Eine vollkommen reine Liebe - Sebastian Schinnerl - E-Book

Eine vollkommen reine Liebe E-Book

Sebastian Schinnerl

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Beschreibung

Empathielose Grausamkeit ist ein wesentlicher Teil der Menschheitsgeschichte. Es liegt in ihrer Natur. Der Mensch ist grausam und gewalttätig. Aber was ist mit der Liebe? Wo blüht sie? Wo wird sie tatsächlich gelebt? Besitzt der Mensch das Potential zur vollkommen reinen Liebe? Hat der Mensch die Kompetenz, in Harmonie mit seinem Umfeld, ein freies, ernsthaftes, kreatives Leben zu führen? Ist Liebe eine kindliche Utopie? Sebastian Schinnerl erkundet in seinem dritten Band der Trilogie "Der Teufel ist ein Whistleblower", unter welchen Bedingungen eine alternative Parallelwelt entstehen kann, in der die vollkommen reine Liebe als das alltägliche Grundgefühl erlebbar wird.

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«Wir haben eine gewalttätige Gesellschaft errichtet, und wir, als Menschen, sind gewalttätig. Unsere Umgebung und die Kultur, in der wir leben, sind das Produkt unseres Strebens, unserer Kämpfe, unseres Schmerzes und unserer entsetzlichen Grausamkeiten. Die wichtigste Frage lautet also: Ist es möglich, dieser Gewalt in einem selbst ein Ende zu setzen? Das ist die Frage, auf die es ankommt.»

J. Krishnamurti, Jenseits der Gewalt

Die Reise in eine andere Welt

Die wirkungsvollste Waffe eines autoritären Systems ist die Angst. Dieser Schatten hat sich verloren.

Es will nach oben

Anna und ihr Mann besitzen ein Rustico in den Bergen. Ortsnamen spielen keine Rolle. Nennen wir die Hochebene Süla Piêna. Das Haus ist winterfest ausgebaut, mit Schwedenofen, grossen Fenstern mit grossartiger Sicht auf die Bergewelt. Süla Piêna, ein Ruinendorf auf einer Hochebene, umgeben von stolzen Kastanienwäldern. In der Ferne dann noch das Krähen eines Hahns. Zerfallene Mauern erinnern an das Leben, den Tod, beruhigen den Geist, erschaffen die Grundlage in der Abgeschiedenheit zu verweilen. Ein Trost, eine Hinwendung der Seele zu diesen naturüberwachsenen Steinhaufen. Hörbare Stille.

Das Paar wird das Jahr auf Süla Piêna verbringen.

Die Anmut des Lebens

Die Natur ist keine sprachlose Welt. Der Inhalt dieses ernsten Buches öffnet sich dem Einsehenden. Das Urtier kroch vor hundert Millionen Jahren aus dem Wasser, daraus wurde der Mensch, gewalttätig und roh. Der Mensch ist Natur, und Natur ist ständige Bewegung. Dass der nimmersatte Raubaffe Mensch nach verzehrtem Vorrat das eigene Fleisch kannibalisiert, auch das ist Natur.

Wahr ist, die Spiegelung der Natur in die Menschensprache ist schwer. Es fehlt der Menschensprache an allem, gar allem. Die Natur, als die älteste Sache der Welt, muss gelebt werden.

Die Natur kommt der idyllischen Vorstellung in Zeichen entgegen. Am Beispiel, in der rauen Faserung der Baumrinde einer Kastanie, oder dem, vom Südwind getrockneten Wintergras. Das Geräusch des Regens auf Blättern. Die Fressgeräusche der Tiere. An solchen Zeichen kann sich der Stadtmensch vorgetäuschten Halt besorgen. Doch irritieren die romantisch-idyllischen Vorstellungen vom Gegenstand.

Als Anna und ihr Mann vor vielen Jahren in den Ruinen der alten Dorfhäuser von Süla Piêna etwas sahen, das auf eine tiefere Bedeutung hinwies, konnten sie diese Bedeutung nicht fassen. Womöglich, weil sie den Dialekt der Eingeborenen nicht verstanden, wo man trotz fortgeschrittener Kenntnis des Alphabets, immer noch gern ein Kreuz an die Stelle des Namens setzt? Deren herzerfrischende Art ermunterte zum Bleiben, also blieben Anna und ihr Mann.

Während Anna die Sprache sich aneignete, mied der Mann die Sprache der Einheimischen, wissend, dass er sich vor dem Verlust schützte, alles wegzugeben, was auf eine tiefere Bedeutung hinwies.

Mit jedem Schritt auf dem Steinstufenweg hoch nach Süla Piêna ändert sich das Licht. Der dunkle Wald und das Wasser und die wachsende Wildnis. Die haushohen, überwucherten Felsblöcke. Der Schmerzensmutter Maria gewidmete Bildstöcke am Wegrand. Die verblichene Wandzeichnung und Plastikblumen hinter einem verrosteten Gitter.

Möglich, dass die Vereinigung von Waldstille und Seelenwelt schon das Geheimnis der Transformation. Am Ziel wartet die Jakobskirche, traditioneller Alterssitz der Dorfheiligen. Die Kirchenglocke wird mit einem Seil bedient. Die Kirche soll ein neues Dach erhalten.

Einmal im Jahr im Sommer gibt es Dorffest. Die ältesten Talbewohner und die Dorfschöne kommen mit dem Hubschrauber. Der Rest schnauft den Berg hoch und labt sich an Merlot, Kartoffelsalat und Costini. Von den hundert Besuchern verirrt sich eine Handvoll in die Kirche. Dort blüht die Gemeinschaft der Gotteskinder auf, dort erklingt die frohe Botschaft in alter Frische. Santo, Santo, Santo il Signore. Dio dell’Universo. I Cieli e la Terra sono pieni della Tua Gloria. Danach fliegt der Hubschrauber die Ältesten und die Dorfschöne zurück ins Tal. Dann ist es wieder still. Im Winter dann löst sich die Stille ins Nichts. Hin und wieder ein Siebenschläfer, der Holzwurm im Gebälk.

Warum leben Anna und ihr Mann im Frühling, Sommer, Herbst und Winter auf Süla Piêna? Leben und Tod sind Farben vom selben. Die vitale Seele lässt das Leben in einem klaren Licht erscheinen, in einer Reinheit ohne Rätsel. Das Leben selbst ist ohne Geheimnis. Wer auf Süla Piêna wohnt, Aussteiger, Künstler, Eremit, der sucht die Zeitlosigkeit, Kreativität, Verbundenheit mit den Mysterien des Lebens, mit der unbändigen Schönheit der Natur. Darum leben Menschen abseits der Gesellschaft in Stille. Für den, der die Stille erfährt, hat Süla Piêna etwas Wunderbares. Die Stille, das Sein, der Schein, die Natur.

Es vorherrscht im täglichen Gang eine seelentiefe, heilsame Anmut. Der Mensch ist gleich der Katze, der Kuh, dem Esel. Es tönt der silberne Glockenklang der Jakobskirche, das Krähen des Hahns, das Pferdeschnauben, das Bachgeräusch, das Brummen der Insekten. Die Musik schwingt in der Luft. Die Kuhglocken, das Glasperlen-Spiel, das Schwirren der Rotkelchen, und der Wind, und täglich kommt ein durchtrainierter Mann mit Walking-Stöcken durch das Dorf gestakt, in seinem italienischen Dialekt mit einer unsichtbaren Person palavernd.

Die wahre Natur der Katze

Hinter der Anmut der Katze Noccioline verbirgt sich eine adelige Empfindlichkeit. Spricht man mit der Katze, versteht sie alles. Alles. Die Treue der Katze bietet Schutz vor Realitätsverlust, vor der Gefahr der Auflösung ins Nicht-Existente. Ihre Treue ist Anhänglichkeit voller Ansprüche. Noccioline will Fressen, Schlafen und Zuwendung. Bekommt sie es nicht, fühlt sie sich betrogen. Ein absurder, unversöhnlicher Groll trübt ihre Augen, sorgt für übelgelaunte Blicke. Sie denkt den ganzen Tag an nichts als an sich selber. Sie kümmert sich um nichts, kennt nicht den kleinsten, geringsten, dünnsten Sinn für Pflicht. Die Katze ringt nicht um innere Stabilität, ihre Seele ist stabil.

Die Katze ist Natur. Ihr Fell hat die Farbe und Musterung von buntem Herbstlaub. Ihre Tarnung ist perfekt. Wäre der Mensch etwas kleiner, sagen wir ein Vogel, würde Noccioline sich mit einem Satz auf den Frass werfen, nach kurzem Spiel den Kopf abbeissen, und fressen. Wenn die Gehirnschale zerbricht, macht es Knk.

Der Roman eines Nicht-Existenten

Da der Mann unter Amtsgeheimnis steht und nicht freimütig erzählen kann, was ihm auf dem Herzen liegt, er aber aus einem fürchterlichen, seelischen Druck heraus erzählen muss, um Ordnung in seinem Seelenleben herzustellen, schreibt er auf Süla Piêna seine Erfahrung nieder. Es ist eine Aufarbeitung, er will die Ruhe des Herzens finden. Es gibt nichts abzulehnen, nicht zu erreichen. Er muss nichts sein, nichts werden, nichts leisten. Er kann schreiben, wie er will, was er will. Er ist hors concour. Er mag den Menschen nicht sonderlich.

Würde der Mann schweigen, aus Angst oder welcher Not, wäre er mundtot gestellt, hätte ihm die Verwaltung den Sack über den Kopf gestülpt, wäre er nicht existent. Nichts, das erinnert. Etwas, das sein Gegenüber sich wünscht. Eliminiert, neutralisiert, aus der Welt geschafft. Hinüber. Erde darüber. Birken gepflanzt. So macht gerade für den Nicht-Existenten das Erzählen Sinn, drängt es ihn in das Handeln.

Die Hoffnung auf Erlösung führt ihn zum Schreibpult. Mit dem Hinsetzen zum Schreiben ist bereits einiges gewonnen. Man ist vielleicht noch wehrlos, aber nicht hilflos gelähmt. Und beginnt das Kreisen um den alten Turm, dann raubt man dem gewalttätigen, opaken Tyrannen einen Teil seiner Macht, die Sprache. Die Sprache ist ein Menschenrecht.

Noch weiss er nicht, wie das mit dem alten Turm, noch kreist er.

Alle Tage, an welchen der Mann mit der Angst vor den Konsequenzen ringt, liegen schwer auf der Brust. Er hat in zwei Romanen gezeigt, dass in der Parallelwelt Verwaltung jede Form von Grausamkeit möglich, dass der Mensch zu jeder Grausamkeit fähig. Altbekanntes. Der Abschluss der Trilogie hat die Herausarbeitung des Menschlichen zum Ziel, dass der Mensch zur Liebe, zum Mitgefühl, zur Empathie fähig.

Will der Mensch ins vitale Leben erwachen, muss er eine Entscheidung treffen: will ich aus Liebe handeln, oder lebe ich in Angst?

Weil die Sprache ein Menschenrecht, weil alle Tage der Zorn ihn bewegt, muss er sich sachlich Auskunft über die Realität geben. Mit diesem inneren Prozess beginnt die Seele erneut zu atmen, zu fühlen, sich zu bewegen, wird sinnlich, erotisch, beginnt sich zu dehnen.

Korruption in der Verwaltung ist ganz schwer zu beweisen. Nach dem «Zeroing Out» des Whistleblowers wurde die Verwaltung in einer Exfiltrationsoperation gesäubert. Alle Spuren der entgrenzten Tat sind verwischt. Keine Indizien. Keine Akten. Keine Zeugen. Es gibt kein Mobbing, kein Missbrauch. Niemand fälschte Verträge, niemand fingierte Scheinrechnungen. Keine fünf Millionen auf das Konto einer dubiosen Leipziger Firma C&C-Media. Nichts. Wer der Verwaltung einen Fehltritt vorwirft, wird wegen Verleumdung angezeigt. Ausserdem droht dem Gefängnis, der das Amtsgeheimnis verletzt. Wohlgemerkt, dem Whistleblower wird gedroht, nicht dem korrupten, zahnfaulen Gesindel hinter den Schutzmauern des Stillschweigens, dieses Heer von scheinheiligen Heuchlern, welche mit Vorsatz und voller Tateinsicht und nach Plan ihre Sache unter dem Tisch durchziehen.

Es ist eine Komödie, banal und völlig démodé, eine Komödie.

Reise ins Lächeln

Die Malerin Anna steht da und blickt aus dem Fenster und horcht und schaut den gleichmässig fallenden Regen. Es hat seit vielen Monden auf Süla Piêna nicht geregnet, so sind die Regentage der Anna eine Erlösung. Sie hofft, dass der Regen anhalten wird. Für das Grün. Bald wird es Frühling sein, und dann Sommer, und es ist jetzt schon klar, dass ein sehr trockener Sommer bevorsteht. Der dritte dürre Sommer in Folge. Unlängst riss der Sturm Dutzende Bäume um. Anna blickt aus dem Fenster, vor dem Wolkenhimmel schwebt ein Raubvogel. Ihr Atem hinterlässt phantastische Gebilde auf der Glasscheibe.

Die phantastischen Formen erinnern sie an ihre Bilder. Sie lebt in Bildern, hat Lust grossflächige Bilder zu malen, in das Bild vom Bild einzusteigen, bis das Bild auf Leinwand vor ihr steht.

Wenn nicht jetzt, – wann sonst?

Nah der Frau, am nächsten Fenster, steht ihr Lebensgefährte, ein Mann mit weichen Gesichtszügen, in der ihm eigenen leicht gekrümmten Körperhaltung. Er schreibt an der vollkommen reinen Liebesgeschichte, er hat diese Kindlichkeit sich behalten. Anna liebt ihn sehr.

Noch auf der Flucht aus der kaukasischen Volksrepublik Ṭùùrgistǝn begann er sich Gedanken über die Aufarbeitung seiner Erlebnisse zu machen. Die Romane Die Scheinheiligen und Der Heiligenschein erzählen von Intrige, Mobbing, Machtmissbrauch und Misswirtschaft.

Beide Romane sind erfolglos, doch ist er mit dem Ergebnis zufrieden.

Lassen sich nüchtern denkende Menschen zudem mundtot machen, verblöden sie sukzessiv. Er hat sich von der korrupten Autorität nicht mundtot machen lassen. Er brachte seine Dunkelstunden auf Papier.

Nun will er die Trilogie mit einer Liebeskomödie abschliessen. Sein dritter Roman erzählt die Geschichte des thymotischen John. Erkrankt an Herz und Seele, erschöpft und ausgebrannt, kennt John ein konkretes Ziel: John will die «vollkommen reine Liebe». Er will ein Leben, auf welches menschgeborene Lebewesen ein Geburtsrecht haben: sorglos, liebend, und gelassen entspannt. Das ist das Exposé.

Der Mann blickt auf die Silhouette seiner Frau Anna. Sie trägt ein langes Kleid, sie trägt oft Kleider. Anna ist erotisch.

Was bisher geschah

Es war einmal. Im Erleben fliessen die drei Zeiten zeitlos ineinander. Spricht man über eine Sache nicht, ist sie nie gewesen. Was war?

«Wie der IT-Projektleiter und Ingenieur John Matarishvan seine Vorgesetzten darüber informiert, dass mit Steuergeldern zeitgleich an einem Berufbildungszentrum zwei Schulverwaltungssoftwaren entwickelt werden, eine reguläre Software «Ecoweb» mit einem Regierungsauftrag, und eine Schulverwaltungssoftware «all4schools» unter dem Tisch, von Berufsschullehrer im Internet heimlich vermarktet, geht es Schlag auf Schlag. Der Steuerzahler darf nicht erfahren, dass Verwaltungsangestellte in den Berufbildungszentren die IT-Beschaffungsgesetze unterlaufen, und mit fingierten Rechnungen und gefälschten Verträgen Steuermillionen in ihre Hosentaschen lenken. Es wäre ein Skandal. John gerät ins rücksichtslose Räderwerk der Verwaltung. Wer aus der Reihe tanzt, wird abgesägt. Diffamierung. Schikanen. Repression. Nach einem gnadenlosen Machtkampf mit Regierungsräten und Amtsleiter, welche in ruhiger Besonnenheit und frei von Verdacht ihre Pflicht erfüllen, fällt John in eine beispiellose psychische Krise. Der existentiell bedrohliche Ausnahmezustand führt in den Burnout. Der Ingenieur John Matarishvan scheidet aus der Verwaltung aus.»

Weil der Mann unter Amtsgeheimnis steht, durfte er in seinen Romanen Die Scheinheiligen und Der Heiligenschein nicht die Wahrheit schreiben, doch war er clever und hatte seinen Geistesblitz.

Er fiktionalisierte und verschlüsselte die Korruption in der Verwaltung gerade so, dass alles angedeutet und idealerweise Dichtung und Literatur, und schützte sich so gegen ein Strafverfahren wegen Verletzung vom Amtsgeheimnis. So dachte der Dummkopf sich auf kindliche Art unverwundbar, so gelang es ihm sachlich die Wahrheit zu sprechen, und die innere Sprachbarriere zu überwinden. Er verstand zu entstellen, zu verbergen, dass am Ende nichts mehr richtig, aber alles wahr.

Die wirklich schlimmen Erzählungen wehen aus weit entfernten Orten herüber. Die Romane spielen in der Verwaltung-21st_SM der kaukasischen Volksrepublik Ṭùùrgistǝn, geschätzte achteinhalbtausend Meilen entfernt, östlich von Tsyurikh, südlich von Tyrgyztan, nördlich von Kazakhstan. Das Gute an der Sache, die Volksrepublik Ṭùùrgistǝn existiert auf keiner Google-Map, keine Suchmaschine findet diesen ausweglosen Ort. Die in Gleichschaltung stakende, lawrow’sche Stammeswelt wirkt dermassen grotesk, dass niemand auf die Idee käme, es könnte wahr sein, was hier erzählt wird. Ein Märchen nur.

Innerer Druck schärft den Dingen ihre Form, erzeugt Wirklichkeit.

Der Mann schickte druckfrische Exemplare seiner Romane Die Scheinheiligen und Der Heiligenschein an die grossen Feuilletons, mit der Bitte um eine Buchbesprechung. Erwartungsgemäss ging das Interesse gegen Null. Das war gewünscht. Diese Nicht-Existenz hatte ihren sinnvollen Anspruch. Nirgendwo ist der Wahnsinn des Ruhmstrebens spürbarer als in der Literatur. Man darf monieren, zweitklassige Schriftsteller werden niemals erstklassige, unser Mann aber ist unklassifiziert. Jemand, der nicht im Feuilleton erscheint, über den spricht man nicht, der existiert in der Literatur nicht, der ist nicht vorhanden.

Der paradoxe Zustand der sich selbst bewussten Nichtexistenz.

Die gute Nachricht, das geduckte Desinteresse der Medien ersparte dem Whistleblower eine Menge Ärger mit der Staatsanwaltschaft und den gebundenen Richtern, erzählte er von Dingen, die er nicht erzählen hätte dürfen. So unbeirrt ist die Verwaltung ihrer Finsternis treu, dass es schon eindrücklich, mit welchen Spitzfindigkeiten die korrupten Politiker das Amtsgeheimnis legitimieren. Fakt ist, eine korrupte Verwaltung funktioniert ohne Amtsgeheimnis nicht.

Dem Mann schien die Aufarbeitung seines Traumas gelungen.

Anna ist skeptisch. Ihrer Meinung nach fördern die beiden Romane Die Scheinheiligen und Der Heiligenschein die Bagatellisierung und Vertuschung durch das korrupte Gesindel. Die Geschichte nimmt nur scheinbar literarische Gestalt an. Das Geheïmniɀe ist keins, die Spannung will nicht aufkommen. Die Romane sind Nebelpetarden.

– Etwas stimmt nicht an deinem Narrativ, sagt Anna. Wozu verschlüsselst du die Romane, wenn sie keiner zu lesen bekommt?

Ihre Stimme tönt leise, mit tiefen, vollen Brusttönen.

– Was hätte ich sonst tun sollen?

– Die Wahrheit sprechen, sagt Anna. Haltung zeigen.

– Ich alleine gegen den opaken, autoritären Staat?

Er hätte sich selber geschadet. Der einzige Weg sich seinem Schmerz anzunähern, und über das Erlebte sprechen zu können, bestand in der Fiktionalisierung, und in der Annahme, dass die Romane keiner liest.

– Es wäre ein Zeichen von Menschlichkeit gewesen, sagt Anna.

– Gäbe ich den stolzen Berglöwen, und erzählte die Fakten, dass mit Ṭùùrgistǝn der

Kanton Thurgau

gemeint, würde ich die «Rote Linie» überschreiten. Sie drohen mit Gefängnis. Wohin fliehen?

– Egal. Hauptsache Klartext.

– Will ich mich im eigenen Blut wälzen?

Anna sieht, dass ihr Mann sich in Rage redet, und sorgt sich. Sie geht in die Küche und bringt kurz darauf zwei Tassen Grüntee.

– Und wenn du dir in deiner Angst alles nur einbildest?

– Nichts ist schwerer, als über diese schiere Widerwärtigkeit zu schreiben. Schmerz ist kein Objekt in dieser Welt. Diese Objektlosigkeit macht es fast unmöglich, Schmerz in Worte zu fassen.

Anna hält ihre Tasse beidhändig und schlürft ihren Tee.

Nein. Er braucht jetzt nicht die Aufmerksamkeit der Welterklärer, die ihm sagen, wie er es zu machen hat. Es geht hier nicht um Befindlichkeiten, es geht um die Zerstörung seiner beruflichen Existenz. Er verlor seinen Wertekompass. Seine Seele hatte sich verflüchtigt. Der existentiell bedrohliche Ausnahmezustand hatte ihn ausbrennen lassen.

Mit den Schmerzen hatte er die Fähigkeit verloren, die Welt um sich herum wahrzunehmen und sich zu ihr in Beziehung zu setzen. Ab einem bestimmten Punkt war John nur noch Schmerz gewesen, und dieser Schmerz hatte sich ins Unermessliche gesteigert. Alles, was Dasein ausmacht, war nur noch von dieser einen Sache bestimmt gewesen.

Er mied nach seinem krankheitsbedingten Ausscheiden die Gesellschaft. Er suchte, umgeben von Natur, die Souveränität des pünktchenhaft kleinen Menschentieres, das in Ruhe gelassen werden will, von niemand etwas fordert, von keinem etwas erwartet.

Er hatte Erfolg mit seiner Strategie. Keine Einsatzkraft zerbrach mit dem Rammbock seine Tür. Kein Entmenschter setzte seinen Springerstiefel auf seine Kehle. Kein Psychotiker der Jungen Tat schlug ihm mit dem Beil den Schädel ein. Kein gebrochener Rippenkasten. Keine Hämatome im Geschlechtsbereich. Keine Handschellen in Bauchlage. Keine Vorladung. Kein Graubünden. Kein Hefenhofen. Kein loyaler Verwaltungsrichter. Keine Untersuchungshaft. Keine Psychiatrie. Keine mediale Gewalt. Er hatte das Amtsgeheimnisunterlaufen, sich nicht stummtot machen lassen, und sich chancenlose Gerichtsverfahren erspart. Keine Verspottung, Verhöhnung, Vernichtung mehr.

– Du hättest dir Rechtsbeistand nehmen können, sagt Anna.

– Sinnlos. Das Strafrecht in Ṭùùrgistǝn ist ein Potemkin’sches Dorf. Die Einschätzung, ob es sich um eine Bagatelle oder ein schweres Verbrechen handelt, liegt in den Händen des korrupten Gesindels. Der Hinweisgeber hat in diesem Lang keine Rechte. Gegen Polizeigewalt, Amtsmissbrauch, und Richter die korrupte Beamte decken, kann sich niemand wehren. Das Korrupte hat unbeschränkt Steuergelder zur Verfügung, die Richter stehen auf dem Lohnzettel der Parteien, die Juristen der Departemente kennen alle Kniffe, und die Medien werden süffig diffamieren. Das bricht dem frechen Whistleblower das Genick.

Knk.

Das wars.

Der Whistleblower steht ausserhalb des Rechts. Er vollbringt ein Werk der Schande, verleumdet brave Menschen und ein sauberes Land.

– Braucht es diese Empörung? Du hast ein schwaches Herz.

– Eben. Habe ich Lust nur für einen Tag ins Gefängnis zu gehen.

– Dein heiliger, blinder Zorn bringt dich um.

– Der Zorn gibt mir Gestalt. Im Zorn bin ich jemand.

– Du hast zwei Herzoperationen hinter dir, mach weiter so.

– Nun gut. Ich beuge mein Haupt. Phantasie. Theater. Kartenhaus. Hirngespinst. Umso besser. So ist’s Literatur. Ich bin die Komödie.

Anna öffnet behutsam das Fenster, nur einen Spalt.

Er greift unter den Tisch und zieht eine angebrochene Flasche Edelbrand hervor, schenkt sich ein Glas voll, lässt die Flüssigkeit kreisen, und stürzt den Schnaps. Hilft bei Hirngespinsten, klart den Verstand.

Anna hört Glas, Eiswürfel, Einschenken. Seine Hand zittert.

– Und was ist mit der Liebe?, fragt sie leise.

– Gib mir noch ein wenig Zeit, dann werde ich wie keiner lieben.

– Super. Das ist grossartig, John.

Es dunkelt, die Krähen fliegen nach Hause. Anna schliesst das Fenster. Ihre Stirn hatte sich beschattet, ihre Wangen sind blasser geworden. Anna hebt den Kopf, wendet sich an ihren Mann. Es geht ihm nicht gut, er trinkt viel. Würde er schreiben, was die Menschen lesen wollen, und nicht versuchen das Unsagbare zu erzählen, hätte er diesen oder jenen Literaturpreis gewinnen können. Dazu müsste er aufhören zu trinken, doch wird er nicht aufhören zu trinken.

– Du trinkst.

– So bin ich eben.

– Das ist nicht wahr. Du bist nicht so.

– Hör auf! – jetzt!

Und der Mann nahm sich auch an diesem Tag hoch und heilig vor, kein Schluck Alkohol mehr, auch wenn dieser Edelbrand eine besondere Medizin, weil die Meisterwurz eine Heilpflanze, welche böse Geister verscheucht. War er betrunken, dann lösten sich die Entfernungen, klangen ihm seine Texte schöner als irgend etwas, eine lichte Melodie, welche den Himmel streift, dann waren die Dinge, wie sie sind, und dann erschien seine Frau Anna zum Verlieben schön.

– Lass uns Liebe machen.

– Ich muss hier noch… ich habe noch zu tun.

– Folg mir, Dummkopf.

Anna lief die Treppe hoch, und er folgte ihr, und als sie im Bett umschlungen und ineinander, fühlte sich das Leben überreif an, alles war prall und aufgelöst, und danach schlief das Liebespaar ineinander verschlungen, nicht Mann, nicht Frau, etwas drittes Ganzes. Voila.

In der Nacht hatte der Mann einen Traum. Er durchwanderte eine Stadt, keine bestimmte Stadt, mehr ein städtischer Schauplatz voller Zierart. Er hatte sich verlaufen, und sein Hab und Gut in einem Hotel zurückgelassen. Den Namen des Hotels und die Strasse hat er vergessen. Er ist ohne Geld und Identität, ohne Ziel und Wollen. Zerschlissene Jeans, lange Haare, ausgelatschte Turnschuhe. Er flaniert planlos über einen Marktplatz. Ein Film-Set. Makellosen Menschen tragen mittelalterliche Kostüme und verkaufen makellose Produkte. Da ist die Hitze, der Teergeruch der Strasse. Er weiss nicht, wie er hätte fragen können, wer er ist, und wo das Hotel liegt, dessen Namen er sich nicht erinnert.

Er kommt zu einer Reihe mittelalterlicher Riegelwerkhäusern unter schattigen Baumkronen. Im Zentrum ein Ziehbrunnen. Es heisst, in diesen Häusern logieren die Schauspieler der Truppe Mummenschatz, ein weitbekanntes Ensemble, das mit Verkleidung arbeitet.

Allgemeinen Kommen und Gehen von Menschen. Er sitzt unbeachtet an einem Tisch und trinkt ein Bier. Wie er eine Lärche singen hört. Es ist die Stimme einer jungen Frau. Sie trägt eine Kapuze über dem Kopf, ihre strähnigen Haare spriessen wie Zwiebel. Sie schenkt ihm im Vorbeilaufen ein zugewandtes, schelmisches Lächeln. Das sich Erkennen von Seelengeschwistern, das romantisch-verzweifelte, und auch grausame Einssein von Jugend, wie in der ersten Liebe nur.

Zauber der Anfänge. Es ist seine Jugendliebe Carmen. Eine junge Frau in zwei Nummern zu grossen Kleidern, mit isländisch gezogenen, schelmischen Augenlidern. Im Traum weiss er, dass die letzte Begegnung über vierzig Jahre zurückliegt. Man rauchte welches Zeug in der Clique auf der Matratze in der Garage. Psychodelische Musik. Vielleicht ein Kuss, gefummelt, miteinander geschlafen. Ein leidenschaftlicher Sommer. Dann verloren sie sich aus den Augen. Er begann ein Ingenieurstudium, war über Jahre mit Formeln absorbiert. Sie hat ihn nicht gesucht. Irgendwann erfuhr er von ihrem Tod. In Wien. Mehrmals Entzug. Heroin. Er registrierte es. Mehr war nicht.

Sie liegen in einer Kammer auf einer Matratze, und beide nackt. Er riecht ihren Geruch. Sie flüstert: wo warst du? Er weiss nicht zu antworten, weiss nicht, wo er «war», er weiss nicht, wo er ist, und dann ist sie halt doch nicht gestorben. Ich dachte dich tot. Sie schüttelt den Kopf. Offensichtlich lebe ich noch. Wie er auf dem Bett darüber nachdenkt, was er antworten könnte, du warst plötzlich fort, und mit der Antwort zögert, kleidet sie sich an und springt zur Tür.

Warte, Carmen. Eine Minute. Bitte. Lass die Tür noch zu. Wohin willst du gehen, Carmen? Da draussen ist niemand. Was willst du dort? Bleib bei mir. Es wird schwer für mich, wenn du gehst. Lass uns mutig sein. Gestern, das ist nur Erinnerung, und wenn wir aufwachen, ist alles gut. Schliess die Türe. Komm in meine Arme. Bitte, bleib.

Der Traum ist von einer luziden Realität, kreativ, lebendig, dass ihm, wie die Tür einschnappt, sein Brustschmerz unerträglich wird, und er mit einem Ruck aufwacht. Er alleine im Bett.

Der Mann liegt erschöpft und verwirrt im Dunkel neben seiner schlafenden Anna. Carmens schelmisches Lächeln vor Augen, und ihre abgrundtiefe Verzweiflung, ihre traumatische Angst und Verlassenheit ist im dunklen Hintergrund spürbar. Er weiss, dass er mit dem Morgengrauen ihr Bild endgültig verlieren wird. Keine Liebe nach ihr besass diese Intensität und Leidenschaft, und nie, nie wieder war das Lieben so schmerzhaft gewesen. Er lauscht ihrer Stimme, entzückt an ihrem schelmischen Lächeln, riecht ihren Liebesgeruch an seinen Fingern.

Als der Mann in dieser Nacht nicht wieder einschlafen kann, gestört vom lauten Klopfen seines Herzens, löst er sich in aller Stille aus dem Bett und gleitet auf leisen Sohlen in sein Schreibzimmer, sitzt hinter dem schweren Schreibpult. Warum erscheint ihm nach vierzig Jahren im Traum seine erste Jugendliebe? Warum kann er ihre Stimme hören, ihr Geschlechtsgeruch riechen? Warum bleibt sie in seinem Herzen?

Er öffnet ein Türchen und greift sich eine teure, bis zum Korken hinauf gefüllte Flasche Edelbrand. Er schenkt sich zwei Fingerbreit von dem aromatisch-bitteren Enzianschnaps in ein Glas, lässt die Flüssigkeit kreisen. Der Mann trinkt in kleinen Schlucken, hält den Edelbrand im Mund. Eine wohlige Wärme senkt sich in seinen Körper.

Der Schriftsteller wartet auf das Erscheinen seines Helden John. Ein wichtiges Gespräch steht an.

Sein Romanheld John wurde auf dem Reissbrett als ein kämpferisch veranlagter, thymotisch empfindlicher und reizbarer Idealist entworfen. Auf Papier trägt der Naturmensch John einen gutsitzenden Anzug, ist sein eigener Leichenbeschauer, um seine Stirn schwirrt die Raben-Romantik der österreichischen Heimatliteratur.

Der Mann ist inzwischen betrunken, doch merkt man es ihm nicht an. Ein kleines Klopfzeichen meldet sein Kommen.

John erscheint um Stunden verspätet, lehnt an der Schreibpultkante.

Der Schriftsteller sieht einen, auf verwegene Art hübschen, hageren Mann, gute Figur, männlich, Ingenieur, in T-Shirt und Shorts und Turnschuhen, den man so um die vierzig Jahre alt schätzen würde.

– Da ist er, mein Held. Ich habe auf dich gewartet.

– Lass uns keine Zeit vergeuden, sagt John.

Seine Stimme klingt friedvoll leise, mit melodischen Obertönen.

– Wir haben einiges zu besprechen, sagt der Mann. Der Mann offeriert eine Brissago. John nimmt dankend an.

– Meine Fragen zuerst, sagt sein Romanheld John.

– Fasse dich kurz.

Der Mann gibt Feuer. Sie paffen die Brissago. Der Duft ist exzellent.

– Ich muss alles über mich wissen. Verstehst du. Alles.

– Was willst du wissen?

John dreht sich vom Mann ab, überfliegt die Bücherwand.

– Du willst von der «vollkommen reinen Liebe» schreiben?

– Ja. Sofern es mir gelingt. Schreiben ist schwer.

– Wie ist der Klang meiner Stimme?

– Deine Stimme zittert wie ein Herbstblatt. Melodisch auch.

– Und mein Gesicht?

Der Mann denkt nach, schaut von der Seite auf seinen Protagonisten.

– Du warst fünfzehn Jahre Verwaltungsangestellter. Blaues Hemd. Krawatte. Informatiker. Bewegungsarmut. Zehn Schritte zwischen Aktenschrank und Computer. Das formt das Gesicht.

– Du sagst, ich habe das Ungesicht eines Beamten?

– Ja. Irgendwie schon. Stress. Rückenschmerzen. Bluthochdruck.

John nimmt die Flasche Edelbrand und schenkt sich ein.

– Ich will ein moderner, schöner Held sein.

Der Mann schweigt lange. Dann neigt er den Kopf.

– Gut. Ich muss noch nachbessern, doch – du wirkst sympathisch.

– Ich will meine natürliche Stimme und ein faltenloses Gesicht. Ich will Frauen, und schnelle Autos. Erfolg. Braungebrannt.

– Jetzt gehst du zu weit. Status und Reichtum sind nicht alles.

Es herrscht für einen Augenblick Stille.

– Ich will nicht sein wie Du. Ich will Huldigung, Zerstreuung, Vergnügen. Diese Liebe, verstehst du. Ich will atmen und geniessen.

– Dein Ehrgeiz freut mich. Wir werden sehen.

– Da gibt es nichts zu sehen, sagt John.

– Ich muss dich kennenlernen, ich muss deine Seele sehen.

Meine Seele sehen

, flüstert John. Habe ich eine? Warum nicht.

John stakt mit eckiger Hüfte auf dem Laufsteg durch das Zimmer.

– Und? War es das nun? Hast du meine Seele gesehen?

John wendet sich der Bücherwand zu. Er ist betroffen. Er flüstert.

– Ich will in Liebesrausch geraten. Die Liebe soll zur Ekstase werden. Göttliche Ekstase. Kernschmelze. Grosses Kino. Universal.

Auch der Mann ist aufgestanden, durchläuft unruhig den Raum.

– Wir werden sehen. Ich weiss noch nicht… ich habe da ein paar gute Ideen. Nur soviel, die Liebe gelingt. Du erhältst eine goldene Zukunft spendiert, so du deine Gefühlslosigkeit überwunden hast.

Es herrscht lange Stille. Tiefes Atmen.

– Ich will nicht in deiner miefigen Bürgerlichkeit dahinvegetieren.

– Nein. Das musst du nicht.

– Du hast Angst. Ich habe keine Angst. Ich bin ein Held.

John überblickt die Bücherwand. Er flüstert, zu sich gesprochen.

– Matarishvan ist Don Quijote, ist Magnitski, ist Robinson Crusoe.

– Das… kein schlechter Ansatz. Du darfst dir Grösseres im Leben erhoffen, als in deinem profanen Leben sonst möglich wäre.

John bekommt sein Bild, schiesst in Afrika auf der Grosswildjagd einen fetten Löwen, besteigt im Zelt nach getaner Pflicht die mitgeführte weisse Frau, jettet nach NY und leitet den PEN-Schriftstellerkongress.

– Ich weiss, was ich kann, und was für ein Leben ich leben will.

– Du wirst die Liebe kennenlernen. Ich verspreche dir, nah ist das Land, dass sie Leben nennen. Das wird ein grosser Roman der Weltliteratur. Eine Schreibbedingung muss erfüllt sein. Wir müssen auf unseren Reflexionsabstand verzichten. Gib mir die Hand.

John stellt sich vor den Mann, und pocht auf den Tisch.

– Ich bin keine schäbige Figur deiner Romane!

– Nur eine schmale Wand zwischen uns; durch Zufall.

– Ich bestehe auf Distanz zu deinem Geistesunrat! Ich bin ein, von dir klar getrenntes Gegenüber! Ich bin John! Ich bin John!

Etwas Schrilles, Schneidendes, Unangenehmes in seiner Stimme.

Nackte Fusstritte. Beide Männer horchen auf. Knarrende Treppenstufen, als würden die Gelenke eines alten Mannes knarren. Der Augenblick, wo Anna im Hemdchen barfuss die Treppe herunterhüpft.

– Leise. Du hast Anna aufgeweckt.

John rutscht von der Tischkante, und stellt sich ordentlich hin, und kämmt in einer beiläufigen Geste die Haare mit den Fingern zurück. Anna tappt am Arbeitszimmer vorbei in die Küche und öffnet den Kühlschrank. Stille. Nachdenken.

– Schatz? Haben wir keine Milch?

– Im Kühlschrank.

– Nein.

– Dann haben wir keine.

Ein unmutiges Geräusch. Der Kühlschrank wird zugeworfen. Der Mann gibt John ein Fingerzeig zu verschwinden. John klopft mit dem Fingerknöchel auf dem Schreibpult, und ist fort.

– Butter haben wir auch keine. Jemand muss ins Dorf hinunter.

– Ich gehe, ruft der Mann.

– Jetzt.

– Gleich. Ich mache hier noch fertig.

Es blieb ihm bis zur Ladenöffnung Zeit, also blätterte der Mann in seinen beiden Romanen Die Scheinheiligen und Der Heiligenschein. So schreiben Hinterbänkler im Schulaufsatz. Eine Aneinanderreihung von Dinge, die man weiss. Die Sonne geht auf. Der Kochtopf hat einen Deckel. In der Verwaltung gibt es Korruption. Sätze ohne Essenz, welche eingebildet hoch zu Ross traben, den flüchtigen Blick nicht wert.

Die Naivität seiner Romane lassen nur einen Schluss zu, nach fünfzehn Jahren Verwaltung, und unablässiger Förderung der Geistesarmut, fallen über die Jahre Hirnzellen aus. Man verblödet –!

Offensichtlich hat er die Schreibarbeit verlernt, und ist unfähig, einen Roman über die «vollkommen reine Liebe» zu schreiben.

Anna und ihr Mann beim Frühstück

Mann und Frau sitzen beim Frühstück. Sie bestreicht ihr Croissant.

Vor ihr liegen die neuen Manuskriptseiten ihres Mannes.

– Du warst unruhig in der Nacht?, fragt Anna.

– Ja. Ich habe Merkwürdiges geträumt. Ich hatte eine Begegnung mit meiner ersten Jugendliebe Carmen.

– Ich kann lesen. Ihr habt miteinander geschlafen.

– Das war nicht das Thema. Sei nicht so empfindlich.

– Du hast in deinen Träumen Sex. Trivial, findest du nicht?

Er starrt mit übernächtigten Augen auf ihr Croissant.

Sie aber liest in seinem Werk dieser Nacht, blättert um.

– Die Frauen in deinen Träumen sind… sehr junge Mädchen.

– Wie meinst du das?

– Ein bisschen demütigend. Gib mir die Butter.

– Für wen.

Er reicht ihr die Butter.

– Der neue Roman erzählt von der «vollkommen reine Liebe». Das ist etwas anderes. Ausserdem, es ist mein erster Liebesroman. Es ist ein Experiment. Ich muss an den Figuren noch arbeiten.

– Siehst du die Frauen, wie sie sind?

– Ich denke schon. Umformen kann man immer.

Anna isst mit abstehendem Kleinfinger ein Croissant.

– Dieser John. Wird er jemals lieben?

– Was redest du da? Natürlich wird er lieben.

– Du erfindest mädchenhafte Frauen, die vollkommen und sauber sich perfekt den Liebeswünschen des Helden hingeben.

– Was zum… ich erfinde gar nichts, dafür fehlt es mir an Phantasie.

– Erzähl mir mehr von dieser Eli.

Der Mann entzieht ihr sein Manuskript und geht ins Arbeitszimmer. Dort wird er Stunden auf dem weichen Teppich auf- und abschreiten. Dann überträgt er die tragische Geschichte von Eli & John aufs Papier.

Die tragische Geschichte von Eli & John neu erzählt

Zwischen Eli und John gab es eine Lebensphase in tiefer Harmonie, ein Leben als behaglich träg strömender Fluss. Beide fühlten sich beseelt, jung und kreativ. Neben diesem tiefen Einverständnis arbeitete das Liebespaar, aus Freude an der Kreativität, an ihren Projekten. Eli malte für eine Bilderausstellung. John leitete sein überregionales IT-Projekt. Eli verschwand in ihren Farben und ihren Formen auf der Leinwand. Ihr künstlerisches Talent brachte ihr Erfolg. Ihre Bilder waren gefragt. John lebte in der Entwicklung einer Schulverwaltungssoftware. Sein IT-Projekt war dem Ingenieur eine Herzensangelegenheit. Ob im Büro, auf dem Spaziergang, oder im Kino, John sinnierte welchen technischen Lösungen nach, und gleichzeitig war der entspannte John humorvoll und herzlich, war zärtlich zu Eli, besass die beflammten braunen Augen eines Löwen, und John war ein guter Liebhaber.

Die Probleme begannen, als John seinen Vorgesetzten Hinweis auf Korruption in Millionenhöhe gab. John konnte nicht glauben, dass die Verwaltung alles tat um die Straftat zu vertuschen. Er glaubte in seiner Naivität, auch die Verwaltung wolle das Gute, die Ordnung. Die Niederträchtigkeiten und Repressionen der korrupten Verwaltungsangestellten frassen sich in sein Herz, und spalteten das Liebespaar.

Indessen gab es immer wieder Sterne der Hoffnung.

– Guten Morgen, sagt Eli heiter. Du bist ganz blass im Gesicht.

– Ach, berufliche Probleme. Wozu dich damit belasten.

– Männer lösen Probleme. Das ist ihr Beruf. Habe ich recht?

Eli lachte fröhlich und war unglaublich schön. Dann sassen sie als Paar eng zusammen, redeten über Kunst, tranken Wein, assen Kleinigkeiten, und taten so, als sei alles in bester Ordnung, und Eli konnte sich ihm zuwenden und küsste ihn auf den Mund. Zwei Menschen hätten nicht glücklicher sein können. Doch wurden solche Momente seltener.

John sprach nicht über seine berufliche Situation, doch entging ihr nicht, dass John zunehmend zermürbter, seine Nerven gereizter, und die Augen des spannungsgeladenen Ingenieurs schauten kalt, funktional, direkt das Ziel fassend, analysierten und beurteilten, rechtfertigten.

Aber er schrie nicht, seine Worte kamen leise und kurz. Nie schien der Zorn ihn selbst zu ergreifen, aber strahlte von ihm aus, und seine Gesichtszüge wurden hart. Es geschahen kleine Verletzungen. Eli versuchte das Gespräch. Ihre Stimme belegt, als wäre sie erkältet.

– Heute ist einer dieser merkwürdigen Tage, sagt sie.

– Was ist denn heute?

– Du fehlst mir. Ich brauche Beziehung.

– Ich schreibe noch den Bericht fertig, dann können wir reden.

– Ich finde, du arbeitest zu viel.

– Steh nicht so herum. Ich kann mich nicht konzentrieren, Eli.

– Du könntest dich um mich kümmern.

– Schluss damit, ja? Es ist mein Beruf. Ich werde dafür bezahlt.

John lebte als Ingenieur und IT-Projektleiter phasenverschoben in seinem äusserst schwierigen, verwirrenden und widersprüchlichen Paralleluniversum, kämpfte gegen eine verruchte Verwaltung, die als Lösung des Konfliktes den Hinweisgeber isolieren und eliminieren will.

In der Technik hat der Mensch unglaubliche Fortschritte gemacht, und doch ist er der gleiche geblieben, der er schon vor Tausenden von Jahren war: das kämpfende, gierige, neidische, kummerbeladene Wesen.

In der Verwaltung herrscht eine äusserste Form der Grausamkeit.

Eli ihre romantische Verzweiflung ob seiner Dummheit war herzzerreissend. Sie war mit Sicherheit die wahrhaftigste Frau, die je auf der Suche nach der verlorenen Liebe Geschirr zertrümmerte, die nicht begreifen konnte, wie deformierend das notorische Käfigdasein in der Verwaltung auf einen sensiblen Mann einwirkt. John stand früh morgens auf, arbeitete bis tief in die Nacht, wurde in seiner Denkweise analytisch. Er war freundlich und zärtlich zu Eli, aber sein Blick kam aus einem Helm, auch wenn er keinen trug, und wie mehr Geschirr Eli auf seinem Kopf zertrümmerte, so fremder und ferner, kleiner wurde er.

– Ich brauche deine Nähe, John.

– Ja. Eli. Ich auch. Lass mich bitte das hier fertigmachen.

John wollte ihre Hand nehmen, sie zog ihre Hand weg.

– John? Ich brauche Liebe.

– Du nervst, Eli. Siehst du nicht, dass ich zu arbeiten habe.

Der Zauber der Anfänge war verschwunden. Eli weinte lautlos, und ihre Schultern bebten, und sie wies seine kleinen Zärtlichkeiten zurück, und sie war entmutigt, und sie wollte allein sein, hängte ihm seine Lieblosigkeit an, wünschte sich ein bewegtes Leben, nicht diese perspektivlose Hungerkiste, und verlor immer häufiger ihre Fassung, und sprach immer häufiger von Trennung. Sie will ihr Leben zurück.

– John. Ich verlasse dich.

– Bitte. Keine Szene jetzt. Kann ich etwas für dich tun?

– Zu spät.

– Bitte. Ich bitte dich. Mach mich nicht zum Idioten.

– Du bist ein Träumer John, und ich bin längst dein Traum gewesen.

Sie schmiss die Tür zu. Er glaubte nicht daran, dachte: leeres Gerede, doch verfinsterte sich sein Gemüt. Einstweilen galt es als IT-Projektleiter hart und karg zu sein wie auf einer Expedition. Der wackerste aller IT-Projektleiter kam am Arbeitsplatz immer mehr unter Druck, arbeitete mit Ausdauer eines Besessenen, stützte seine Seelenweichheit mit Eisenkonstruktionen, um das IT-Projekt fertigstellen zu können, und dieses Hamsterrad konnte er nicht verlassen. Er konnte nicht. Er bildete sich ein, er bedeute der Verwaltung etwas, habe als IT-Ingenieur Rang und Namen, dabei zersetzte er mit seiner Verbissenheit seine Gesundheit, und bekanntlich gibt’s für solche Verrückte kein Dankeschön.