Der Teufel ist ein Whistleblower 1 - Sebastian Schinnerl - E-Book

Der Teufel ist ein Whistleblower 1 E-Book

Sebastian Schinnerl

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Beschreibung

Sebastian Schinnerl erkundet in seinem Roman, welche Bedingungen herrschen müsse, dass eine Parallelwelt entstehen kann, in der jede Form von Gewalt möglich, und als normal gesehen wird. Ein IT-Ingenieur gibt Hinweis auf Korruption, und wird kaltgestellt und abserviert. Der Hinweisgeber steht unter Amtsgeheimnis. Der Roman erzählt von Unregelmässigkeiten in Millionenhöhe in einem Netzwerk von gewachsenen Seilschaften bis hoch in die Regierung. Es fehlen die Akten, es gibt keine Zeugen.

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Für den Zimmermann

Inhaltsverzeichnis

Amuse-Bouche

Die Wiederkehr der Rosaroten Kleinen Monster

Das Literaturseminar des Professor Dr. Mikhaylokvich

Wer ist dieser John Matarishvan?

Die Kinderjahre

Going to ùùrgistn

Lucie

Das IT-Projekt E‘oweb

Die «Spaltung»

Ich sah das Rosarote Kleine Monster

Das Museum der Vorgeschichte

Das Literaturseminar von Professor Dr. Mikhaylokvich

Die Geburt der konvergenten Kunstfigur

Die industrielle Herstellung von Darm-Psychologie

Drei klassische Typen von Verwaltungsangestellten

Tristan Chord, Unknwn Céline, Hacke Eliot, Blake Roots

Die verbeulte Zhenshchina C3 – Erster Teil

Tristan Chord, Unknwn Céline, Hacke Eliot, Blake Roots

Tristan Chord, Unknwn Céline, Hacke Eliot, Blake Roots

Lucie

Die verbeulte Zhenshchina C3 – Zweiter Teil

Der Projektlenkungsausschuss E‘oweb

Tristan Chord, Hacke Eliot, Unknwn Céline, Blake Roots

Die verbeulte Zhenshchina C3 – Dritter Teil

Die Minįster treffen sich im Gasthaus Zum Schwarzen Tur

Vorbereitung zum Kuban-Tur-Fest

Der Paradigma-Wechsel

Der Einmarsch der Kahlschädel I

Nochmals Lucie

Die Schlange am Busen nähren

Der Einmarsch der Kahlschädel II

Lucie

Blake Roots, Unknwn Céline, Tristan Chord, Hacke Eliot

Mittagspause in der Kantine des Regierungsgebäudes

Der Zentrale-Krisenmanagement-Ausschuss ZEKA

Unknwn Céline, Tristan Chord, Hacke Eliot, Blake Roots

Die offizielle Präsentation von allschools

Blake Roots, Unknwn Céline, Tristan Chord, Hacke Eliot

Lucie

„Neuausschreibung Schulverwaltungssoftware E‘oweb“

Grosser Sitzungssaal im Regierungsgebäude.

Der Professor Dr. Mikhaylokvich erklärt es

Der Untersuchungsausschuss

Der verschollene Untersuchungsbericht

Lucie

Über das Romanschreiben

Die verbeulte Zhenshchina C3 – Vierter Teil

Amuse-Bouche

Diese orientalische Humoreske spielt in der Volksrepublik ùùrgistn. Achttausend Meilen entfernt im Kaukasus zwischen Schwarzem Meer und Kaspischem Meer. Die Welt weiss nichts von diesem Land. Es erscheint auf keiner Landkarte. Es ist auf Androhung von bis zu drei Jahre Exoclasion verboten über «Das Geheïmnie» zu sprechen. Wer «Das Geheïmnie» offenbart, der wird von den Häschern des Regimes bis in den hintersten Winkel gejagt und gestellt.

ir schreiben Roman.

Die Wiederkehr der Rosaroten Kleinen Monster

Es ist ein Winter mit wenig Schnee, doch sehr kalt. Um Schreiben zu können, wollen ir lernen, uns während dem Schreiben nicht allzu weit vom Meterstab des Zimmermannes zu entfernen, und über eine Angelegenheit Rechenschaft abgeben, ohne uns darin zu verlieren. Die hier zu erzählende Gschycht ist Jahre alt, doch bis heute nicht aufgearbeitet.

Heute haben ir so ein Gefühl, dass es gelingen könnte. Wer weiss. Ich gehe jetzt Mal nach draussen, und geniesse den Zug der Wolken.

Sucht man nach einer Frage, macht Schreiben Sinn, wenn man möglichst wahrheitsgetreu erzählt. Das Schwierige ist, etwas wirklich wahr und manchmal wahrer als wahr zu machen. Wollen ir mit dem Meterstab des Zimmermannes messen, müssen ir sorgfältig vorgehen.

Jeder Satz wird gegen uns verwendet werden.

Sie schmunzeln, aber es ist wahr… dieser Entwicklungsroman ist so etwas Absurdes, etwas, das man nicht vom Ende her denken kann, weil man weiss ja noch nicht, wie es ausgeht. ir versuchen in unserem poetischen Denk-Experiment nachzustellen, welche Bedingungen herrschen müssen, damit eine Parallelwelt entstehen kann, in der jede Form von menschlicher Bösartigkeit möglich, und als normal gesehen wird.

ir bauen diese Parallelwelt als Modell nach. Mit dem Modell erhalten ir eine überschaubare Versuchsanordnung, irgendwo zwischen gedanklicher Skizze und konkreter Umgebung: ein möglicher Realitätsentwurf in Miniaturformat, halb Phantasie, halb Zorn, halb Welt. Plötzlich diese Übersicht… und weil uns nichts Geringeres als ein urkomischer Weltkommentar vorschwebt, werden wir im Grotesken landen.

Menschliche Bösartigkeit ist weder mysteriös noch unerklärbar, sie ist ganz und gar von dieser Welt. Eine alternative Wirklichkeit, in der jede Form von Gewalt möglich, baut sich bedachtsam auf, so wie man das Gras nicht wachsen sehen und hören kann, und diese Verschiebung verändert die Persönlichkeit unmerklich, zumal sich das beobachtete Objekt und das beobachtende Augen supersymmetrisch verhalten, also grundsätzlich dasselbe, aber eine Zahnseidenbreite versetzt.

Noch ein Detail zum terminus technicus „Korruption“.

Sagen ir Korruption, meinen ir „mutmasslich Korruption“.

Korruption kann nicht verwechselt werden mit «Kořuption». «Kořuption» wird von der Bevölkerung als zusätzliche Einnahmequelle willkommen geheissen, Korruption aber verstösst massiv gegen die gesellschaftlichen Empfindungen und Normen. Es wird als obszön empfunden, wenn sich Verwaltungsangestellte zum Schaden der Allgemeinheit Vorteile verschaffen, indem sie Normen überschreiten. Keiner steht über dem Gesetz. Der kleine Mann ist da sensibel. Er muss seine Steuern und Bussen zahlen, sonst kommt er ins Gefängnis.

Eine totalitäre Parallelwelt baut sich unmerklich langsam auf.

ir beschreiben hier fünfzehn Jahre – ein sanftes Abwärtsgleiten.

Korruption ist eine parasitäre Sekundärökonomie, deren Regeln sich die beteiligten Subjekte selber geben. In solchen Parallelsystemen kommt es zu einer Primitivisierung des menschlichen Verhaltens, und gleichzeitig wird die zunehmende Dekadenz zur Normalität geredet. Man gewöhnt sich an Gewalt, Dummheit und Wahnsinn.

Diese Primitivisierung wollen ir verstehen. ir wollen bestimmte Szenen nochmals nachstellen. Mein liebstes Kinderspiel war der Lego-Baukasten. Hätte ich als Knirps kein Lego-Schloss mit Zinnen und Zugbrücke auf Weihnachten geschenkt bekommen, wäre ich nicht IT-Ingenieur geworden. So denke und spiele ich heute noch gerne mit dem Prinzip Lego-Baukasten. Es ist ein sehr einfaches, effizientes Denken.

ir bauen uns also ein Spiel aus Gedanken auf.

Denken sie sich eine fiktive literarische Laborumgebung. ir haben eine Lego-Grundplatte. Das ist die Dorfbühne. Theaterspiel. Holzstühle. Ein geschlossener Vorhang verhindert den Blick auf die Dorfbühne. Die Bühne repräsentiert die „Verwaltung-21st_SM“. Büro-Dekor. Der Zuschauer sieht nicht, was auf der Bühne tatsächlich vor sich geht. Der Schriftsteller erzählt. Ein wenig Geduld für das Erzählen. Nun kann es der Zuschauer glauben, oder nicht glauben.

Im Verlauf dieses Entwicklungsromans werden ir die Bühne mit Schauspieler besetzen, den Schauspielern die vorherrschende Atmosphäre der „Verwaltung-21st_SM“ erklären, nicht aber das Theaterstück… es ist universelles Theater. Die Schauspieler selber sind keine tatsächlich existierenden Schauspieler. Es sind erfundene Kunstfiguren, das Bühnenspiel ist erfunden. Fiktion.

Sind die Vorbereitungen abgeschlossen, lehnen ir uns zurück, und warten ohne zu hoffen. Es muss sich nichts ergeben. ir haben unsere Flasche Rotwein, ein paar Brötchen. ir benehmen uns unglaublich nett, und nette Menschen sind stets vorsichtig.

Die vorliegende Sammlung von Träumen, Unerlöstem, Unterdrücktem und Erlösungsbedürftigem des US-amerikanischen IT-Ingenieurs John Matarishvan, wird auf den Zuschauer oft kahl wirken, doch ermöglicht die Abstraktion ein tieferes Verständnis, wie es zu der Verschiebung in eine alternative Wirklichkeit kommen konnte, und schenkt Einblick auf irrationale Vorgänge hinter den alten Mauern von Verwaltungen.

Die Erfahrungen, die der US-Amerikaner John Matarishvan als Entwicklungsingenieur und IT-Projektleiter mit dem Personal der «Verwaltung-21st_SM» der kaukasische Volksrepublik ùùrgistn machen wird, kann man als phänomenal grotesk, oder als alltäglich normal sehen. Eine Sache der Perspektive. Für John entscheidend, ihm wird es als anomal erscheinen, Shakespeare Theater gnadenlos, immer dilettantisch, hemdsärmelig, dreist, immer autokratisch, ja, und erzählenswert.

In den fünfzehn Jahre als IT-Ingenieur in der «Verwaltung-21st_SM» ist dem John Matarishvan etwas ganz Dummes zugestossen, und heute, nach einigem Nachdenken, sagen ir, Verstummen führt in die Verdummung, und der John war lange Zeit der Stumme in diesem Theater. Ausdenken, Nachdenken, und Reden hebt die Verdummung auf. So kann der John sich hoffentlich aus diesem Trauma lösen, und nach vorne schauen und noch einige gute Jährchen leben.

Pierre Janet, einer der Begründer der dynamischen Psychiatrie. „Ein Trauma, das nicht realisiert wird, muss stets aufs Neue reinszeniert werden. Realisiert – und damit wahr – wird ein Trauma, wenn der Mensch darüber sprechen kann, ohne gefühlsmässig darin zu versinken.“ Und an anderer Stelle. „Das Unterbewusstsein bildet sich aus, wenn es infolge von Traumata zu Dissoziationen kommt, die das Unerträgliche des Erlebten auszublenden versuchen.“

Die Gschycht ist die, nachdem der US-Amerikaner John Matarishvan als IT-Projektleiter auf Korruption in der «Verwaltung-21st_SM» hinwies, hat ein fürchterlicher Mechanismus eingesetzt.

Seine Mutter kannte die Maschinerie aus ihrer Jugendzeit im Nationalsozialismus, und hat dem John gewarnt: es ist immer noch da, es wird benutzt, es funktioniert, es hat sich nichts geändert. Der John aber war im Glauben, seine Mutter erzähle vogelwilde Gschychten, dabei hat sie ihn vorbereitet, wie es im Leben zu- und hergeht.

ir sprechen hier von langjährig, akribisch geplanter Korruption in Millionenhöhe in einem Netzwerk von gewachsenen Seilschaften bis hoch in das Innen-Minįsterium, und zur Hintertüre hinaus – bis weit hinter die Bühne in den Schattenbereich. Aufträge, die nicht wie korrekt üblich per Ausschreibung vergeben worden sind, sondern freihändig unter dem Tisch. Scheinrechnungen. Gefälschte Verträge. Vorteilnahme. Und alles in grösster Ruhe, Einfalt und dreister Systematik.

Wer sind diese Leute? Warum tun sie es? Was sind die Konsequenzen? Das sind die Fragen unserer literarischen Versuchsanordnung.

Korruption muss immer wieder neu diskutiert, verhandelt und festgelegt werden. Korruption ist nicht gleich Korruption. Korruption ist wer unter Ausnutzung seiner Stellung einen obszönen Vertrauens- oder Machtmissbrauch begeht. Der Korrupte selber hat kein Obszönitätsproblem, weil er sein Handeln als natürlich sieht. Solange er sich nicht erwischen lässt und solange es kein Gerichtsurteil gibt, gibt es auch keine Korruption. Aber wehe, erfährt die Öffentlichkeit. ir sprechen hier von Amtsmissbrauch, Betrügereien, Misswirtschaft, Gaunereien, Irreführungen, Schiebungen, Vertuschung. Die ganze Palette.

ir legen uns einen archimedischen Punkt ausserhalb des Versuchsaufbaues an. Unser archimedischer Punkt ist die Redlichkeit des Steuerzahlers, also die Vernunft des Gesellschaftsvertrages. Man benimmt sich anständig. Bestimmte Dinge macht man nicht, sie sind obszön. Nur wenn ich es mit eigenen Augen sehe, weiss ich, ob es obszön ist oder nicht. Ist der gute Hausverstand die Wahrheit? Wer bestimmt tatsächlich, was wahr und was falsch? Es herrscht Verwirrung, was Recht und was Unrecht. Was als wahr empfunden wird, kann falsch sein. Und was offensichtlich eine Sauerei, das kann als gewöhnlich erlebt werden.

Diese Verirrung nennt man Rechtsunsicherheit.

ir können diese Rechtsunsicherheit nicht lösen, aber Fragen stellen.

Unmissverständlich, es gilt die Unschuldsvermutung, was sonst – … aber, wissen sie, es ist anspruchsvoll Unregelmässigkeiten in einer Institution sichtbar zu machen, wenn das System denjenigen zu einem gemeinen Verbrecher stigmatisiert, der über «Das Geheïmnie» nachdenkt, die wahren Täter aber als Ehrenmänner hofiert, weil Korruption darf in einer makellosen Welt nicht existieren. So müssen ir aus blosser Anständigkeit das mit der Unschuldsvermutung gebetmühlenartig herunterleiern und sind doch mit den Gedanken wo ganz anders. Amen.

Das Literaturseminar des Professor Dr. Mikhaylokvich

(Universität Tsyurikh, Gebäude KoK, Literatur-Seminar Hörsaal KSS-L-26)

Ich begrüsse sie zum Literatur-Seminar an der Universität Tsyurikh. Mein Name ist Professor Dr. Aleksandr Mikhaylokvich. Aktuell lesen wir in diesem Literatur-Kolloquium eine Erzählung des Dichters Jean-Jacques Holzmesser: Die Wiederkehr der Kleinen Monster. Haben sie alle das gelbe Reclam-Heftchen? Gut.

Die Wiederkehr der Monster… soso. Kleine Monster bis hoch in das Innen-Minįsterium. Ein bisschen plakativ, und ein gefährliches Spiel. Ist der Ansatz des Dichters Jean-Jacques Holzmesser als intelligent oder neurotisch zu bewerten? Bei dieser Frage setzen wir an… alle anwesend? Eins Zwei… ich zähle Achtundzwanzig. Gut. Kann eine der Damen vielleicht eines der Fenster öffnen… frische Luft. Ich werde jetzt eine kurze Zusammenfass… können sie bitte herschauen und sich konzentrieren… bitte, auch die Schläfrigen. Ja, sie. Mit ihnen spreche ich. Sie halten das Reclam-Heftchen verkehrt… sehr gut.

Zu den Definitionen.

Die „Unschuldsvermutung“ ist ein juristischer Begriff, der dann angewandt wird, wenn man jemand aus guten Gründen für schuldig hält, aber Definitives dazu noch nicht sagen kann.

„Unregelmässigkeit“ bezeichnet den Missbrauch von öffentlichen Ressourcen zum eigenen privaten Vorteil, oder zum Nutzen Dritter.

Das «Amtsgeheïmnie» sagt aus, wer ein «Geheïmnie» offenbart, das er in seiner amtlichen Stellung wahrgenommen hat, wird mit Exoclasion bis zu drei Jahren bestraft.

„Sorgfaltspflicht“ heisst: Der Arbeitnehmer hat die Pflicht Unregelmässigkeiten im Betrieb oder Fehlverhalten von Arbeitskollegen zu melden.

„Rechtsunsicherheit“ heisst einerseits, wir haben die staatsbürgerliche Pflicht Fehlverhalten zu melden, handkehrum, wer «Das Geheïmnie» offenbart, dem drohen ein paar Jahre Exoclasion.

„Obszönität“. Als Obszönität lässt sich jede Handlung auffassen, die massiv gegen geltende Normen verstösst. Das Problem ist, was in der kaukasischen Republik ùùrgistn als nicht obszön gelebt wird, dass kann, sagen wir mal als Beispiel, in der Schweiz grauslich obszön sein.

Darf man Rechtsunsicherheit schon als obszön bezeichnen?

Wann schrieb Jean-Jacques Holzmesser die Gschycht der Kleinen Monster? Bitte, ganz hinten, auch in den hintersten Reihen, sie auch, mit der Gesichtsmaske, ja, sie auch – auch… die Gesellschaft verändert ständig ihr Gesicht, heute tragen wir Masken. Der Dichter Jean-Jacques Holzmesser schrieb diese Gschycht vor hundertfünfzig Jahren. 1867. Prägen sie sich diese Zahl ein… 1867. Vielleicht notieren sie diese Zahl auf ihren Handrücken. Uns beschäftigt nun die Frage: wer ist dieser John Matarishvan? Kann eine der… das Fenster? Danke.

Wer ist dieser John Matarishvan?

Bitte. ir sind nicht John Matarishvan. ir sind ein anderer und immer auch mehrere. ir stehen zwar schulstreng unter demselben Regenschirm, doch keiner von uns heisst John. ir tun uns in dieser orientalischen Humoreske in John Matarishvan empathisch einfühlen, doch es könnte sein, dass jemand ruft: Jesus! Der Franzl!, und ir würden uns alle gleichzeitig umdrehen. Ob man dies ein wenig versteht?

John ist ein Narr. Dieser Entwicklungsroman ist die Reise eines Narren.

Es entzieht sich unserem Wissen, wer dieses Ich ist, welches in diesem Roman Ich denkt. Ich kann jeder denken, denkt auch jeder. Das ist ganz einfach. Ich habe… ich bin… ich sollte… sehen sie, ganz einfach. Ich ist ein Gedanke. ir sind das nicht, weil ir sind keine Helden. Das sind bestenfalls mentale Konstrukte. Von solchen fragwürdigen Existenzen distanzieren ir uns. ir ist froh, dass er noch ein wenig lachen kann. Und uns schwebt der Heiligenschein über der Glatze und unter der Soutane der Heilige Geist bitter für uns. Amen.

Ein nochmals anderer ist der grösste lebende Dichter seit… ir fällt jetzt kein Namen ein, dieser Blümchen- und Käferbiedermeier, der in Ruhe seine Einfalt vervollkommnen und Kunst erschaffen und also viel Geld machen will, und einen grossen Entwicklungsroman verfassen und den Nobelpreis gewinnen will, aber an der Interpunktion scheitert.

Und gar noch ein anderer ist der Gedankenleser, ein bildschöner, junger Mann, der wiedergibt, was anderen gedacht, und anderer Leute Gschychten nach Erinnerung rezitiert, eine Aneignung, die er nicht gerechtfertigen muss, weil er ist niemand und austauschbar.

In dieses Nachdenken des Gedankenlesers gesellen sich abertausende raunende Kopfstimmen aus Klassikern, Büchern, Filmen, Theater, und der Strasse. Reverenzen auf beispielweise Bob Dylan, William Shakespeare, Joyce Carol Oates, oder Stanislaw Lem, und noch ganz viele unerhört berühmte Menschen.

Der Gedankenleser hält sich an die Harvard-Regeln und fasst die indirekten Zitate zu einem indirekten Zitatenfliesstext zusammen und kennzeichnet diesen mit Apostroph am Anfang und am Schluss.

Sagen ir es so, John Mâtariçvan ist weder ein Pseudonym, noch ein Phantom, aber kristallreine Phantasie ist er auch nicht, und privat kann er auch nicht sein. Sollte durch diese todlektorierte Schrift noch etwas Privates schimmern, auch das sind nicht ir, und Ich bin es auch nicht.

Sind ir unsere Erinnerung? Unser Gedächtnis passt die Erinnerung fortwährend elastisch funktional an die Gegenwart an. Unser Erinnerungsvermögen wird nie eine objektive Wirklichkeit zutage fördern, sondern nur unsere subjektive Reaktion, die ihrerseits wieder von unserer augenblicklichen Gestimmtheit, Gefühlen, Assoziationen, Stimmung abhängt. Jede unserer Erinnerung ist eine falsche Erinnerung.

Im Übrigen streiten ir im Chor die Verfasserschaft ab.

Die Kinderjahre

Um dem US-amerikanischen IT-Ingenieur John Matarishvan ein Gesicht zu geben, erfinden ir ihm eine abenteuerliche Biografie. Dass es ihn tatsächlich gegeben hat, gilt als nicht sehr wahrscheinlich. Lasst uns eine einigermassen plausible Welt ausdenken, den Rest aber fülle fröhliche Phantasie, und der Karneval der verschiedenen Wörter.

John‘s Grossvater mütterlicherseits Mikel Nezavisimy wurde im kleinen Dorf Nigde in der kaukasischen Volksrepublik ùùrgistn geboren. Mikel Nezavisimy war ein knorriger Mann. Er musste in den Wirren zwischen den Grossen Kriegen bei Nacht und Nebel aus dem Kaukasus nach Österreich fliehen, ins Vorarlbergische. Der Legende nach aus Wirtschaftsnot, tatsächlich aber waren die Häscher hinter ihm her. Es drohte Exoclasion. Sein Alles hatte auf einem Pferdefuhrwerk Platz. Ein paar Truhen, einen Teppich, eine Nähmaschine, und die schwangere Ahna. Mikel Nezavisimy verdingte sich im vorarlbergischen Hohenems als Knecht auf einem Gutshof, und hatte fünf Kinder. Wâlker. Hermân. Jozef. Bertâ. Und Hildegârd, Johns Mutter.

Doch lassen ir John selber erzählen.

- Ich kann das nicht.

- Wer sonst, John.

- Wie kann ich meine eigene… ehrlich, mich selber erfinden!

- Du musst, John.

- Also gut. Aber ihr müsst ir helfen.

Meine Mutter Hildegârd Nezavisimy war die Seele an sich, neigte wie mein Vater zur Güte, lachte viel mit offenem Herzen, weinte mit demselben Herzen, und hatte Zornesanwandlungen und andere Eigenschaften, trug schwingende Kleider, und offene Haare und das Leben war ihr eine Bootsfahrt auf einem rauen Meer. Sie hatte nur eine Handvoll Schuljahre im Tornister und das genügte reichlich um kreativ durchs Leben zu kommen, es gab selten ein Zögern.

Mein Vater Peter Mâtariçvan kam nach dem Krieg wegen der Arbeit ins Vorarlbergische. Auf den wenigen Fotografien ist er der Zimmermann, der Mann des Meterstabes. Ein schweigsamer Mann mit bemessenem Blick, trägt etwas steif Anzug und Krawatte, und sein Haar ist mit Gel zurückgekämmt. Er war ein Gutmütiger und Stiller, eine unglaublich sanfter Mensch.

Meine Eltern lernten sich vor dem Lichtspielhaus kennen. Doktor Chicago, wie meine Mutter wusste. Mutter erzählte, mein Vater habe ihr nach dem Kino das Fahrrad nach Hause geschoben, und sei nobel zu ihrem ledigen Kind gewesen, darum habe sie ihn geheiratet.

Peter Mâtariçvan und Hildegârd Nezavisimy heirateten, und hatten sieben Kinder, und bauten ein grosses Haus mit Tapeten und Zentralheizung und Einbauküche, später kamen Fernseher und Waschmaschine dazu. Wobei meine Eltern wochenlang sich überlegten, ob sie sich zuerst den Fernseher oder besser die Waschmaschine leisten sollen. Sie haben sich dann für die Waschmaschine entschieden, weil für neun Personen die Wäsche mit der Hand waschen, da schläft man am Abend vor dem Fernseher ein.

Ich wurde im Januar geboren, rangiere irgendwo in der Mitte meiner sechs Geschwister. Wassermann. In meiner Geburtsurkunde steht Johanneš Mâtariçvan. Ich wuchs im Arbeitermilieu auf. Man rennt nicht davon, tut seine Pflicht, lebt das Leben, das man hat. Man vergisst nicht, man verdrängt nicht, und nichts kann ungeschehen gemacht werden. Man löst die Probleme, die man hat… hilft, wo möglich.

Unser Dorf hiess Buura. Eine Ansammlung von schiefwinkligen Häusern entlang einer gewundenen Landstrasse, mehr war da nicht. Zuhause haben ir Kinder in Mardschana gesprochen. Mardschana ist eine Ursprache aus Bildern. Grossvater Mikel Nezavisimy sprach Mardschana, meine Mutter sprach Mardschana, also sprachen die Kinder auch in einfachen Bildern.

Mein Vater arbeitete als Zimmermann bei der Firma Kästle, dann bei Head als Abteilungsleiter, und war am Abend müde. Während die Kinder auf dem Boden spielten, sass er in seinem Schaukelstuhl, und fielen ihm die Augen zu, dann wurde es mucksmäuschenstill, und irgendwie war das alles heilig – er lehrte mich den Meterstab.

Mit vier Jahren geschah dem Johanneš Mâtariçvan etwas, das ihn aus seiner Lebensbahn warf. In dem Augenblick, in welchem einem Kind das Vertrauen in die Welt genommen wird, regiert eine neue universelle Ordnung. Das vorher stabile wird flüssig. Es gibt nichts Undenkbares mehr. Die Grausamkeit des Lebens kennt keine Grenzen.

Es war Winter, und die Landstrasse war vereist. Der Knirps Johanneš Mâtariçvan und seine Geschwister spielten auf einem Schneehaufen auf der anderen Strassenseite. Als der vierjährige Knabe den Vater von der Arbeit kommen sah, wollte er dem Vater freudig in die Arme springen. Ohne welches Bewusstsein für seine Umgebung rannte Johanneš Mâtariçvan über die eisige Landstrasse. Ein Schlag. Nur still, als ob nichts auf der Welt wäre. Viel stiller, als die Stille, die man hören oder fühlen kann, und der Körper schwebt im Leeren, und legt sich mit der rechten Seite auf den Asphalt. Eine Decke wird über den Körper gelegt. Ledergeruch, kaltes Leder.

Johanneš Mâtariçvan war nicht mehr.

Und ir erwachen in einem Operationssaal an einem stechenden Geruch von Putzmittel als ein kleiner Körper auf einem Tisch. Zwei mit grünem Gesichtsschutz und Gummischürzen kleistern Gips um seine rechte Hüfte und scherzen, und – heiss brennt eine Scham in ir.

ir sieht den kleinen Körper in einem weissen Bett, das Bein durch Nägel und Gewichte gestreckt, eine Schüssel wird ihm unter den Leib geschoben, und so wie Knochen ins Erwachsensein wachsen, so verliert sich die Zeit. Wird mit ir gesprochen, hört er die Stimmen nicht. Der vierjährige Bub liegt mit einem zertrümmerten rechten Bein und einer schweren Hirnerschütterung in einem weissen Bett. Die existentielle Situation, und vielleicht auch die Tabletten, machten auf eine Art erwachsen hellsichtig. Ein grelles Licht, mit irrlichternden Kopfschmerzen, eine Perspektive weit ausserhalb, in welchem der Gesang einer Amsel das gesamte Universum.

Ich war viel zu jung um mich vor der Erfahrung des Todes schützen zu können. Solange man lebt, sind Tod und Leben verbunden, wie beim Atmen Stickstoff und Sauerstoff. Will man im Leben den Tod sehen, dann schaut man sich die Augen aus und sieht nichts. Erlischt das Leben, dann ist da nur der Stickstoff, und das ist schon speziell.

Wie meine Mutter ir kurz vor ihrem achtzigsten Geburtstag erzählte, hatte der behandelnde Spitalsarzt Dr. Müller den besorgten Eltern verboten das schwerverletzte Kind im Spital zu besuchen, weil der Bub nach ihren Besuchen sich nicht mehr beruhigen konnte. Die Therapie gegen Heimweh war Besuchsverbot. Der Arzt sagte, dass das Spital die Verantwortung trage. So war das in den Sechziger Jahren.

Seit damals argwöhne ich jedem, der mit Besitzanspruch nach ir greift. Mein Leben lang haben ich Macht und Gier verachtet, habe beste Chancen ausgelassen, um mich nicht mit den bösartigen Menschen konfrontieren zu müssen, welche über andere verfügen.

Wie der vierjährige Bub nach vielen Monaten entlassen wird, hat er keine Familie mehr. Trotz grosser Zuwendung und viel Liebe kann er sich vorerst nicht für diese Fremden erwärmen. Das kommt erst später so allmählich wieder. Auch seine Geschwister sind ihm Fremde, deren Namen er neu lernen muss, und er kann sich Namen nicht merken. Keine Namen. Namen gehen durch ihn hindurch, wie Wasser in einer lecken Giesskanne. Also erfindet er Namen, die er sich merken kann.

Ich war nach dem Spitalsaufenthalt ein anderer geworden. Dass einem alles in einem einzigen Augenblick genommen werden kann, dazu braucht es ein langes Leben, um es zu begreifen. Zu verstehen, dass nichts so ist, wie es sich zeigt, und das sich alles verwandeln und in Nichts auflösen kann, das ist die grösste Herausforderung des Lebens.

ir wurden Zehn. ir war so unglaublich erwachsen, und in der Schule der Primus, zumindest in meiner illusionären Selbstüberschätzung. Fünfzehn. Ich las mich durch die Weltliteratur. Ich war meinen Klassenkameraden in meinem Narzissmus über den Kopf gewachsen, ging nicht ohne Beckett im Jackett auf die Strasse und trug lange Haare, die Hemden meines Vaters und zerrissene Jeans. Ich begann mit Fünfzehn eigene Texte zu schreiben, seltsam fremde Welten, Extraluftschlösser, mit denen ich mich identifizierte. Verstehe, wer es will.

Als Jugendlicher hatte ich einen Freund, der war Buchhändler und versorgte mich mit dem guten Stoff. Also las ich den Literaturkanon querbeet und übte mich im Verstehen. Lautreamont. Camus. Derrida. Huysman. Aragon. Artaud. Gide. Valéry. Brecht. Marcuse. Robert Walser. Nur um einige zu nennen. Peter Handke. Sie sind aussergewöhnlich und einzigartig, einige sind vergessen. Ich verinnerlichte Masse und Macht, erlebte die Studentenunruhen, ich beobachtete den Prager Frühling, ich studierte die Mechanismen des Nationalsozialismus, ich demonstrierte gegen die US-amerikanische Schaukelpolitik in Vietnam. Meine ersten sexuellen Erfahrungen hatte ich mit einer Serviertochter. Meine erste richtige Freundin war die Tochter eines Ingenieurs. Nach ihr schlief ich mit einer Postangestellten, nach ihr mit einer Serviererin, Carmen. Nebenbei studierte ich an einer Fachhochschule Elektrotechnik, und musste immer alles bis ins kleinste Detail verstehen. Ich bin da manisch. Und so las ich Darwin, Jung, Freud, Perls, Osho, Kierkegaard, Dostojewskij, Platon, Krishnamurti, Kafka, Fromm, Rogers, Goethe, Bandura, Jean Piaget, Erikson, und unzählige mehr.

Ich behaupte hier nicht, ich hätte damals auch nur das Geringste verstanden. Ich lernte über meine Träume, lernte über das Gehirn, die Nerven, das Herz, den Darm, die Gefühle – doch weiss ich fast nichts über mich, und fast nichts über den Menschen, und das macht es schwierig, diese obszöne, orientalische Humoreske schlüssig zu stimmen.

Ich war aus dem alltäglichen Kreislauf des Lebens hinausgeworfen, trotzdem, ich war gesellig, schnell bereit mich zurückzunehmen, um in einem Team Konsens zu finden – doch auf eine eigenartige Weise lag meine Mitte anderswo. Ich war im Flüchtigen verankert.

Der Zimmermann sah es mit Besorgnis, was aus seinem Sohn wurde.

Mit Zwanzig war ir ein langhaariger Intellektueller, rauchte Dope, horchte psychodelische Musik, befasste sich mit Maharishi, Marcuse und Rabelais, Nisargadatta, und studierte Ingenieurwesen, und keine Freundin hielt länger als ein Wochenende. Das ging zusammen. Immer schon erwachsen. Immer schon auf der Flucht vor Besitznahme.

Erfolgreich, doch fehlte etwas… eigentlich alles. Und auch wieder nichts. Aber was? Wohin richtete sich seine Sehnsucht. Was suchte ir? Was hatte ir zu finden? Ich wusste es nicht. ir konzentrierte sich auf das Suchen und fragte sich, warum er suche… und wer da sucht, und war ein Suchender, der nicht wusste, was er suchte. Ich wusste nicht, was mit ir los war.

Als der Zimmermann starb, besuchte ich ihn in der Aufbahrungshalle. Dort lag er in einem perfekt gearbeiteten Holzsarg, zwischen weissen Lilien, und im Geruch von Weihrauch. Wohl stand ich als seltsamer, hypersensibler Mann vor dem Sarg. Er tat, als schlafe er, und es war gut so. Seine Arbeitskollegen hatten ihm den Meterstab zwischen die gefalteten Hände gelegt. Ich dachte, tue du nur so als würdest du schlafen. Es ist besser so, als wenn wir jetzt irgendwie… zwischen uns hatte zeitlebens das tiefe Schweigen geherrscht, aber es war immer mit schlechtem Gewissen durchsetzt. Doch dort in der Aufbahrungshalle hat er nochmal die Augen aufgeschlagen und ir den Meterstab geschenkt, und seitdem begegnen wir uns auf Augenhöhe. Das heisst, wir erlauben uns auch das gemeinsame Schweigen, und sind ok. miteinander.

Die Trauer kam viele Jahre später, und erlöste mich von etwas Gewalttätigem, dass mich wie eine undurchdringliche, farblose Hülle in einer eigenen Welt gehalten hatte. Die Angst vor der Gewalttätigkeit einer unsichtbaren opaken Macht.

Der Zimmermann lehrte mich den Gebrauch des Meterstabes.

Das Fragen und Erzählen habe ich von meiner Mutter.

Johanneš Mâtariçvan ging als Ingenieur in die Vereinigten Staaten. Dort lernte er in Houston bei Digital Equipment Mainframe-Computer verstehen, programmieren, reparieren, entwickeln. Ich war bereits viele, viele Jahre in den Vereinigten Staaten, und im Wesen längst ein US-Amerikaner und ein grosser Fan von NASA-Raketen, John F. Kennedy, Bob Dylan und Steaks in Kuhfladengrösse, da wurde ir die amerikanische Staatsbürgerschaft angeboten, und ich nahm sofort an.

Im Pass wurde aus Johanneš Mâtariçvan ein John Matarishvan.

Going to ùùrgistn

Es war im Februar 2005. Ich hatte im Houston-Rechenzentrum die Nachtschicht, wie das Telefon durch das Haus schrillte. Damals schrillten die Telefone noch.

- Matarishvan.

Am Apparat war ein ir unbekannter Mensch, angeblich ein Onkel, und er hatte mich sofort auf seiner Seite, denn er sprach in der Sprache meiner Familie. Mardschana. Der warme Gefühlsklang seiner Stimme war ir sympathisch. Da war sofort eine Vertrautheit, eine Beziehung.

Die Stimme des Onkels erzählte, man suche in der kaukasischen Volksrepublik ùùrgistn IT-Ingenieure zum Aufbau der Digitalisierung, ob ich nicht Lust hätte. Es sei ein Entwicklungsprojekt. Das Angebot sei lukrativ. Ausserdem besässe ich wegen meinem Grossvater Mikel Nezavisimy immer noch das Heimatrecht. Tatsächlich war ir dieser entfernte Verwandte völlig unbekannt, auch wusste ich nicht, wie dieser zu meiner internen Telefonnummer gekommen war, doch reizte das Angebot, also fragte ich nicht lange nach. Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten war ir inzwischen zur einschränkenden Gewohnheit geworden, und ausserdem hatte mich wieder eine Frau verlassen. Ich habe bei den Frauen immer mein Bestes gegeben. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Warum es nie genug war, da müsste man die Frauen fragen.

Ich hatte so ein Bild aus meiner frühesten Kindheit… ich fuhr als Achtjähriger mit meiner Mutter in einem grossen weissen Schiff über einen grossen See. Was geblieben, das hat sich in einem traumnahen, abenteuerlichen Bubenbild abgelegt, geprägt von den Abenteuern von Huckleberry Finn, Ali Baba, Sindbad, und den Büchern von Karl May. Das ùùrgistn meiner märchenhaften Erinnerung war eine kunterbunte orientalische Zwergen-Welt. Die kleinwüchsigen Männer trugen stolze Schnurrbärte und hohe Fellmützen, hellrosa Kosakenuniformen, lange Krummsäbel und viele Orden auf der Brust, und ritten auf drahtigen Ponys, und zu bestimmter Stunde wurde von einem Bleistift-Minarett zum Gebet gerufen, schwebten Derwische und Zigeuner auf fliegenden Teppichen durch die Lüfte, während in den Gassen herrschte emsiges Basartreiben, und die Frauen waren alles bezaubernde Jeannies, und wer an der Flasche rieb, den fragte der grosse Geist nach seinem Wunsch, und den bekam er dann gleich dreimal erfüllt.

So mein knabenhaftes Traumbild… mit diesen Bildern im Kopf, sagte ich dem guten Onkel zu. Der Onkel schickte Reisepapiere, Geld und eine Reisebeschreibung zurück in das Heimatland seines Grossvaters. Ich müsse ir wegen der Lebensqualität keine Sorgen machen. Asien beginne erst hinter ùùrgistn. ùùrgistn gelte als die Schweiz des Kaukasus. Es herrsche seit Gedenken Frieden.

Das Fernweh und meine masslose Phantasie trieben mich fort.

Ich löste meinen Haushalt in den Vereinigten Staaten auf. Ich kaufte feste Lederschuhe, und wetterfeste Kleider, und einen Schlafsack, Taschenlampe, stopfte zwischen meine Kleider ein paar Life-Magazine, mein Fotoapparat, und ein paar literarische Bücher, warf ir die Head-Sporttasche über die Schulter und verliess die Staaten. Ich war voll Tatendrang und Fernweh, und freute mich auf das Kommende.

Es war speziell, mich den Wurzeln meiner Ahnen zu nähern. Und dann war da ja meine spirituelle Sehnsucht. Ich dachte tatsächlich, ich könnte etwas über mich selbst erfahren. Hätte ir jemand vorausgesagt, was für eine Welt auf der Suche nach dem verlorenen Selbst aufbricht, ich hätte es vielleicht bleiben lassen – all der Schmerz.

Der hochqualifizierte US-amerikanische IT-Ingenieur John Matarishvan flog die Strecke Houston-Amsterdam-Istanbul, reiste von Istanbul mit dem Zug nach Ankara. Im Bahnhof sass eine Frau hinter einem Tisch, vor ihr ein Bier, die einer seiner Schwestern glich. Von Ankara führte der Weg im vollbepackten Bus über viele Städte und staubige Strassen in den Kaukasus. An einer Tankstelle kaufte er sich weiche Lederschuhe von einem Mann, der wie sein verstorbener Bruder aussah. Endlos zog sich die Fahrt dahin, links und rechts Esel und Schafe, und alles war Stein, Staub und Wind. An der Bus-Endstation Naznacheniya wurde John in der einzigen Bar von zwei bärtigen Männern erwartet.

Es waren seine ortskundigen Reisebegleiter Arman und Ismail.

Sie sprachen wenig, federten in den Knien, und ihre Gesichter waren von Tüchern umhüllt. Sie trugen Kalaschnikows. Nichts Aussergewöhnliches. In den US-Staaten tragen alle rechtschaffenen Bürger Waffen. Eine Waffe macht Sinn, wenn alle eine Waffe tragen. An der Bus-Endstation Naznacheniya galten die Berge am Horizont als das Ende vom Ende der Welt. Arman und Ismail luden John sein Gepäck in einen zusammengeflickten Land-Rover.

- Fahren wir los.

Sie liessen die letzten Reste der Zivilisation hinter sich. Es ging über gewundene Bergstrassen. So tiefer die Reise in das Kaukasusgebirge führte, so unwegsamer die Strassen, so langsamer wurde das Reisen. John war hundemüde und schlief, gerüttelt von den schlechten Geröllstrassen, und träumte von einem Sturz ins absolute Nichts.

Der Stillstand des Land-Rovers weckt John. Oder war es einzelnes Hundegebell? Nebel und Schneefelder. Es ist bitterkalt. Vor ihnen im Scheinwerferlicht ein Schlagbaum. Niemand ist zu sehen. Seine Reisebegleiter Arman und Ismail sichern das Gelände. Ein kurzer Ruf.

Arman verschwindet im Dunkel, kommt zurück. Sie diskutieren. Ismail erklärt John das Problem, doch John versteht nicht. John gibt Ismail zögerlich zwanzig Dollar. Es ist zu wenig. Ismail nimmt ihm die Geldtasche aus der Hand, zählt durch, teilt brüderlich die Hälfte, und reicht die Geldtasche zurück. Arman verschwindet wieder im Dunkel. Der Schlagbaum öffnet sich. Die Reise durch die Nacht geht weiter.

Wochen später wird John erfahren, dass es von Ankara eine vierspurige Handelsstrasse und eine ordentliche Zugverbindung ins Kernland von ùùrgistn gibt, und die Reise bequeme sechs Stunden nur gedauert hätte, sie aber waren einen Tag und eine Nacht unterwegs gewesen.

Vielleicht müssen Abenteuer so beginnen. Ich dankte es meinen Reisebegleitern Ismail und Arman. So lernte ich viel über diese kaukasische Volksrepublik ùùrgistn.

Unsere kleine Expedition erreichte im ersten Morgengrauen einen Aussichtspunkt über dem Talbecken von ùùrgistn. Wir parkierten unweit eines staubbedeckten, uralten Mercedes Benz. Tief unten leuchteten die Lichter der erwachenden Hauptstadt Женщины на полях. Dahinter glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen der Wannensee, ein von hohen Bergen umgebener blauer Kristall.

Ismail und Arman näherten sich dem Mercedes Benz. Es war ein Taxi, beauftragt vom guten Onkel. Ismail und Arman luden das Gepäck um und verabschiedeten sich. ir war etwas schwer im Herzen, als wären wir Freunde geworden. Der Abschied gelang sehr herzlich.

Der Taxifahrer brachte mich zu einem abseits stehenden kleinen Haus.

Das Haus steht auf einer Lichtung, umgeben von Linden. Es hat ein geräumiges, weissgetünchtes Wohnzimmer mit Küche, ein Esstisch, ein Schreibtisch, ein Sofa. Das Schlafzimmer besitzt einen schönen Holzkasten, ein breites Bett mit einer harten Matratze. Alles ist schlicht gehalten, so wie es ir gefällt. Bei meiner Ankunft brannte das Kaminfeuer. In das Holzknistern mischt sich das Rauschen des nahen Flusses.

Meine Haushälterin heisst Lucie. Lucie überreichte ir einen Brief von meinem Onkel. Mein Onkel wünschte ir einen guten Start, liess sich aus Geschäftsgründen entschuldigen, gesehen habe ich ihn nie, was schade ist. Gerne hätte ich mich bei ihm bedankt.

Ein wenig Kulturgeschichte

Die ersten Wochen nutzt John um sein Wissen über dieses Land zu vertiefen. Frühe Spuren von Ureinwohnern in einer Höhle in den nördlichen Bergen datieren 14‘000 Jahre zurück. Steinkeile und Knochen, Abdrücke von Ocker-Händen an den Höhlenwänden. Damals begannen die Gletscher der letzten Eiszeit zu schmelzen. Da die kleinwüchsigen Ureinwohner keine Schrift besassen, wandelte die mündliche Überlieferung die historische Geschichte in mythologische Märchen.

1889 soll ein Stein mit einer rätselhaften Inschrift ausgegraben worden sein. Die Schrift war anfänglich nicht lesbar, wurde dann aber von russischen Wissenschaftlern enträtselt: Tùùrgjísītǎn. „Tùùrg“ bezieht sich auf den kaukasischen Steinbock namens Kuban-Tur, und „Jísītǎn“ heisst Land… Land des Kuban-Tur.

Ich war im Land des Steinbocks.

Im Zuge der kolonialen Aufteilung von Interessenssphären beanspruchten die Osmanen, die Russen und die Perser dieses fruchtbare Stück Land. Es gab eine Schlacht, noch eine Schlacht, und zahllose Tote. Hin und wieder zogen Patrouillen durch, und so lernten die Ureinwohner die Gräueltaten kennen, welche die zivilisierteren Nationen normalerweise aufführen, wenn sie Land für sich beanspruchen. Die Ureinwohner wurden wie Tiere geschossen, und liegengelassen.

Die koloniale Besiedelung von Tùùrgjísītǎn geschah nach dem Sturz des russischen Zaren Nikolaus II von Moskau her. Mit dem Sturz des russischen Zaren Nikolaus II flohen hochrangige Beamtenkader des Cатана-Clans aus Angst vor Prognomen aus Moskau in das Kaukasusgebirge, und gründeten in diesem leeren Landstrich die unabhängige Volksrepublik ùùrgistn. Es herrschte folglich ein monarchistischer Geist, und die Bevölkerung glaubt seit jeher an die Obrigkeit, und lässt es sich nicht verderben.

Es heisst, die Familie Cатана seien Rotdracken. Fragen sie nicht, was das ist. Ich konnte es nicht in Erfahrung bringen.

Für die Flüsse und Berge wurden praktische Namen gefunden. Der höchste Berg heisst noch heute „Berg“, der breite Fluss „Fluss“, und die grosse Handelsstrasse heisst „Strasse“, so kann man es auf den Schildern lesen. Und die Hauptstadt heisst „Stadt“. Und die Bevölkerung nennen sich „Menschen“, und der Baum ist Baum, der Hund ist Hund.

Im Zweiten Weltkrieg bauten die Russen als Schutzmacht einen kleinen Militär-Flughafen mit Wachtürmen und Hangars, und markierten Präsenz. Aus der Zeit stehen noch ein abgewrackter Militärhubschrauber und eine verrostete MIG mit dem roten Stern herum.

Das Zentrum der Hauptstadt Женщины на полях bildet der Kuban-Tur, eine Anhöhe, auf welcher der in einem weissen Schleier strahlende Präsidentenpalast prangt. Ein imposanter Anblick, und gleichzeitig alles von einer märchenhaften Atmosphäre. Nicht nur, weil die Menschen von kleinwüchsiger Natur. Die Grössten sind unter 120 Zentimeter. Doch sämtliche Häuser, Räume, die Sitzhöhe, die Bettengrösse, die Tische sind für Menschen von normaler Grösse angelegt. Das gibt den Eindruck von emsigem Kinderleben in einer Erwachsenenwelt.

Die Architektur des Palastes hat die Form eines Steinbockschädels mit geschwungenen Hörnern. Um diesen Steinbockschädel glitzerten die Stadtlichter wie Sterne. Ansehnlich.

Der Kuban-Tur ist ein Steinbock aus der Gattung der Wildziegen. Die zu Pulver verarbeiteten Testikel des Kuban-Tur gelten als Aphrodisiakum. Der Volksmund nennt den Präsidentenpalast deswegen liebevoll lächelnd den Himmelbimmel… zur Zeichen seiner Macht trägt der Generalfeldmarschall Apollon Cатана bei öffentlichen Auftritten die goldene Kuban-Tur-Krone in der Form von Steinbock-Hörnern.

Man kann über Apollon Cатана in der Staatspresse lesen, man sieht den Apollon mit der goldenen Kuban-Tur-Krone auf Briefmarken und auf Prägemünzen. Hier und dort steht eine Bronze-Statue von Generalfeldmarschall Apollon Cатана, hoch wie ein Baum, in Pose des visionären Staatslenkers, mit einer Schriftrolle in der einen Hand, in der anderen Hand eine Taube, auf dem Kopf die goldene Kuban-Tur-Krone.

Der Cатана-Clan bedient den sozialen Fahrstuhl in der kaukasischen Republik ùùrgistn. Der Cатана-Clan herrscht uneingeschränkt über den Staat. Das Vehikel ist die Parteizugehörigkeit. Generalfeldmarshall Apollon Cатана ist kein Diktator, sondern einer der alle Zügel in der Hand halten muss, sonst bekommt er Stress.