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Der Diebstahl eines Meisterwerks der isländischen Buchkunst. Ein mit der Kunsthistorikerin Anna Bentorp befreundeter Autor wird auf Island ermordet. Zuletzt arbeitete er an einem True-Crime-Roman um einen in Island verschollenen Experten für nordische Geschichte. Anna folgt seiner Spur und stößt auf den Diebstahl eines mittelalterlichen isländischen Buchs. Je tiefer sie in die Materie eintaucht, umso deutlicher wird: Hier geht es um eine Verschwörung mit tödlichem Ziel. Doch es sind vor allem die Geister ihrer eigenen Vergangenheit, die Anna in Gefahr stürzen und sie mit Wahrheiten konfrontieren, die sie lieber verdrängen wollte . . .
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Seitenzahl: 590
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Margarete von Schwarzkopf, geboren in Wertheim am Main, studierte in Bonn und Freiburg Anglistik und Geschichte. Sie arbeitete zunächst für die Katholische Nachrichtenagentur, dann als Feuilletonredakteurin bei der »Welt« und viele Jahre beim NDR als Redakteurin für Literatur und Film. Heute ist sie als freie Journalistin, Autorin, Literaturkritikerin und Moderatorin tätig.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2024 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: shutterstock.com/Wirestock Creators
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Hilla Czinczoll
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-188-1
Originalausgabe
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My hand is weary with writing;
my sharp great point is not thick;
my slender-beaked pen juts forth
a beetle-hued draught of bright blue ink.
A steady stream of wisdom springs
from my well-coloured neat fair hand;
on the page it pours its draught of ink
of the green-skinned holly.
I send my little dripping pen unceasingly
over an assemblage of books of great beauty,
to enrich the possessions of men of art –
whence my hand is weary with writing.
Irland, um 1100, Trinity College
Prolog
Um ihn Dunkelheit. Aber er wusste, was sich in dieser Schwärze verbarg. Steile, glatte Wände in schimmernden Farben, schwarz, ockergelb, dunkelrot. Und dahinter ein Abgrund, der bis zum Mittelpunkt der Erde zu führen schien. Er kam langsam wieder zu sich. Aber er konnte sich nicht bewegen. Seine Hände und Füße waren gefesselt. Mühsam sammelte er Speichel in seinem Mund, um seine Stimme benutzen zu können. Er brachte nur ein leises Krächzen zustande. War es schon Mittag, Nachmittag, Abend? Die undurchdringliche Dunkelheit gab nichts preis. Seine Armbanduhr hatte keine Leuchtziffern. Und an sein Handy kam er nicht heran.
Er erinnerte sich vage, dass er leise fluchend über feuchte Steine geschliddert war. Immer wieder rutschte er aus. Der Weg über das Lavafeld entwickelte sich zum Hindernislauf. Mehrmals blieb er mit seinen Sneakers in einer der schmalen Spalten in der rauen Oberfläche hängen und stolperte. Fast wäre ihm dabei das in billiges Packpapier eingewickelte Buch aus den Händen gefallen. Warum hatte er es nicht in einen Beutel oder eine größere Tasche gesteckt? Warum musste er so töricht sein und zu dieser Uhrzeit über glitschige Steine wandern?
Glücklicherweise war er nicht im Finstern umhergetappt. Die Sonne stand zu dieser nächtlichen Stunde noch immer als verwaschene Scheibe dicht über dem Horizont und spendete ausreichend Licht, sodass er keine Taschenlampe benötigte. Schon bald würde es wieder taghell sein. Warum überhaupt hatte er sich auf diesen Deal eingelassen und nicht darauf bestanden, dass die Übergabe bei Tageslicht an einem neutralen Ort in der Stadt stattfinden sollte?
Er versuchte seine aufsteigende Panik zu unterdrücken. Wieder geriet er auf dem stellenweise mit Moos bewachsenen Gestein ins Schliddern. Um einem drohenden Sturz vorzubeugen, bemühte er sich, die Balance zu halten. Dabei entglitt ihm das Paket und fiel zu Boden. Verärgert hob er es auf und überlegte kurz, ob er nicht besser umkehren und einen neuen Termin an einem zivilisierteren Ort verabreden sollte. Am frühen Nachmittag wollte er zu einer Wanderung aufbrechen. Zur Not würde er das um einige Stunden verschieben.
Letztlich war es egal, wann er die Stadt hinter sich ließ. Je unauffälliger er sich benahm, desto besser. Aber ohnehin würde kein Mensch ihn verdächtigen, ein Bücherdieb zu sein. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um den Diebstahl eines alten Werkes aus der Nationalbibliothek handelte. In die Abteilung mit mittelalterlichen Schriften kam fast nie jemand.
Erst kürzlich hatte ihm die Bibliothekarin Birgit Gunnardottir anvertraut, sie bedauere die ungehobenen Schätze in diesem Teil der Bibliothek. Wer interessierte sich außer ihm und anderen Fachleuten für die Schriften von seit Urzeiten verstorbenen Autoren? Dass diese Werke unter Liebhabern hoch gehandelt wurden und bei den Auktionen, an denen er als Experte teilgenommen hatte, astronomische Preise erzielten, spielte für die ehrwürdige Sammlung der Bibliothek keine Rolle. Dort lagen und standen diese Schätze seit vielen Jahren fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Er hatte das Buch kurz vor der offiziellen Mittagspause an sich genommen, als er sich allein in der Abteilung glaubte, und das Gebäude durch einen Nebeneingang verlassen. Unbemerkt.
Falls das Fehlen des Buches in den nächsten Tagen entdeckt werden würde, dann gäbe es sicherlich zunächst einige andere Theorien dazu. Jemand könnte das Buch an einem falschen Ort platziert oder zum Restaurieren in die Werkstatt gebracht haben. Und wenn sich dann herausstellen sollte, dass das Buch tatsächlich verschwunden war, würde ihn gewiss niemand verdächtigen. Immerhin war er ein international renommierter Wissenschaftler. Erst vor wenigen Tagen hatte er einen Vortrag über nordische Mythologie im Vergleich mit den Götterwelten der Antike gehalten. In den Räumen der Deutschen Botschaft. Ein großer Erfolg, und er hatte dreißig Exemplare seines jüngsten Sachbuches »Als Zeus mit Odin sprach« signieren müssen.
Wahrscheinlich würde man ihn, geschockt über den Verlust dieses frühmittelalterlichen Meisterwerks, sogar informieren und um Rat bitten. Denn niemand kannte sich mit den Schriften irischer Mönche im Island des 11. und 12. Jahrhunderts so gut aus wie er. Seine Doktorarbeit »Christliche Mythen in Island um 1000« war in zehn Sprachen, darunter auch ins Isländische, übersetzt worden. Doch nun hatte er alle Regeln von Moral und beruflicher Ethik gebrochen und sich durch brutale Erpressung zwingen lassen, dieses Meisterwerk jemandem auszuliefern, der ihn in der Hand hatte.
Die Erpressung ging anonym vonstatten, sodass er keinen Namen kannte. Und er ahnte nicht, woher dieser Unbekannte die intimen Informationen über ihn hatte. Sosehr er auch grübelte, es fiel ihm niemand ein. Doch er konnte nicht wählerisch sein oder diesen Handel ablehnen. Er würde dem Fremden das literarische Kleinod übergeben und dafür im Gegenzug das kompromittierende Material erhalten, das seine Zukunft zerstört hätte. Danach würde er sich wieder der Wissenschaft widmen und dieses dunkle Kapitel seines Lebens abschließen. Zumindest versuchte er sich das einzureden. Manchmal spürte er so etwas wie Furcht in sich aufsteigen, wenn er daran dachte, wie viele Menschen er ausgenutzt und gedemütigt hatte. Aber jetzt war keine Zeit, dies zu bedauern.
Der Vulkankegel tauchte aus dem leichten Dunst auf, der sich über diese archaische Landschaft gelegt hatte. Sein Ziel lag nur noch knappe einhundert Meter entfernt: der kleine Kiosk in der Nähe des Aufzugs, der Touristen ins Innere des seit Tausenden von Jahren erloschenen Vulkans brachte. Doch in Island konnte man sich nie sicher sein. Hier erwachten selbst Totgeglaubte wieder zum Leben, und angeblich inaktive Vulkane spuckten wieder Feuer. Weshalb ausgerechnet an diesem Ort die Übergabe erfolgen sollte, war ihm ein Rätsel.
Inzwischen war die kurze Halbdämmerung wieder dem starken nordischen Licht gewichen. Wenn jetzt alles rasch über die Bühne ging, dann wäre er rechtzeitig zu einem späten Frühstück zurück in seinem Hotel in Reykjavík und könnte tatsächlich am frühen Nachmittag zu seiner Wanderung aufbrechen. Ausgecheckt hatte er schon am Abend zuvor, sein Gepäck lag im Kofferraum des Mietwagens. Sein Rückflug nach Frankfurt war in vier Tagen. Ein harmloser Tourist auf der Suche nach Entspannung und dem Genuss der herrlichen Natur auf dieser faszinierenden Insel.
Er näherte sich dem um diese frühe Stunde verlassenen Kiosk. Die rasch zunehmende Helligkeit ließ ihn blinzeln. Nur schemenhaft konnte er die Männer sehen, die auf ihn zukamen. Er blinzelte heftiger. Geschockt glaubte er einen von ihnen zu erkennen. Einen Mann, mit dem er vor einigen Jahren bei einem Kongress in Boston über das keltische Erbe Islands diskutiert hatte. Aber dieser Mann, dessen Name ihm partout nicht einfallen wollte, wirkte nicht freundlich, als er sich ihm näherte, und seine Begleiter erinnerten ihn an Bodyguards aus Gangsterfilmen. Eine Gänsehaut lief ihm über den Rücken.
Für eine Umkehr war es zu spät. Er kam nicht mehr dazu, etwas zu sagen. Die beiden bulligen Begleiter des Mannes, dessen Name ihm plötzlich wieder einfiel, nahmen ihm das Paket ab. Keiner sprach ein Wort. Und er fragte nicht nach dem Material, das ihm im Gegenzug übergeben werden sollte. Der Mann in der Mitte nickte kurz, und die beiden Kerle packten ihn.
Und nun lag er auf dem schartigen Felsenboden im Inneren des Kraters. Verängstigt, verloren. Aber sie hatten ihn nicht getötet. Und vielleicht hatte er Glück, und eine weitere Gruppe von Touristen würde in den Krater einfahren, so wie er vor wenigen Tagen, und ihn finden. Er spürte, wie er langsam zu Kräften kam und die Hoffnung zurückkehrte. Es gelang ihm, sich in eine halb sitzende Position zu begeben.
Die Dunkelheit wich, als ihn jäh ein Lichtstrahl blendete. Nahte die Rettung? Mühsam rief er: »Hilfe!« Die Stimme, die ihm antwortete und deren Besitzer er hinter dem grellen Schein der Taschenlampe vage zu sehen glaubte, entlockte ihm einen tiefen Seufzer der Erleichterung. Doch dann schob sich ein Schatten zwischen ihn und das Licht. Aber egal, was in den nächsten Minuten geschehen würde, ein letzter Triumph blieb ihm. Er hatte den Erpresser gelinkt.
Der dumpfe Aufschlag eines Körpers in der Tiefe des Kraters echote von den Felswänden wider, deren Farben im Licht der Taschenlampe wie Gemälde von Jackson Pollock aufglühten. Dann erlosch das Licht, und das Innere des Vulkans versank in pechschwarzer Nacht.
Begegnung in der Wüste
Die Mauern des Wüstenschlosses schimmerten in der Mittagssonne rötlich. Unser Reiseleiter, ein vielseitig interessierter und gebildeter Vertreter seiner Zunft, war ein Stück hinter meiner Gruppe von achtzehn Teilnehmern dieser Reise nach Jordanien zurückgeblieben. Er unterhielt sich lebhaft mit einem älteren Mann, der eben gerade mit einer weiteren Schar von Touristen aus einem Bus gestiegen war. Offenbar ein Kollege. Ich wollte rasch meiner Truppe folgen, die bereits durch das große Tor des Gemäuers im schattigen Innern verschwunden war, als ich eine schwere Hand auf meiner Schulter spürte und eine tiefe Stimme in mein Ohr dröhnte: »Wenn das nicht eine wunderbare Überraschung ist! Anna, du hier in der Wüste! Großartig!«
Diese Stimme hätte ich unter Hunderten erkannt. Sie gehörte Heinz Kröger, oder besser Winston Stevens. Denn unter diesem Namen veröffentlichte Kröger seit gut zehn Jahren erfolgreiche Kriminalromane. Jedes Jahr erschien ein neuer Stevens, und jedes Jahr schickte er mir eine signierte Ausgabe seines jüngsten Werkes, zuletzt »Tod im Farn«. Sein Protagonist Mortimer Rascal ermittelte vor allem in Yorkshire, woher Krögers Mutter stammte.
Über seine Bücher waren wir seit etlichen Jahren in Verbindung geblieben, aber persönlich hatte ich ihn schon längere Zeit nicht mehr gesehen. Kennengelernt hatte ich ihn nach einer seiner Lesungen und mit ihm lange über seine Bücher geredet. Danach waren wir uns einige Male über den Weg gelaufen und freuten uns über jede Begegnung. Gelegentlich schrieben wir uns Mails. Unsere Treffen wurden seltener. Meist befand er sich auf Lesereisen oder auf Recherche in England, und ich war ebenfalls oft unterwegs. Dabei lebte er in Norddeutschland, also nicht auf einem anderen Stern.
Ehe ich antworten konnte, umarmte er mich so heftig, dass ich fürchtete, er würde mir die Rippen brechen. »Mein Gott, Heinz!«, brachte ich atemlos hervor. »Was treibst du denn hier?«
»Das könnte ich dich auch fragen!« Heinz Kröger überragte mich um Haupteslänge. Er war inzwischen fast sechzig Jahre alt, sein noch immer dichtes Haar schneeweiß, aber seine hellbraunen Augen blitzten überraschend jugendlich. Sein Verlag druckte im Klappentext seiner Bücher immer noch ein Foto von ihm, auf dem er knapp Mitte vierzig war. Doch er hatte sich seit unserem letzten Treffen kaum verändert. Ein freundlicher Riese, dem der Erfolg mit seinen Rascal-Thrillern nicht zu Kopf gestiegen war. Auch die inzwischen vier Fernsehadaptionen hatten ihm zwar gewiss gutes Geld, aber keine Allüren beschert. Ich mochte ihn.
Er ergriff meine Hand. »Ich bin mit einem Mietauto hier und besuche diese Gegend auf eigene Faust. Für mich bitte keine Reisegruppen.« Er lachte. »Ich mag keine Massenansammlungen, wie du ja weißt.« Damit spielte er auf die gemeinsame Tour vor einigen Jahren an, als ich ihn zufällig wiedersah und er sich meist von uns anderen Sterblichen fernhielt. Da wir uns kannten, plauderte ich nach den Ausflügen am Abend als Einzige mit ihm, wissend, dass er trotz seiner herben Art ein Gemütsmensch war. Das lag gut vier Jahre zurück. Mein Freund Richard wurde fast eifersüchtig. Seltsamerweise hatte ich in letzter Zeit öfter an Heinz gedacht und mir fest vorgenommen, ihn anzurufen. Wir hatten uns damals so gut verstanden, dass er mehr als nur ein Bekannter für mich war. Eher ein Freund, den ich zu selten traf.
Heinz sah sich um und runzelte die Stirn. »Komm, Anna, lass uns rasch aus der Sonne gehen. Im Schloss ist es angenehm kühl. Ich war vor zwei Jahren hier, ein faszinierender Ort.«
Widerstand war zwecklos. Heinz zog mich durch den säulengeschmückten Eingang in einen kleinen Innenhof, von dem zahlreiche Türen abgingen. »Spätes 18. Jahrhundert«, murmelte er. »Eine Art Jagdschloss, erbaut von Scheich Ahmed al-Moudi. Die Wände der Räume waren mit Fresken bedeckt, aber sie sind zum großen Teil entweder verblichen oder mit weißer Farbe abgedeckt worden. Für seine Epoche und seine Religion teils gewagte Darstellungen.«
Er führte mich zu einer steinernen Bank in einer schattigen Ecke des Hofes. Obgleich es erst Anfang Mai war, stiegen die Temperaturen mittags bis auf dreißig Grad.
»Wo hast du denn Richard gelassen?«, fragte Heinz, als wir uns gesetzt hatten.
Ich erwiderte: »Er musste für zehn Tage in die USA, nach Boston zu einem internationalen Symposium zum Thema Kunst und Schwarzmarkt, eines seiner Spezialgebiete. Er hält dort als Antiquitätenhändler einen Vortrag über seine Erfahrungen mit dem Schwarzmarkt. Auch wenn er selbst sich davon fernhält, bekommt er noch immer obskure Angebote. Und die Polizei schätzt seine Expertise auf diesem Gebiet. Sie möchte ihn gerne als eine Art Undercoveragenten einsetzen. Richard verspürt wenig Lust, sich zu exponieren.«
Ich war heilfroh, dass sich mein Freund, der sich nicht immer genau an gesetzliche Vorschriften gehalten hatte, inzwischen zu einem fast braven Bürger mauserte.
Ehe Heinz weiterfragen konnte, fügte ich rasch hinzu: »Keine Angst, wir sind noch zusammen. Aber ich hatte mehr Lust auf Jordanien als auf Boston. Und Richard möchte danach zudem in Maine eine Cousine besuchen, die er nie zuvor gesehen hat.«
Irrte ich mich, oder schien Heinz meine Antwort zu bedauern? Für einen Moment legte sich ein Schatten auf sein Gesicht. Aber dann nickte er.
»Ich habe einiges über deine Abenteuer in den vergangenen Jahren gehört, Anna, und dein Buch darüber gelesen. Hättest du mir ruhig signiert schicken können, als Gegengabe für all die Krimis, die ich dir immer zusende.« Er sah mich einen Augenblick streng an, lächelte dann aber breit. »Was soll’s! Schön, dich wiederzusehen. Wir sollten intensiver in Kontakt bleiben. Ich lebe seit zwei Jahren nicht mehr in Hamburg, sondern in Cuxhaven. Aber das hast du sicher mitbekommen. Reizvolle Ecke und ein Katzensprung nach Helgoland, eine Insel, die ich sehr mag.«
Unser Reiseleiter Ansgar Meyers war inzwischen auch in den Hof getreten. Er ging geradewegs auf Heinz zu. »Du meine Güte, Winston Stevens persönlich!«, rief er zu meiner Überraschung. »Ich kenne alle Ihre Rascal-Romane und habe mir sogar die Verfilmungen angesehen. Sind Sie aus Vergnügen oder beruflich hier?« Ansgar Meyers konnte sehr direkt sein.
Heinz schmunzelte. »Wegen beidem. Mein neuer Roman ist keine Rascal-Story mehr. Ich habe die Reihe erst mal beiseitegelegt. Acht Bücher reichen. Ich habe eine neue Serie begonnen, diesmal mit Fällen, die auf wahren Ereignissen beruhen, also so eine Art True Crime als Basis haben. Zurzeit sehr beliebt. Der erste Band erscheint im August und spielt in Jordanien, aufgehängt an dem Fall von dem deutschen Geschäftsmann, den man vor einigen Jahren tot in diesem Wüstenschloss entdeckt hat. Das gab einen ziemlichen Aufruhr in den Medien.«
Ansgar Meyers unterbrach Heinz. »Ja, das war vor sechs Jahren. Ich war damals das erste Mal mit einer Reisegruppe hier, fast zur selben Zeit, als der Mord geschah. Der Ermordete stammte aus Köln, und bis heute ist der Fall meines Wissens nicht gelöst worden.«
»Nein, der Mörder oder die Mörderin läuft frei herum. Ein typischer Altfall. Erwin K. war ein Düsseldorfer Immobilienhändler mit Wohnsitz in Köln«, ergänzte Heinz. »Tatsächlich hat man bis heute nur zwei Verdächtige, seine Frau Karin, die kurz nach seinem Tod Erwins Partner heiratete, und seinen Stiefsohn Mike, den Karin aus ihrer ersten Ehe hatte. Beide waren damals mit auf der Reise, hatten aber ein Alibi. Während er in aller Frühe vor der Tageshitze einen Ausflug zu diesem Schloss machte, wollen sie und ihr Sohn noch geschlafen und den Rest des Tages am Swimmingpool des Hotels in Amman verbracht haben.«
»Da hast du wirklich gründlich recherchiert!«, warf ich ein.
Heinz ließ sich von mir nicht stören. »Erst gegen Abend meldeten sie dem Hotelchef, Erwin sei von einem Ausflug nicht zurückgekommen. Wenig später wurde seine Leiche in dem Schloss von einem Busfahrer entdeckt. Da seine Brieftasche, sein Handy und seine Rolex fehlten, ging man von einem Raubmord aus. Dennoch kam es zu einem Prozess, bei dem Karin K., ihr Sohn und auch Erwins Partner vorgeladen wurden. Aber irgendeine Beteiligung an dem Verbrechen konnte Karin nicht nachgewiesen werden. Der Staatsanwalt versuchte ihr zu unterstellen, ihren Mann mit Hilfe eines gedungenen Mörders beseitigt zu haben, da ihre Ehe schon lange im Argen lag, Erwin sich aber nicht scheiden lassen wollte. Karin soll zudem schon geraume Zeit eine Affäre gehabt haben. Aber der Prozess versandete, im wahrsten Sinne des Wortes. Karin und Mike kamen davon. Auch Erwins Partner, der mit ihm öfter Streit hatte, konnte nichts nachgewiesen werden. Er war zum Zeitpunkt von Erwins Tod tatsächlich kurz in Amman gewesen, aber auch er hatte ein Alibi. Ein Jahr später haben Karin und er geheiratet. Sie ist eine gute Partie.«
Ansgar Meyers ergänzte: »Eine bildhübsche Frau, ich habe sie damals kurz im Hotel gesehen.« Damit ließ er Heinz und mich wieder allein.
»Und du nimmst jetzt diese Geschichte als Ausgangspunkt für dein neues Buch?« Ich sah Heinz fragend an.
Er nahm einen großen Schluck aus einer Wasserflasche, die er aus einem Jutebeutel mit der Aufschrift »Forever young« gefischt hatte. »Ja, in der Tat. Mein neuer Ermittler ist …«, hier pausierte er für einige Sekunden, ehe er fortfuhr: »… ein Privatdetektiv, der als Reiseleiter getarnt vor Ort recherchiert. Er war mal Polizist, aber nach einem Fall traumatisiert und deshalb einige Jahre tatsächlich hauptberuflich als Reiseleiter unterwegs.«
»Aber nun findet er zurück in seinen alten Beruf und verbindet ihn geschickt mit seinem Job als Reiseleiter?«, fragte ich.
»Ganz genau. Beauftragt wird er von der Tochter des Toten aus erster Ehe, die sich mit ihrer Stiefmutter und ihrem Stiefbruder nicht gut versteht und den beiden zutraut, den Mord initiiert zu haben. Da setzt die Fiktion ein. Erwin hatte aus seiner ersten Ehe keine Kinder, und seine geschiedene erste Frau Margot lebt heute in Neuseeland und ist mit einem Weinbauern verheiratet.«
»Und wo treibt sich Erwins Witwe herum?«
Heinz grinste. »Karin und ihr Sohn Michael alias Mike wohnen inzwischen in Berlin, und sie besitzt ein Haus auf Gran Canaria. Karin ist seit zwei Jahren wieder geschieden. Das Gerücht hält sich, sie habe während ihrer Ehe mit Erwin und auch während ihrer Ehe mit Erwins Partner, Christian Frieling, einen Lover gehabt.«
Heinz ließ seinen Blick über den Innenhof schweifen. »In meinem Roman nehme ich starke Veränderungen vor. Sonst könnte Karin unangenehm werden. Da sie über Mittel verfügt, wäre ihr zuzutrauen, mir einen Anwalt auf den Hals zu hetzen. Sie gilt als kalt und geldgierig.«
Heinz nahm noch einen Schluck aus seiner Wasserflasche. »Ich glaube, dass sie Erwin tatsächlich loswerden wollte. In meinem Buch heißt Karin Else, und ihr Sohn Michael heißt Johann. Aus Erwin K. ist Albert Meurer geworden. Im Roman werden Else und Johann zwar auch verdächtigt, aber dann wird ein anderer der Tat überführt.«
Er bemerkte meinen gespannten Blick. »Ich verrate dir nicht, wer in meinem Roman der Mörder ist, allerdings weder der Butler noch der Gärtner. Wobei ich bis heute glaube, dass in der Realität Karin hinter der Ermordung von Erwin K. steht, ihn zwar nicht selbst getötet, aber einen Mörder verdingt hat.«
»Wie soll das Buch heißen?«, fragte ich.
Heinz lächelte. »Ganz simpel, ›Der Tote im Wüstenschloss‹. Ich habe nur noch mal den Tatort sehen wollen, um bei den letzten Korrekturen ein paar Details einzufügen. Es soll alles möglichst authentisch wirken. Im Juli geht das Buch in Druck.« Heinz sah plötzlich nachdenklich aus.
»Ist was?«, fragte ich ihn. Sein freundliches Lächeln war einem leicht melancholischen Ausdruck gewichen.
Er starrte auf die gegenüberliegende Mauer des Innenhofes. Dann gab er sich einen kleinen Ruck. »Weißt du, Anna, auf diese Idee mit den Krimis, die auf wahren Begebenheiten beruhen, bin ich eigentlich durch ein Ereignis gekommen, das uns beide betrifft.«
»Wie das?« Ich kramte in meinem Gedächtnis, konnte aber nichts entdecken, worauf diese Behauptung gründete.
Heinz schmunzelte. »Ich kann mir denken, dass dich meine Aussage verwirrt.« Er ergriff erneut seine Wasserflasche. Nach einem langen Schluck erklärte er: »Man sollte öfter neue Wege beschreiten. Rascal fing an mich zu nerven. Und Yorkshire ist zwar wunderschön, doch vorläufig reicht es mir.«
Über dem Schloss kreiste ein riesiger Raubvogel. Sein Ruf lenkte mich ab. Fasziniert starrte ich hinauf zu dem Vogel, der unter dem tiefblauen Himmel seine Bahnen zog. Die Stimmen meiner Mitreisenden klangen gedämpft aus unterschiedlichen Räumen des Gebäudes, und nur die Stimme von Meyers übertönte gelegentlich das Gemurmel.
Heinz stieß mich an. »Also, die Idee zu dieser neuen Reihe kam mir vor zwei Jahren, als ich mir Fotos von der Reise angesehen habe, die wir vor gut vier Jahren gemeinsam unternommen haben. Weißt du noch, wie wir uns wiedergetroffen haben?«
Schlagartig kehrte die Erinnerung zurück. Island. Dahin war ich im Juli jenes Jahres gereist, mit einer Reisegruppe für knapp acht Tage, zwischen zwei Aufträgen. Mehr Zeit hatte ich nicht, doch diese Tage in Island hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt. Obwohl das Wetter nicht sehr sommerlich war und ich am dritten regnerischen Morgen eine leichte Sehnsucht nach Italien verspürte, gefiel es mir dort sehr. Vor allem mochte ich die Helligkeit und schlief auch ohne geschlossene Vorhänge ganz wunderbar, erschöpft von den vielen Eindrücken und Begegnungen. Richard war erst gegen Ende der Reise aufgetaucht, für knapp drei Tage.
Heinz schob sich die Sonnenbrille über die Augen. Die Mittagssonne hatte die Mauer zum Innenhof erklommen und schien bis in seine dunklen Ecken. Ich holte ebenfalls meine Sonnenbrille hervor.
Heinz blickte hinüber zu einer halb zerbrochenen Säule auf der gegenüberliegenden Seite und sagte: »Da drüben hat man Erwin gefunden. Er lag damals hinter einem Säulenstück, mit eingeschlagenem Schädel. In meinem Buch wird der tote Albert Meurer im oberen Stockwerk entdeckt. Hinter einem zertrümmerten Mauerteil.«
Mich überlief ein leichter Schauer. Das klang so nüchtern und herzlos. Auch ich hatte schon einiges auf dem Gebiet der Kriminalität erlebt, konnte mich aber nach wie vor nicht emotional davon distanzieren. Und schon gar nicht ohne jede Empathie über Morde sprechen. Heinz war wesentlich abgebrühter, zumal ihm das alles nur Mittel zum Zweck bot, spannende Bücher zu schreiben.
Er erkannte mein Unbehagen, nickte und sagte freundlich: »Entschuldige. Aber ich bin manchmal wie ein Arzt, der zwischen sich und seine Fälle eine gewisse Distanz legen muss. Das klingt für fremde Ohren pietätlos. Okay, jetzt zurück zum Trigger für diese Reihe.«
In diesem Moment tauchte Meyers auf. »Frau Bentorp, wollen Sie sich uns nicht wieder anschließen? Die anderen sind im oberen Stock, wo es noch Reste von Fresken zu sehen gibt. Wir wollen in einer Viertelstunde weiterfahren.«
Er wirkte höflich, hatte aber einen strengen Unterton, der mir missfiel. »Ja, gleich«, antwortete ich deshalb kurz angebunden.
Meyers kehrte um und verschwand wieder im Schloss. Heinz grinste. »Meyers würde sich nicht als Vorbild für meinen Reiseleiter in der neuen Reihe eignen«, flüsterte er. »Nun gut, ich fasse mich kurz. Erinnerst du dich noch an unseren Ausflug in den Vulkankrater?«
Und wie ich mich erinnerte! Der Abstieg in die Tiefe, die grell beleuchteten Kraterwände, deren Farben an Gemälde von Jackson Pollock erinnerten, und die beklemmende Atmosphäre zwischen den zackigen Felsen der steinernen Halle. An der einen Seite ging es ein Stück tiefer hinunter in den Vulkan. Ein am Rand langführendes gelbes Seil mit Warnschild sollte Neugierige abhalten, sich zu dicht an den gefährlichen Abgrund zu wagen. Nur eine junge Hamburgerin trotzte dem Verbot und machte ein Selfie direkt an der Gefahrenzone. Unser Begleiter Thorinn, ein freundlicher Isländer, ermahnte sie zweimal, wurde dann deutlicher, pfiff sie zurück und schickte sie mit dem Aufzug kurzerhand nach oben. Ich fand dieses Erlebnis zwar aufregend und beeindruckend, war aber erleichtert, als wir nach einer Stunde wieder hinauffuhren und am Fuße des Vulkans in einem kleinen Kiosk heißen Kaffee und Zimtschnecken serviert bekamen.
Heinz lächelte. »Ich sehe, du erinnerst dich sehr gut daran. Wir hatten doch in unserer Gruppe diesen ein wenig sonderbaren Dozenten dabei, der natürlich alles besser wusste als Thorinn. Er hieß Markus Hannemann. Er war ein noch größerer Eigenbrötler als ich. Erstaunlicherweise redete er aber mit mir und gestand mir, dass er als Erholung zwischen seinen wissenschaftlichen Arbeiten gerne mal Krimis lese. Und er hatte meinen ersten Roman der Rascal-Reihe ›Der Tote im Torf‹ gelesen und sogar meinen allerersten Thriller ›Gletschermorde‹, der in den Dolomiten spielt. Allerdings war das eine kurzlebige Reihe. Nach Band drei habe ich sie abgebrochen.«
An sich las ich selbst gerne Krimis, aber die Werke von »Winston Stevens« waren recht blutrünstig. Seine ersten drei Bücher wimmelten von Serienkillern. Sein britischer Ermittler Mortimer Rascal dagegen wurde mit weniger bluttriefenden Morden konfrontiert. Diese Bücher empfand ich als spannend und sogar an manchen Stellen humorvoll. Ich bedauerte, dass Rascal nach der Lösung seines letzten Falls, in dem es um eine geraubte Originalausgabe von »Jane Eyre« ging und den Mord an dem Besitzer dieses Werkes, einem Pfarrer, beschloss, seine Jugendliebe Eve zu heiraten und fortan nur noch seinen Hobbys, darunter Malen und Angeln, zu frönen. Ein trauriger Abgang für diesen geschätzten Ermittler. Aber man soll nie nie sagen. Vielleicht gab es die Chance einer Rückkehr des wackeren Streiters für Recht und Gerechtigkeit ins »wahre Leben«.
»Wo bist du mit deinen Gedanken? Lass mich schnell weitererzählen, ehe der Reiseleiter wieder dazwischenfunkt.« Heinz stupste mich.
»Nun, Hannemann stieg mit uns in den Krater, erzählte mir von seiner Arbeit, darunter ein Werk über christliche Mythen auf Island und ein Buch über den Vergleich zwischen den antiken und den nordischen Göttern, und meinte, im Grunde seien das auch Krimis. Viele Tote, Verrat, Neid, Gier und gekränkte Seelen. Wir verabredeten uns am nächsten Tag zum Frühstück. Das sagte er in letzter Minute wegen irgendwelcher Gründe ab, und zwei Tage darauf war er verschwunden. Er wollte länger als wir in Island bleiben. Wie er mir erklärte, kannte er das Land von seinen Recherchen gut und wollte eine Wanderung ohne Begleitung unternehmen. Wir haben unsere Adressen ausgetauscht. Aber er ist nie wieder nach Deutschland zurückgekehrt. Nach Aussagen offizieller Stellen verschollen bei seiner Wanderung, mutmaßlich in eine Gletscherspalte gefallen und buchstäblich vom Erdboden verschluckt. Sein vakanter Lehrstuhl in Münster soll in diesem Herbst wieder besetzt werden.«
Davon hatte ich nichts gewusst. Nach meiner Rückkehr aus Island war ich mit beruflichen Fragen beschäftigt gewesen und erneut in eine meiner vielen brenzligen Situationen geraten, die allmählich zur Gewohnheit wurden. Nach Moormännern und geheimnisvollen Höhlen im Ith und einem mysteriösen Keltenschatz waren es diesmal Gemälde aus der Renaissance gewesen, die mich in Atem hielten.
In all dem Trubel während des restlichen Jahres hatte ich nicht mitbekommen, dass das Verschwinden von Hannemann für einigen Wirbel gesorgt hatte. Aber ich hatte mich nicht besonders für diesen arroganten Mann interessiert, der mir ständig von seinen ungeheuer wichtigen und großartigen Forschungen über Mythen und Sagen erzählen wollte und dabei stets von Hölzchen auf Stöckchen kam. Mit Heinz mochte er ein Gespräch geführt haben, mich wollte er belehren. Ich erinnerte mich, dass ich zwischendurch seine Studenten in Münster bedauerte, die sich diese Monologe in den Vorlesungen anhören mussten.
Irgendwann hatte er mich als hoffnungslosen Fall aufgegeben und sich einer jungen Dame zugewandt, die sich an seine Fersen heftete, was ihm zu schmeicheln schien.
»Und wie hat dich Hannemanns Verschwinden zu deiner neuen Reihe animiert?« Ich sah Meyers in einer der Öffnungen des Schlosses im oberen Stock gegenüber auftauchen und meinte seinen tadelnden Blick zu spüren.
Heinz schaute zu Meyers und lachte. »Lass dich doch nicht von dem guten Mann einschüchtern! Okay, als ich von Hannemanns Fall hörte, kam mir die Idee, in Zukunft Thriller zu schreiben, die auf einem wahren Fall basieren. Falls ich Rascal je wieder aktiviere, wird er mit Eve nach Cornwall oder Essex auswandern. Jetzt habe ich erst einmal diese Story vom Toten im Wüstenschloss geschrieben, dann folgt meine fiktive Aufarbeitung von Hannemanns Fall. Zwar gibt es bisher keine Leiche, aber ich habe meist einen untrüglichen Instinkt. Ich glaube, dass unser lieber Professor in etwas hineingeraten ist, das ihn das Leben gekostet hat. Er hat in unserem Gespräch Anmerkungen fallen lassen, die man als Besorgnis interpretieren könnte. Genau weiß ich das nicht mehr. Zu Hause habe ich einige Aufzeichnungen dazu. Ich werde mich nach dieser Reise intensiv damit befassen und wohl zu weiteren Recherchen nach Island fahren.«
Er stand auf. »Ich bleibe mit dir in Kontakt. Da du damals bei dieser Gruppe dabei warst, interessiert dich sicher, was ich herausfinde. Und ohnehin scheinst du Fälle magisch anzuziehen.«
Er nahm meine Hand. »Schade, ich fahre gleich zurück nach Amman, habe dort morgen im Goethe-Institut eine Vorab-Lesung aus dem Wüstenschloss-Buch und eine anschließende Diskussion über Fakten und Fiktion im Krimi. Und dann fliege ich zurück nach Deutschland.« Er umarmte mich. »Du bist ja noch etwas länger hier. Melde dich bitte nach deiner Rückkehr. Wir sollten uns demnächst bei einem guten Essen treffen.«
Er grinste verschmitzt. »Ich würde dich auch gerne mit nach Island nehmen. Du hast den Ruf, eine Art Miss Marple zu sein. Du wärst mir sicherlich nützlich!«
Verlegen erwiderte ich: »Nein, das ist vorbei. Ich werde mich in Zukunft um meine eigenen Angelegenheiten kümmern. Richard und ich möchten im November für einen Monat nach Neuseeland reisen, und im nächsten Jahr werde ich ein Angebot annehmen, an der Universität Hannover vier Vorträge pro Semester zu unterschiedlichen Kunstthemen zu halten.«
Heinz schmunzelte. »Wir werden sehen! Auf jeden Fall beziehe ich dich in meine Recherchen ein und halte dich auf dem Laufenden. Und wenn nur, um deine Meinung zu hören. Das nächste Buch werde ich dir widmen.« Damit verabschiedete er sich und verließ pfeifend den schattigen Innenhof des alten Wüstenschlosses.
Ich trollte mich wieder zu meiner Reisegruppe, über die Ansgar Meyers streng, aber gerecht wachte. Er gestattete mir, »trotz der Zeitknappheit« einen Blick auf die Fresken im oberen Stockwerk zu werfen, ehe er uns alle wieder im Bus versammelte. Ich fühlte einen leichten Stich des Bedauerns, als ich Heinz in seinen Mietwagen steigen und in einer Staubwolke verschwinden sah.
Ich vermied es bis zu unserer Abfahrt, in die Ecke des Hofs hinüberzusehen, wo vor einigen Jahren der Tote im Wüstenschloss gelegen hatte. Manchmal bin ich sehr abergläubisch.
Die verlorene Schrift
»Anna, wir müssen uns bald treffen! Ich bin noch in Island und recherchiere für meinen zweiten Band mit meinem Reiseleiter Martin Grosse, dem Ex-Polizisten. Ich habe dir ja in Jordanien vor zwei Monaten davon erzählt.« Heinz Krögers Stimme auf der Mailbox klang ein wenig verwaschen.
Ich war gerade von einem kurzen Ausflug zu meiner Mutter in Köln zurückgekommen und saß im Wohnzimmer meiner kleinen Wohnung in Hannover. Meine Mutter näherte sich ihrem neunzigsten Geburtstag und hatte mit mir ihre Feier planen wollen. Doch dann drohte ein Bahnstreik, und ich fuhr früher als gedacht wieder zurück, da ich am nächsten Tag in der Universität Hannover zum Semesterende einen Vortrag über »Mythen vom Moor« halten sollte.
Heinz stockte einen Moment und fuhr dann fort: »Du wirst es nicht glauben, was ich für interessante neue Erkenntnisse zu Hannemann gewonnen habe. Ich bin mir inzwischen fast sicher, dass er damals nicht bei seiner Wanderung verunglückt ist, sondern ermordet wurde. Warum, wo und wie, weiß ich noch nicht. Ich muss da noch einigen Spuren nachgehen. Morgen treffe ich Birgit Gunnardottir, die Hannemann vor vier Jahren betreut hat, als er in der Nationalbibliothek für einen Vortrag Material gesucht hat.«
Ein lautstarkes Niesen dröhnte an mein Ohr. »Entschuldigung. Ich bin leicht erkältet. Ich habe mich mit unserem Begleiter in die Unterwelt, Thorinn Björnson, verabredet. Er leitet heute ein kleines Museum zur isländischen Vulkanologie in der Nähe der Blauen Lagune, begleitet aber immer noch Reisegruppen. Lass uns einen Termin verabreden.«
Wieder ein kräftiger Nieser. Heinz lachte. »Isländischer Schnupfen, ein weniger schönes Andenken. Also, Anna, wie wäre es am Donnerstag in einer Woche bei ›Il Mezzogiorno‹, diesem neuen Italiener in der Nähe des Alten Rathauses? Wäre zwanzig Uhr okay? So, ich bin jetzt zum Mittagessen mit einem Typen verabredet, der Hannemann auch gut kannte, sein früherer Assistent Bernd Zabel, der hier ein paar Tage lang alte Dokumente sichtet und den vakanten Lehrstuhl an der Uni Münster im Wintersemester übernimmt. Sein Fachgebiet sind nordische Heldensagen. Alles Liebe, bis bald!«
Typisch Heinz. Wenn er anfing zu reden, hörte er immer nur schwer auf. Ich beschloss, ihn am nächsten Tag anzurufen. Heute war Mittwoch, der 17. Juli. Er wollte mich am 25. Juli treffen. Am 26. Juli wollten Richard und ich nach Spiekeroog fahren. Fünf Tage ohne jeglichen Kontakt zur weiten Welt, einfach Ruhe und Abgeschiedenheit. Mit Mühe war es uns gelungen, über Beziehungen eine kleine Ferienwohnung zu ergattern. Harald Frostauer, mein alter Bekannter und Besserwisser-Freund, kannte Hinz und Kunz und hatte es geschafft, uns in der Nähe eines Hotels einzuquartieren, in dem er schon einige Male gewohnt hatte. »Du brauchst mal Ruhe«, hatte er gönnerhaft gesagt und mir auf die Schulter geklopft. Nervig wie immer, aber auch nützlich und hilfsbereit.
Richard war, wie oft, nicht zu erreichen. Er arbeitete zum x-ten Mal an einem neuen Konzept für die von ihm mitgestaltete Fernsehshow »Gutes für Geld«. Und saß sicher abgeschottet mit dicken Kopfhörern auf den Ohren in seinem Arbeitszimmer, während ich darauf wartete, dass mir ein paar zündende Ideen für meinen Vortrag zum Thema Moor-Mythen kamen. Keine Chance. Lieber hörte ich mir die Mailbox-Nachricht von Heinz das zweite Mal an und überlegte, ob ich ein klares Bild von Markus Hannemann vor Augen hatte. Aber ich erinnerte mich nur an einen eher kleinen Mann mit Halbglatze und lauter Stimme, dessen Monologe mich gestört hatten. Am meisten hatte mich seine intensive Frage gestört, ob ich mich für illuminierte Bücher interessierte, und ehe ich antworten konnte, hatte er zu einem Vortrag über altirische Buchkunst angesetzt.
Weshalb sollte irgendjemand Interesse daran haben, ausgerechnet Markus Hannemann zu ermorden?
Ich setzte mich an meinen Schreibtisch und googelte ihn. Viel gab es nicht über ihn. Geboren 1960 in Würzburg, 1965 mit seinen Eltern nach Westberlin gezogen, Vater Lehrer für Latein und Griechisch an einem Berliner Gymnasium, eine ältere Schwester, die Medizin studierte. Hannemann belegte Altnordische Sprachen und Keltische Philologie, promovierte über einen irischen Mönch, der im 12. Jahrhundert auf Island eine Chronik zur Situation von Klöstern und Kirchen zur Wikingerzeit verfasste, und habilitierte sich 1997 schließlich mit einer Arbeit über heidnische Wurzeln irischer Heiligenlegenden. Alles sehr speziell, aber für mich als bekennenden Irlandfan durchaus interessant.
Allerdings dann doch nichts für Laien, wie ich feststellte, als ich versuchte, seine Habilitationsschrift aufzurufen. Altirische Wörter, frühes Isländisch, zahllose Fußnoten und endlose Zitate auf Latein.
Hannemann übernahm ein Lehramt an der Universität Köln, dann in München und landete vor acht Jahren in Münster. Er hielt häufig Vorträge in Dublin und in Reykjavík. Der letzte Eintrag stammte aus dem Jahr 2020. Da hieß es: »Verschollen im Frühsommer 2020 bei einer Wanderung auf Grímsey, Island. 2023 für tot erklärt.« Als Angehörige wurde nur seine vier Jahre ältere Schwester Hilde erwähnt.
Ich beendete das Programm. Weshalb war sich mein alter Bekannter Heinz so sicher, dass Hannemann ermordet worden war? Weil er sich in seiner lebhaften Phantasie einen Fall zusammenreimte, um einen Plot für seinen neuen True-Crime-Fall zu haben? Alles nur wishful thinking? Oder hatte er tatsächlich handfeste Hinweise auf ein Verbrechen?
Obgleich ich eigentlich nichts mehr mit Verbrechen zu tun haben wollte und dies letztens auch meinem guten Freund Polizeihauptkommissar Hans Schumann erklärt hatte, der darauf nur mit einem leichten Lächeln reagierte, juckte es mich doch, mehr zu erfahren. Von Haus aus bin ich neugierig und seit meinem ersten Abenteuer im Moor von Bresterholz vor acht Jahren, als ich Schumann, Richard und Harald Frostauer erstmals begegnete, leider allzu anfällig für criminal elements. Wie sagte einst die berühmte Schriftstellerin Dorothy Parker? »Die Heilung für Langeweile ist Neugier. Es gibt kein Heilmittel für Neugier.« Sie hatte stets nach diesem Motto gelebt, auch wenn es ihr auf Dauer kein Glück brachte und sie 1967 mit dreiundsiebzig Jahren vereinsamt in New York starb.
War Langeweile tatsächlich die treibende Kraft dafür, dass ich immer wieder in neue Kriminalfälle geradezu hineinstolperte? Eigentlich führte ich ein recht abwechslungsreiches Leben mit einem interessanten Beruf, guten Freunden, selbst wenn mein sogenannter Lebensgefährte Richard sich manchmal als recht unzuverlässiger Zeitgenosse erwies, schönen Reisen, einer hübschen Wohnung in Hannover, einem ererbten Haus in Köln in der Nähe meiner trotz ihres fortgeschrittenen Alters noch rüstigen Mutter und dazu spannenden Erinnerungen, von denen ich zehrte.
Seufzend versuchte ich erneut, Richard anzurufen. Aber er hatte sein Handy ausgeschaltet. Mal wieder. Dann eben nicht. Inzwischen war ich überzeugter denn je, dass es eine gute Entscheidung gewesen war, nicht auf Richards Angebot für ein gemeinsames Domizil einzugehen. Er besaß ein sehr hübsches Häuschen am Kanal mit viel Platz. Aber ich wusste, dass das Zusammenleben auf Dauer nicht gut gehen würde. Er und ich waren beide Individualisten. Am besten vertrugen wir uns bei der Recherche für Kriminalfälle, was aber nach meiner neuen Lebenssicht keine Zukunftsaussichten bot. Ich wollte meine Ruhe und keine weiteren Fälle mehr.
Ein wenig melancholisch machte ich mich bettfertig, obgleich es erst einundzwanzig Uhr war. Als ich unter die Decke kroch und nach einem der Bücher griff, das in dem stetig wachsenden Stapel auf meinem Nachttisch steckte, begann der Stapel zu wanken, und mit einem lauten Poltern prallten die zehn Bücher auf den Boden. Verärgert hob ich sie wieder auf und sortierte sie neu. Dabei stieß ich auf die Biografie von Reginald Fitzgibbon, über den seine Urururenkelin Deirdre geschrieben hatte. Ich war nur bis zur Hälfte des Buches vorgedrungen und legte es oben auf den Stapel.
In diesem Moment ertönte die »Star Wars«-Fanfare meines Handys. Der Name auf dem Display überraschte mich. Gerade hatte ich an sie gedacht, als ich die Bücher neu ordnete, und jetzt war sie am Telefon – meine irische Freundin Deirdre, die ich vor einigen Jahren das erste Mal traf, als sie in Deutschland für die Biografie ihres Vorfahren Reginald Fitzgibbon recherchierte.
Dieser Vorfahre hatte im Dienste des Königs Georg III. als Kartograf in der Nähe des Ortes Bresterholz in einer damals von Mooren geprägten Landschaft gearbeitet. Dabei widerfuhren ihm diverse Abenteuer, verknüpft mit Sagen rund um das Moor und einem legendären Moormann, dem Hüter verlorener Schätze. Mir war Reginald erstmals begegnet, als ich in der Gegend von Bresterholz ein Häuschen gemietet hatte, um in Ruhe an einem Katalog zu einer Ausstellung mit Landkarten aus dem späten 18. Jahrhundert zu arbeiten. Sein Schicksal hat mich seitdem stets begleitet.
Seine Nachfahrin Deirdre war inzwischen mit einem Kurator am Dubliner Nationalmuseum verheiratet und Mutter zweier Kinder. Ich war die Patentante des älteren Kindes. In dem Jahr, in dem Deirdre ihren späteren Mann David kennengelernt hatte, besuchte ich sie in Dublin und geriet wieder einmal in eines meiner Abenteuer, in dem es um kostbare Druidenmasken und einen irischen Geheimbund ging, dessen Aktivitäten bis nach Niedersachsen ausstrahlten.
»Deirdre! Wie schön, von dir zu hören!« Ich plante schon längere Zeit, sie wieder einmal zu besuchen. Seit Kurzem lebte sie mit ihrer Familie in Malahide, nördlich von Dublin, in einem alten Haus, das Deirdre von einer entfernten Cousine geerbt hatte. Ihre Stimme klang wie immer ein wenig rau und atemlos.
»Anna, wir haben uns viel zu lange nicht gesprochen. Ich möchte dich nach Dublin einladen. Am 3. August stelle ich in der Bibliothek von Trinity College ein neues Buch von mir vor. Darin geht es um ein phantastisches Projekt, das sich mit den Schriften eines irischen Mönches befasst, der im 11. Jahrhundert auf Island lebte, aber in Irland starb. Leider gilt sein Hauptwerk, das in der Nationalbibliothek in Reykjavík aufbewahrt wurde, als verschollen. Wahrscheinlich gestohlen. Dieses Werk von ihm war wohl zunächst in Irland und gelangte im 16. Jahrhundert nach Island, kam dann zurück nach Irland und schließlich als Geschenk wieder nach Reykjavík.«
Auch Deirdre besaß die Eigenschaft, ähnlich wie Heinz, ohne Punkt und Komma reden zu können. Manchmal fragte ich mich, ob sie überhaupt atmete.
»Wir haben hier in Dublin eine sonderbare Zusammenstellung seiner Aufzeichnungen gefunden, die Ende des 18. Jahrhunderts von einem Bibliothekar am Trinity verlegt wurde. Darüber habe ich ein kleines Buch geschrieben, das vor allem ein Licht auf die frühen Arbeiten mehrerer Mönche aus der Zeit zwischen 1000 und 1200 wirft. Unser legendäres ›Book of Kells‹ ist wesentlich älter, aber dieser Corran aus dem 11. Jahrhundert klingt faszinierend.« Deirdre wirkte sehr aufgeregt.
»Das ist großartig«, antwortete ich. »Du wirst mir aber jetzt nicht sagen, dass dein Vorfahre Reginald irgendwie mit diesem Mönch zu tun hat.«
Deirdre lachte laut. »Genauso ist es aber! Wir haben dieses Buch aus dem 18. Jahrhundert im Nachlass meiner Cousine gefunden, die mir das Haus samt einer umfangreichen Bibliothek vererbt hat. In einem der Regale habe ich uralte Bücher aus einem Sammelsurium von ramponierten Bänden hervorgekramt. Ich wollte sie zum größten Teil wegwerfen, da die meisten Wasserflecken und Schimmel aufweisen.«
Im Hintergrund hörte ich plötzlich Kindergeschrei. »Entschuldige, Anna. Ich melde mich gleich wieder.« Deirdre unterbrach ihren Anruf. Doch nur zwei Minuten später klingelte mein Handy erneut.
»So, das war kurz und schmerzlos. Meine lieben Monster haben sich um einen Plüschhund gestritten. Jetzt sitzt Mobby bei mir auf dem Schoß, und die beiden haben sich mit ihren Kuschelbären ins Bett verzogen.«
Ich musste lachen. Deirdre meisterte alle Probleme, wie es schien, mit Humor.
Sie kicherte. »Ach je, wer hätte gedacht, dass ich als Mutter jemals zu Potte kommen würde.« Es knackte in der Leitung. »Also, zurück zu dem Buch, das unter diesem Haufen halb vergammelter Werke lag. Es ist kein Original. Dann wäre das ein illuminiertes Werk von ungeheurem Wert. Aber es ist eine bearbeitete Ausgabe einer der wichtigsten Schriften des Mönchs Corran McSlaughty, gedruckt im Jahr 1799.«
»Deirdre, mach mal langsam. Ich komme nicht mehr mit!« Mein Kopf dröhnte. Deirdre nahm keine Rücksicht.
»Du wirst es nicht glauben, aber darin sind Kapitel einer Chronik über ein kleines Kloster an der Südwestküste von Island, dazu biografische Notizen des Mönchs über sein Leben in Irland nach seiner Rückkehr von Island nach dreißig Jahren und Angaben zu seinem Hauptwerk. Das meiste ist aus dem Lateinischen ins Englische übersetzt.«
Wieder unterbrach ein lauter Schrei unser Gespräch. Aber Deirdre ließ sich diesmal nicht stören. »Das kann Daddy jetzt übernehmen«, meinte sie und fuhr fort: »Der Kurator der Trinity-Library hat sich meinen Fund gründlich angeschaut. Neben der Wiedergabe dieser meist persönlichen Daten aus Corrans Leben befinden sich darin eingestreut Anmerkungen zum Einfluss irischer Heiligenlegenden und des Aberglaubens auf die isländische Literatur jener frühen Epoche. Der Titel dieses Konglomerats lautet ›Stories from the Land of Ice and Fire‹.«
Ich wunderte mich wieder einmal über die Duplizität der Ereignisse. Die Verbindung zu Island. Und auch Hannemann hatte über einen irischen Mönch jener Zeit promoviert und sich mit den heidnischen Wurzeln von Heiligenlegenden beschäftigt. »Und was hat es nun mit diesem verschollenen Buch auf sich?«, fragte ich.
»Das illuminierte Original seiner großen Schrift, das 1820 zurück nach Dublin gelangte, wurde um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Königin Victoria der damaligen Nationalbibliothek von Reykjavík gestiftet. Island gehörte damals zu Dänemark. Das Buch lag seitdem gut behütet in der Bibliothek, seit 1994 in deren Neubau in einer speziellen Abteilung für illuminierte Werke. Aber, wie gesagt, es ist seit einigen Jahren nicht mehr auffindbar. Unser Kurator Timothy Halloran sagte mir, dass Corrans ›Book of Thor‹ 2020 zum Mittelpunkt eines Forschungsprojekts werden sollte, in das die Universität Münster involviert ist. Aber da das Buch verschwunden ist, liegt das Forschungsprojekt auf Eis.«
Das Kindergeschrei, das inzwischen die Lautstärke eines Gewitters angenommen hatte, beeindruckte meine Freundin nicht im Geringsten. Sie fuhr fort:
»Man weiß nur, dass es in dem Werk um nordische Mythen geht und um ihre Beziehung zum Christentum. Ich hoffe, dass diese Ausgabe von 1799 mehr Aufschluss geben wird. Ich lese es gerade noch. Zwei kleinere Dokumente, deren Autor Corran gewesen sein könnte, liegen im Trinity und handeln von den irischen Kirchenreformen im 11. Jahrhundert und vom Nutzen isländischer Pferde.« Sie lachte.
»Wie kommt dein Urururugroßvater Reginald dabei ins Spiel?«, fragte ich.
Deirdre nieste. Allerdings weniger laut als mein Freund Heinz. »Kinderschnupfen«, kommentierte sie. »Reginald? Der besaß eine sehr beeindruckende Büchersammlung. Und die hat er seinem Sohn vererbt. Der wiederum seinem Sohn und so weiter. Irgendwann hat dann eine spätere Nachfahrin die Bücher an eine Cousine weitergegeben, und sie sind hier in dem Haus in Malahide gelandet. Das steht alles in meiner Biografie über Reginald, die du endlich zu Ende lesen solltest. Ob Reginald ein Nachfahre dieses einstigen Mönchs war, weiß ich nicht. Am liebsten würde ich nach Island fliegen, um mir anzuschauen, wo Corran einst gelebt hat. Angeblich hat sich die Landschaft dort trotz Erdbeben und Vulkanausbrüchen in all den Jahrhunderten kaum verändert.«
»Ich werde versuchen, zu deinem Vortrag zu kommen. Schon längst wollte ich mein Patenkind wiedersehen.« Eine bleierne Müdigkeit hatte mich überfallen. Mit Deirdres Temperament mitzuhalten war stets eine Herausforderung.
Das Thema ihres geplanten Vortrags interessierte mich ehrlicherweise nicht rasend. Ein mittelalterlicher Mönch auf Island? Nordische Mythen? Eher etwas für Experten wie den verschollenen Professor Markus Hannemann. Der hätte sicher sofort alle Einzelheiten zur Biografie von Corran McSlaughty heruntergerasselt. Aber ich wollte Deirdre nicht verletzen. Mit einem fröhlichen »Nighty night« beendete sie unser Gespräch.
Am nächsten Vormittag versuchte ich Heinz zu erreichen. In Island war es, genau wie in Irland und Großbritannien, eine Stunde früher als bei uns. Tatsächlich nahm er nach mehrmaligem Läuten an. »Ach, Anna, gut, dass du zurückrufst. Ich bin auf dem Weg zur Halbinsel Grímsey, wo Hannemann angeblich bei seiner Wanderung verunglückt und seither unauffindbar ist.«
»Wie lief dein Essen mit diesem Zabel?«, fragte ich.
Heinz seufzte. »Ach, das war ein Flop. Zabel war gerade mal ein Jahr Assistent von Hannemann, lehrte dann in Berlin, geht aber demnächst nach Münster. Er konnte mir wenig Konkretes sagen. Nur, dass Hannemann kurz vor seiner Abreise nach Island in dem Sommer nervös gewirkt habe. Aber Zabel meinte, das könnte auch an Hannemanns Lampenfieber gelegen haben, da er an der Deutschen Botschaft einen Abend mit illustren Gästen machen sollte. Zudem saß er an einer Arbeit über einen irischen Mönch, der lange auf Island lebte. Zabel war zwar gleichzeitig mit Hannemann auf Island, sah ihn aber selten, da er an einem Aufsatz über die Darstellung nordischer Gottheiten in Hollywood schrieb. Stichwort ›Avengers‹. Er glaubt, dass Hannemann tatsächlich bei seiner Wanderung verunglückt ist. Zwei Tage hatte er für diese Wanderung eingeplant und danach einen Tag in Dalvík, wo es Wikingergräber und ein Museum gibt, ehe er dann zurück nach Deutschland fliegen wollte.«
Heinz wirkte frustriert. »Man hat seinen Wagen auf dem Parkplatz zu der Fähre gefunden, die von Dalvík nach Grímsey übersetzt. Diese Insel liegt am Polarkreis, und Hannemann hatte darauf gehofft, dort die Mitternachtssonne zu sehen. Der Fährmann erinnerte sich damals zwar nicht an ihn, aber er gab zu, dass sich an dem Tag Touristen aus zwei Bussen auf der Fähre drängten. Er habe nicht weiter auf die Passagiere geachtet, die dann am Abend wieder zurückwollten. Übrigens glaube ich nicht, dass Hannemann in eine Felsspalte gestürzt sein könnte. Im Innern der Insel gibt es viele Wanderwege durch Moore und Tundra, keine Felsenklüfte.«
»Was hat man in seinem Auto gefunden?« Ich war nun doch neugierig geworden.
»Ein paar Landkarten, seinen Koffer und ein paar andere Kleinigkeiten. Er hatte wohl nur einen Rucksack dabei samt einem kleinen Zelt. Bis heute ist davon nichts wieder aufgetaucht, was schon seltsam erscheint. Aber vielleicht ist er mit Sack und Pack im Moor versunken.« In der Stimme von Heinz lag Zweifel. »Und warum man immer behauptet hat, er sei wahrscheinlich in einer Felsspalte verschwunden, verstehe ich nicht. Man hat damals die Suche nach ihm rasch aufgeben. Ich treffe nachher den Ermittler von damals, Erik Péturson. Der ist pensioniert und wohnt unweit der Universität in Vesturbær, einem schicken Stadtteil. Sein Nachfolger ist Ranulf Eriksson. Den spreche ich auch noch an. Er war 2020 bei der Suche vor Ort.«
»Du meinst also, dass er nach diesen Erkenntnissen Opfer eines Verbrechens geworden ist? Jemand hat ihn auf Grímsey ermordet und im Moor versenkt?« Meine hörbare Skepsis irritierte Heinz offensichtlich.
»Na ja, Hinweise gibt es, die Beweise fehlen mir noch. Als Basis für einen fiktiven Plot würde es schon fast reichen, wobei ich noch rätsele, was das Motiv gewesen sein könnte. Ich bin noch drei Tage vor Ort und spreche mit ein paar Leuten, die auch mit Hannemann zu tun hatten. Ich habe neben den Personen, die ich dir schon genannt habe, einen isländischen Kollegen von Hannemann aufgetrieben, der ein ähnliches Spezialgebiet hat. Könnte sein, dass er mehr über Hannemanns angedachte Forschungen damals weiß. Vielleicht erweist sich meine Theorie als unhaltbar, aber ich bastele aus all diesen Details am Ende einen Fall für meinen neuen Helden.« Sein Lachen klang sehr zuversichtlich.
»Also vielleicht kein authentischer True Crime?«, wagte ich zu fragen.
»Du ewige Zweiflerin«, erwiderte er. »Aber diesmal musst du nicht als Miss Marple dabei sein. Das ist allein meine Story. Und Fiktion setzt da ein, wo die Fakten schwächeln.«
»Dann viel Glück! Übrigens hat mich gestern meine irische Freundin Deirdre angerufen und mir auch etwas über die verlorenen Schriften eines irischen Mönchs erzählt, der vor gut tausend Jahren in Island lebte. Sie hält demnächst einen Vortrag über ihn.«
Heinz klang nicht besonders interessiert. »Ach, diese junge Frau, deren Vorfahre im Moor von Bresterholz gearbeitet hat? Und mit der du dieses Druidenmasken-Abenteuer hattest? Na ja, Mönche gab es reichlich auf Island, von denen viele aus Irland stammten, sogar schon in frühester Besiedlungszeit. Ab 1000 wurde Island christianisiert, und immer wieder tauchen irische Mönche auf. Das meiste ihrer Schriften ist verloren gegangen. Aber ich schaue mich mal um, ob ich etwas finde oder höre über diesen Mönch. Wie heißt er?«
»Corran McSlaughty. Sein Hauptwerk hieß ›Das Buch von Thor‹, das aber aus der Nationalbibliothek gestohlen wurde. Mehr weiß ich nicht.«
»Der Bursche hat einen komischen Namen. Na ja, ich werde mir das merken können und in der Bibliothek danach fragen. Sehr nette Bibliothekarin, diese Birgit Gunnardottir. Ich melde mich bald wieder mit mehr Details. Und lass uns kommende Woche tatsächlich im ›Mezzogiorno‹ zusammen essen. Dann können wir über meine Ergebnisse in Ruhe sprechen.«
Ich setzte mich an meinen Computer, um mit den Aufzeichnungen für den Katalog zu der Ausstellung über christliche Kunst im Heiligen Land zu beginnen, als der Handyklingelton meine Gedanken unterbrach. Irland. Deirdres Nummer im Display.
Sie klang hektisch. »Anna, du wirst es nicht glauben! Bei mir wurde letzte Nacht eingebrochen. Sehr sonderbare Einbrecher! Mein Laptop ist noch hier, und es wurden nur ein paar Bücher gestohlen, die nicht einmal besonders wertvoll sind. Der Einbrecher hatte es eilig, denn er hat in seinem Eifer einen Haufen Bücher von meinem Schreibtisch gefegt. Dieses Poltern hat mich im oberen Stock geweckt. Und dann ist er durch die Verandatür auf und davon. Die Polizei ist ratlos, und ich kann mir darauf keinen Reim machen.«
»Und diese bearbeitete Ausgabe der Schriften von Corran McSlaughty, die du entdeckt hast?«, fragte ich.
»Ach so, ja, das Buch von Sean Bradley mit den Aufzeichnungen von Corran fehlt auch. Das Buch ist per se nicht wertvoll, da eher simpel gebunden, kein Golddruck und ein bisschen vergammelt. Das wird dem Dieb wenig Geld bringen.« Deirdre schniefte. »Welcher Idiot klaut so ein Buch?«
Darauf wusste ich keine Antwort und war froh, dass ich nicht weiter in dieses Drama involviert war. Glaubte ich jedenfalls.
Verschlungene Wege
»Anna, ruf mich bitte sofort zurück! Es ist wichtig!« Die Stimme von Heinz auf meiner Mailbox. Ich hatte mein Handy an diesem Abend zu Hause gelassen.
Es war kurz vor Mitternacht, als ich in meine Wohnung trat. Nach meinem Vortrag über »Mythen im Moor«, den ich glücklicherweise trotz meiner knappen Vorbereitungszeit mit Hilfe nur weniger Stichworte absolvieren konnte, hatte ich mit dem Organisator der Veranstaltung an der Universität Hannover und einigen seiner Kollegen in einem kleinen Restaurant gesessen. Ein launiger Abend ohne aktuelle Probleme, und selbst mein Polizistenfreund Hans Schumann und mein Freund Richard, die später dazugestoßen waren, vermieden es, über gemeinsam erlebte Fälle zu reden. Ein Abend ohne Mord und Totschlag – das tat gut.
Schumann bemerkte zufrieden, als wir das Restaurant verließen, er habe derzeit weniger Arbeit als gewohnt und plane deshalb, sich in zwei Wochen einen Urlaub auf Sizilien zu gönnen. »Mal ein Sommer ohne Mord, das wäre mein Traum«, sagte er und grinste mich an. »Was denkst du darüber? Zu langweilig für dich?«
»Nein, mir reicht’s!«, erwiderte ich. »Ich habe in den letzten Jahren zu viel Zeit mit obskuren Kriminalfällen verbracht.«
»Recht hast du«, sagte Schumann. »Und derzeit ist wirklich nichts los.«
Richard verdrehte die Augen. »On verra«, sagte er nur und brachte mich nach Hause.
»Sorry, wenn ich mich verabschiede«, murmelte er. »Ich muss morgen früh nach Köln, das überarbeitete Konzept für ›Gutes für Geld‹ präsentieren.« Er drückte mir einen flüchtigen Kuss auf die Wange, und einmal mehr fragte ich mich, was für eine Beziehung wir eigentlich hatten.
Seine Fernsehshow lag ihm am Herzen. Obgleich er mir gegenüber häufig geäußert hatte, er habe keine Lust mehr »auf dieses Kasperletheater«, liebte er die Sendung, die ein breites Publikum ansprach. Ich hatte manchmal das Gefühl, dass er an »Gutes für Geld« inzwischen mehr hing als an seinem Geschäft in der Nähe der hannoverschen Marktkirche und, vielleicht, sogar an mir. Waren es Eitelkeit, der Drang nach Ruhm, Ehrgeiz, die ihn beflügelten? Demnächst sollte er sogar eine Abendsendung konzipieren. »Gutes für Geld XXL« an einem Samstagabend zur Primetime. Mit Mitte fünfzig hatte er damit den Zenit erreicht.
Mir wurde bewusst, dass unser Verhältnis eindeutige Ermüdungserscheinungen aufwies, und plötzlich überkamen mich wehmütige Erinnerungen. An unsere Anfänge vor sieben Jahren, unsere erste Begegnung im kleinen Ort Bresterholz, unsere späteren gemeinsamen Abenteuer, unsere wachsende Freundschaft, die selten gleichförmig verlief, uns aber immer wieder zusammenführte.
Zugleich tauchte ein anderes Gesicht vor meinem inneren Auge auf. Deirdres entfernter Cousin Desmond Casey, seit fünf Jahren aus meinem Leben verschwunden. Um ihn rankten sich viele Gerüchte. Angeblich lebte er in den USA, war verstrickt in die Pläne illegaler Gruppierungen, die sich für eine Loslösung Nordirlands vom Vereinigten Königreich starkmachten, war angeblich tot, angeblich Farmer in Minnesota, angeblich Eremit in Donegal. Viele Legenden, seit er vor ein paar Jahren nach dem Tod seines Bruders Eamon und dem dramatischen Geheimnis um einige kostbare Druidenmasken, verknüpft mit dem Schicksal eines irischen Flüchtlings in einem kleinen Kloster am Steinhuder Meer im 19. Jahrhundert, verschwunden war und nicht mehr gesehen wurde. Selbst meine Freundin Deirdre wusste nicht, was aus Desmond geworden war. Und ich trauerte ihm nach. Er war charmant, intelligent und witzig gewesen, dazu gut aussehend und gebildet. Aber das war vorbei – Desmond existierte nicht mehr in meinem Leben, und das war sicherlich besser so. Ich dachte gelegentlich an ihn und hoffte, dass er noch lebte. Auch wenn die meisten der Gerüchte einen Schatten auf ihn warfen.
Meine Wohnung wirkte trostlos an diesem späten Abend. Gedankenverloren hörte ich die Mailbox ab. Meine Mutter hatte angerufen, um mir zu berichten, dass sie dringend meinen Rat »in einer delikaten Angelegenheit« bräuchte und zudem ein Paket für mich abgegeben worden sei. »Soll ich es nach Hannover schicken, oder holst du es bei mir ab?«
Die nächste Nachricht stammte von meinem Freund Harald Frostauer, der in einem Wortschwall über ein neues Projekt schwatzte, an dem er arbeitete. Wie immer war er der festen Überzeugung, dass ich daran interessiert sein müsste. »Einmalig, großartig! Es wird dir gefallen. Bitte melde dich.«
Harald war zu Beginn unserer Bekanntschaft in meinen Augen nur ein Besserwisser und eine Nervensäge gewesen. Aber allmählich erkannte ich seine guten Seiten. Und eines musste man ihm lassen: Keiner konnte so gut recherchieren und Rätsel lösen wie er.
Auch Heinz hatte mehrmals versucht mich anzurufen. Bei seinem letzten Versuch, mich zu erreichen, klang er fast zornig. Aber ich war zu müde, um ihn jetzt noch zu kontaktieren. Durch mein geöffnetes Fenster drangen ferne Stimmen, das Hupen eines Autos und die Sirene eines Krankenwagens. Mein Bett schien mich magisch anzulocken, und ich folgte der Verführung.
Meine Augen fielen zu. Als ich davondriftete, schrillte mein Festnetztelefon, das ich kaum mehr benutzte, da häufig Trickbetrüger anriefen, um mir weiszumachen, meine Tochter (die ich nicht hatte) habe einen Unfall verursacht und ich müsse Kaution stellen. Vor einer Woche meldete sich ein falscher Polizist, der mir riet, ihm mein Bargeld auszuhändigen, da in meiner Nachbarschaft Einbrecher ihr Unwesen trieben. Und letztens verkündete mir eine Automatenstimme, ich hätte eine Million Euro gewonnen, müsse aber rasch meine IBAN angeben, damit das Geld überwiesen werden könne. Zudem hasste ich Telefonanrufe nach zweiundzwanzig Uhr und erst recht das Klingeln des Telefons kurz nach Mitternacht. Denn meist verbarg sich dahinter nichts Erfreuliches.
Aber da ich immer insgeheim fürchtete, meine Mutter habe einen Unfall gehabt, stand ich auf und trottete zu meinem Telefon. Verschlafen griff ich nach dem Hörer.
»Na endlich, Anna!« Es war Heinz.
Ein wenig unwirsch brummte ich: »Heinz, was soll das? Es ist hier nach Mitternacht, und ich bin hundemüde. Hat das nicht Zeit bis morgen?«
Heinz ließ sich nicht beirren. »Nein, Anna, ich muss es dir gleich sagen. Außerdem bin ich morgen nur schlecht erreichbar, da ständig unterwegs. Ich bin dem Beweis, dass Hannemann ermordet worden ist, heute ein großes Stück näher gekommen. Da es hier noch hell ist, kann ich ohnehin nicht schlafen, sondern notiere alles eifrig, um dir nächste Woche den fast vollständigen Plot meines Buchs präsentieren zu können.«
Ich gähnte demonstrativ. »Ja, und? Was hast du heute erfahren?« Mit Mühe hielt ich meine Augen offen. Das Festnetztelefon stand auf meinem Schreibtisch, und ich konnte nicht einmal bequem sitzen. Mein Bürostuhl war alt und schief, und ich saß völlig verkrampft darauf.
»In Kürze, Anna, damit du deinen Schönheitsschlaf antreten kannst: Es scheint, als ob Hannemann in eine unangenehme Sache verwickelt gewesen ist. Die Leiterin der Bibliothek in Reykjavík glaubt, dass er vor vier Jahren in den Diebstahl einer wertvollen Schrift aus dem frühen 11. Jahrhundert involviert war. Das Fehlen dieses Werkes fiel längere Zeit nicht auf, da es in einer speziellen Abteilung der Bibliothek stand. Einer der Letzten, die sich diese Schrift angeschaut haben, war Markus Hannemann am 11. Juli 2020. Er hat sich ordnungsgemäß eingetragen. Verschwunden ist Hannemann zehn Tage später, und die Bibliothekarin Birgit Gunnardottir erinnert sich, dass er um den 18. Juli noch zweimal in der Bibliothek war, aber nicht vermerkte, was er aus dem Regal genommen hat.«
Mein lautes Gähnen kommentierte Heinz nur mit einem kurzen »Bin gleich fertig« und setzte seine Schilderung fort: »Jeder Besucher trägt sich mit seinen Wünschen in einer Art Gästebuch ein. Und das letzte Mal kam er kurz vor Toresschluss mit der Entschuldigung, er müsse den genauen Titel eines Werkes nachsehen. Den bräuchte er als Quellenangabe für einen Essay. Keiner hat sich weiter um ihn gekümmert. Er war ein häufiger Gast in der Bibliothek, deshalb erinnert sich Birgit Gunnardottir an ihn.«
»Das heißt noch lange nicht, dass Hannemann dieses Werk gestohlen hat.« Ich fand, dass Heinz um jeden Preis einen Fall konstruieren wollte, und das nervte mich. »Wahrscheinlich hat er gar nichts damit zu tun!« Ich gähnte erneut.
Heinz schnalzte mit der Zunge. »Niemand hat sich in den Wochen davor mit diesem uralten Buch beschäftigt. Aber Hannemann zeigte daran großes Interesse.«
Ich unterbrach ihn. »Warum sollte er es denn stehlen? Er hatte doch jederzeit Zugang zur Bibliothek und konnte es vor Ort studieren. Das ist doch alles an der Haaren herbeigezogen. Ich gehe jetzt ins Bett. Lass uns morgen telefonieren.«
Ehe Heinz etwas erwidern konnte, legte ich auf. Er begann mich allmählich zu verärgern. Sollte er doch irgendetwas erfinden und daraus eine Geschichte um Hannemann basteln! Fakten, Fiktion, es würde ein weiterer Roman werden. True Crime! So ein Blödsinn.