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Zurückhaltend, schon fast hanseatisch gradlinig kommt Cover des neuen Romans von Karl-Heinz Knacksterdt daher, aber die Story hat es in sich - allerdings keine Gradlinigkeit! Sex and Drugs, dazu das Auffinden eines Toten in einer spektakulären Weise an einem besonderen Ort - Kriminalhauptkommissarin Linda Barowski und ihre Kolleg*innen sind gefordert und zugleich betroffen. Warum nur ist gerade dieser Tote das Opfer eines besonders grausamen Mordes geworden? Drogenhandel und Rotlichtszene sind das Handlungsumfeld, Liebe und Tod - beides begegnet uns in diesem mit liebevoll beschriebenem Lokalkolorit erzählten Oldenburg-Kriminalroman.
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Seitenzahl: 278
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Personen in Ermittlungsgruppe ‚MORD‘ in ‚Drogen‘
Linda Barowski, Gruppenleiterin
Gerold Fasner, Chef, ehem. Leiter „Mord“
Paul Lobisch
Berenike (Niki) Schneider
Daniel von Stetten
Claudia Mansholt
Sylvia Tebben
Will Porter
Thomas
Britta
Die Interne
Dietmar
Elvira Wenzel
Manfred Knirr (abgeordnet)
Bernhard Scholl
Bernadette Hofreiter
Polizeirat Mommsen, Dezernatsleiter
Sonstige Personen
Humphrey (Peer)Wenders, Bordellbetreiber
Jeanette, Dienstleistende
Bogdan, Türsteher
Paola, Dienstleistende
Tarik Ben Amir und Söhne
Pjotr Tscharkow, Jerome Messiers, Tom Brinkmann (Team)
Erasmus van Delden, Mönch
Frerich Porz, Geschäftsmann
Orte
„Club Elektra“ im Bahnhofsviertel
Penthauswohnung Wenders, Bremer Strasse
Wohnung Linda Barowski, Dobbenviertel
Wohnung Familie Martinsen, Dobbenviertel
Südwestturm alte Cäcilienbrücke
Helfer
Tina von Wellinghof (Spaniel), Drogenspürhund
Buddy (Berner Sennehund), pensionierter Fährtenspürhund
Inhaltsverzeichnis
Kapitel 01 Es gibt eine Leiche Sonntag 20.9.2020
Kapitel 02 Einsatz Montag 21.09.2020
Kapitel 03 Der ‚Club Elektra‘ Mitte 2016
Kapitel 04 Eine ehrenwerte Familie Januar 2016
Kapitel 05 Der Prior Ende Juli 2017
Kapitel 06 Erfahrung eines Polizisten März 2019
Kapitel 07 Die zweite Razzia Ende Juni 2019
Kapitel 08 Geschäfte, Geschäfte Im Juli 2019
Kapitel 09 Erste Begegnung Anfang März 2020
Kapitel 10 Streit im Penthaus Im Juni
Kapitel 11 Die Martensens Im Juni
Kapitel 12 Die Party bei Humphrey Im August
Kapitel 13 Erfolg der Drogenfahndung Im August
Kapitel 14 Befragungen Wenders und Porz Ende August
Kapitel 15 Bümmerstede Anfang September
Kapitel 16 Geheime Absprachen Dienstag 15.9
Kapitel 17 Beginn der Ermittlungen Montag 21.9
Kapitel 18 Weitere Ermittlungen Montag 21.9
Kapitel 19 Befragung möglicher Zeugen 21.9
Kapitel 20 Der Hund Buddy Montag 21.9
Kapitel 21 Im Team Montag 21.9
Kapitel 22 Nachfragen Montag, 21.9
Kapitel 23 Befragung Humphrey Wenders Dienstag 22.9
Kapitel 24 Puzzlesteine Mittwoch 23.9
Kapitel 25 Verdächtige Donnerstag 24.9
Kapitel 26 Schlag auf Schlag Freitag 25.9
Kapitel 27 Vernehmung Wenders Freitag 25.9
Kapitel 28 Wochenende 26./27.9
Kapitel 29 Vernehmung Pjotr Tscharkow Montag, 28.9
Kapitel 30 Vernehmung Jerome Messiers Dienstag. 29.9
Kapitel 31 Vernehmung Brinkmann Dienstag 29.9
Kapitel 32 Vernehmung 2. Teil Mittwoch 30.9
Kapitel 33 Der tiefe Fall Donnerstag 01.10
Kapitel 34 Neue Konstellation Donnerstag 1.10
Kapitel 35 Erfolge Freitag 3.10
Kapitel 36 Auf des Messers Schneide Montag 6.10
Kapitel 37 Finale Dienstag 7.10.
Kapitel 38 Abschluss Donnerstag 9.10.
Linda Barowski / 20:00 Uhr
In der letzten Woche hatte sie ihren 35. Geburtstag gefeiert. Wie ständig in den letzten Jahren hatte ihre Mama gemeint, dass es nun doch eigentlich Zeit für eine feste Verbindung sei, was jedoch jedes Mal zu Streitgesprächen führte.
Heute an diesem Sonntag wollte sie Mord, Totschlag, Vergewaltigungen und Ähnliches hinter sich lassen, alles wenigstens für ein paar schöne Stunden vergessen und mit ihrem Freund und Geliebten Pit Paulsen diesen Tag, nein, besser den Abend feiern; vielleicht ergab sich daraus etwas, was Mutter erfreuen würde.
Pit und sie hatten sich auf zwanzig Uhr, ganz romantisch, an der Siegessäule am Friedensplatz verabredet, und Linda hatte sich besonders schick gemacht. Ihr langes blondes Haar fiel ihr in weichen Locken bis auf die nackten Schultern, denn sie hatte den neuen blauen Pulli mit dem U-Boot-Kragen angezogen, dazu eine weiße Jeans aus einem Edelladen in der City „so viel Glanz muss manchmal sein“ hatte sie gedacht. Das dünne Goldkettchen mit dem kleinen Kreuzanhänger, ein Geschenk von Pit, zierte ihren schlanken Hals.
Sie wollten an diesem Abend einfach nur zusammen sein und es sich nach einer Runde durch die Stadt dann im Garten hinter Lindas Haus gemütlich machen.
An diesem warmen Spätsommerabend bummelten beide eng umschlungen durch die gut besuchte Innenstadt, in der ihnen anscheinend nur gut gelaunte Menschen begegneten – kein Wunder nach den vorhergegangenen kühlen Tagen, jetzt war aus Südwest zwischen dem Hoch ‚Gernot‘ und dem Tief ‚Veronika‘ feucht-warme Luft nach Mitteleuropa geströmt. Andere verliebte Paare, junge Familien mit herumtollenden Kindern, Eltern, Kinderwagen oder Buggy schiebend, ältere Damen, schick gekleidet, mit ihren Hunden – die ganze Stadt war an diesem Abend anscheinend auf den Beinen.
Als sie durch die Lange Straße in Richtung Lambertikirche schlenderten, kam Pit eine Idee. „Wollen wir uns einen großen Eisbecher gönnen?“, fragte er, als sie am Eiscafé, das erfreulicherweise geöffnet hatte, vorbeikamen.
„Och nö, komm, ich möchte lieber in unser Stammlokal auf ein Weizen, da sitze ich so gern“, antwortete Linda und wollte ihn fortziehen, am Eis vorbei, aber Pit meinte, dass ihr Lieblingslokal pandemiebedingt geschlossen haben könnte.
„Wir sollten doch ein Eis holen und uns damit am Denkmal hinsetzen!“
Schmollend willigte Linda ein, viel lieber wäre sie bei der „Brückenwirtin“ eingekehrt, einem gemütlichen Lokal gleich neben der Cäcilienbrücke, in dem sie fast schon Stammgäste waren.
„Aber nachher gehen wir noch bis zur Brücke, ich mag so gern die Kähne vorbeiziehen sehen!“, meinte Linda und bestellte sich fünf Kugeln von ihren Lieblings-Eissorten.
„Gut, genehmigt“, meinte Pit, er willigte fast immer in ihre Vorschläge ein und so fanden sie sich nach einer Weile am Kanalufer wieder. Ein Lastkahn, nicht mehr von der alten Brücke gehemmt, zog gemächlich auf dem Kanal vorüber, noch lange konnten sie seine Positionslaternen erkennen.
Die Brücke hatte im Verlaufe vieler Jahre ihre Pflicht getan, wenn auch manchmal nicht ohne Murren und Knurren, hin und wieder hatte sie sogar gestreikt. „Eine Brücke ist auch nur ein Mensch“, hatte Pit dann gesagt, wenn er wieder einmal auf dem Weg nach Osternburg über die Amalienbrücke fahren musste. Mit dem Rad wäre es kein Umweg gewesen, aber er nahm auch gern einmal seinen Wagen, eine Uralt-Karre aus den 80ern, die er sehr liebte. „Ich würde wahrscheinlich auch streiken, wenn mir die Hitze zu groß wäre!“, hakte er dann zumeist das Thema für sich ab …
Vor etwa einem halben Jahr war mit Hilfe eines riesigen Schwimmkrans der bewegliche Teil der Hebebrücke abgebaut worden, schon vorher hatte man 150 Meter südlich eine Behelfsbrücke gebaut. Die vier Brückentürme sollten später abgerissen und das ganze Bauwerk durch ein Ähnliches ersetzt werden, aber bis dahin floss noch viel Wasser durch die Hunte.
Linda hatte sich im Berufsleben eine sehr nüchterne, fast schon als spröde zu bezeichnende Art angewöhnt, die durch ein nüchternfachlich orientiertes Verhalten bestimmt war. Aber jetzt, da sie an diesem Teil des Ufers allein waren, erzählten und lachten die beiden Verliebten ungeniert, immer wieder hatten sie das Verlangen, einander zu küssen, was sie auch dann taten, wenn zufällig ein Passant vorüberkam.
Der Abend nach diesem schwül-warmen sommerlichen Tag, den Linda im Büro ohne nennenswerte interessante Ereignisse mit dem Erledigen von Papierkram, wie sie immer sagte, verbracht hatte, war bisher in der Tat ganz wunderbar gewesen, er konnte jetzt nur noch durch eines getoppt werden …
Es verging eine lange Zeit dort, bis sie sich auf den Weg zu Lindas Wohnung im Dobbenviertel machten, wo ihr die Eltern eine schöne Wohnung überschrieben hatten – von ihrem Gehalt als Kriminalhauptkommissarin hätte sie es sich sonst nicht leisten können, dort zu wohnen. Im Garten mit seinem bequemen Mobiliar und der romantischen Beleuchtung machten sie es sich gemütlich, ein, zwei Gläser Rotwein sorgten für gute Stimmung.
Die Luft war noch angenehm warm, nur in der Ferne waren im Mondlicht einige wenige Wolken zu erkennen, selten ein wenig Wetterleuchten am Horizont. Um die Lampen im Garten schwirrten die Falter, kaum etwas störte die schöne Abendstimmung, nur hin und wieder war das Geräusch eines in der Nähe vorbeifahrenden Wagens zu hören.
Es war ein sehr romantisches Beisammensein, bei dem Pit nicht mit Rotwein aus Lindas Vorrat sparte, beschwipst waren sie, ganz ohne Frage und sehr, sehr verliebt.
Das Wetter schlug plötzlich um, wie man eigentlich am inzwischen zugezogenen Himmel schon vorher hätte erkennen können – aus dem lauen Abend wurde eine Nacht mit einem eiskalten Wind. Pit legte seine Jacke um Lindas Schultern. „Vielleicht sollten wir hineingehen, was meinst du?“
„Gehen wir zu dir oder zu mir?“
„Ich schlage vor zu dir, das ist viel, viel näher!“
Sie hatten gerade die ersten Stufen vor der Hintertür erreicht, als die ersten großen Regentropfen auf die Terrasse fielen, ein unerwarteter Blitzschlag die Szene erhellte und sie ein gewaltiger Donner erschreckte.
„Glück gehabt, wenn wir nur ein wenig langsamer gewesen wären“, meinte Pit im Hineingehen, „wären jetzt gleich völlig durchgeweicht worden.“
„Dann hätten wir uns sehr schnell ausziehen müssen, du weißt, wegen Erkältung oder so, und das im Freien.“
„Wäre auch eine hübsche Alternative gewesen, Liebling, oder? Irgendwie schade, aber es ist auch eine glückliche Fügung, dass wir jetzt nicht bei der Brückenwirtin sind, so können wir uns jetzt ohne diese Sorge drinnen ausziehen!“
Linda sah ihn sehr verliebt an, als sie die Treppen nach oben hinaufstiegen.
„Trinken wir noch einen Schluck?“ Ihm war noch nach einem weiteren Gläschen Wein, als sie gemeinsam das Wohnzimmer betraten und sich schon wieder in den Armen lagen. Eigentlich stand ihr der Sinn nach etwas anderem, aber trotzdem ging sie auf seinen Vorschlag ein.
„Na gut, aber nur einen kleinen Absacker, nur ‘ein ganz wönziges Schlöckchen‘“, sagte sie im Tonfall des Rektors in der Feuerzangenbowle, „dann will ich ins Bett, mein Schatz!“. Sie schaltete die kleine Hockerleuchte vor dem mittleren der drei kleinen Sprossenfenster ein, dimmte die Helligkeit herunter. „Alexa, bitte leise romantische Musik“, rief sie in den Raum und Alexa reagierte umgehend. Anschließend setzte sie sich zu ihrem Pit auf die gemütliche Zweiercouch in dem kleinen Erker, den sie beide so sehr liebten – er verführte geradezu zum Kuscheln.
„Linda, wenn wir so sitzen bleiben, wird es nichts mit dem Absacker, du musst mich schon loslassen!“ Pit befreite sich sanft aus ihrer Umarmung, ging in die Küche und holte eine Flasche Rotwein, entkorkte sie, nahm im Wohnzimmer zwei von den schönen alten Kristallpokalen aus dem Schrank und kam zu ihr zurück. Nach einigen Minuten, mehr Zeit bekam der gute 2016er heute Nacht nicht zum Atmen, schenkte er für beide je einen kleinen Schluck ein.
„Auf diesen schönen Abend, mein Schatz.“
„Auf eine schöne gemeinsame Nacht, Liebling!“
Der Klang der Gläser beim Anstoßen war hell und klar. Fast eine Stunde verbrachten sie so aneinander gekuschelt, sahen sich in die Augen, tranken hin und wieder einen Schluck. Pit wollte gerade die Frage aller Fragen an seine Liebste richten, als er von Linda unterbrochen wurde:
„Ich habe genug Wein gehabt, Liebling, ich will mit dir sofort ins Bett!“
Pit reagierte mit einem extra langen Kuss. Dann sprang er auf, verschwand im Bad. Linda, ziemlich beschwipst vom Rotwein, war sehr schnell im Schlafzimmer und entkleidete sich. Bereits nach wenigen Minuten rekelte sie sich knapp, eigentlich fast gar nicht bekleidet auf ihrem Bett. Nach dem schönen Abend, den sie mit ihrem Freund und Geliebten verbracht hatte, sehnte sich ihr ganzer Körper, ihre ganze Seele nach mehr. Nach viel mehr als nur ein paar Streicheleinheiten und Küssen am Kanal oder mitten in der Nacht im Garten.
Pit brauchte noch im Bad, wie immer ließ er sich trotz der auch für ihn wunderbaren Situation Zeit.
„Wann kommst du denn endlich, Liebling, ich vergehe hier vor Sehnsucht!“
„Ich bin sofort bei dir, mein Schatz, noch eine Minute!“
Es war gerade 01:40 Uhr, er betrat gerade das Schlafzimmer, als Lindas Smartphone vibrierte. Entsetzt vernahm sie das Geräusch, denn es hatte nichts Gutes zu bedeuten. Sie hatte zwar heute ihren freien Tag und wurde erst am nächsten Morgen wieder im Kommissariat erwartet, aber in Notfällen riefen ihre Kollegen auch zu ungewöhnlichen Zeiten bei ihr an, fragten um einen Rat oder baten sie um ihr Kommen an einen Tatort.
„Du wirst doch nicht etwa …?“
„Ich muss, Schatz, mich würde jetzt niemand anrufen, wenn es nicht sehr wichtig wäre.“
„Aber du wirst mich doch hier nicht allein lassen?“ Eine gespielte Verzweiflung lag in seiner Stimme.
Sie richtete sich auf, nahm das Smartphone zur Hand. „Linda hier, was gibt es Wichtiges?“
Pit verstand kein Wort der Antwort, konnte aber das Ergebnis von Lindas Gespräch erahnen, immer wieder ging ihr Blick zu Pit, schließlich sagte sie: „Ach, Paul, das ist Mist, aber ich kommen. Aber es muss mich jemand abholen!“
Linda sah ihren Freund liebevoll-mitleidig an: „Das war Paul, er holt mich gleich ab. Es ist wieder einmal etwas Schreckliches passiert, sie brauchen meine Hilfe.“
Was blieb Pit anderes übrig, als zuzustimmen. Er hatte das Gespräch verfolgt und mit einem gequälten Gesicht sofort begonnen, sich wieder anzukleiden, wieder einmal ging ein vielversprechender Abend unschön zu Ende, aber so war es nun einmal, wenn man eine Polizistin liebte, sagte er sich. Sie hatte schon während des Telefonats ihre Alltagskleidung angezogen, normale Unterwäsche, Jeans und den grauen, kuscheligen Pullover, den sie so liebte.
„Es tut mir soooo leid, Liebling, ehrlich, aber du weißt ja, die Mörder sind noch nicht alle gefangen ...“
„Wenn ich einen von denen erwische, bringe ich ihn um!“
„Und wenn es eine Frau ist?“ „Auch!“
„Dann gehörst du also auch zu den Menschen, denen man alles zutrauen kann, pass auf, dass ich dich nicht als potenziellen Gewalttäter festnehme“, flachste Linda.
„Zieh dir eine warme Jacke an, es ist jetzt draußen nach dem Gewitter sehr frisch geworden.“ Pit war immer so fürsorglich, auch das liebte sie so sehr an ihm. Sie umarmte und küsste ihn zum Abschied, verschloss die Wohnungstür lautlos, denn die anderen Bewohner des Hauses sollten nicht gestört werden.
Enttäuscht legte sich Pit ins Bett, aber schon nach zwei Minuten schlief er tief und fest. Im Wohnzimmer spielte immer noch die leise Musik, niemand hatte Alexa abgeschaltet.
Paul Lobisch 01:55 Uhr
Hauptkommissar Paul Lobisch hatte vor etwas mehr als einem Monat das vierundsechzigste Lebensjahr vollendet. Im Verlaufe seines Lebens war aus dem ehemaligen Marathonläufer ein begeisterter Wanderer geworden, der mit Freunden an vielen Wochenenden die nähere und auch fernere Umgebung erkundete. Ein Highlight in seinem Wanderleben war in jedem Jahr eine ausgiebige Tour in den Alpen, an der fast immer auch seine geliebte Frau Dorothea teilnahm. In diesem Jahr allerdings fand die Tour ohne sie statt, sie fühle sich etwas unsicher, hatte sie gesagt, der Kreislauf.
Paul war auch jetzt noch immer ein sportlicher, drahtiger Typ, der es in Bezug auf Ausdauer mit vielen jüngeren Menschen aufnehmen konnte. Durch seine kurz geschnittenen inzwischen silbergrauen Haare über dem kantigen hageren Gesicht machte er auf seine Gegenüber einen asketischen Eindruck.
Von seinen Mitstreitern im Präsidium häufig als ‚Der Alte‘ bezeichnet, hatte er in seinem Leben als Kriminalbeamter alle Höhen und Tiefen seines Berufes kennengelernt. Jetzt, im letzten Jahr vor seiner inzwischen von ihm immer sehnsüchtiger erwarteten Pensionierung, wurden ihm zu seiner Freude keine schwierigen oder aufwendigen Fälle mehr übertragen. Er tat selbstverständlich seine Pflicht, wälzte Akten, wohnte Befragungen und Vernehmungen bei, half den jüngeren Kolleginnen und Kollegen bei der Analyse von Problemen und komplizierten Sachverhalten. Seine jahrzehntelange Erfahrung war vielen fast unersetzlich geworden. „Frag doch mal Paul“ war eine häufig von seinen Kolleginnen und Kollegen gebrauchte Formulierung.
Paul half, wann und wo immer es ihm möglich war. Seine ruhige, sonore Bassstimme hatte schon so manche knifflige Verhörsituation beruhigt, manchen zunächst völlig unklaren Sachverhalt durch gelegentlich unorthodoxes Vorgehen aufgeklärt.
Er freute sich auf die Zeit nach den langen Dienstjahren, in der er mit seiner geliebten Dorothea endlich nach Herzenslust würde verreisen können. Ein komfortables Wohnmobil hatten sie sich angeschafft, mit dem Europa von Gibraltar bis zum Nordkap, vom Atlantik bis in die Karpaten erkundet werden sollte.
Der mit dem inzwischen vorüber gezogenen Gewitter verbundene Starkregen hatte nachgelassen, das Wasser von den Straßen begann abzulaufen. Als Linda aus der Tür ging, wartete er bereits vor dem Haus in einem zivilen Wagen der Fahrbereitschaft mit laufendem Motor.
„Hallo Linda, tut mir leid, aber du musst dir die ganze Chose unbedingt ansehen, Daniel konnten wir nicht erreichen.“
Als sie ihrem Kollegen vor dem Einsteigen von ihrem Weingenuss am Abend berichtete, meinte der altgediente Hauptkommissar freundschaftlich: „Ach Mädchen, so ist es doch jedem von uns schon mindestens einmal, vielleicht sogar mehrmals ergangen, jetzt starten wir an die Arbeit, da wirst du garantiert nüchtern!“
Sie stieg ein, nickte ihm freundlich zu. „Daniel steht also heute Nacht nicht zur Verfügung? Na gut, machen wir zwei Hübschen eben den Job, aber ich werde mit ihm ein paar deutliche Worte wechseln müssen, schließlich habe ich heute Nacht frei! Ich hatte sie mir völlig anders vorgestellt! Fahr bitte los, Paul, ich will möglichst bald wieder nach Haus in mein Bett, in dem mein Pit gemütlich schlummert.“
Mit dem neuen Job als Leiterin des Kommissariats für Gewaltverbrechen war sie von der Kriminaloberkommissarin zur Hauptkommissarin befördert worden, wegen ihres Alters eine sehr seltene Aktion, ein Verdienst, das nach ihrer Ansicht vor allem dem Ermittlungserfolg zum in der Presse als „Badewannenmord“ bezeichneten Fall erzielt hatte. Ihr Kollege Daniel von Stetten hatte eigentlich auf die Beförderung spekuliert, war aber wegen des genannten Falles aus dem Rennen auf den Dienstposten ausgeschieden. Als die Entscheidung für seine Kollegin bekannt geworden war, kam er mit einer hübsch verpackten Schachtel Marzipanpralinen zum Gratulieren und flüsterte ihr grinsend zu: „Mögest du daran ersticken, liebste Linda, du alte Hexe!“
Das Verhältnis zwischen den beiden war von diesem Zeitpunkt an nicht mehr das Beste.
„Wohin geht die Reise, Paul?“
„Nicht sehr weit, nur zur Cäcilienbrücke, Linda, aber auf der Osternburger Seite werden wir gebraucht.“
„Was ist passiert, kannst du mir schon etwas sagen?“
„Um es mit den Rosenheim-Cops zu sagen: ‚Es gibt a Leich‘. Wir haben um 1:25 Uhr einen Hinweis bekommen!“
„Du schaust Rosenheim-Cops? Da staune ich! Ich habe dich mehr für ‚Wunder der Natur‘ eingeschätzt, Paul.“
„Nee, nee, ich bilde mich in Rosenheim immer weiter, du weißt doch, ich muss noch fast ein Jahr und da muss ich auf dem aktuellen Stand der Kriminalistik bleiben“, grinste er zum Beifahrersitz hinüber, „und wenn ich dann mit meiner Doro dorthin fahre, will ich mich auskennen!“ Er schmunzelte in sich hinein.
„Ist die Identität des Opfers schon festgestellt worden?“
„Keine Ahnung, hat mir noch niemand gesagt. Unsere Kollegen vom KDD haben mir nur erzählt, es sei schrecklich und ich solle dich abholen.“
Beide schwiegen, dachten über das nach, was da noch kommen würde. Linda nahm die Unterhaltung wieder auf. „Wie geht es denn deiner Frau, Paul? Ihr wollt doch sicher im Urlaub wieder in die Berge?!“
„Ist noch nicht ganz sicher, sie hat zurzeit massive Kreislauf-Probleme, aber die Ärztin meinte, das wäre sicher bald wieder in Ordnung. Dann hat sie ihr eine Handvoll Medikamente verschrieben …“
„Tut mir leid, hoffentlich ist sie bald wieder ganz fit.“ Linda sah nachdenklich zu ihm hinüber. Seine Stimme klang etwas bedrückt, wie ihr schien.
Sie fuhren über den Schloßwall. Schon vor dem Abbiegen in die Huntestraße konnten sie zwischen Prinzenpalais und Augusteum den entfernten Widerschein der flackernden Blaulichter hinter der Brücke sehen, die an der Frontscheibe blau glitzernde Lichtfäden zogen.
„Die alte Karre sollte endlich mal neue Wischerblätter bekommen“, fluchte Paul leise. Er bog hinter der ‚Deutschen Rente‘ rechts ab, fuhr über die Amalienbrücke, die Nord- und die Stedinger Straße weiter und bog dann in die Bremer Straße ein. Kurz vor der Brücke hielt er auf dem Fußweg vor der Einmündung zur Uferstraße, in der die unauffälligen Fahrzeuge der Spurensicherung am linken Straßenrand parkten. Vor der gesperrten Zufahrt zur abgebauten Brücke standen die Einsatzfahrzeuge mit noch immer leuchtenden Blaulichtern.
Während der Fahrt zum Tatort hatten Linda und Paul nur noch wenig geredet, die gewechselten Worte waren über belanglose Themen. Hier vor Ort jedoch wurde es ernst, sehr ernst. Lindas Schwips war endgültig verflogen, als sie die Einsatzfahrzeuge sah.
Die ganze Umgebung wurde bereits von den Scheinwerfern der Technik ausgeleuchtet. Die Reihe der Bauzäune war von Kollegen teilweise abgebaut worden, um einen ungehinderten Zugang zum südwestlichen Brückenturm zu ermöglichen. Kriminalbeamte der Spurensicherung liefen hin und her, trugen Koffer in den Turm. Aus den größeren Turmfenstern kam helles Licht, aus den oberen kleinen leuchteten, bedingt durch die Enge des Raumes und die Bewegungen der Polizisten, ständig wechselnde Lichtstrahlen. An den Fenstern der anliegenden Gebäude waren einige Beobachter zu erkennen, manche Neugierige standen sogar jetzt, mitten in der Nacht auf der Uferstraße, obwohl die Luft durch das Gewitter deutlich abgekühlt war.
Silvia Tebben, eine junge Beamtin aus ihrer Gruppe, hatte ihr Kommen bemerkt und trat zu ihnen an den Wagen: „Linda, gut, dass du kommen konntest, es ist schrecklich, folgt mir bitte!“ Linda nahm ihre Latexhandschuhe aus der Handtasche, wo sie diese neben Lippenstift, Papiertaschentüchern und den anderen Dingen, die Frau so benötigte, verwahrte, zog sie an und ging, gefolgt von Paul Lobisch, mit der Beamtin zum Turmeingang. Am Fuß der Treppe, die ein Streifenbeamter gegen unerlaubte Neugierige beschützte, zögerte Silvia: „Macht es euch etwas aus, wenn ich noch einen Moment hier unten bleibe?“
Sie wiederholte sich, noch immer blass vor Erschütterung: „Es ist so schrecklich, der arme Mann!“
„Kein Problem“, meinte Linda, „sag mir nur, wohin wir gehen müssen.“
„Ganz nach oben, die Kollegen sind dort.“
„Danke, Silvia“, antwortete Linda bewusst sanft und freundlich. Normalerweise hätte sie etwas harscher reagiert, aber Silvia schien ziemlich fertig zu sein.
Sie gingen nebeneinander die Treppe hinauf, die von der Technik sofort nach deren Eintreffen von ihnen hell beleuchtet wurde.
Der Himmel hatte inzwischen erneut eine bedrohlich wirkende Schwärze angenommen, vom Mondlicht war keine Spur mehr zu erkennen. Zwischen der Dunkelheit des Himmels und der von den Scheinwerfern taghell erleuchteten Straße und den Lichtern im Turm konnte der Unterschied nicht größer sein, irgendwie erinnerte die Szene mit ihrer Hell-Dunkel-Wirkung an ein Bild von Radziwill, wenn man sich die Fahrzeuge und den Bauzaun wegdachte. Im Biergarten des Lokals hatten die Kollegen ein weißes Arbeitszelt aufgebaut, um dem erwarteten Regen zu entgehen.
Um 02:05 stiegen Linda und Paul langsam bis zur ersten Ebene hinauf. Zwei-, dreimal kamen ihnen im engen Treppenaufgang Kollegen der Spurensicherung entgegen, murmelten einen kurzen Gruß und verschwanden schnell nach unten, einige von ihnen sahen ziemlich blass aus.
„Was mag da oben passiert sein? Die Kollegen benehmen sich alle so eigenartig“, fragte Linda ihren Kollegen und sah durch ein Fenster der ersten Ebene hinunter auf die Uferstraße, in die gerade der schwarze Kombi eines Bestatters einbog und am Bauzaun hielt. Mit den Worten „Komm, lass uns nachschauen“ zog sie Paul weiter zur Treppe. Es waren nur zwölf weitere Stufen bis zur zweiten Ebene. Der Raum war taghell erleuchtet, drei Kollegen und eine Kollegin waren dort, mehrere Alukoffer standen unter der Dreier-Fensterreihe im Süden des Turmzimmers. An der linken Seite des Raumes lag in einer ungewöhnlichen Körperhaltung ein Mensch. Linda wollte näher herangehen, genauer hinsehen.
„Stopp!“, rief einer der in weiße Schutzanzüge gekleideten Kollegen. Es war Dietmar aus ihrer Ermittlungsgruppe, wie Linda trotz der ‚Maskierung‘ feststellte. „Stopp, nicht anfassen, wir sind noch nicht fertig, und du solltest besser zu mir kommen, statt dicht an das Opfer heranzugehen.“
„Dietmar, ich muss mir einen Eindruck verschaffen, aber sag mir bitte, wer dieses arme Schwein ist!“
Ungeachtet des ‚Stopps‘ vom Kollegen trat Linda nahe, ganz nahe an den völlig verkrümmt neben der Wand liegenden Toten und musste einen Würgereiz unterdrücken, als sie sah, wie er zugerichtet war. Es war eindeutig eine männliche Person. Sie war fast unbekleidet, nur der Unterleib war, anscheinend durch ihre Kollegen, mit einem hellen Tuch bedeckt. Seine Beine waren seltsam angewinkelt, so, als hätte sie der Täter miteinander verknoten wollen. Die Arme waren wie – ja, wie bei dem gekreuzigten Christus weit vom Körper seitwärts abgespreizt. „Ein Ritualmord“ ging ihr als Erstes durch den Sinn. Dann sah sie das durch rohe Gewalt malträtierte Gesicht und musste sich abwenden: Das Opfer war eindeutig Gerold Fasner, der von ihr so geschätzte Kollege, ihr Vorgänger auf dem Posten in der Leitung der Mordkommission! Sie unterdrückte einen Würgereiz und ging zurück in die Mitte des Raumes zu den anderen.
„Linda, was ist?“, fragte Paul. Er hatte in der Zwischenzeit versucht, Details von den Kollegen zu erfahren.
„Es ist Gerold Fasner“, sagte sie mit zitternder Stimme und Tränen in den Augen, „die Schweine, ich werde sie bekommen, sie werden uns nicht entwischen, oder, Paul?“
Der nahm sie in den Arm: „Gerold, unser alter Kollege Gerold? Das kann nicht sein, du irrst, Linda!“
„Leider irre ich mich nicht, Paul! Ganz bestimmt werden wir den oder die Täter bekommen, und wenn es das Letzte ist, was ich als Polizistin tue. Ich werde daran arbeiten, soweit meine Kräfte und Fähigkeiten reichen!“ Linda war den Tränen nahe.
Die geschäftigen Aktivitäten der Spurensicherung waren inzwischen weitgehend beendet worden, die Kollegen verstauten ihre Utensilien und die wenigen Beweise in ihren Koffern. Auf der Treppe hörte man ein Rumpeln und Stöhnen, die Männer des Beerdigungsinstitutes versuchten, den Transportsarg heraufzuschaffen.
„Mist, das ist zu eng hier, wir müssen zurück, Werner!“, schallte die Stimme von einem der Männer durch das Treppenhaus. „Dann müssen wir einen Leichensack nehmen“, hörte man die Stimme des Zweiten. Das Rumpeln war nicht mehr zu hören. Schon nach wenigen Minuten waren zwei schwarz gekleidete Männer mit einem Leichen-Transportsack in der zweiten Ebene angelangt.
„Oh“, war der Kommentar des einen zu hören, „oh, der liegt aber ungünstig.“ Beide schienen von der Situation emotional wenig berührt zu sein, was sicher mit ihrer beruflichen Tätigkeit zu tun hatte. Sie legten den Transportsack geöffnet auf den Boden neben die Leiche, dann wurden Fasners Gliedmaßen langsam und sorgfältig an seinen Körper gelegt. Linda drehte sich zu Paul um: „Ich kann da nicht hinsehen“, flüsterte sie mit fast versagender Stimme, „der arme Gerold!“
Nach dem Abtransport ihres toten Kollegen in die Gerichtsmedizin inspizierten sie zu zweit noch einmal die Stelle im Raum, an der er gelegen hatte.
„Dies ist nicht der Tatort“, stellte Linda fest, „man hat ihn hier nur so hingelegt, hier ist nichts, absolut nichts.“
„Richtig, dann hätten im Treppenaufgang eigentlich Spuren sein müssen“, meinte Paul, „waren es aber auch nicht, hat Dietmar vorhin gesagt, sie haben nur diverse Fingerabdrücke.“
„Und wenn man ihn in einem solchen grausigen Plastiksack oder einer anderen ‚Verpackung‘ schon nach hier transportiert hatte? Er war schlank und relativ leicht, schätze ich. Ihn hierher durch das Treppenhaus zu bugsieren müsste ohne große Probleme möglich sein.“
Schweigen breitete sich im Turm aus, Nachdenklichkeit, auch Traurigkeit.
„Wisst ihr schon etwas über den Todeszeitpunkt?“, fragte Linda in die augenblickliche Stille, „es wird schwierig werden, den Ort zu finden, und die Zeit läuft uns davon!“
„Es ist mindestens 12 Stunden her, alle Zeichen deuten darauf hin. Wir haben es hier vor Ort nicht genau feststellen können, die Pathologie wird es euch morgen sagen.“ Dietmar machte eine kleine Pause, dann fuhr er leise fort: „Habt ihr eine Idee, wer ihn so sehr gehasst hat?“
Linda zögerte einen Moment, ihre Ansicht zu äußern. „Ich möchte eigentlich den Ermittlungen nicht vorgreifen, Dietmar, und jetzt Verdächtigungen aussprechen, die ich nachher nicht beweisen kann, das ist nicht mein Ding. Lass uns abwarten, schon in wenigen Stunden fangen wir an, und zwar mit allen Leuten und Möglichkeiten, die wir haben!“
Linda blickte zu Paul, der aus einem der Fenster über den Ortsteil Osternburg sah. „Die Sonne wird bald aufgehen, bitte bring mich nach Haus, hier will ich jetzt nicht mehr sein.“
Er nickte ihr zu: „Wir können zurzeit nichts mehr tun, du hast recht, lass uns fahren, vielleicht ist noch eine Mütze Schlaf vor Arbeitsbeginn möglich.“
Schweigend gingen sie die Stufen hinunter, der Anblick ihres toten, ihres brutal ermordeten Kollegen beschäftigte beide. Sie verließen das Treppenhaus, traten ins Freie und atmeten automatisch tief durch. Die Situation oben im Turm hatte selbst einen ‚alten Hasen‘ wie Paul Lobisch an seine Grenzen gebracht.
Nachdem sie die wenigen Stufen hinabgegangen waren, wurden sie trotz der nächtlichen Stunde sofort von Presseleuten umringt, jemand von den Neugierigen auf der Straße mußte die informiert haben. Kameras wurden gezückt, die Blitzlichter blendeten sie ein wenig.
Paul, der den Zeitungsleuten bestens bekannt war, wurde von einem der Reporter direkt angesprochen: „Herr Lobisch, leiten Sie die Ermittlungen? Was ist passiert, ein Mord? Wer ist das Opfer, können Sie uns Näheres sagen?“
Er beendete die Fragerei der Presseleute mit einer Handbewegung. „Meine Damen und Herren, nein, ich leite die Ermittlungen nicht, dafür ist meine Kollegin Linda Barowski zuständig. Weitere Auskünfte werden wir Ihnen heute Nacht nicht geben, es wird morgen im Verlaufe des Nachmittags“, er schaute zu Linda hinüber, die zustimmend nickte, „eine Pressemitteilung geben.“
Die Reporter nahmen jetzt Linda ins Visier, um von ihr vielleicht doch noch Informationen zu bekommen, aber auch sie verhielt sich abweisend. „Sie bekommen morgen alle Fakten mitgeteilt, soweit die nicht ermittlungsrelevant sind. Und jetzt entschuldigen Sie uns bitte, die Nacht war lang und anstrengend!“
Die beiden Ermittler drängten sich durch die Presseleute und gingen zu ihrem Wagen.
„Hast du morgen, ach nein, heute schon Termine, Paul?“ Linda möchte ihren älteren Kollegen wegen dessen umfangreicher Erfahrungen gern mit in ihr Ermittlungsteam einbinden, getreu dem Slogan im Kommissariat ‚Frag doch mal Paul!‘.
„Kann ich dir so nicht sagen, Linda, aber ich werde mich auf jeden Fall von allem anderen freischaufeln. Du kannst auf mich zählen, falls nicht noch ein weiterer Mord geschieht, den ich dann übernehmen müsste!“
„Fahren wir?“ Linda sehnte sich nach Haus, nach ihrem Bett, wollte zu ihrem Pit.
„Ja, Linda, fahren wir. Ich hoffe, du wirst noch etwas schlafen können.“
Humphrey Wenders
Nach einem guten Abschluss der zehnten Klasse der Realschule in Oberneuland und dem Erreichen des Fachabiturs hatte er eine duale Ausbildung zum Hotelfachmann absolviert und in seinem Ausbildungsbetrieb sofort einen guten Job erhalten. Von dieser Zeit an war er im Wesentlichen an der Rezeption des Hauses beschäftigt, immer häufiger wurde er jedoch auch für Assistenten-Tätigkeiten an der Seite des Hotelmanagers herangezogen. Hier bekam er Einblicke in alle Bereiche des Hotels.
Es war an einem Abend im Advent vor etwas vier Jahren, als ihm sein Job als Mitarbeiter des Mittelklassehotels in Bremen sehr negativ ins Bewusstsein rückte. Eigentlich geschah es ganz plötzlich, obwohl es ihm schon viel früher hätte klar werden müssen..
Er hatte häufiger vertretungsweise Dienst an der Rezeption zu leisten, was zumeist in den Abend- und Nachtstunden der Fall war. Dann wurden von ihm, denn er kam aus einem bürgerlichen, christlich orientierten Elternhaus, die vielen männlichen Gäste mit ihren meist zu jungen Begleiterinnen Steine des Anstoßes. Die so genannten honorigen, gutsituierten „Sugardaddys“, die in der Stadt an einem Meeting oder einem Kongress teilnahmen, waren ihm zutiefst zuwider. Sie buchten stets nur Doppelzimmer, bestellten schon bei ihrer Ankunft „Schampus, aber vom Feinsten“ und verführten ihre Gespielinnen, die dann mitten in der Nacht das Haus verließen. Häufig sah er ihre Tränen …
Irgendwann kam er zu der Erkenntnis, dass dies nicht sein Weg war. „Wenn ich schon das Elend dieser jungen Dinger nicht verhindern kann, will ich zumindest das Geld der Kerle haben!“, dachte Humphrey und kündigte.
Nur drei Monate später hatte er den „Club Elektra“ im beschaulichen Oldenburg übernommen, einen völlig heruntergewirtschafteten drittklassigen Club mit Bordell. Es war für ihn ein großer Schritt in die Selbstständigkeit. Dem zunächst nur vagen, bald aber sich immer weiter verdichtenden Gedanken, seinen relativ gut bezahlten Job als Assistent des Managers aufzugeben und sich im Rotlicht-Milieu zu verwirklichen, waren viele Stunden des Beobachtens, des Nachdenkens und Rechnens gefolgt. Seine Schwäche für liebevolle Frauen und eine größere Erbschaft erleichterten jedoch den Umstieg zum Geschäftsmann in Sachen ‚Liebe‘, seine inzwischen verstorbenen Eltern würden sich allerdings ‚im Grabe umdrehen‘, wie man so zu sagen pflegte.
Seine erste Maßnahme nach der Übernahme war die Totalrenovierung des Hauses. Die Finanzierung konnte er natürlich nur zum Teil aus Eigenmitteln leisten, ortsansässige Banken erkannten jedoch sein Geschäftsmodell als lukrativ an und finanzierten gern den erforderlichen Rest – manchmal half bei der Kreditgewährung auch das Versprechen auf eine Vorzugsbehandlung im Club …
Unmittelbar vor Beginn der Umbau- und Renovierungsarbeiten erfolgte der Austausch des Personals. Die Damen wurden ohne Prämie und ‚Ablöse‘ freigestellt und ließen sich zumeist in dafür bekannten Straßen der Stadt als unabhängige Liebesdienerinnen nieder. Er hatte sich allerdings einen nennenswerten Anteil an ihren künftigen Einnahmen als Entgelt für garantierte Schutzmaßnahmen gesichert. Den Schutz garantierte Bogdan, ein bulliger Rumäne, den er als ‚Inventar‘ beim Kauf des Clubs übernommen hatte; der sorgte auch für die korrekten Abrechnungen mit den Damen.
Bogdan hatte gute Kontakte nach Ost- und Südosteuropa, die Wenders halfen, neues Personal für den Betrieb zu finden, und bereits nach acht Wochen Umbau wurden die ersten Umsätze des neuen Personals mit Kunden realisiert.
Ein Bremer Händler für Getränke, Woitschek und Sohn, wurde für die Belieferung zu besten Konditionen gewonnen. Sein Inhaber, ein Iraker mit hervorragenden Deutschkenntnissen und einer großen Familie, entwickelte fast freundschaftliche Beziehungen zu ihm, dem Neuling in diesem Gewerbe. „Humphrey“, sagte er zu ihm, „wir werden dich unterstützen. Wenn du irgendetwas benötigst, sag es mir, meine Jungs machen, was immer du als nötig erachtest! Für Freunde tun wir gern etwas.“
Das Betriebsgebäude des Clubs war im Bereich des Hafens angesiedelt, das weibliche Personal mit Ausnahme der beiden fest angestellten Barfrauen wohnte im Haus. Die Ausweisdokumente der Damen hatte er in seinem Safe verwahrt, schließlich war er ein vorsichtiger Mensch! Die Vorsicht erstreckte sich auch auf die Obrigkeit, alle Frauen hatten eine Arbeitserlaubnis und regelmäßigen Kontakt zum Gesundheitsamt.
Die Geschäfte liefen so gut, dass sich Humphrey nach knapp zwei Jahren ein luxuriöses Penthaus in der Bremer Straße leisten konnte, in dem er privat Freunde und Gäste zu rauschenden Partys empfing. Normalerweise waren die Gäste Kunden und hübsche junge Frauen, die jeweils nur wenige Male an seinen Partys teilnahmen, aus der Stadt und ‚Umzu‘. Der Alkohol floss reichlich, und die angebotenen Stimmungsaufheller aus den kleinen Plastiktütchen führten zu ausgelassenem Feiern …