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Notizen eines großen Schriftstellers und Flaneurs – ein einzigartiger Einblick in Wilhelm Genazinos Sprach- und Romanwerkstatt
Seine Wohnung verließ Wilhelm Genazino nie ohne Stift und Papier. Alles, was sich in Worte fassen ließ, schrieb er auf. Jahrzehntelang tippte er seine Beobachtungen von unterwegs akribisch ab, aus Furcht, eines Tages könnte ihn das Schreiben selbst verlassen. So entstand ein „Materialcontainer", in dem sich Leben und Fiktion, Ideen und Träume unauflöslich vermischen. Die bislang unbekannten Notizen sind ein Schlüssel zu seinem Werk und lesen sich wie ein unendlicher Genazino-Roman. Sie zeigen den Autor als verzweifelten Glückssucher, als hochsensiblen Zeitzeugen und funkelnden Aphoristiker. „Es ist ein großes Erlebnis, wenn das Vergnügen bis in die Details geht."
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Seitenzahl: 448
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Notizen eines großen Schriftstellers und Flaneurs — ein einzigartiger Einblick in Wilhelm Genazinos Sprach- und RomanwerkstattSeine Wohnung verließ Wilhelm Genazino nie ohne Stift und Papier. Alles, was sich in Worte fassen ließ, schrieb er auf. Jahrzehntelang tippte er seine Beobachtungen von unterwegs akribisch ab, aus Furcht, eines Tages könnte ihn das Schreiben selbst verlassen. So entstand ein »Materialcontainer», in dem sich Leben und Fiktion, Ideen und Träume unauflöslich vermischen. Die bislang unbekannten Notizen sind ein Schlüssel zu seinem Werk und lesen sich wie ein unendlicher Genazino-Roman. Sie zeigen den Autor als verzweifelten Glückssucher, als hochsensiblen Zeitzeugen und funkelnden Aphoristiker. »Es ist ein großes Erlebnis, wenn das Vergnügen bis in die Details geht.«
Wilhelm Genazino
Der Traum des Beobachters
Aufzeichnungen 1972—2018
Ausgewählt, herausgegeben und mit einem Nachwort von Jan Bürger und Friedhelm Marx
Hanser
Im Frühjahr2012, wenige Monate nach seinem 69. Geburtstag, schloss Wilhelm Genazino mit dem Deutschen Literaturarchiv Marbach einen Vertrag über die zukünftige Aufbewahrung seiner gesammelten Papiere. Besonderen Wert legte er bei den Gesprächen auf die damals bereits 30 Aktenordner mit seinen sogenannten Werktagebüchern. 1972 hatte er sie begonnen, bis zu seinem Tod im Dezember 2018 sollten es insgesamt 38 Ordner werden. Bereits 2013 wurden einige davon als Teil der Ausstellung »Zettelkästen. Maschinen der Phantasie« im Marbacher Literaturmuseum der Moderne gezeigt. Dies nahm Genazino zum Anlass für folgende Reflexion über die Entstehung und die Funktionen seiner fortlaufenden Aufzeichnungen.
Die Herausgeber
Eines Tages zeigte sich die Schwäche meines Gedächtnisses. Mein Bedürfnis, die Zuckungen des Alltags mit meinem Bewußtsein zu synchronisieren, wollte mir nicht mehr vollständig gelingen. Die Wahrnehmung dessen, was geschieht, hätte ich vielleicht bis ins Alter fortführen können; aber die gleichzeitige Übertragung des Geschehens in die Erinnerungsspur wurde zunehmend mangelhafter. Es blieb mir nichts anderes übrig, als von der Prothese des Schreibens Gebrauch zu machen. Sobald ich einen Ausflug in die Realität hinter mir hatte, eilte ich schnell nach Hause und schrieb (nach Gedächtnislage) auf, was ich für aufbewahrenswert hielt. Natürlich war das eine nur technische Verlagerung des Problems, noch dazu eine sehr mangelhafte. Da fiel mir einer der Zettel in die Hände, die ich mir aus der Jugendzeit aufbewahrt hatte. Es war ein Zettel, den mir meine Mutter als Einkaufshilfe zugesteckt hatte. Meine Mutter hatte auch als ältere Frau noch die Handschrift eines Schulmädchens. Wahrscheinlich war die Kindlichkeit der Schrift der Grund, warum ich einige der Zettel aufbewahrte. Die Schrift machte meine Mutter zu einem Kindheitskompagnon meiner selbst. Bis heute kann ich sehr gut lesen, was auf den Zetteln steht. Vier Eier, 1 Camembert, 1 Schweizer Brot, 125 Gramm Hartwurst, 1 Viertel Butter, 200 Gramm magerer Schinkenspeck, 1 Pfund Zwiebel, fünf Pfund Kartoffeln zum Beispiel.
Über die Einkaufszettel wollte ich immer schon mal etwas schreiben, aber es ist nie dazu gekommen. Stattdessen ging ich dazu über, mir stets neue, unbeschriebene Zettel in die Brusttasche des Hemdes zu schieben, sobald ich die Wohnung verließ. Es ist eine Freude, sofort, das heißt an Ort und Stelle, auf die Wirklichkeit mit Schreiben zu reagieren. Bald häuften sich die beschriebenen Zettel derart, daß ich ein Codierungssystem erfinden mußte, das die Textfülle thematisch ordnete und mit Hilfe eines Verzeichnisses wiederauffindbar machte. Die Zettelsammlung verwandelte sich in eine Art Materialcontainer, der mir (das war meine Phantasie) in Situationen der Schreibnot stets beistehen würde. Nach einigen Jahren merkte ich, daß nicht die befürchtete Schreibnot der Grund der Zettelsammlung war, sondern eine tiefsitzende Angst, die ich lange nicht auszusprechen wagte: Die Angst, daß mich eines Tages das Schreiben selbst verlassen würde. Dann würde ich nur noch zu Hause sitzen, ratlos, berufslos, ohne Geld, bald ohne Wohnung und bald auch ohne einen einzigen Menschen, der es mit meiner Verlassenheit aufnehmen würde. Denn es war klar, daß ein vom Schreiben verlassener Schriftsteller auch in jeder anderen Hinsicht verlassen war. Es handelt sich um eine archetypische Angst, die dem Subjekt mit Vernichtung droht und deswegen nicht »behandelbar« ist. Die Zettel dagegen flüstern mit Anmut und Zuversicht: Morgen geht es weiter. Nie hätte ich für möglich gehalten, daß diese läppischen kleinen Notizen den Kampf gegen solche Riesenängste aufnehmen und ihn dann und wann gewinnen würden.
Typoskript, 2013
Seit Juni 1969 arbeitete Wilhelm Genazino als Redakteur — zunächst in Ludwigshafen bei der »Rheinpfalz« und vom 1. Oktober an in Frankfurt a. M. bei der bekannten Satirezeitschrift »Pardon«. Dort mietete er sich ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft, wo er zeitweise mit Freunden und Kollegen wie dem Maler und Satiriker Nikolaus Jungwirth und der Übersetzerin und Redakteurin Angela Praesent zusammenlebte. An den Wochenenden fuhr er zu seiner Frau Ursula (* 1936) und seiner Tochter Pia nach Fessenbach (Schwarzwald). 1970 wurde zum Jahr der persönlichen Katastrophen: Im März starb Pia mit nicht einmal zwei Jahren, im Dezember wurde ihm unerwartet gekündigt. Genazino übernahm 1971 für ein Jahr die Pressearbeit der Hilfs- und Menschenrechtsorganisation »Medico international«, mit der er im Oktober nach Pakistan reiste. Am 1. April 1971 kam die zweite Tochter der Genazinos zur Welt: Julia.
1972 gelingt ihm als freier Schriftsteller in Frankfurt a. M. ein Neuanfang: Am 9. Januar hat sein Hörspiel »Vom frühen Altern des Thomas S.« im Saarländischen Rundfunk Premiere, am 1. Dezember bringt der Bayerische Rundfunk »Longplay«. Das mit dem Satiriker Peter Knorr betriebene Büro »Autoren Coop.« hat für die beiden Autoren, die gemeinschaftlich humoristische Radiobeiträge verfassen und verkaufen, keinerlei künstlerische, wohl aber ökonomische Bedeutung. Enge Freundschaften verbinden Genazino mit den Autoren Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid und Peter Knorr.
Ich habe kein Konzept für mein Leben. Ich komme mir oft vor wie der einzige Unglückliche unter lauter Glücklichen; das ist natürlich eine der Übertreibungen, die das negative Denken liebt, wenn es erst einmal in Gang gesetzt ist; man möchte ja auf das Glück kommen. Aber in der Umwelt sehen wir fast nur die Dynamik des Unglücks, und wer sich intellektuell halbwegs ernst nimmt, muß diese Dynamik wahrnehmen: Unglückliche aller Art, Leute, die in Scheidung leben, die entbehrungsreich auf Scheidungen zu steuern, Leute, die überrascht wahrnehmen, daß sie mit fünfunddreißig plötzlich wieder allein sind, denen die Kraft und der Mut und alle Energie fehlt, noch einmal von vorne anzufangen, Verstörte, die sich politisieren mit Erfolg (die sich glücklich politisieren), aber im persönlichen Bereich gelingt nichts mehr; Intellektuelle, die vor der Banalität ihres eigenen Lebens erschrecken, und Banalität ist nichts als Konzeptionslosigkeit. Niemand kann sich anstrengen irgendetwas zu erreichen, wenn er schon diese Anstrengung nicht ernstnehmen kann. Wie soll ich aber, inmitten der Dynamik des Unglücks, mich daraus hervorheben und also zu einem Konzept kommen? Es gelingt nicht. Stattdessen Tröstungen auf später; es kann nicht angefangen werden. Die Politisierung ergreift sich immer so glänzende Gegenstände: Schulreform, allgemeine Demokratisierung, Universität, Bundeswehr, Parteien, Kirche. Worin wir aber verbindlich leben, in der Banalität nämlich — : genau das läßt sich nicht revolutionieren. Banalität kann man nicht politisieren. So bleibt nur ein ewiges inneres Geraune, wie es denn weitergehen soll.
28. Februar 1972 (EP1)
Angela erwähnt Barbra Streisand, die an einer Hand ihre Fingernägel wachsen ließe, ordentlich und schön, eine Repräsentationshand, während sie sich ihre andere Hand zum Fingernägelabbeißen zur Verfügung halte, da sie davon auch nicht loskomme. Eine gute Lösung.
16. Mai 1972 (EP6)
Jemand hat ein Mädchen kennengelernt; ein anderer fragt danach:
»Wie alt war die denn?«
»Wieviel schätzt du denn?«
»Die kann man so schwer schätzen. Entweder ist sie so achtzehn, neunzehn, zwanzig — oder gleich ganz extrem, fünfundzwanzig.«
Für die Alten bleibt oft noch nicht einmal mehr das Erzählen von etwas. Wollen sie bei jemand damit anfangen, erwidert man ihnen: Jaja, das hat mir ihre Tochter schon erzählt, Achso, (wieder Schweigen).
Für das neue Stück: Jemand pumpt sich (in zwei aufeinanderfolgenden Szenen) einen Geldbetrag, mit dem er in der folgenden Szene einen ausgibt.
Frankfurt: geht ein böiger Wind, riecht die ganze Innenstadt nach pommes frites und Bratwürste[n]. (Beschreibung der Bratwürste: harte Schale, nicht mehr Haut: sondern Schale, vom vielen Wiederbraten. Pommes frites aus großen Plastiksäcken, kaum in viel zu verbrauchtem Öl: schon werden sie verkauft, gelblichkrank und hart). Zusammenhang zwischen Bratwurstständen (schnelles Essen) und hektischem Leben beschreiben.
Für das neue Stück: ein Angestellter, der wähnt, er werde demnächst aufsteigen und innerbetriebliche Karriere machen. Er macht damit vor einem Mädchen Eigenwerbung. Aber die Anzeige, auf die er sich beworben hat, war eine Falle: Konkurrenztäuschung der Firma. Szenisch aufteilen.
Ebenfalls für das neue Stück (andere Szene): der Freund erzählt auch von einem Mädchen, das er kennengelernt hat. Beschreibt ihre Vorzüge wie an einem Ding. Aber: sie hat schon ein Kind von vier Jahren. Der andere winkt daraufhin ab. Der Freund: aber nicht verheiratet. Der andere: Ach so (wieder interessiert). Exkurs über unverheiratete (geschiedene) Frauen mit Kindern. Der Freund meint, bei denen gehts besonders schnell —
28. Mai 1972 (EP7)
Genazino führt seine Aufzeichnungen immer regelmäßiger. Er etabliert sie als festen Teil seines schriftstellerischen Alltags, bei dem Radioarbeiten nach wie vor im Vordergrund stehen: Am 9. April strahlt der Hessische Rundfunk das Hörspiel »Friede den Herzen« aus, am 21. September folgt »Die Situationen des Mieters Eduard« auf Radio Bremen. Zum Geldverdienen schreibt Genazino außerdem Gutachten für den Rowohlt Verlag. Bei alledem bleibt es sein wichtigstes Ziel, möglichst bald einen zweiten Roman zu veröffentlichen; immerhin sind seit seinem Erstling »Laslinstraße« bereits acht Jahre vergangen.
»Manchmal ist es mir so, als wäre ich in einem grenzenlosen komischen Raum«
19. Januar 1973 (EP13)
Zum [Ödön von] Horvath-Essay:
Zum Zeitpunkt, als sich Horvath öffentlich von seinen eilig geschriebenen Komödien distanzierte, mußte er gemerkt haben, daß der Beruf des Schriftstellers ein Beruf der Peinlichkeit ist. Peinlich ist das Geschriebene, peinlich das Geplante. (Weiter ausführen)
Kein Zufall auch, daß Horvath auch nach 33, also nach dem offenen Ausbruch des Faschismus, nicht entschlossen emigrierte. Solange es noch eben ging, blieb er im Land, schrieb und ließ seine Stücke aufführen. Etwas anderes ließ seine und seines Schreibens Struktur allerdings (vermutlich) auch gar nicht zu: der Faschismus war die an die Macht gekommene Peinlichkeit, und Horvath blieb gar nichts anderes übrig, als diesen Sud ganz aus der Nähe zu beobachten. Im Vergleich dazu Brecht: die sofortige und entschlossene Emigration. Ist es möglich, daß er aus Schwäche im Faschismus blieb?
28. Januar 1973 (EP14)
Erzählung
Legelshurst, Kork, Ichenheim, Schutterwald, Achern, Görwihl, Haslach, Harmersbach, Hausach, Herdwangen, Hugstetten, Iffezheim, Jestetten, Kandern, Kappelrodeck, Kehl, Kollmarsreute, Kommingen, Lahr, Benshurst, Linx, Muckenschopf, Müllen, Zusenhofen, Nack, Nebenau, Nesselried, Sand, Niederschopfheim, Oberharmersbach, Oberboshasel, Oberentersbach, Oberhaslach, Sasbach, Oele, Oos, Ottoschwanden, Raderach, Reute, Rust, Saig, Schenkenzell, Schlatt, Unzhurst, Windschläg, Wittichen
Den ersten Gefallen, den eine Gegend den Menschen, die in ihr leben müssen, erweisen muß, ist die Verständlichkeit ihrer Ortsnamen. Den Namen des Ortes, in dem einer wohnt oder (schlimmer) mehr noch: lebt.
Das Wort Kehl dreimal sprechen oder viermal, schon kann man sich unter diesem Wort keinen Ort mehr vorstellen. Und nun soll einer dort leben!
4. Februar 1973 (EP16)
Wenn ich in Schwaibach bin, schwindet mir jegliche Aufmerksamkeit für die Zeit, und damit für die Poesie. Die Zeit vergeht hier wie in einem Hörspiel: ausschnitthaft, inszeniert; ein paar Geräusche stellvertreten die Welt. Manchmal fährt ein Zug vorbei, dann entfernter Autolärm von der im Tal befindlichen Schnellstraße, mal ein leises, kleines Flugzeug am Himmel, das Rauschen der Bäume, wenn der Wind dahintersteckt. Das sind die Geräusche, die die Zeit »angeben«; ich sitze oft sehr gespannt da, aber es geschieht nichts weiter. Was geschieht, ist Naturwahrnehmung mit vereinzeltem Menschenleben darin; es ist zu wenig.
7. Juli 1973 (EP21)
Auf einem Rummelplatz habe ich einen jungen Mann gesehen, der einen eingewickelten Säugling in den Armen trug. Der Mann kam an einem Schießstand vorbei, und er wollte schießen. Er legte das Baby auf dem Stütztresen (?) ab und griff sich ein Gewehr. Er schoß sechsmal. Jedesmal, wenn ein Schuß losging, schlug das unmittelbar danebenliegende Baby die Augen auf und schloß sie wieder.
— Ich war auch einmal auf einem Rummelplatz; es regnete, der Platz war ganz leer. In einem dicht verschlossenen Bierzelt saßen die Menschen. Das war noch viel merkwürdiger — ich meine das dichtverschlossene Zelt und die vielen Menschen darin.
15. Juli 1973 (EP22, a)
Schmerzhaft, wenn man sehen muß, wie sich jemand die Augenhaftschalen herausnimmt. Immer meine ich, es sind die Augen selbst, die sich jemand entfernt.
23. Oktober 1973 (EP32)
Zwangsvorstellung: man fährt im Auto über einen Bahnübergang, passiert die erste Schranke — : und genau in diesem Augenblick schließt sich die zweite Schranke auf der anderen Seite. Man steht im Auto mitten auf den Gleisen, kann nicht vor und nicht zurück, und in der Ferne sieht man einen kleinen Punkt, der sich rasch vergrößert: das ist der Zug.
23. Oktober 1973 (EP32)
Nicht die kleinsten Abweichungen habe ich vertragen können … wenn eine Person ihr Aussehen veränderte, machte sie sich vor mir strafbar; wenn sich mein Vater zum Beispiel rasierte und kam dann aus dem Badezimmer mit einer geröteten Haut um Hals und Kinn wieder heraus, war ich auf[s] tiefste beleidigt und für ihn unansprechbar. Und wenn, häufig schon am Abend des gleichen Tages, das Rot an seinem Hals zurückgegangen war, dafür aber bereits neue Bartstoppeln gewachsen waren, war ich wieder traurig über diese neue Veränderung. (anders formulieren)
1. November 1973 (EP34)
Ich habe Lust, mich unausgesetzt zu erinnern. Ich gehe in den Straßen umher, erinnere mich ein ums anderemal, dann kommt die Stunde des Mittagessens oder des Abendessens, ich betrete ein Lokal und nehme Platz, bestelle irgendetwas, und dann bemerke ich, daß ich auch ins Lokal lediglich gegangen bin, um mich weiter erinnern zu können, ja, daß ich sogar nur esse, äußerst ruhig und für mich allein, um mich ungestört erinnern zu können.
1. November 1973 (EP34)
Wenn ich über eine Brücke gehe, habe ich den fast nicht abzuweisenden Wunsch, meine Schlüssel, mit denen ich in der Tasche unablässig spiele, herauszunehmen und sie die Brücke hinunter ins Wasser zu werfen. Ich weiß, daß ich so etwas nicht tue; aber ich muß mich derart fest daran halten, daß ich so etwas nicht tue, daß es immer nur ganz knapp wieder gut geht. Ein Gang über die Brücke wird zu einem Kraftakt, und wenn ich drüben angelangt bin — was ist dann?
5. November 1973 (EP35)
Manchmal habe ich das Gefühl, mitten in einem Gespräch brennen mir die Lippen ab.
5. November 1973 (EP35)
Morgens mit trockenem Mund aufwachen, mit der trockenen Zungenspitze an die Innenseite der Zähne vorstoßen und alles ganz trocken vorfinden. Entsetzt sein und denken: ich bin ja aus Pappe! Ich bin ganz aus Karton und Pappe!!
5. November 1973 (EP35)
Ich komme immer in solche Situationen: ein Mann am Stock steigt mühsam in die ziemlich besetzte Straßenbahn; ich kriege schon Angst, wenn ich ihn sehe, weil ich Angst davor habe, seine Zurechtfindungsprobleme nicht bestehen zu können; er wankt und schwankt in die Straßenbahn, sucht sich einen geeigneten Platz zum Stehen, weil es einen Sitzplatz nicht mehr gibt, und stellt sich neben mich. Seinen Stock stellt er genau auf meinen Fuß, bemerkt es nicht. Er stützt sich ziemlich auf den Stock, aber es tut mir nicht besonders weh. Viel weher ist die Lage, in der ich bin: meinen Fuß kann ich nicht einfach wegziehen, und ich kann ihn auch nicht bitten, sein Stockende von meinem Fuß herunterzunehmen, weil die Peinlichkeit darüber, wie er dies entdeckt, mich auch einbeziehen würde. Wenn ich gar nichts tue und gar nichts sage — und so verhalte ich mich schließlich — muß ich darauf hoffen, daß er genau so unbemerkt den Stock wieder herunternimmt, wie er ihn darauf gestellt hat. Wenn er aber erst nach einer Weile bemerkt, daß er seinen Stock auf meinem Fuß hatte und doch nicht gebeten worden war von mir, ihn dort herunterzunehmen — dann ist ihm vielleicht auch etwas unverständlich.
5. November 1973 (EP35)
Genazino arbeitet weiterhin als Rezensent und Gutachter für Verlage und Rundfunksender, während er eine Veröffentlichungsmöglichkeit für seinen zweiten Roman »Mit klugen Sätzen ging er aus dem Haus« sucht. Am 4. April hat sein einstündiges Hörspiel »Frische Erdbeben« im Saarländischen Rundfunk Premiere, am 19. September folgt »Die Ewigkeit dauert lang«. Radio Bremen bringt am 22. November »O diese herrlichen Trauben«. Genazinos neue Prosa bleibt hingegen ohne größere Resonanz. Lediglich ein Auszug aus dem Romanprojekt »Rotter« erscheint im »Literaturmagazin« des Rowohlt Verlags, außerdem die Erzählung »Die Wahrheit des Geldes« am 6. Juli in der »Frankfurter Allgemeinen Zeitung«. Unterdessen drängt sich in Genazinos Aufzeichnungen von August an ein Vorhaben in den Vordergrund, dessen Bedeutung noch nicht abzusehen ist: das Buch über den Junggesellen Abschaffel, mit dem er drei Jahre später seinen ersten großen künstlerischen Erfolg erleben wird. Begleitet wird die Arbeit an diesem Roman von Anfang an durch die intensive Beschäftigung mit den Werken Franz Kafkas.
Heute habe ich einen ganz jungen Menschen gesehen; er sah sehr gesund aus, füllig, fast dick, mit einem mißmutigen Gesicht. Er humpelte. Die Schuhe, in denen er humpelte, waren ganz neu, und es war offenkundig, daß er nur humpelte, weil ihn die Schuhe drückten. Sein leidendes Gesicht beeindruckte mich sehr, und ich erinnerte mich, daß ich als Siebzehnjähriger ebenfalls mit Leidenschaft humpelte, wenn ich neue Schuhe hatte. Es ist schön, sich mit einem Leiden darzustellen, und doppelt schön, wenn man einen halbwegs tauglichen Grund dazu hat.
6. Februar 1974 (EP40, a)
Übrigens habe ich immer Angst. Neulich geschah es, daß ich aus Angst einige Bauarbeiter grüßte, die vor meinem Haus die Straße aufhackten; ich war wohl der Meinung gewesen, wenn ich die Männer grüßte, würden sie vielleicht davon absehen, mit ihren Hacken auch auf das Haus loszugehen.
23. Februar 1974 (EP42)
Das Schlimme ist, daß ich Dir gar nichts Konkretes vorwerfen kann. Du gehst mir auf die Nerven, einfach so.
1. März 1974 (EP43)
Prosa muß man mit System schreiben, das heißt: regelmäßig. Der Vorteil der Regelmäßigkeit liegt darin, daß man in den Vorteil jeder vernünftigen Tätigkeit kommt, und diese Vernunft besteht darin, daß man seine Arbeit wiedererkennt. Es hat keinen Zweck, einmal dreißig Seiten zu schreiben und die dann ein Vierteljahr liegenzulassen; dann ist die Verbindung zur Arbeit weg, der Faden ist verloren und man muß, da man seine Arbeit nicht wiedererkennt, die Arbeit neu anfangen.
Die Beschreibungen sind endlich, die Erscheinungen sind unendlich. Und da das so ist, muß geschrieben werden.
Ich bin zu schnell jung geworden (über erstes Buch)
Ein Autor ist, sagen wir, ein Nervositätsträger. Seine Nervosität empfindet überall hin. Er schreibt darüber, und es ist gleichgültig, welche Methoden oder Tricks er dabei anwendet. Institutionen zum Beispiel können sich Empfindungen nicht leisten; sie machen immer bloß weiter. Ein Autor empfindet in diese Institutionen hinein, was diese sich nicht mehr leisten dürfen.
Im Zweifelsfalle sind mir Autoren, die wenig wissen, lieber. Autoren, die alles wissen oder dies vorgeben, erwecken in mir Gefühle der Peinlichkeit.
Ich habe mich mehrfach halbtot und wieder lebendig geschrieben.
Beschreibende Literatur zu den Themen Familie, Ehe, Alltag wird die Abenteuerliteratur der Zukunft (zu E.)
28. Juni 1974 (EP54)
Spruch aus einem Wirtshaus: »Iß deinen Gockel, damit du heut nacht ficken kannst.«
22. Juli 1974 (EP58, a)
Ober: »Ich habe nur noch Gebärmutterschnitzel da.«
22. Juli 1974 (EP58, b)
Diese Zimmer! Diese Zimmer!
Der Junggeselle Abschaffel lag allein auf seinem Bett, und er hatte bereits begonnen, der Lampe in seinem Zimmer zuzusehen, wie sie Licht gab und das Zimmer damit ausfüllte. Er drehte den liegenden Kopf in diese und in jene Richtung, mal in eine hellere und mal in eine schattigere Zimmerpartie, und schon bei dieser Beschäftigung hätte er bemerken müssen, daß sie ihn nicht weit würde tragen können. Zuvor hatte er etwas geschlafen, und er hatte es sich, bevor er eingeschlafen war, als gut und sinnvoll vorgestellt, vielleicht eine Stunde von allem nichts zu sehen. Aber nun, da Abschaffel aufgewacht war, fühlte er einen schlechten Geschmack im Mund; der schlechte Geschmack war nicht ungewöhnlich, er gehörte zu den bekannten Erscheinungen nach dem Schlaf. Er hätte aufstehen müssen und ein halbes Glas Wasser trinken, und er hätte keine Gelegenheit mehr gehabt, sich schlecht zu fühlen. Aber er war liegen geblieben und schmeckte den schlechten Geschmack und sagte sich mehrfach: was für ein schlechter Geschmack! Dabei betrachtete er das Licht in seinem Zimmer, das von einer kleinen Lampe ausging, und langsam kam er zu einer schlechten Meinung über das Licht in seinem Zimmer. Das hätte ihn wundern müssen. Einst hatte er diese kleine Lampe mit viel Bedacht gekauft, weil er sich von ihr eine gemütvolle, warme Zimmerbeleuchtung versprochen hatte; und tatsächlich hatte er sich auch nicht geirrt; diese kleine Lampe machte das Zimmer am Abend schön; das Licht hatte eine schwächliche, versöhnende Wirkung; noch jeder Besucher hatte seinen Besuch nicht abgeschlossen, ohne eine gute Bemerkung über das Licht in diesem Zimmer untergebracht zu haben. Daran erinnerte er sich nun, da er das Licht zunehmend ärmlich und elend empfand, leider nicht. Mein Gott diese Lampe! dachte er mehrfach hintereinander, und es störte ihn nicht die inhaltsleere Sinnlosigkeit dieses Gedankens, der ja gar kein Gedanke war, sondern höchstens ein nicht ausgesprochener Ausruf, mit dem niemand, noch nicht einmal er selber, etwas anfangen konnte. Er ließ es zu, daß seine Langeweile sich langsam streckte. Er sah an seinem liegenden Körper entlang und betrachtete mit einer Ausführlichkeit die Strümpfe an seinen Füßen, für die niemand einen sinnvollen Grund hätte finden können. Er drehte sich um auf den Bauch, und sein rechter Arm rutschte vom Bett herunter; der Kopf lag auf der linken Gesichtshälfte. Aha der Staub! dachte er mehrfach, als er kleine Staubwölkchen da und dort auf dem Boden liegen sah. Wieder wurde er nicht unruhig über den niedrigen Wert dieser Feststellung, ausgerechnet er, der in den letzten Jahren mindestens einen Menschen verstoßen hatte mit dem schimpfend vorgetragenen Vorwurf, ach, er wollte sich nicht erinnern. Liegend auf dem Bett kam er sich plötzlich vor wie ein zu dünn gewordenes Röhrchen, durch das nichts mehr hindurch ging. Er hätte nun aufstehen müssen. Er hätte sich rasieren können. Er hätte sich drei Eier braten können, denn Hunger hätte er ebenfalls haben können. Er hätte wenigstens die Balkontür öffnen und einen Schwarm von Nachtfaltern hereinfliegen lassen können, die er dann enttäuscht hätte, indem er das Licht in seinem Zimmer plötzlich ausgeschaltet hätte. Er tat nichts davon; er blieb liegen und suchte nach Tätigkeiten, die sich liegend ausführen ließen. Er sah auf die beiden Streichholzschachteln am Boden neben dem Aschenbecher und der Zigarettenschachtel. Mit dem kleinen Finger drückte er den Schubteil aus beiden Schachteln heraus und stellte mit unverständlichem inneren Lärm fest, daß in der einen Schachtel sich erheblich weniger Streichhölzer befanden als in der anderen Schachtel. Er sah lange auf die beiden halbgeöffneten Schachteln, und es blieb gar nicht aus, daß er gegenüber den beiden Schachteln Gefühle bekam. Plötzlich konnte er die Schachtel, in der sich nur wenige Streichhölzer befanden, nicht mehr leiden. Er ging daran, die Streichhölzer aus dieser Schachtel herauszunehmen und sie in die andere Schachtel hineinzustecken und dann beide Schachteln wieder zu schließen. Und das alles mit einer Hand! Er drehte sich zurück auf den Rücken und dachte sofort: die Zeit hat keine Schuld. Das war ein merkwürdig übertriebener Satz, den er nicht gelten lassen wollte. Da läutete das Telefon, und es war ihm sofort peinlich. Bestimmt war es jemand, der sich so ähnlich fühlte wie er. Er hatte es nicht gelernt, das Telefon läuten zu lassen und nicht hinzugehen. Er stand auf, und im Augenblick, als sich aufstehend sein Körper knickte, empfand er ein solches Bedauern über seine zerknitterte Hose, daß er die Person am Telefon sofort dafür verantwortlich machen wollte. Am Telefon war eine Frauengeschichte, von der er aufgrund seiner gefühlsmäßigen Unentschiedenheit noch immer belangt werden konnte. Alles hätte ein Ende nehmen können, wenn er ins Telefon hätte sagen können: Es ist gut, in einer halben Stunde bin ich da. Das tat er gerade nicht, sondern er sprach eine ganze Anzahl verwirrter Sätze in das Telefon, an deren Ende weder ein Ja noch ein Nein stand. Es war dennoch die Aufgabe der Frau am Telefon gewesen, seinen Sätzen ein Nein zu entnehmen und zu erraten, daß er nicht könne, daß er müde und lustlos sei. Er legte sich gleich wieder auf das Bett. Inzwischen war es draußen vollständig dunkel geworden, dazu auch noch still. Er drehte den Kopf zur Seite in Richtung Balkontür, und er stellte sich vor, daß er gerade so den Kopf zur Seite drehen werde, wenn er eines Tages ganz alt sein würde und gar nichts mehr anderes zu Wege brächte als den Kopf zur Seite zu drehen. Weil ihm dieser Einfall gut tat, probierte er es gleich noch einmal. Wieder drehte er den Kopf ganz langsam in Richtung Balkontür, und er wollte sich gerade vorstellen, wie er in die Gesichter von irgendwelchen Verwandten blickte, die an seinem Bett saßen, da knackte es in seinem Genick. Es war ein leises Knirschen im Halswirbel, ganz sicher vollkommen harmlos, das Abschaffel aber unverhältnismäßig erschreckte und ihn zur Aufgabe seiner Spiele veranlaßte. War er vielleicht schon alt? Und sofort stellte er sich vor, er sei ein ganz junger Mensch, der einen insgesamt harmlosen, die Umwelt aber gefährlich beeindruckenden Autounfall erlitten hatte und deshalb in einem Krankenhaus lag; er imaginierte sich ein Krankenzimmer voll mit Angehörigen, die bedenklich zu ihm hinsahen, und eben da würde er den Kopf äußerst munter und flink zur Seite drehen, so daß jeder Betrachter aufatmete über die intakte Körperlichkeit dieses Verletzten. Tatsächlich drehte Abschaffel nun rasch und mechanisch den Kopf mehrfach in Richtung Balkontür und wieder zurück, und wirklich knackte es nicht mehr in seinem Genick. Abschaffel fand, seine Langeweile sei zu weit mit ihm gegangen, obwohl es ihn interessierte herauszufinden, wie weit eine Langeweile mit einer Person gehen konnte und was aus der Langeweile wurde, wenn sie keine Langeweile mehr war. Er erhob sich vom Bett und dachte endlich einmal nichts. Er ordnete sich die Kleider halbwegs, schritt durch das Zimmer und öffnete die Balkontür. Auf seinem Balkon stehend fiel ihm ein kleines, erleuchtetes Fenster am gegenüberliegenden Haus auf. Es war verschlossen, und das Licht im Fenster war gleichmäßig verteilt hinter einem orangefarbenen Vorhang. Sicher war eine größere Zutraulichkeit hinter dem orangefarbenen Vorhang im Gange. Das erleuchtete Fenster lag weit unterhalb seines Balkons, und Abschaffel wurde, während er nicht nachließ das orangefarbene Fenster zu betrachten, von einem solchen Verlangen gepackt, das ihm fast den Rückweg in sein Zimmer versperrte. Diese Zimmer! Diese Zimmer! dachte er und ging schließlich doch in die Hände ringenden Umstände dieses Abends zurück.
12. August 1974 (EP63)
In der »Verwandlung« von Kafka wird der müde Vater Samsa geschildert; er sitzt in seinem Sessel, umgeben von Frau und Tochter (und Gregor Samsa natürlich), und er schläft jeden Abend in seinem Sessel ein. Die beiden Frauen wollen ihn zum Bettgehen bewegen, ohne Erfolg. Der müde und im Ganzen unansehnliche Vater wird bei Kafka hier mit Sympathie beschrieben; als ich es las, erinnerte ich mich plötzlich (diese plötzlich einschießende Erinnerung, so daß man mit Lesen aufhören muß!), daß auch mein Vater oft am Abend einschlief. Er saß im Wohnzimmer auf der Couch, übrigens nie in der Mitte der Couch, sondern immer in einer der Ecken, die Arme über dem Bauch verschränkt, den Kopf seitlich aufliegend auf einer der Schultern, so daß der Hals spannte, und schlief und schnarchte. Manchmal saß er, auf einem Stuhl mit Holzarmlehnen, ebenso vor dem Fernsehapparat. Der Unterschied aber, für mich war der schlafende Vater immer ein schwacher Vater. Je länger, geräuschvoller und tiefer er schlief, desto mehr wandte ich mich von ihm ab. Übrigens auch mein Bruder. Es war so unerträglich, den Vater schon am frühen Abend schlafend zu sehen, daß wir unser eigenes Leben eingeschränkt sahen. Die Mutter saß zwar immer dabei, irgendwie nähend oder in Zeitschriften lesend, und von Zeit zu Zeit lächelte uns die Mutter zu, und das Lächeln war deutlich als Aussöhnung mit dem schlafenden Vater gemeint. Aber es half nichts. Wir, mein Bruder und ich, verzogen uns schon bald in die Küche und belustigten uns dort über die Schwäche des Vaters. Unfähig, die Wirklichkeit seines Lebens zu begreifen, gelang uns der Spott.
15. August 1974 (EP64)
Der Hörspielautor Genazino gilt mittlerweile als Spezialist für die Thematisierung moderner Beziehungsprobleme. Gleich am 3. Januar wird auf Radio Bremen ein neuer Text von ihm gesendet: »Dann fliegt die Lieb’ zum Fenster raus«. Am 17. März folgt »Die Wörtlichkeit der Sehnsucht« (Hessischer Rundfunk / Sender Freies Berlin), und Radio Bremen produziert »In der Ferne ein Punkt, der rasch größer wird« (Erstsendung: 12.9.1975). »Sometimes Lindenblüten« wird als Koproduktion des Bayerischen und des Saarländischen Rundfunks realisiert (Erstsendung: 20.6.1975). Immer mehr Notate stehen im Zusammenhang mit dem Romanprojekt »Abschaffel«. Neben Franz Kafka wird für Genazino in diesem Jahr Samuel Beckett mit seinem Drama »Warten auf Godot« als literarische Bezugsgröße wichtiger. Vollkommen andere Erfahrungen sammelt er im März bei einer Reise nach Istanbul.
Wenn ihr Mann mit ihr schlafen wollte und sie auszog, ließ er ihr Bluse und Büstenhalter auf dem Leib. Er wollte sie nur noch unten nackt haben, und sie sagte nie, wie sehr sie das kränkte.
Sie schlug ihm vor, jeder sollte bei sich onanieren, und der eine sollte dem anderen dabei zusehen. Ihm gefiel dieser Vorschlag sofort, und sie freute sich, daß er mitmachen wollte. Das tut man doch sonst immer alleine, sagte sie. Und er sagte, es sei sicher sehr interessant, sie sollte sich aber nicht zuviel davon versprechen. Er hatte es eigentlich zu sich selbst gesagt, denn er war schon selbst dabei gewesen, sich viel davon zu versprechen.
4. Januar 1975 (EP85)
Es war Mode geworden, sich beim Essen mit dem Besteck gegenseitig in die Teller zu greifen; jeder sollte von jedermann nehmen dürfen, und so geschah es an vielen Tischen. Er war gewohnt an die Finsternis des Alleinessens; der Teller war für ihn ein abgeschlossenes Territorium, und jemand, der aß, durfte nicht gestört werden. So hatte er es gelernt.
21. März 1975 (EP92)
»Wer einen Storch fliegen sieht, ist ewig unterwegs.« So heißt ein türkisches Sprichwort, und es paßt in dieses Land. Tatsächlich habe ich, gleich am ersten Tag in Istanbul, Dutzende von Störchen über die Stadt fliegen sehen, und man kaum etwas Allgemeingültigeres über die vier Millionen Türken dieser Stadt sagen, als dies: der Fremde glaubt, alle vier Millionen seien tagtäglich zugleich unterwegs. Ein Geschiebe und Gelaufe und Gedränge in allen Straßen von morgens bis nachts. Es sind fast nur Männer. Ihre Familien, aus dem Landesinneren zugewandert, hausen in rasch zusammen geschlagenen Hütten am Rande der Riesenstadt, und die Männer sind tagsüber auf der Suche. Auf der Suche nach Arbeit, nach jemand, der ihnen weiter hilft, nach einem Touristen, dem sie etwas andrehen können, nach einem Käufer für irgendetwas. Istanbul ist keine sogenannte heitere Stadt. Sie kann es nicht werden, solange diese abertausenden von ernsten Familienvätergesichtern durch die Stadt gehen und suchen. Viele von ihnen tragen irgendwas in der Hand, das zum Kauf anzubieten sie nicht müde werden dürfen, und wenn es nur ein paar Hausschuhe sind, ein Bündel Unterwäsche, zwei Schachteln teure Filterzigaretten oder billige Halskettchen. Dennoch hat der Betrieb auch etwas Befreiendes [/] Hoffnungsvolles. Jeder Schritt, der hier gelaufen wird, wird gegen die Hoffnungslosigkeit gelaufen. Wer einmal den ungeheuren Fatalismus in den indischen Millionenstädten gesehen hat, wo dominierende Teile der Bevölkerung nur noch Lust zum Hinlegen auf die Straße haben, der möchte jedem suchenden Türken sofort gratulieren. Sie sind unterwegs, und also haben sie Hoffnung, und also geschieht etwas. Und es ist nicht leicht, in Istanbul unterwegs zu sein. Wenn es regnet, weichen die vielen nichtbetonierten Straßen und Wege auf, und die Überquerung eines nassen, vertümpelten Vorstadtplatzes kann die Kleidung jeden Fußgängers ruinieren. Es darf sich auch niemand besondere Anfälligkeit gegenüber der schlechten Luft erlauben. Der Autoverkehr rußt die engen Straßen ein, und der schwere schwarze Rauch der Schiffe, die unten am Bosporus vor Anker gehen, tun das Ihre. Jeden Abend ein Belag auf den Haaren: das ist der Schmutz von Istanbul. Und wer nicht fähig ist, trotz des unerhörten Verkehrslärms seine eigenen Gedanken zu haben, der sollte nicht in die Stadt eindringen. Das permanente Autohupen, auch und gerade in völlig harmlosen Situationen, charakterisiert den türkischen Straßenverkehr mehr als jeden anderen. Die Autofahrer hupen, weil sie eine Hupe haben. Das genügt als Grund. Das ist eine große Freude für sie.
Undatiert, März 1975 (EP1—93, a)
Angestellte: genauso, wie sie schon in der ersten Minute ihrer Mittagszeit am gedeckten Tisch sitzen wollen, genauso wollen sie auch schon am ersten Urlaubstag im fremden Land sein. Die kleinen Erholungen müssen restlos ausgeleckt werden.
9. Juni 1975 (EP12)
Kleintierdramen.
Nie ist etwas eindeutig.
19. August 1975 (EP24)
Die vollen Schüsseln auf dem Mittagstisch zu Hause. Alle essen, und die Mutter breitet immer wieder neue Kartoffelpfannkuchen in das Pfannenfett. Zufriedenheit wird oral vorgestellt. Solange man ißt, geht es einem gut. Und es wird beim Essen über das Essen geredet, daß es gut ist und wie gut es ist und wann es schon einmal gut war und wann es hoffentlich wieder so gut sein wird. Alle anderen Kontakte werden niedergemacht; man kann die schönsten Geschichten anfangen, immer wieder wird man gestört mit solchen Unterbrechungen: »Willst du noch etwas essen? Oder hast du noch Hunger? Oder willst du später noch etwas essen?« Sie können nicht glauben, daß man mit seinem Hunger durchkommen wird.
25. August 1975 (EP26, a)
Hölderlin verstand nicht gleich, was er da kapiert hatte.
22. Oktober 1975 (EP36, a)
Vor diesen anderen Dichtern hatte er größere Angst als vor seiner Arbeit.
22. Oktober 1975 (EP36, b)
Manchmal glaubte er, das Licht im Zimmer werde um eine Spur dunkler, oder auf einem Blatt Papier bilde sich ein dunkler Fleck, der langsam über das Blatt wandert, über den Rand hinaus, und an einer anderen Stelle wieder auf das Blatt geht.
22. Oktober 1975 (EP36, c)
Hühner kann man jahrelang füttern, sie erkennen einen niemals. Sie rennen immer wieder weg, wenn man sich ihnen nähert. Bei Menschen aber ist es doch anders. Ich bin doch bekannt als Hölderlin, warum gab sich Goethe mir nicht zu erkennen? Ist er denn ein Huhn? dachte Hölderlin belustigt.
22. Oktober 1975 (EP36, d)
Eine allgemeine Zusammenrottung des Unglücksgefühls. Er war traurig, aber wie es oft ist, wenn man traurig ist, wird man dann überdreht und lustig, weil man in dem Riesenraum der Trauer nicht umhergehen mag.
22. Oktober 1975 (EP36, e)
Goethe mußte ein durchdringendes Gefühl davon gehabt haben, welch ein Erzversager er gegenüber Hölderlin werden könnte oder vielleicht schon war. Und rings um ihn durfte sich nichts mehr rühren, damit sein Versagen verschleiert bleiben konnte.
22. Oktober 1975 (EP36, f)
Er sah so interessant und schmerzlich aus.
22. Oktober 1975 (EP36, g)
Thema: Zukunft (»Warten auf Godot«)
Science fiction ist nicht gemeint. Die herkömmliche Science fiction entwirft eine technische Schauerwelt, deren erlebnismäßige Erschließung den meisten Menschen wahrscheinlich deswegen fremd bleibt, weil ihre eigenen schlimmen Zukunftsahnungen darin nicht erscheinen. Tatsächlich braucht man, um sich Zukunft vorstellen zu können, keine neue Welt neben die alte zu stellen. Wirkliche Zukunft stattdessen, mindestens zutreffende Ahnungen von ihr, ergeben sich, wenn man sich die vorhandene Welt verschlimmert vorstellt. Und nichts anderes hat Beckett in »Warten auf Godot« getan.
Konventionelle Science fiction stellt unsere reale Welt, in der wir heute leben, als abschließbare Epoche vor. Irgendwann ist alles zu Ende (meist durch eine technische Katastrophe), und dann beginnt die neue Zeit, der technische Horror. Kein Wort über den Übergang von der einen zur anderen Welt, von der Ablösung. Welt a ist zu Ende, und es beginnt Welt b. Tatsächlich haben die heute lebenden Menschen zutreffendere Gefühle von der Zukunft als irgendwelche Science fiction-Romane. Wir haben reale Begegnungen mit der Zukunft immer dann, wenn sich das Verhalten der an der Gegenwart teilnehmenden Menschen verschlimmert zeigt. »Man sollte es nicht glauben«, sagt jemand, wenn er etwas erlebt oder gehört hat, was es eigentlich nicht oder noch nicht gibt. Das war die Zukunft. Was wir am Verhalten von Menschen heute noch nicht glauben können, werden wir in Zukunft immer mehr glauben müssen. Und das allgemeine Maß der persönlichen Aneignung dessen, was wir heute noch nicht glauben, gibt den Prozeß des Übergangs ab.
30. Oktober 1975 (EP41)
Der Mensch braucht von Zeit zu Zeit die Idee, es hätte auch alles ganz anders sein können. Nicht besser, aber anders.
6. November 1975 (EP45)
Zwischen Ursula und Wilhelm Genazino zeichnet sich eine Trennung ab. Er glaubt den Lebensunterhalt der Familie nur in Frankfurt sichern zu können. Vor allem durch seine Arbeiten für den Hörfunk hat er sich hier inzwischen einigermaßen etabliert. Das Großstadtleben bildet den Erfahrungshintergrund für den entstehenden Roman »Abschaffel«. Das Schreiben beobachtet er nun auch als Vater seiner Tochter Julia, die vor ihrem Schuleintritt erste Schreibübungen macht.
Ein neuer faschistischer Staat, wenn er kommt, wird ein intelligenter Staat sein. Die neuen werden sich in Psychologie auskennen, das heißt, es wird ihnen gelingen, das Opfer und sein Publikum davon zu überzeugen, daß jedes Opfer an seiner Opferung selbst schuld ist. Ein neuer Faschismus bringt, weil er intelligent ist, auch keine KZs mehr, keine Massenmorde, keine Hetze. So etwas ist den neuen Faschisten zu unfein; sie haben gelernt. Wenn man sich fragt, wo denn neuer Faschismus sich zeigt, weiß man zunächst keine Antwort. Was intelligent ist, weiß sich zu verstecken. Bis jetzt sind nur sehr verstreute Opfer bekannt, und sie sind nur wenigen Leuten bekannt. Ein Lehrer, der nicht unterrichten darf, eine junge Pfarrerin, die gefeuert wird. Wann immer die Rede auf solche Fälle kommt, verweisen die, die nichts spüren wollen, auf das große Ganze, das doch in Ordnung sei. Noch nie, heißt es, hat es in unserem Land soviel Freiheit gegeben. In diesem Satz, der so oft nachgeplappert wird, steckt die Intelligenz des neuen Faschismus. Das große Ganze ist in Ordnung, da darf das kleine Einzelne ruhig kaputt gehen. Die wenigen, die diese Zusammenhänge spüren, haben den Nachteil, daß sie es eben nur spüren. Jeder neue Faschismus kündigt sich im Gefühl einiger weniger lange vorher an. Und die wenigen können nicht viel sagen, weil sich über Gefühle, besonders über politische Gefühle, schlecht reden läßt. Deswegen muß man sich überlegen, an welchen Punkten sich der neue Faschismus sichtbarer macht, weithin sichtbar sogar. Man kann sich zum Beispiel darüber wundern, warum der Dummheit soviel Freiraum gewährt wird. Zum Beispiel in diesen öden Fernsehshows, die Woche für Woche das Land und das Volk in Heiterkeit verblöden.
Etc.
30. Januar 1976 (EP64)
Es gibt Abende, die das Leben bedrohen, weil sie zu klar sind.
Trennungsangst.
Seine Frau kündigte ihm an, sie wolle allein weggehen und mit anderen Männern schlafen. Am gleichen Abend noch ging er, als sie schlief, allein weg, um alles, was er gehört hatte, zu entschärfen. Die tanzenden Paare, die er sah, waren die tanzende Gleichgültigkeit, die sich drehende Sorglosigkeit, und eben das war es, was er niemals verstand: daß Paarungen so belanglos sein sollen.
Er war zu seiner Frau zurückgegangen, weil er seine eigenen fluktuierenden Beziehungen zu Frauen nicht mehr hatte ertragen können. Als er sich mit seiner Frau gut verstand, sagte sie ihm, daß sie genau das brauche, wovon er sich eben, mit Hilfe seiner Hinneigung zu ihr, losgesagt hatte.
Die belanglosen Frauen brauchte er nur, um immer wieder bei ihnen zu sein, um das fleischliche Gefühl der Trennungsunmöglichkeit zu bekommen.
Die Beziehung zu einer verheirateten Frau brauchte er, weil er die Enttäuschung darin gleich eingebaut fühlte. Eine verheiratete Frau lieben heißt: die Trennung zu einem Dauerzustand machen.
Allerdings war er auch in dieser Beziehung der Enttäuschung nicht ganz sicher. Er glaubte, hinter der gewöhnlichen Tagesenttäuschung gebe es eine große, viel tiefere Enttäuschung …
28. Februar 1976 (EP70)
Denkbar sind folgende weitere Abschaffelromane:
Roman 2:
Abschaffel wird von Margot verlassen. Er empfindet viel deutlicher als in Roman 1 seine schwere Vereinsamung, auch bemerkt er Züge zur Kauzigkeit an sich und empfindet vermehrt Angst. Hinzu kommt eine Verschärfung des Gefühls der absoluten Ausweglosigkeit; dies vor allem durch seine Bekanntschaft mit Hornung und seiner Frau. Hornungs Welt einschließlich seiner Frau ist die nächste Station in seinem eigenen Leben. Seine sexuellen Abenteuer mit Hornungs Frau erlebt er schon als Betrug, der ihm selbst, wenn er erst verheiratet ist, widerfahren könnte.
Größte Abwehr und Angst.
Roman 3:
Abschaffel gewinnt die Überzeugung, er sei geisteskrank. Es häufen sich tickhafte Ereignisse, die er nicht mehr verstehen kann. Er schließt sich vollkommen ab. Auch zu Hornung und seiner Frau hat er keinen Kontakt mehr, zu keinem Firmenangehörigen. Die unverstandenen Ereignisse im Leben Abschaffels gewinnen die Oberhand, als die Beinmesser-Phantasie zum Durchbruch kommt. Sie verursacht ihm entsetzliche Pein und Angst, und sie kommt immer wieder. Es kommen andere Phantasien hinzu, die wieder auf Verletzungen mit Geräten hinauslaufen. Abschaffel kann es nicht mehr aushalten. Er geht zum Arzt, und dieser verschreibt ihm eine vierwöchige Kur in einer Psychosomatischen Klinik.
Roman 4:
Abschaffel in der Klinik (Modell: Psychosomatische Klinik Gengenbach). Er ist überzeugt, geisteskrank zu sein. Die Ärzte machen ihm klar, daß er es nicht ist. Er schildert seine Erscheinungen. Er nimmt an den Übungen teil. Es bietet sich ihm die Möglichkeit, mit einer Patientin ein Verhältnis anzufangen. Er schreckt jedoch davor zurück, weil er die Kopienhaftigkeit seines eigenen Verhaltens nicht mehr ertragen kann. Er spricht darüber mit seinem Arzt. Therapeutisches Gespräch über Beziehungen zu Frauen (Mutter). Selbstmord?
4. März 1976 (EP78)
Was passiert, wenn bei Menschen die Schuldgefühle ausbleiben?
2. Mai 1976 (EP93, b)
Ein kleiner, wohl kranker, offenbar nur heute zu Hause gebliebener Schuljunge sitzt im Schlafanzug auf einem Fensterbrett im zweiten Stock hinter der Scheibe und sieht auf die Straße herunter. Wie schön!
2. Mai 1976 (EP93, c)
Eine Sekretärin:
»Das ist meine Lieblingsschreibmaschine, zu der sag ich schon Du!«
»Grüß Gott!«
»Wenn ich ihn sehe, ja«
2. Mai 1976 (EP93, d)
Man hat keine Zukunft mehr, und deswegen schafft man sich eine: man macht ein Kind.
29. Mai 1976 (EP5, b)
Ich muß Beispiele bringen, daß Orthografie nötig ist. Die Orthografie ist eine gesellschaftliche Regel.
29. Mai 1976 (EP5, g)
Überall müssen die Kinder sich anpassen, nur beim Schreiben kommt der Widerstand heraus.
29. Mai 1976 (EP5, i)
Wir haben zum Lesen und Schreiben noch zwei bis drei Jahre gebraucht. Intensiv wanderte da Buchstabe zu Buchstabe ins Gehirn. Und heute machen sie das in einem Jahr.
29. Mai 1976 (EP6)
Der Grundkonflikt liegt wahrscheinlich noch tiefer. Die heutigen Kinder müssen, damit sie überhaupt mit der Welt fertig werden, alles, was sie sehen und hören, ganz schnell vergessen: Fernsehen, Reisen etc. Nun kommt es in die Schule und soll sich plötzlich genau umgekehrt verhalten, es soll sich nämlich alles, was es hört, merken: Buchstabenbilder, Wortbilder.
29. Mai 1976 (EP6)
Orthografie ist für ein Kind Willkür:
Warum soll man zum Beispiel »fahren« mit h schreiben, »Haare« aber mit zwei a? Warum schreibt man »Haare« nicht »Hahre« und »fahren« nicht »faaren«? Bring das mal einem Kind bei!
29. Mai 1976 (EP6)
Am Freitag, 23.7.76, gegen 22.15 Uhr im Fernsehen:
Olympia-Übertragung aus Montreal. Man sieht im Bild die Amerikanerin Kathy McMillan, die später die Silbermedaille gewann. Plötzlich teilt sich das Bild in zwei Hälften. Auf jeder Hälfte sieht man Kathy McMillan, links von der Seite, rechts von vorn: beim selben Versuch. Kommentar des Sportreporters Volker Rath: »Die Leute vom Fernsehen haben sich was einfallen lassen: man kann den Versuch nun aus zwei Perspektiven beobachten.« Der Sportreporter sagte wirklich »beobachten«. Tatsächlich konnte man noch weniger wahrnehmen als zuvor. Fernsehen war eine toll gewordene Briefmarke geworden, aber der Sportreporter sprach von »Beobachten«. Grundirrtum des Fernsehens: daß es umso besser sei, je mehr man sehe. Daß mit der Vielzahl der Bilder auch schon die Qualität der Beobachtung zunimmt.
21. Juli 1976 (EP25, b)
Die eigenen Kinder sind Personen, zu denen man sich nicht normal verhalten kann. Entweder die Eltern sind übertrieben weich zu ihnen (aus Schuldgefühl) oder übertrieben streng (aus Angst), auf jeden Fall schlägt den Kindern von den Eltern immer irgendeine Übertriebenheit entgegen.
30. Oktober 1976 (EP40, a)
Einen der schlimmsten Jobs, die es derzeit gibt, hat wahrscheinlich der Bediener einer sogenannten Mini-Bar in der Bundesbahn. Das ist ein Wägelchen, das vollgestellt ist mit Getränken und Esswaren, und der Bediener muß es die Zuggänge entlang schleppen: immer an den Leuten vorbei, durch die Schwingtüren hindurch.
30. Oktober 1976 (EP40, c)
An Maos Todestag (9.9.76) erschien ein junger Angehöriger der KPD auf der Zeil und sprach über Megaphon ein[en] Nachruf auf Mao. Einige andere Mitglieder der KPD verteilten Flugblätter mit der Todesnachricht; auf der Rückseite der Flugblätter war der Text des gesprochenen Nachrufs abgedruckt, und der beste, wenn auch verwirrendste (weil utopischste) Satz des Nachrufs lautete: »Wir werden unsere Trauer in Energie verwandeln.« Dieser Satz, gesprochen über die Köpfe so vieler trauriger Konsumenten, die ihre Trauer noch gar nicht kennen, obwohl sie fortwährend traurig sind, erregte mich sehr. Ich wäre am liebsten hingegangen zu dem Sprecher und hätte gefragt, wie man das macht: Trauer in Energie verwandeln, aber ich konnte nicht, zum Teil deswegen, weil ich eben zu traurig war, um einen anderen Menschen ansprechen zu können.
1. November 1976 (EP47, b)
Das ganze Jahr steht für Genazino im Zeichen seines Comebacks als Romancier. Nicht weniger als zwölf Jahre sind seit der Veröffentlichung des Romans »Laslinstraße« im Kölner Verlag Middelhauve vergangen. Mittlerweile hat er in Jürgen Manthey vom Rowohlt Verlag einen neuen und einflussreichen Fürsprecher gefunden. »Abschaffel« erscheint im Frühjahr in der Reihe »das neue buch« und wird im Laufe der folgenden Monate von der Kritik stark beachtet. Auch der Buchhandel reagiert positiv.
Zigaretten in der Manteltasche, die aus der Packung rutschen und in der Tasche zerkrümeln.
20. Januar 1977 (EP58, a)
»Wenn sie schreibt, kommt sie nicht«
Meine Mutter fröhlich, als sie von einer Schwägerin eine Geburtstagskarte erhält.
20. Januar 1977 (EP58, c)
Aus Zeitvertreib und weil das Gefühl zu stark geworden ist, daß man von den anderen nichts weiß, auf Wohnungssuche gehen. Dann weiß man wieder besser, wo die anderen sind und wie sie leben.
20. Januar 1977 (EP58, d)
Er ärgerte sich auf der Toilette, weil das Toilettenpapier nicht sauber und gerade an der perforierten Trennlinie riß.
20. Januar 1977 (EP58, e)
Zu den Freuden des Kleinbürgers gehört auch dies: das Abstreifen der schmutzigen Schuhe auf der Fußmatte und das Betreten der Wohnung mit gereinigten Sohlen.
20. Januar 1977 (EP58, f)
Wetterdetail:
Im Winter wandeln sich die italienischen Eissalons um in Pelzgeschäfte. Oben steht noch »Eis-Café Riviera«, aber im Schaufenster sitzen lauter kopflose Pelzmützen.
20. Januar 1977 (EP58, g)
Die reale Überflüssigkeit von Schecks und Scheckkarten. Das bißchen Geld läßt sich ohne diese Umständlichkeiten ausgeben. Sie wurden aber eingeführt zur Freude der Angestellten: damit etwas mit ihnen passiert.
20. Januar 1977 (EP58, h)
Man kann es nicht allen Wörtern recht machen.
20. Januar 1977 (EP59)
Gott sei Dank regnete es. Der Regen milderte die Gier und beschwichtigte die Unruhe.
20. Januar 1977 (EP59)
Glücklich schon, aber nicht zufrieden.
21. Januar 1977 (EP61)
Er hatte das Gefühl, ein Irrer geworden zu sein, der nur deswegen nicht auffiel, weil er die Gesundheit vorläufig noch spielen konnte.
21. Januar 1977 (EP61)
Der Vater war alt geworden, und seine Verdauung funktionierte nicht mehr richtig. Wenn er einmal am Tag Stuhlgang hatte, war er schon zufrieden. Häufig kam es nicht dazu, und stattdessen mußte er oft furzen. Und es war ihm zu lästig geworden, deswegen jedesmal aus dem Zimmer zu gehen, und er war mißmutig davon überzeugt, seine Familie trage eine Art Schuld daran, daß er nicht mehr so sein konnte wie früher.
15. Februar 1977 (EP71)
Nur in den langen Gängen von Behörden oder großen Firmen kann man sich kennen und aneinander vorbeilaufen, ohne sich zu grüßen.
15. Februar 1977 (EP71)
Seine Jugend verbrachte er mit der Vorstellung, er müßte alt werden, um sich seine Jugendträume zu erfüllen.
21. April 1977 (EP77, d)
1943: Hitler feiert seinen Geburtstag auf der Autobahn. Die Autobahn ist leer, von der Ferne fährt ein schwarzer Wagen heran. Irgendwo steht eine Abordnung am Rande der Autobahn, und als der Wagen an die Abordnung stehender Männer herangekommen ist, hält der Wagen an. Hitler steigt aus, läßt sich von den stehenden Männern gratulieren und fährt weiter.
14. September 1977 (EP10)
Übernachtung bei der Mutter. Auf der Couch im Wohnzimmer. Kurz vor dem Schlafengehen öffnet sie eine Schranktür und zeigt mir einen Apfelkuchen: Wenn du heute Nacht Hunger bekommen solltest, kannst du dir davon nehmen.
Am Morgen, als der Kuchen noch immer nicht angebrochen war, bietet sie mir an, den Kuchen einzupacken und ihn mir mitzunehmen.
(Vorstellung, daß Befriedigung vor allem oral stattfindet. Übertragung vom Vater auf mich)
14. September 1977 (EP12, a)
Besuch bei der Mutter: Es klingelt an der Tür, die Mutter öffnet. Es ist eine Nachbarin, die etwas ausrichtet. Die Mutter kehrt zurück und sagt: In meinem Leben ist immer etwas los.
14. September 1977 (EP12, b)
Der zweite Abschaffel-Roman »Die Vernichtung der Sorgen« kommt im Rowohlt Verlag heraus und hat wiederum ein großes Echo. Genazino sucht nach neuen Themen: Fortwährend notiert er Ideen für Hörspiele und erzählende Prosa. Auch im Rotlichtmilieu erweist er sich als präziser Beobachter. Besonders intensiv beschäftigt ihn ein »Bordellroman«, der vermutlich niemals geschrieben wurde. Außerdem sammelt er Material für das Hörspiel »Die Geheimnisse des Wohnens«, das 1979 vom Saarländischen Rundfunk produziert wird.
Neben der schriftstellerischen Arbeit bereitet sich Genazino seit 1976 darauf vor, sein Abitur nachzuholen. Auf dem Mannheimer Moll-Gymnasium galt er mit 15 Jahren als Schulversager, deshalb absolvierte er von 1959 bis 1962 eine kaufmännische Lehre.
Dialog mit der Geliebten während des Autofahrens:
Sie unterhalten sich.
Sie:Solche Autofahrgespräche habe ich gern.
Er: Ja? Warum? Es ist doch nicht sehr angenehm hier drin.
Sie:Im Auto bin ich aber sicher, daß ich nicht plötzlich verlassen werde.
Er:Ist das wahr?
Sie: Ja. Das fürchte ich immer: verlassen werden.
Ich habe das Gefühl, verlassen zu werden, sogar schon gehabt, wenn du etwas zu lange auf dem Klo warst.
2. Mai 1978 (EP53)
Thema Bordell:
Er hatte lange geglaubt, die Spannung des Körpers beim Betreten eines Bordells sei lediglich Angst oder Scham. Schließlich entdeckte er, daß die Spannung Lust war. Sein Körper war bewegt, und die Bewegung war die Freude.
(Weiter ausführen)
8. Juni 1978 (EP62, a)
Überlegen:
Kleiner Bordellroman. Motiv: Die Hauptfigur kann (will?) seine Geschlechtlichkeit nur noch als Ironie erleben. Das Geschlechtsleben ist eine biologische Notwendigkeit, eine hübsche sogar, aber die Hauptfigur ist nicht mehr bereit, sich in die Entfaltung dieser Notwendigkeit immer gleich eine lebensbegleitende Perspektive hineinzudenken.
Dabei Freud verarbeiten: seine Idee, in einer Prostituierten suche der homosexuelle Mann den homosexuellen Partner. Die Nutte ist nur der Gegenstand, den auch der andere Mann benutzt.
8. Juni 1978 (EP62, b)
Bordellroman: II:
Auch die Frauen kennen die Männer, die ihre Nähe brauchen, ohne von ihnen selbst etwas zu wollen. Die Frauen erkennen diese Männer sofort. Entweder daran, daß sie nur umherlaufen und sich umsehen. Gucker und Spanner. Andere fragen nach dem Preis. In der Regel hat ein Bordell einen Grundpreis, den keine Frau unterbietet. Trotzdem versuchen Männer den Grundpreis zu unterlaufen. Sie wandern von Frau zu Frau, führen kurze Gespräche und werden abgewiesen.
(- Hier wird nicht gehandelt)
28. Juni 1978 (EP70)
Bordellroman:
Es fällt auf, daß Bordelle immer in alten Stadtvierteln liegen (übrigens auch oft in der Nähe von Gerichtsgebäuden). Die Häuser, in denen es geschieht, sind alt und abgenutzt. Es ist ihnen anzusehen, daß, nachdem sie einmal Bordell geworden sind, danach nichts mehr anderes aus ihnen werden kann.