Die Obdachlosigkeit der Fische - Wilhelm Genazino - E-Book

Die Obdachlosigkeit der Fische E-Book

Wilhelm Genazino

4,5

Beschreibung

"Die Obdachlosigkeit der Fische" erzählt von der Erinnerung an eine fatal gescheiterte Jugendliebe. An der Schwelle des Alterns, in einer krisenhaften Phase ihres Lebens vergewissert sich eine Lehrerin dessen, was von ihrer Geschichte geblieben ist. Und diese Liebesgeschichte gehört zu den wenigen noch fortlaufend erzählbaren Zusammenhängen, die in ihrem Gedächtnis haftengeblieben sind. Im Kampf gegen das fortschreitende, greifbare Verschwinden ihres Lebens folgt sie dem Spiel der Bilder in ihrem Inneren - das nur noch dem Wildwuchs des Träumens gehorcht.

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Hanser E-Book

Wilhelm Genazino

Die Obdachlosigkeit der Fische

Carl Hanser Verlag

Die Erstausgabe erschien im Jahre 1994.

ISBN: 978-3-446-25148-9

© 2006/2015 Carl Hanser Verlag München

Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, Foto: © Weegee (Arthur Fellig)/International Center of Photography / Getty Images

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Kreutzfeldt digital, Hamburg

I

ES IST SPÄTNACHMITTAG, heimkehrende Angestellte strömen in die Geschäfte. Der Gemüseladen ist ziemlich voll. Ein Kind steht an der Tür und spielt mit der Klinke. Nicht lange, dann ruft eine nervöse Frau, wahrscheinlich die Mutter, in Richtung Kind: Laß die Tür in Ruh! Das Kind reagiert nicht. Es öffnet die Tür und streckt die Hände hinaus. Darauf die Mutter: Hörst du nicht? Rein oder raus! Das Kind folgt wieder nicht. Recht hat es! Warum ist es nicht erlaubt, teilweise draußen und teilweise drinnen zu sein? Ist das nicht überhaupt der beste Gebrauch, den man von einer Tür machen kann? Schon möchte ich der Mutter einen Kurzvortrag über die Freiheit in Gemüseläden halten, da fällt mir ein Spruch aus der Schule ein: Richtige Lehrer weisen auch Erwachsene zurecht. Immer habe ich den Spruch belächelt, jetzt schickt er mein Denken auf die Suche nach einem nur für mich konstruierten Notausgang.

IN DER BANK ist das Computersystem ausgefallen. Der Kassierer bittet die Kunden um Geduld. Ein Mann und zwei Frauen verlassen die Schalterhalle, die anderen Leute setzen sich und warten. Eine Frau beginnt einen Brief zu lesen. Ein junger Mann holt aus seiner Mappe einen Kunstdruck hervor und betrachtet ihn. Mein Blick bleibt bei einer Hochschwangeren hängen, die eine Sitzbank für sich allein benötigt. Ihr dicker Bauch liegt wie ein Ballon auf ihr, die Beine sind breit ausgestellt, der Rock ist hochgeschoben. Ich schaue der Frau bis an den Rand der Unterhose. Mir gefällt die Prallheit, das Vollgestopfte, ich habe Lust, mit meinen lächerlich kleinen Händen die Innenseiten der riesigen Schenkel hochzufahren. Wenn das Kind jetzt geboren würde, hätte ich vielleicht die Dreistigkeit, das blutig glitschige Ding an mich zu nehmen und mit ihm schnellstens zu türmen. Niemand könnte mir folgen. Zu Hause würde ich das Kind waschen und es mir an die Brust legen. Dann wüßte ich nicht weiter. Meine umherflackernde Raublust ist von der Schwangeren offenbar bemerkt worden. Sie schaut mich ein bißchen höhnisch an, sie schließt die Beine und schiebt den Rock nach vorne. Jetzt legt sie auch noch die Arme schützend auf den Bauch. Aber da ist sowieso jede Gefahr vorüber, der Computer funktioniert wieder. Alle Wartenden haben, wie sich jetzt zeigt, die Schwangere bemerkt und berücksichtigen ihre besondere Lage. Man läßt ihr den Vortritt. Als erste wird sie bedient.

ICH WEISS NICHT, warum mir Menschen, die am Frühabend in Bussen sitzen und nach Hause fahren, so ärmlich und bemitleidenswert vorkommen. Von ihren tief eingesunkenen Körpern sind nur die kleinen wackligen Köpfe sichtbar, für die ich immerzu fürchte, daß sie bei der nächsten Erschütterung abfallen könnten. Jetzt fahren sie wieder nach Hause, die armen kleinen Tiere, zu den Schlachtbänken der Einbildung, der Vergeblichkeit und der Hoffnung. Wenig später fällt mir auf, wie schwach der Bus erleuchtet ist. Es sind nur drei oder vier matte Kugellampen an der Decke, die für den ganzen Bus reichen müssen. Allerdings wundert mich die schlechte Beleuchtung nicht. Mehr als ein paar halbdunkle Notlichter sind auch nicht nötig! Sie brauchen keine besondere Helligkeit, die friedlichen Tiere, im Gegenteil, wahrscheinlich sind sie ein bißchen froh, wenn sie sich selber nicht mehr richtig sehen.

SEIT DEM FRÜHJAHR trage ich ein Kinderfoto mit mir herum. Von Zeit zu Zeit hole ich es hervor und betrachte es. Der kurze Rock ist der kurze Rock, den ich vor mindestens vierzig Jahren getragen habe, das blonde Haar ist das blonde Haar von früher, und die dünnen Arme sind die dünnen Arme, die ich damals hatte. Aber es kommt nichts mehr dabei heraus, wenn ich das Bild betrachte. Bis vor ein paar Wochen kehrte ich immer auch in die Person des Mädchens zurück, sobald ich das Bild angeschaut habe. Das ist jetzt vorbei, offenbar endgültig. Ich bin das Kind auf dem Foto, aber das Kind ist nichts weiter als eine Abbildung. Deswegen ist der kurze Rock nicht mehr mein kurzer Rock, das blonde Haar ist nicht mehr mein blondes Haar, und die dünnen Arme sind nicht mehr meine dünnen Arme.

LINKS VON MIR zieht vierspurig der Autoverkehr vorbei. Ich bin der einzige Mensch, der die Brücke zu Fuß überquert. Etwa in der Mitte bleibe ich stehen und schaue auf das schwärzliche Wasser hinunter. Am rechten Ufer ankern zwei Ausflugsdampfer, am linken schaukeln ein paar Enten. Da schiebt sich ein mit Kohlen beladener Lastkahn unter der Brücke hervor. Trotz seiner tief ins Wasser eingelassenen Schwere wirkt das Schiff leicht und beweglich. Augenblicklich ergreift mich das Gefühl, in die Bewegung des Verschwindens hineingezogen zu werden. Es ist das Fontänenartige des inneren Lebens, das plötzlich Aufschießende nach irgendwohin! Auf dem Deck steht ein Mann und kehrt die Stege zwischen den Ladeluken. Er schaut zu mir hoch, und in diesem Augenblick ist es um mich geschehen. Jetzt bin ich selbst ein Schiff und sehe mich, ganz klein, am Horizont verschwinden.

WENIG SPÄTER STEIGE ich in einen Bus und fahre über den Nordring nach Hause. Es dämmert, alle Sitzplätze sind besetzt. Ich suche mir einen Stehplatz in Fensternähe. Aber die Scheiben sind beschlagen und staubig. Nur verwischte Lichtflecke ziehen vorüber. Neben mir steht ein höchstens sechzehnjähriges Mädchen, und momentweise habe ich Lust, es kameradschaftlich zu fragen: Du müdes Kalb bist auch froh, daß du in den Stall gefahren wirst. Plötzlich erinnere ich mich. Mit elf oder zwölf hörte ich es gern, wenn eine Ladung Eierkohlen von der Ladepritsche eines Lkw in ein offenes Kellerloch hineinrutschte. Und ich sah es gern, wenn schwere Brauereipferde anfingen zu pissen und die Kinder der Straße herbeiliefen und dabei zuschauten, wie sich der dampfende Urin zwischen Gehweg und Straße verteilte. Der Bus schwankt stark, ich muß mich festhalten. Schon ist die Erinnerung weg. Ich strenge mich an, die Spur wiederaufzunehmen, ohne Erfolg. Und schon überlege ich, in welches Gatter ich gehöre: in das der Vergeblichkeit, in das der Einbildung oder doch in das der Hoffnung? Inmitten einer kleinen Tierschar schaukle ich dahin.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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