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Ein dokumentarisches Prosastück, in dem der Autor seine eigenen Erfahrungen aus dem KZ Buchenwald verarbeitet hat: Anstatt eine Autobiographie zu schreiben hat sich Wiechert für einen nicht minder erschütternden Bericht entschieden, der das Ausmaß des Grauens und der Gewalt in den Konzentrationslagern zeigt. Es wird die Geschichte des Intellektuellen Johannes erzählt, der zwei Monate im KZ Buchenwald war und nur knapp dem Tode entkam. -
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Seitenzahl: 178
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Ernst Wiechert
Saga
Der Totenwald. Ein BerichtCoverbild / Illustration: Shutterstock Copyright © 1946, 2020 Ernst Wiechert und SAGA Egmont All rights reserved ISBN: 9788726482379
1. Ebook-Auflage, 2020
Format: EPUB 2.0
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– a part of Egmont www.egmont.com
Dieser Bericht will nichts sein als die Einleitung zu der großen Symphonie des Todes, die einmal von berufeneren Händen geschrieben werden wird. Ich habe nur am Tor gestanden und auf die dunkle Bühne geblickt, und ich habe aufgeschrieben, nicht so sehr was meine Augen gesehen haben, sondern was die Seele gesehen hat. Der Vorhang hatte sich erst zum Teil gehoben, die Lampen brannten noch matt, die großen Schauspieler standen noch im Dunklen. Aber die Speichen des schrecklichen Rades begannen sich schon zu drehen, und Blut und Grauen tropften schon aus ihrem düster blitzenden Kreis.
Meine Stimme wurde aufgerufen, und sie erzählt. Andere werden aufgerufen werden und erzählen, und hinter ihnen wird die große, jenseitige Stimme sich erheben und sprechen: »Es werde Nacht!«
Johannes – so sei der angenommene Name des Handelnden und Leidenden in diesen Aufzeichnungen – hatte die Mitte des Lebens schon überschritten, als ihm noch einmal, auf der Höhe eines anscheinend sicheren, beneideten und wohl auch nicht unberühmten Daseins die Dinge dieser Welt wie die Meinungen von einer jenseitigen unsicher und schwankend wurden und eine immer zunehmende Verdüsterung der Seele seine Tage und Nächte beschattete. So daß jene in fruchtlosem Grübeln um die Ideen der Gerechtigkeit, der Menschenwürde und des Reiches Gottes auf Erde kreisten, indes diese von schweren, fast gestaltlosen Träumen beschattet und beladen wurden, wie sie ihm aus den Krisen seines vergangenen Lebens vertraut waren. Es schien, als leide die Seele in diesen vom Wachsen und der Dinglichkeit des Lebens abgelösten Stunden nicht nur am gewesenen Tage, sondern als stehe das Zukünftige, und zwar ein unheilvoll Zukünftiges, schon schweigend und mahnend an der verdunkelten Schwelle des Bewußtseins, formlos, sprachlos und auch gesichtslos, bis auf eine blasse Hand, unähnlich allen menschlichen Händen und schon einem ungekannten Zwischenreich angehörig, die auf eine ergreifende, fast drohende Weise aus den Schatten zwischen Traum und Wachen sich lautlos aufhob, um auf etwas zu weisen, das dem Schlafenden noch verborgen war.
Bedachte er in seinem stillen Zimmer, wo die vertrauten Bücher an den Wänden standen und der Blick durch die Fenster auf das Schweigen der großen Wälder ging, woher nun diese Trauer rühre und wohin die dunkle Ahnung sich wohl richte, die ihm Tag wie Nacht beschattete, so konnte ihm nicht verborgen bleiben, daß sein eigenes, ihm allein gehöriges Leben nicht allein den Anlaß dazu bot, sondern daß vielmehr auch der weitere und umfassendere Begriff des Volkes und des Vaterlandes, mit dem er doch fast ohne sein Wissen verhaftet war, den Keim dieser Traurigkeit in sich tragen mußte.
Von seinem einsamen Hof aus sah er nicht nur Wiesen und Wälder, das Tal des fernen Flusses und die noch fernere blaue Kette des Gebirges. Nicht nur sah er Leben und Schicksal der Seinen und jener wenigen, die als seine Nachbarn ihr Tagwerk erfüllten: aus allen Teilen des Landes, aus allen Ständen und Lebensaltern kamen die Briefe zu ihm, die von der Not, ja von der Verzweiflung derer sprachen, die das Evangelium der Zeit leugneten und über die dieselbe Zeit nun mit dem erbarmungslosen Schritt hinwegging, mit dem zu allen Zeiten das Gericht der Gläubigen über den Ketzer hinweggangen ist.
Er sollte raten und wußte sich selbst keinen Rat. Er sollte helfen und vermochte es nicht. Er wußte, daß die Kerker gefüllt waren mit Unschuldigen. Daß in den Lagern der Tod auf eine grauenvolle Weise erntete. Daß die Ämter von Unwürdigen besetzt, die Zeitungen von Marktschreiern geleitet wurden. Daß man Gott und sein Buch verhöhnte, die Götzen auf den Thron setzte und die Jugend unterwies, das zu verachten und anzuspeien, was die Hände der Alten aufgerichtet und verehrt hatten. Er wußte, daß ein ganzes Volk in wenigen Jahren zu einem Volk von Knechten geworden war. Knechte auf den Lehrstühlen der Universitäten, auf den Sesseln der Richter, auf den Pulten der Schulen, hinter dem Pfluge, der die Erde umbrach, auf den Kommandobrücken der Schiffe, vor der Front der Armeen, hinter dem Schreibtisch der Dichter. Knechte überall, wo ein Wort zu sprechen, eine Gebärde zu vollführen, eine Anklage zu unterlassen, ein Glaube zu bekennen war.
Er wußte auch, mit welchen Schmerzen, mit welcher Scham und mit welchem Zorn diese Knechtschaft sich erkaufte, und nicht immer brachte er fertig, zu verurteilen, wenn er sah oder hörte, wie die Würde des Mannes vor der Angst der Verfolgung sich beugte und zurückwich, nicht anders wie der Hund vor der Peitsche sich beugt und zurückweicht.
Er vermochte es nicht, weil vor jedem Urteil die Frage ihn anrührte, ob er selbst denn so tapfer und ohne Fehl sei, daß das Richten ihm zustehe. Zwar hatte er in Reden und Schriften, in Briefen und Vorlesungen bekannt, was wenige seiner Zeit gesagt und bekannt hatten. Doch war ihm dies nicht nur durch den weiten und wohl auch tiefen Widerhall erleichtert worden, den seine Worte im Reich und jenseits seiner Grenzen gefunden hatten. Er war auch darüber hinaus zuzeiten der Meinung, daß man nicht wagen würde, sich seiner Person mit den üblichen Mitteln der Gewalt und Gesetzlosigkeit zu bemächtigen, weil man das Aufsehen scheuen werde, das solch eine Tat bei allen rechtlich Denkenden erzeugen mußte.
Wäre es aber in Wahrheit so, sagte er sich, so gehöre auch kein besonderer Mut dazu, wie es auch keine besondere Leistung sei, mit einem kugelsicheren Panzer in einen Kampf zu gehen.
Auch fehlte es natürlich nicht an Gelegenheiten, wenn auch an gering und unbedeutend erscheinenden, bei denen eine unbeugsame Haltung ein Nein gefordert hätte, indes er sich zu einem widerwilligen Ja bequemte. So daß das Gefühl der Scham ihm durchaus nicht fremd blieb und, immer wachsend, die reine Sicherheit seines Lebens zu zerstören begann, ohne Ausweg anscheinend als den des Märtyrertums, das die Schuld des Lebens mit Leiden zahlt und dessen Siegel mitunter das Zeichen des Todes trägt.
Aber auch dieses schien ihm nicht der letzte Weg der Erlösung. Zuviel wurde ihm von solchen berichtet, die nicht immer reinen Herzens nach dieser Krone strebten, ja, die nicht ohne Eitelkeit sich zu ihr drängten, das Los des Schicksals nicht gelassen erwartend, sondern es fast mit Gewalt herbeiziehend. Auch meinte er, daß damit noch nicht viel getan sei, sich selbst ein reines Gewissen zu gewinnen und allen Leidenden nichts zu hinterlassen als ein Beispiel.
So verging ihm der Winter als eine dunkle Zeit, und sein Tagebuch war erfüllt mit Worten der Bitterkeit, die er aus den Büchern vergangener Geschlechter entnahm, so mit dem Raabes von der Kanaille, die zu allen Zeiten Herr sei und Herr bleiben werde. Kein Tag verging, an dem er das Unrecht, die Gewalt, die Phrase, die Lüge nicht triumphieren sah, und wiewohl es ihm immer noch gelang, sich vom Haß als einem unreinen Gefühl freizuhalten, so sah er doch die Zerstörung seiner Seele sich langsam ausbreiten, wie er den Rost auf Pflanzen und Büschen seines Gartens sich mitunter hatte ausbreiten sehen.
Zu Beginn der ersten Vorfrühlingstage nun schien das Schicksal auf seinem schweigenden Gang auch an seine Tür klopfen zu wollen. Vielleicht hätte Johannes zu anderen Zeiten die leise Mahnung überhört und sich über das Leid anderer mit dem billigen Trost hinweggeholfen, der allen lauen Herzen so reichlich zur Hand zu sein pflegt. Nun aber, da er mit einer gleichsam verbrannten Haut den leisesten Hauch des Unrechts wie ein glühendes Eisen empfand, traf ihn die Nachricht wie ein Schlag gegen sein eigenes Herz.
Es war nämlich soeben der Pfarrer, dessen Name in vieler Munde war, dessen Lebensweg von der Kommandobrücke eines Schiffes zur Kanzel geführt hatte und der als ein tapferer Bekenner für viele ein Licht in der Finsternis gewesen war, nach langer Haft vor ein Gericht gestellt worden. Das Gericht hatte auf eine Festungshaft erkannt und sie als verbüßt betrachtet. Am gleichen Tage aber hatte man den Freigesprochenen in ein Lager geschleppt, auf höchsten Befehl, wie es hieß, und die Wissenden sagten voraus, daß er dort sterben und verderben würde.
Hier war nun etwas geschehen, was Johannes den Sinn aller menschlichen und göttlichen Ordnung zu zerstören schien. Hier war Recht und Gesetz gebrochen, Menschlichkeit und Dankespflicht, Anstand und Sitte. Hier wurde der Mensch getrieben wie man »Vieh mit dem Stecken treibt«. Hier war das barbarische Zeitalter und das Reich des Antichrist. Und gleichviel, ob der Unglückliche die Kanzel mißbraucht hatte oder nicht: hier wollte man weder strafen noch bessern noch sühnen. Hier wollte man nur vernichten, wie der Mörder seinen Zeugen vernichtet.
Johannes kannte den Pfarrer nicht, aber schon in den Träumen der ersten Nacht nach dieser Botschaft hob sein Gesicht sich aus den Schatten der Zwischenwelt deutlich und mahnend auf, ein wissendes und schrecklich verlassenes Gesicht, das ihn mit einem fremden Blick streifte, als erwarte es sich auch von ihm nicht mehr als von den anderen. Es blickte vor sich hin, durch alle Nähe hindurch, bis in eine Ferne, an der nur die Todbestimmten teilhaben mochten und deren Einzelheiten sich auch den schrankenlosen Möglichkeiten des Traumes entzogen.
Von da ab kam das Gesicht immer wieder, alles wechselte und trieb vorüber wie auf einem schattenhaften Strom in diesen Träumen, aber das Gesicht war immer da. Der Körper darunter hatte die fahle Aufgelöstheit aller Traumbilder, und manchmal war es, als sei er gar nicht da und als schwebe das leidende Haupt auf einem silbernen Nebel, wie das Haupt des Täufers auf der Silberschüssel.
Damals erkannte Johannes, daß es ihm bestimmt sein würde, mit diesem Haupt zusammen zu leiden. Nicht, daß er es erlösen würde, nicht einmal, daß er ihm helfen würde. Aber von dem stillen, einsamen Blick würde ihm die Kraft und die Verpflichtung herkommen, aus dem Sicheren in das Unsichere zu treten, aus dem Schweigenden in das Redende, aus dem Geknechteten in die Freiheit, und sei es auch nur die Freiheit des Gewissens. Keinem Menschen würde geholfen werden, aber dem Gesetz würde geholfen werden, das nicht an sich da ist, ein Außenseiendes, sondern das in den Händen der Menschen ruht, die sich zu ihm bekennen, und das zerbröckelt und zerfällt, wenn die Hände des Tragens und die Lippen des Bekennens müde werden.
In diese Zeit fiel die Rückkehr Österreichs an das Reich, wie man diese Vorgänge benannte, und damit ein neuer Schatten auf die Seele aller Rechtlichdenkenden. Selbst für den Gutwilligsten war es nicht leicht, das Reich Haydns und Mozarts, Beethovens und Schuberts wie die stillen Wälder und Ebenen Stifters nun eingehen zu sehen in die lauten Provinzen der Eroberer, in denen andere Melodien erklangen als das »Gott erhalte Franz den Kaiser!« und die Lorbeerkränze sich um andere Schöpfungen legten als um die adlige und schweigsame Schönheit des »Nachsommers«.
Doch fand Johannes in den Reden zu diesem Ereignis das Wort, das gleich einem Tropfen den Becher des Leidens zum Überfließen brachte, indem der Führer des Reiches zu sagen gewagt hatte: »Recht muß Recht sein, auch für Deutsche!«
Hier war nun der Anlaß, ein Wort in die Schranken zu fordern, und wie ein allgemeiner Satz auch für das Allgemeine gelten muß und nicht für einen listig ausgewählten Zweck, so mußte sich erweisen, ob dieser Satz nun auch für die gelten sollte, die des Rechtes am meisten bedürftig waren.
Auf ihn berief Johannes sich in dem Brief, den er an die leitende Parteibehörde seiner Landschaft schrieb und in dem er von der Teilnahme an allen Wohlfahrtseinrichtungen zurücktrat, mit dem Bemerken, daß er seine Unterstützung fortan nur der Frau und den Kindern jenes Pfarrers zukommen lassen werde, so lange eben, bis dieses Wort auch auf diesen angewendet werde statt auf den nebelhaften und demagogischen Begriff aller Deutschen.
Er wußte wohl, daß mit diesem Brief eine Entscheidung fiel. Vorüber waren die Zeiten, in denen man unbelästigt und ungestraft von einem freiwilligen Werk zurücktreten durfte. Vorüber die Zeiten, in denen ein Wort gleich seinem ursprünglichen Begriff war, und auch vorüber diejenigen, in denen ein Mann aus dem Volke seinem König sagen durfte, daß es noch ein Kammergericht gebe.
Zwar wich das Gesicht des Eingekerkerten nicht aus seinen Träumen, änderte sich auch nicht in dem Ausdruck seiner schrecklichen Verlassenheit, aber es war Johannes nun bisweilen, als weiche für Stunden wenigstens die Röte der Scham aus seiner Stirn und als habe er nun wieder ein Recht, in das stille Gesicht der Bäume oder seines Hundes zu blicken, ohne daß ihm aus ihnen die stumme Frage aller Kreatur mahnend und fordernd entgegensehe.
Johannes versuchte nun im Stillen, um die Seinigen nicht zu beunruhigen, sein Haus zu ordnen und zu bestellen. Doch unterließ er, halb aus Trotz und halb aus Müdigkeit, an Briefen und Tagebüchern zu vernichten, was ihm als Feindschaft gegen den bestehenden Staat ausgelegt werden könnte. Weder war er ein Verschwörer noch hatte er jemals Fäden mit solchen angeknüpft, die auf einen Umsturz der Ordnung ausgingen. Und es schien ihm unwürdig, Zeugnisse zu vernichten, in denen nichts anderes enthalten war als der Widerspruch eines reinen, fleißigen und gütigen Lebens gegen ein Reich der Halbbildung, der Gewalt und der Lüge. Auch hielt er sich vor seinem Gewissen immer noch an das Wort, daß man Gott mehr gehorchen müsse denn den Menschen.
Oft lag er schlaflos in der Nacht, hörte zu, wie der Kauz im Walde rief und die nächtlichen Zugvögel über die Bäume seines Gartens dahinrauschten, von denen er nicht wußte, ob sie ihm noch Früchte tragen würden. Kam dann ein Wagen den Weg herauf, so hob er wohl den Kopf, um zu hören, ob er am Tor halte und ob seine Stunde schon gekommen sei. Er wartete auf sein Schicksal, und als es in den ersten Maitagen kam, fand es ihn gerüstet und nicht einmal verwundert, daß die große Mühle nun auch ihn ergreife, um zu sehen, wie sein Korn beschaffen sei.
Er sah in der Morgenstunde den grauen Wagen am Zaun entlangfahren und am zweiten Tor halten. Er sah drei Männer aussteigen und wunderte sich, daß der Schäferhund diesseits des Tores freundlich wedelte, indes er selbst fast ohne Zweifel ahnte, wer dort Einlaß begehrte.
In seinem Arbeitszimmer, wo die Haussuchung begann, hatte Johannes dann Muße, Gesichter und Gebärden zu betrachten. Er durfte den Raum nicht verlassen, saß in seinem Sofa und rauchte, eine Decke über den Knien wie auch sonst, unbewegt in Gesicht und Haltung, aber mit schweren Gedanken bei den Seinigen verweilend. Er war nicht höflich, und auf manche Frage, die Unbildung und Plumpheit zur Genüge verriet, antwortete er mit einer Ironie, die auch den stumpfsten Geist erreichen mußte. Er wollte sich nicht mehr verbergen. Er wußte, daß man seit seiner letzten öffentlichen Rede vor vier Jahren auf diese Gelegenheit gewartet hatte, und eine so beharrliche Geduld sollte nun auch nicht enttäuscht werden.
Der Führende der drei und der einzige, der seiner Aufgabe geistig annähernd gewachsen war, zeigte nichts Unangenehmes außer einer beruflichen Hastigkeit in Blicken und Bewegungen. Es war zu sehen, daß er die Mißachtung empfand, die ihm als dem Vertreter eines unsauberen Handwerks gezeigt wurde, doch beherrschte er sich offensichtlich, und auch in Zukunft sollte sich zeigen, daß er nicht nur in den Formen sich über den Durchschnitt jener verruchten Einrichtung erhob, die als Geheime Staatspolizei bezeichnet wurde und deren asiatische Methoden mehr Blut und Tränen über das deutsche Volk gebracht haben, als es in hundert Jahren abendländischer Geschichte möglich gewesen war.
Der zweite war ein älterer Mann in einem grünen Lodenmantel, mit einem Gesicht wie ein Landbriefträger, der mit schweren Seufzern jede Mappe mit Briefen aufschlug, die man ihm reichte, und aus dessen Mienen abzulesen war, wie hoffnungslos er vor dem Sinn der Worte stand, in denen die Leser von Johannes’ Werken ihm Dank, Ergriffenheit oder Zweifel zum Ausdruck gebracht hatten.
Mochte Johannes, wenn auch mit Widerwillen, hingehen lassen, daß diese beiden in seinen Briefen blätterten und der stille Friede seines Arbeitsraumes von ihnen wie von fremden, dunklen Schatten getrübt wurde, so mußte er vermeiden, auf die Gestalt des Dritten zu blicken, der groß und gewöhnlich wie ein Viehtreiber da stand, der aussah, als ob er kaum lesen könne, und der mit rohen und plumpen Händen durchwühlte, worüber Suchende und Fragende bei ihrer einsamen Lampe Zwiesprache mit Johannes gehalten hatten. Äußerte er einmal eine Meinung, über die Person des Schreibenden oder über ein Buch, das jener angeführt hatte, so geschah es mit dem bezahlten Haß eines Henkerknechtes und der Plumpheit des Analphabeten, der sich als Kenner des Geistes und der Seele gebärden möchte.
Was sie am begierigsten und am vergeblichsten suchten, war ein Briefwechsel mit eben jenem Pfarrer und mit kirchlichen Persönlichkeiten überhaupt. Auch erhofften sie sich aus einem Berg von ausländischen Briefmarken die Aufspürung verdächtiger Beziehungen mit Emigranten. Als kein Erfolg ihre Tätigkeit belohnte, mußten sie sich auf die Briefe beschränken, in denen Johannes größtenteils Unbekannte kein Hehl aus ihrer Meinung über den »Geist der Zeiten« gemacht hatten, und auf das Tagebuch, das ihnen trotz seiner fast unleserlichen Schrift als ein mühsam gehobener und unbezahlbarer Schatz erscheinen mußte.
Es half Johannes nichts, daß er ihnen ein kürzlich ergangenes Reichsgerichtsurteil vorhielt, nach dem Tagebücher den Charakter von Selbstgesprächen besäßen und als Anklagematerial nicht zu verwenden seien. Man ging über diesen rechtlichen und also verpflichtenden Einwand ebenso schweigend hinweg wie über seinen empörten Widerspruch, als man Briefe seiner Frau an ihn zu lesen begann. Nur daß man etwas von einer Pflicht murmelte, die zu erfüllen sei, und Johannes wußte, daß die Geschichte der Staaten der Beispiele nicht ermangelte, in denen man die Nacktheit einer brutalen Tat mit dem Gewande eines sittlichen Wortes bekleidet hatte.
Er hörte die Uhren schlagen, sieben Stunden nacheinander, und mitunter trat er an die Tür, die auf die Altane führte, und sah das grünende Land, die weißen Wolken an einem kühlen, blauen Himmel, die Hunde, die im Garten spielten, und obwohl er wußte, daß er dies nun alles verlassen mußte, den ganzen Ertrag und Sinn seines gesamten Lebens, für einen Zeitraum, den er nicht kannte, mit einem Ausgang, der im Verborgenen lag, so bedrückte ihn das viel weniger für sein eigenes Selbst als vielmehr für die Seinigen, die lange genug in der Welt gelebt hatten, um zu wissen, in was für Händen dort die Waage hing und was ein Menschenleben für diejenigen bedeutete, deren stumpfes Evangelium die »Totalität des Staates« war.
Nachdem alle anderen Räume untersucht waren und man in der Bibliothek in einer Art von peinlicher Verlegenheit vor der unendlichen Versammlung der Großen aller Zeiten gestanden hatte, die in unnahbarem Schweigen auf diese menschliche Bedürftigkeit hernieder blickten, eröffnete man Johannes, daß das »belastende Material« dazu zwinge, seine Verhaftung anzuordnen.
Er hatte immer gefürchtet, die Seinigen könnten in solcher Stunde der Entscheidung sich ihres Stolzes begeben, und was man in schlaflosen Nächten an Tapferkeit und Haltung gesammelt, könnte in der Stunde der Bewährung zusammenfallen wie Träume im harten Licht des Tages. Doch erwies sich zu seinem Trost, wie Sauberkeit und Adel der Gesinnung und der Ertrag eines ganzen sittlichen Lebens aller nackten Gewalt überlegen sind, denn das Antlitz seiner Frau war so unbewegt wie das seinige, als sie ihm in den kleinen Koffer legte, was mitzunehmen ihm erlaubt wurde. Zuoberst eine kleine, biegsame Ausgabe der Bibel.
Auch vollzog sich dies alles unter der ständigen Anwesenheit desjenigen unter den Schergen, den er als den niedrigsten und bösesten von ihnen erkannt hatte. Der nicht einmal gestattete, daß er von seiner Frau ohne Zeugen Abschied nahm, und auf die dahingehende Bitte nicht ohne Empfindlichkeit äußerte, er sei doch auch ein Mensch.
»Soso ...«, meinte Johannes.
Dann nahm er Abschied.
Die Tulpen blühten noch, als er über den Hof zum Tore ging, und in den Obstbäumen riefen die Stare. Er behielt alles in seinem Gedächtnis, aber als der Wagen nun den Berg hinunter fuhr, sah er doch nur das erstarrte Gesicht seiner Frau und weit dahinter, wie in einem fernen Nebel, jenes andere Gesicht, zu dem er sich nun gestellt hatte und das ihn lautlos zu sich rief, in die Gemeinschaft der Leidenden.
Er hatte aufrecht und unbewegt im Wagen gesessen. Nur einmal hatte einer seiner Begleiter sich umgedreht und gefragt, ob er bei der eben abgehaltenen Wahl (wegen der Einverleibung Österreichs) mitgestimmt habe.
Nein, er habe nicht mitgestimmt.
Man hätte ihn nicht zu fragen brauchen, denn man wußte es genau. Die »geheimen und freiwilligen« Wahlen dieses Staates waren ihm zur Genüge bekannt. Eine halbe Stunde nach Schluß der Wahl pflegte man diejenigen, die mit »Nein« gestimmt hatten, halbtot zu Schlagen.
Es war an einem Freitag, bei schwindendem Tageslicht, als man ihn im Palais einlieferte. Zuzeiten der bayrischen Könige mochten die Herolde auf dem großen Innenhof gestanden haben, um die fürstlichen Gäste zu begrüßen. 1918 standen die Posten der »Roten« da, das Gewehr mit der Mündung nach unten über der Schulter. Nun war es die SS, die »Elitetruppe der Nation«, die ihn gleichgültig betrachtete. Alle Revolutionen haben den Hang nach Palästen.
Man führte ihn durch Säle, in denen nun Schreibtische und Aktenschränke standen, und dann mit einem Fahrstuhl in ein Hintergebäude, aus dessen Keller sie eine Treppe hinaufstiegen. Zum erstenmal hörte Johannes schwere Eisengitter hinter sich zufallen. Er ließ seinen Koffer durchsuchen. Fremde Hände fuhren an seinem Körper herab, um zu fühlen, ob er Verborgenes und Verbotenes bei sich trage. Man fragte den Verwalter, ob er die Bibel mit sich nehmen dürfe. Es wurde mit einer verächtlichen Gebärde genehmigt.