschlossen, dass Shenzhen Gesetze erlassen könne, die sich näher an Hongkong anlehnten. Dieser Vorschlag wurde aber auf besagter Konferenz im Februar 1990 wieder kassiert.
Anfang der 1990er Jahre war das Land seltsam paralysiert. Das Tiananmen-Massaker von 1989 hatte den wirtschaftlichen und zaghaften politischen Reformkurs jäh gestoppt. In der Partei tobten Richtungskämpfe: Mit Reformen fortfahren oder einen härteren, repressiven Kurs verfolgen? Und wie sollte es mit Shenzhen weitergehen? Fragen über Fragen. Und wenig Antworten.
In diesen Zeiten der Verunsicherung entschied sich ein kleiner Mann für eine große symbolträchtige Reise.
Am 17. Januar 1992 bestieg der damals 87-jährige Deng Xiaoping in Beijing einen Sonderzug. Ihn begleiteten seine Frau und vier ihrer Kinder. Die Reise wurde als Familienurlaub deklariert. Keiner sollte mitbekommen, dass dies eine hochpolitische Reise des alten Mannes und seiner Entourage werden sollte.
Südreisen der Herrschenden haben Tradition in China: Schon im 17. Jahrhundert unternahm der im Volk beliebte Kaiser Kangxi zwei Südreisen. Im 18. Jahrhundert reiste der nicht minder beliebte Kaiser Qianlong gar sechsmal in den Süden. Das Ziel der Reisen war, das Land voranzubringen und vor allem den Kaiser als Wohltäter der Bevölkerung zu stilisieren.
Nun also war Deng auf historischen Spuren unterwegs. Er war kein Kaiser, nicht mal der KP-Chef, aber ein sehr einflussreicher alter Mann. Nach jeweils kurzen Stopps in Wuhan, Changsha und Guangzhou rollte Dengs Zug am 19. Januar morgens um acht Uhr in den Bahnhof von Shenzhen ein. Nur eine kleine Riege eingeweihter Funktionäre – darunter der lokale Parteichef Li Hao – begrüßte den Mann im dunkelgrauen Jackett und in schwarzer Hose. Die Funktionäre wollten Deng gleich mit einem kleinen Bus ins Gästehaus fahren, damit er sich ausruhen solle. Doch er weigerte sich: »Jetzt bin ich hier in Shenzhen, nun will ich gleich alles sehen.«
Er ließ sich stattdessen in das Shenzhen International Trade Center fahren, ein 53-stöckiges Bürogebäude. Es war damals das höchste Gebäude und der ganze Stolz der Stadt. Oben ist ein Drehrestaurant, in dem Deng speiste und den Rundumblick auf die Stadt genoss. Außerdem ließ er sich dort über die Entwicklung der Stadt informieren. Er war beeindruckt, vor allem, was er rundherum sah.
Dort fiel auch der Satz: »Es sinnlos, so viele Meetings abzuhalten und lange Artikel zu schreiben. Shenzhens schnelle Entwicklung hat gezeigt, dass Handeln besser ist als Reden oder Schreiben.« Das Restaurant gibt es übrigens heute noch, der Platz vor dem Aufzug dorthin gleicht fast einem Schrein. Überall hängen und stehen Fotos von Dengs damaligem Besuch.
Am nächsten Tag besuchte Deng die Shenzhen Shinco Laser Company, die auch Technologie des niederländischen Elektrokonzerns Philips verwendete. Er fragte Chairman Ye Huaming: »Wie habt ihr die Frage des Copyrights geregelt?« Ye antwortete: »Wir haben die Rechte von der ausländischen Firma in Übereinstimmung mit internationalem Recht gekauft.« Deng war zufrieden: »So ist es richtig. Wir müssen uns an die internationalen Gesetze für geistiges Eigentum halten.«
Am 22. Januar, es war ein schöner, fast frühlingshafter Tag, ging er in den Botanischen Garten. Um 10.10 Uhr verzeichnet das Protokoll: Genosse Deng und Präsident Yang pflanzten einen Banyanbaum. Ein symbolischer Akt. Bäume wachsen, Städte wachsen. Am Nachmittag Gespräche mit der lokalen Parteiführung und der Stadtregierung. Er pries die Reformpolitik und ermahnte die Kader, auf diesem Weg weiterzumachen: »Man muss etwas mehr Mut bei der Reform- und Öffnungspolitik an den Tag legen, Mut zum Experiment, nicht wie Frauen mit gebundenen Füßen.« Es folgte ein obligatorisches Gruppenfoto.
Deng hatte nur einen Fotografen mit auf die Reise genommen. Plötzlich waren aber 50 bis 60 Fotoreporter da. Es hatte sich schnell herumgesprochen, dass Deng in der Stadt war. Die Menschen warteten geduldig an den Ausgängen der Fabriken oder Bürogebäuden. Sie jubelten ihm zu, grüßten Onkel Deng, oder – wenn sie jünger waren – Opa Deng.
Am nächsten Morgen Abreise. Um 9.40 Uhr verlässt das Schiff mit Deng an Bord Shenzhen Richtung Zhuhai. Seine Abschiedsworte an Li Hao sind legendär: »Speed up growth and reform.«
Sein Fazit der Reise drückte Deng später so aus: »Acht Jahre sind vergangen, seit ich das letzte Mal hier war. Shenzhen, Zhuhai und die anderen Orte haben eine Entwicklung hingelegt, die meine Erwartungen bei weitem übertroffen hat. Nachdem ich das hier alles gesehen habe, reise ich mit großer Zuversicht ab.«
Am 21. Februar war Deng wieder zurück in Beijing. Am selben Tag überschrieb die Volkszeitung, das Sprachrohr der Partei, ihr Editorial: »Seid mutig bei Reformen.« Ein deutliches Zeichen, dass die Partei dem alten Fahrensmann folgte. Die Gremien verabschiedeten dann in den kommenden Monaten entsprechende Dokumente. Und auf dem 14. Parteitag im Oktober 1992 wurde die Reformpolitik – die Bildung einer sozialistischen Marktwirtschaft – auch formal bestätigt.
Chinas Weg in die Moderne konnte fortgesetzt werden. Und erst recht der von Shenzhen.
Anfang der 1990er Jahre war Shenzhen ein typischer Standort für billige Produkte aller Art. Alles, was viel Personal erforderte, wurde hier hergestellt. Klamotten, Schuhe, Spielzeug, Plastikwaren – und künstliche Christbäume. Keine Stadt der Welt produzierte mehr von diesen Exemplaren als Shenzhen.
Doch in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zeichnete sich in Shenzhen auch das Aus für viele dieser lohnintensiven Industrien ab. Die Löhne fingen an zu steigen, die Grundstückspreise auch. Es rentierte sich nicht mehr, hier massenhaft Billigprodukte herzustellen. Und auch die Stadtregierung sah hierin keine wirtschaftliche Zukunft mehr. Sie favorisierte stattdessen »Hochtechnologieindustrien«, was damals allerdings noch etwas anders definiert wurde als heute. Damals gab es noch kein Internet, keine Handys und keine Laptops. Computer gab es – wenn überhaupt – nur in Büros, und sie hatten nach heutigen Maßstäben riesige Dimensionen.
Nein, Hightech war damals alles, was irgendwie mit Elektronik zu tun hatte. Ab Mitte der 1990er Jahre verlagerten immer mehr Unternehmen aus diesem weiten Feld der Elektronik ihre Produktion nach Shenzhen. Sie kamen aus Japan. Unternehmen wie Epson, Hitachi, Olympus, Ricoh und Sony entdeckten alle den Standort Shenzhen. Aus den USA verlagerten Firmen wie Compaq, IBM, Intel und Oracle Teile ihrer Produktion nach Shenzhen. IBM vermeldete sogar stolz, dass ihre Fabrik in Shenzhen die beste, also die produktivste im gesamten Konzern sei.
Zu den vielen ausländischen Investments gesellten sich die ersten erfolgreichen heimischen Gründungen. Das 1987 etablierte Telekomunternehmen Huawei entwickelte sich in den 1990er Jahren langsam zu einer nationalen Größe, ebenso der Konkurrent ZTE (bereits 1985 gegründet). Oder auch die Softwarefirma Kingdee (1991). Oder die Internetbude Tencent (1998).
Um die Jahrtausendwende kam fast schon die Hälfte des industriellen Outputs in Shenzhen von diesen neuen, zudem auch noch »sauberen« Industrien. Die alte, die »dreckige« Industrie vertrieb Shenzhen zunehmend Richtung Norden, in Richtung der Nachbarstadt Dongguan (siehe dazu mehr im zweiten Kapitel).
Parallel zu diesen Hightechbetrieben entwickelte sich sukzessive ein unterstützender Dienstleistungssektor. Der Hafen wurde immer größer. Logistikfirmen siedelten sich an oder wurden gegründet – wie zum Beispiel SF Express, heute wohl das beste und effizienteste Transportunternehmen in ganz China. Ebenso etablierte sich ein wettbewerbsfähiger Finanzsektor. Banken und Versicherungen ließen sich hier nieder oder wurden neu gestartet, wie zum Beispiel die Shenzhen Development Bank oder die Ping-An-Versicherung.
Und dazu passt, dass die Regierung in Beijing schon frühzeitig, nämlich bereits 1990, der Stadt eine Börse genehmigte – die erste in China.
Es war nicht die erste Premiere in der Stadt.
Shenzhen ist »die Stadt der vielen firsts«, sagt Marco Bontje, Professor für Urban Geography an der Universität Amsterdam. So war Shenzhen die erste Stadt in China, die
mit Landversteigerungen anfing;
Arbeitsverträge einführte;
Staatsunternehmen privatisierte;
einen Technologiepark gründete;
Public Private Partnership erlaubte;
ausländische Tochterfirmen genehmigte.
Die Liste der Premieren ließe sich verlängern, worauf aber wegen möglicherweise aufkommender Langeweile verzichtet wird.
Dass die Stadt Shenzhen in vielen Bereichen vorangeschritten ist, hat mit ihrem Status als Modellstadt zu tun. Solche ausgewählten Metropolen dürfen – und müssen auch – per definitionem vieles als Erste ausprobieren. Die Beijinger Zentralregierung hat Shenzhen seit Dengs Südreise hierfür den nötigen Spielraum gelassen. Und Shenzhen hat diesen genutzt, weil es seit eh und je eine Stadtregierung hat, die zu Neuerungen und Reformen bereit ist.
Der Erfolg gibt ihr und damit letztendlich auch Beijing recht. Seit 1979, seit Einführung der Sonderwirtschaftszone, wuchs die Wirtschaft der Stadt jedes Jahr um durchschnittlich 22,4 Prozent. Keine Stadt, auch nicht Shanghai, vermeldet höhere Exportzahlen als Shenzhen. Shenzhen ist spitze bei Patentanmeldungen. Und 4,13 Prozent des Sozialprodukts fließen in Forschung und Entwicklung. Das ist Weltrekord.
Shenzhen ist die Stadt der Superlative.
Ist Shenzhen so erfolgreich, weil die Stadt so anders ist als die anderen chinesischen Metropolen? Da ist was dran. Hier dominiert die Privatwirtschaft. 67 Milliardäre – angeführt von Tencent-Gründer Pony Ma – haben ihren Wohnsitz in der Stadt. Staatsunternehmen, die meist wenig innovativ sind, spielen eine geringe Rolle. Nur knapp 10 Prozent der Beschäftigten arbeiten dort.
Keine Stadt in China hat mehr Immigranten als Shenzhen. Rund 95 Prozent der Einwohner stammen nicht aus Shenzhen. Sie kamen alle hierher als Fremde, sie haben keine Netzwerke, sie sind auf andere angewiesen. Das erzeugt ein sehr offenes Klima. Man hilft sich gegenseitig. Das einzig Verbindende ist die Sprache – Mandarin. Irgendwie paradox: Mitten auf kantonesischem Gebiet liegt eine Millionenstadt, in der fast nur Mandarin gesprochen wird.
Und Shenzhen ist eine extrem junge Stadt. Das Durchschnittsalter liegt bei rund 30 Jahren. Unter jungen Chinesen ist Shenzhen die beliebteste Stadt, ergab eine Studie des Forschungsinstituts des Online-Portals 58.com, vor Guangzhou und Chengdu. Sie kommen nach Shenzhen, weil sie hier viele berufliche Chancen sehen. Aber sie kommen auch nach Shenzhen, weil hier die Luft viel besser ist als beispielsweise in Shanghai oder gar dem chronisch luftverschmutzten Beijing. Die Luftqualität ist hier mit am besten in ganz China. Die Stadt ist wie gesagt sehr grün.
Die Bilanz fällt also – ökonomisch wie ökologisch – nach 40 Jahren durchweg positiv aus. Die große Frage ist nun: Kann das, wird das so bleiben? Viel hängt von der Beantwortung folgender Fragen ab: Welche Rückendeckung, welche Unterstützung hat Shenzhen derzeit durch Beijing? Wie ist die Haltung des allmächtigen Partei- und Staatschefs Xi Jinping zu dieser Stadt? Steht er zu ihr wie sein damals nicht minder allmächtiger Vorgänger Deng Xiaoping?
Absicht oder Zufall: Auch Xi Jinping machte zwei symbolische Reisen nach Shenzhen.
Am 15. November 2012 wurde Xi Jinping zum mächtigsten Mann Chinas. Der Parteikongress »wählte« ihn zum Parteichef. Drei Wochen später brach Xi zu seiner ersten Reise auf. Im symbolträchtigen China haben solche Reise stets große Bedeutung: Wohin wird sie ihn führen? Was will er mit der Wahl des Ortes dokumentieren?
Nun, die Wahl Xis fiel auf Shenzhen. Über das zweite Dezemberwochenende im Jahr 2012 flog er in die südchinesische Metropole.
Es war eine Reise ohne großen Pomp. Keine roten Teppiche wurden ausgerollt, die Bevölkerung sollte nichts mitbekommen. Die lokale Polizei meldet, dass auf der 150 Kilometer langen Fahrt keine einzige Straße für den hohen Gast aus Beijing abgesperrt wurde. Außerdem wurden keine üppigen Buffets aufgetischt. Xi drang darauf, dass nicht mehr als sechs Gerichte und eine Suppe für ihn und seine Begleitung serviert werden durften.
Am Samstag schaute er beim – privaten – Internetkonzern Tencent vorbei und besichtigte anschließend die Qianhai-Entwicklungszone. Am Sonntag besuchte er die Deng-Statue im Lianhuashan-Park und das ehemalige Fischerdorf Yunong. Dort wurde den Bürgern vorab nur mitgeteilt, dass ein wichtiger Führer käme.
Und er besuchte seine Mutter, die damals in Shenzhen lebte und heute immer noch dort lebt. Sein Vater, Xi Zhongxun, war eine wichtige Figur zu Beginn der Reformbewegung in Guangdong und Shenzhen. Im April 1978 wurde Xi Zhongxun, der auch einer der Leidensgenossen unter Mao war, Parteisekretär der Provinz Guangdong.
Xi Jinping – so gehen die Gerüchte in der Stadt – sei immer mal wieder in Shenzhen, dann aber sehr privat, ohne Protokoll, nur um seine Mutter zu besuchen.
Xi hat also eine Beziehung zu Shenzhen, nicht nur eine sehr private. Seine erste Reise nach dem Amtsantritt war als Bekenntnis zu der Stadt und seinen Reformen zu werten.
Aber gilt das heute noch? Wie ist seine Haltung heute?
Ende Oktober 2018 war Xi Jinping wieder einmal offiziell auf einer Reise in den Süden. Er weihte die gigantische Brücke zwischen Hongkong und Macau beziehungsweise Zhuhai ein und machte anschließend einen viertägigen Abstecher in die Provinz Guangdong und dort auch nach Shenzhen.