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Der Büroangestellte Eckhard Fuchs hadert mit der modernen Welt, dem Älterwerden, mit der Familie im Allgemeinen und seiner Frau Ruth im Besonderen. Nach 16 langen Ehejahren ist nichts mehr, wie es einmal war: Schon die Entscheidung über den alljährlichen Familienurlaub führt zu existenziellen Konflikten. Eckhard Fuchs' Leben ist eine zeitgenössische Tragödie, aufgezeichnet vom minutiösesten Beobachter deutscher Alltagswirklichkeit. Wilhelm Genazino beweist bereits in diesem frühen Roman sein Gespür für die Spannungen, die unter der Oberfläche der Banalität liegen.
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Seitenzahl: 433
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Hanser E-Book
Wilhelm Genazino
Die Ausschweifung
Roman
Carl Hanser Verlag
Der Roman erschien zum ersten Mal 1981.
ISBN 978-3-446-25145-8
© 2004/2015 Carl Hanser Verlag München Wien
Schutzumschlag: Peter-Andreas Hassiepen, München, Foto: © Hulton Archive / Getty Images
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Herr Fuchs schüttelte sich, als er am Friedberger Platz aus der Straßenbahn stieg. Hier beendete er jeden Abend die Heimfahrt vom Büro in die Wohnung. Fünfzehn bis zwanzig Minuten Fußweg mußte er nun noch hinter sich bringen, dann war er zu Hause. Der Fußweg war für ihn der schönere Teil des Heimwegs. Zuerst legte er das kurze Stück der Bornheimer Landstraße zurück und bog dann links in die Berger Straße ein. Am Ende der Berger Straße, in der Heidestraße, bewohnte Herr Fuchs mit seiner Frau Ruth und seiner achtjährigen Tochter Anna eine geräumige Vier-Zimmer-Altbauwohnung. Vor genau sechzehn Jahren war Herr Fuchs mit seiner Frau in diese Wohnung eingezogen. Damals hatten sie geheiratet, und es war für sie von Anfang an klar gewesen, daß sie nur hier, im Stadtteil Bornheim, leben und wohnen wollten. Beide, Eckhard Fuchs und Ruth Landauer, waren in Frankfurts nördlichstem Stadtteil aufgewachsen und groß geworden. Beide waren sie in Bornheim zur Schule gegangen und konfirmiert worden. Das vierstöckige Mietshaus, in dem sie vor sechzehn Jahren ihre Wohnung gefunden hatten, kannten sie vom Ansehen her seit ihrer Kindheit. Ende der fünfziger Jahre, als Eckhard Fuchs ein Halbwüchsiger war und fast jeden Abend mit seinen Freunden an einer Bornheimer Ecke herumstand, war er auf Ruth aufmerksam geworden. Sie war vier Jahre jünger als er und besuchte damals noch jeden Sonntagmorgen die Christenlehre. 1959 war Ruth siebzehn Jahre alt gewesen und hatte gerade eine ernste religiöse Phase. Eckhard wurde nur deswegen auf sie aufmerksam, weil sie immer nur kurz auf der Straße zu sehen gewesen war. Die Mädchen aus der Umgebung hatten, ähnlich wie die Jungen, kleine Gruppen gebildet, die schlendernd, trödelnd und kichernd ihre Abende verbrachten. Ruth gehörte zu keiner dieser Gruppen, und schon allein deswegen machte sie auf Eckhard einen fortgeschrittenen, ernsten Eindruck. Eckhard war damals einundzwanzig Jahre alt und hatte soeben eine neue Stelle als zweiter Versandleiter in einer Arzneimittelfabrik angenommen. Er war ein stattlicher, gutgebauter Mann, und er konnte es sich leisten, sein Interesse für Ruth zu zeigen. Obwohl der äußere Anschein lange dagegen sprach, wurde aus Ruth und Eckhard rasch ein Paar. Eines Tages hatte er sich aus seiner Jungengruppe gelöst und war dann nur noch in Begleitung von Ruth zu sehen gewesen. Ruth war damals Lehrling in einem Anwaltsbüro gewesen und besuchte die Handelsschule. Es stellte sich heraus, daß ihre religiösen Interessen nur ein Ausdruck ihrer jugendlichen Unbestimmtheit gewesen waren; sie lösten sich in nichts auf, als sie Eckhard kennengelernt hatte. Nach fünf Jahren heirateten sie; er war sechsundzwanzig, sie zweiundzwanzig.
An der Ecke Bornheimer Landstraße/Berger Straße gab es ein großes Fahrrad- und Motorradgeschäft. Es war Ende Februar, die Abende wurden heller und länger, und der Besitzer des Motorradgeschäfts ging wieder dazu über, ein paar seiner schweren Motorräder vor dem Laden aufzustellen. Die kleine Parade verfehlte ihre Wirkung nicht; viele junge Leute hielten sich in der Nähe der amerikanischen, deutschen und japanischen Maschinen auf, betrachteten sie und befühlten sie sogar. Manchmal stellte sich Herr Fuchs ebenfalls vor diesen Motorrädern auf. Was ihm gefiel, war die ungenierte Bewunderung, mit der diese sechzehn- und siebzehnjährigen Jungen die Räder anstaunten. Mit seitlich eingeknicktem Oberkörper, die Arme verschränkt und den Kopf ein wenig hängend standen sie einen knappen halben Meter entfernt vor den Objekten ihrer Sehnsucht; manchmal machten sie ein paar bedächtige Schritte oder beugten den Kopf nieder, weil sie ein technisches Detail aus der Nähe sehen oder, wie Herr Fuchs vermutete, weil sie es einmal riechen wollten. Herr Fuchs war zweiundvierzig Jahre alt; er wußte, daß er sich niemals mehr so eindeutig und ausschließlich nach etwas sehnen konnte wie diese Halbwüchsigen. Aber wenn er sich in der Nähe von Personen aufhielt, denen solche Möglichkeiten noch zustanden, dann fühlte er sich gleichwohl beruhigt und beschwichtigt, weil er dann auch die lächerlichen Seiten einer solchen albernen Hingabe zu sehen in der Lage war. Es war, als könne er dann begreifen, daß seine inneren Verluste vielleicht gar nicht so schlimm und beeinträchtigend waren, wie sie sich meistens anfühlten. Ein rätselhafter, wenngleich leichter Schmerz hatte sich sowieso in viele Ereignisse seines Lebens eingemischt, besonders in den letzten Wochen, in denen er mit Ruth nicht immer ruhige Auseinandersetzungen geführt hatte. Das Leben wandelte sich. Am Abend zuvor hatten sie beide beschlossen, in diesem Jahr nicht in Urlaub zu fahren, zum erstenmal seit vielen Jahren. Der Entschluß war ihnen schwergefallen, Ruth schwerer noch als ihm; der jährlich wiederkehrende, zuerst in Italien, gelegentlich in Jugoslawien, später in Spanien verbrachte Strandurlaub war ein wichtiger Teil ihrer Paargeschichte geworden. Solange Anna noch nicht geboren war, in den mittleren und späten sechziger Jahren, flogen sie mit Reisegesellschaften für drei Wochen an die italienische Adria, nach Jesolo oder Cattolica. Später, als Anna auf der Welt war, fuhren sie mit dem Auto an die Costa del Sol, suchten sich auf eigene Faust eine billige Pension nicht mehr ganz in der Nähe des Strands, weil ihnen das zunehmende Getümmel an den Ferienstränden langsam zuviel wurde. Ihm selbst, Eckhard, wurde mit den Jahren das Autofahren immer mehr eine Zumutung; es erschöpfte ihn und machte ihn unduldsam und übellaunig. Heute rührte er das Auto überhaupt nicht mehr an. Es war ganz in die Obhut und Verfügung von Ruth übergewechselt. Ruth begriff nicht gut, daß das Ferienmachen umständlicher und schwieriger geworden war, und war ihrerseits ärgerlich. Um allen Problemen aus dem Weg zu gehen, hatten sie zwei- oder dreimal – zu dritt – Flugreisen gebucht. Allerdings war das Fliegen teuer geworden; ein dreiwöchiger Flugurlaub für drei Personen in der Hochsaison war heutzutage nicht unter 4000 Mark zu haben. Herr Fuchs fand (erst im stillen, dann beklagte er sich), daß dieser Preis nicht mehr im richtigen Verhältnis zu seinem Ertrag stand. Er hatte diese Flugurlaube wie jemand verbracht, der sich nicht eingestehen durfte, daß er bei Vollpension und Sonnenschein immer mehr verarmte. Das Urlaubsgeld, das ihm die Firma zahlte, reichte nicht aus zur Finanzierung der gemeinsamen Ferien. Er mußte sein Konto kräftig überziehen, und für den Rest des Jahres mußte Ruth sparsam wirtschaften, damit der Habenstand langsam schmolz. Auf diese Weise wurde er ein halbes Jahr lang, vom Sommer bis zum Winter, von Monat zu Monat daran erinnert, daß er und seine Familie drei Wochen lang zu teuer gelebt hatten. Diese Erinnerung mußte er mit unguten Gemütsbewegungen bezahlen, und er fand immer öfter, daß dieser Preis zu hoch war. Sein innerer Frieden war ihm wichtiger als ein Sommerurlaub. Bei Ruth jedoch fand er nicht so ohne weiteres Verständnis. Sie meinte zwar auch, daß Urlaubmachen viel zu teuer geworden war, aber für sie war der Urlaub eine so wichtige Zeit, daß sie dafür fast jeden Preis zu zahlen bereit schien. Sein Argument, daß sie dem überteuerten Urlaub ein halbes Jahr lang nachzahlen mußten, beeindruckte sie nicht. Eine halbe Stunde lang war es gestern abend zwischen ihnen laut und auch überraschend grob geworden. Dann war Ruth in ihrem Zimmer verschwunden, und er hatte aus Trotz und Ratlosigkeit noch einmal den Fernsehapparat eingestellt.
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