Der Träumer - Johannes Baerlap - E-Book

Der Träumer E-Book

Johannes Baerlap

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Beschreibung

Der vorliegende Band versammelt frühe Erzählungen und Kurzgeschichten von Johannes Baerlap, die in der Zeit um das Millennium entstanden sind. Zwischen Autobiographie und Fantasie beschreibt der Autor das Leben mit seelischem Handicap als Herausforderung zur Überwindung der Krankheit und zur Entwicklung eines höheren Seelenzustands.

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Inhaltsverzeichnis

Agzag Mabûl

Das Märchen vom Korbflechter

Der Träumer

Die schwarzen Engel

Erste Liebe

Auf ewig

Und sie berührten sich nicht

Es gibt keine Abenteuer mehr

In der Klinik

Isolationsgeschädigt

Der Traum

Die Suppe

Der Junggeselle

Der Baum

Schweigen

Hinübergehen

Ein Schiff, die Narren und die Rose mit dem Schwert

Agzag Mabûl

1. Kapitel

Langsam erwachte Andi wieder zum Leben. Flüchtig erinnerte er sich an etwas wie einen dunklen Traum, ein Alpdruck, der in seinem Hinterkopf zurückgeblieben war. Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn, sah sich um und stellte fest, dass er absolut nicht erkennen konnte, wo er sich befand. Es war einfach dunkel.

Also versuchte er sich zu erinnern. Sein Schädel brummte, und es dauerte etwas, bis sein Hirn auf Touren kam. Es fiel ihm ein, dass er sich eine Flasche Whisky besorgt, sodann mit einem Glas und Eiswürfeln bewaffnet seine Zimmertür abgeschlossen und sich dem Genuss klassischer Musik hingegeben hatte. Nach einem Joint war er dann wohl eingeschlafen, also war er noch vollständig bekleidet. Aber dies war nicht sein Zimmer. Das schloss er zum einen aus der Dunkelheit, denn er hatte nur ein dünnes japanisches Rollo, das ihn gegen die Leuchtreklame abschirmte, als auch aus der Beschaffenheit seines Lagers, ungewöhnlich hart und offenbar aus nur leicht gepolstertem Leder.

Ein Gefühl der Panik stieg in ihm auf. Er ertastete einen Tisch, rund, leer, mit Ornamenten am Rand, kroch am Fußboden zu einer Wand, die offenbar ebenfalls mit Leder beschlagen war, was sein Entsetzen nicht eben milderte, und sah sich einem Haufen Fragen ausgesetzt: Wo war er? Wie war er hierhin gekommen? Kam er hier wieder heraus?

Er dachte jetzt, dass er wohl immer noch träumte, zwickte sich in die Backe, gab sich ein paar Ohrfeigen, doch an der momentanen Realität änderte sich nichts. Er tastete an der Wand entlang und hatte dann tatsächlich einen Metallknauf in der Hand, der zu einer Tür gehörte. Aber alles Drehen, Drücken und Ziehen half nichts, die Tür blieb verschlossen. Er trommelte mit den Fäusten dagegen, bearbeitete sie mit Fußtritten - ohne Erfolg.

Plötzlich fiel ihm etwas ein. Er suchte in seinen Hosentaschen, fand aber nichts. Er hatte gehofft, sein Feuerzeug bei sich zu haben. Einen Lichtschalter suchte er vergebens, genauso wie ein Fenster. Er kauerte sich an der Wand zusammen und dachte nach. Entweder träumte er, oder er war verrückt. Vielleicht hatte man ihn auch entführt, aber aus welchem Grund? Weder er noch seine Verwandten waren wohlhabend, darauf konnte es nicht hinauslaufen. Er hatte nie viel besessen, eine Stereoanlage mit einem altmodischen Plattenspieler, ein Regal mit Büchern, seine Gitarre, das waren schon all seine weltlichen Schätze.

Er hatte es bis zum Abitur gebracht, dann drei Semester Geschichte studiert, aber irgendwann langweilte ihn das Gerede der Professoren, er brach das Studium ab und widmete sich verschiedenen Jobs, vom Kellner bis zum Taxifahrer, kam dabei einigermaßen über die Runden und war im allgemeinen recht zufrieden mit seinem Leben. Und jetzt dies.

Er begann an seinem Verstand zu zweifeln. Unwillkürlich saugte er an seiner Unterlippe und spielte mit der Zunge an seinen Zähnen. Wo war er hier? Spielte ihm seine Vernunft einen Streich?

Plötzlich bemerkte er einen seltsamen Geruch, der ihm vorher noch nicht aufgefallen war. Schwer und süßlich, dabei aromatisch und betäubend durchzog es den Raum. Ihm wurde erst schlecht, dann kippte er zur Seite und verfiel in eine Art Wachtraum. Er sah schemenhafte Gestalten in neblig-trüben Landschaften, die mit Schwertern und Keulen aufeinander losgingen. Er riss sich los von dieser Vision, stand auf und schleppte sich zu seinem Lager, wo ihm erneut schlecht wurde und er das Bewusstsein verlor.

Als er wieder zu sich kam, brannte eine Kerze auf dem Tisch. Sie beleuchtete einen Krug mit Flüssigkeit, offenbar Wasser, und ein Stück Brot, das daneben lag. Das Licht gab ihm Gelegenheit, sein Gefängnis - und so erschien es ihm schon - weiter zu erkunden. Die Wände waren ringsum mit Leder beschlagen, das im Kerzenschimmer rötlich glänzte, Fußboden und Decke aus Holz. Es stand noch ein Stuhl im Raum, alles wirkte opulent und doch spartanisch. In einer Ecke befand sich ein Abtritt mit einer altmodischen Holzbrille. Das war´s.

Na schön, dachte er bei sich, vielleicht zeigt sich ja mal einer von meinen Kerkermeistern, Geschmack scheinen die ja zu haben. Er schaute sich das Brot und den Krug genauer an, trank erst einen Schluck und biss dann vom Brot ab. Er hatte einen bitteren Nachgeschmack auf der Zunge, sein Schädel brummte und er überlegte, was er nun tun sollte. Erstmal aß er weiter, er war recht hungrig. Das Brot schien nahrhaft zu sein, es war dunkel und offenbar mit Sauerteig gebacken.

Nachdem er mehr recht als schlecht satt geworden war, lehnte er sich zurück und betrachtete die Kerze auf dem Tisch. Er sah, wie sich eine Aura aus Licht um die Flamme bildete, fast wie eine kleine Sonne. Er fühlte sich gestärkt, selbstsicherer, und mit neuem Mut ausgestattet, harrend der Dinge, die auf ihn zukommen würden. Zumindest schien man ihn ja nicht verhungern zu lassen, obwohl das kleine Brot kaum für den Tag genügen dürfte. Er wünschte sich etwas zu rauchen.

2. Kapitel

Der Fürst schien sehr erregt.

„Wenn der Herrscher befiehlt, dann wird gehorcht. Also weitermachen, oder soll ich euch wegen Aufsässigkeit auspeitschen lassen?“

Naid, der Vorsteher der Palastwache, schüttelte heftig den Kopf.

„Nein, mein Herr, das wird nicht nötig sein. Aber gebt uns etwas mehr Zeit, wir müssen noch üben und ein sechster Mann wäre auch notwendig, ihr wisst schon. Sonst kann unsere Musik nicht die Stärke erreichen, die der Herrscher braucht für seinen Vortrag!“

Der Fürst winkte ab.

„Ich weiß, die Zahl. Aber sie wird bald erfüllt sein, wir haben einen Adepten geholt. Kein guter Techniker, aber ein Talent, wie man hört. Noch ist er in Quarantäne, aber ich denke, man kann bald auf ihn rechnen. Der Herrscher ist sehr an ihm interessiert.“

Naid tat erstaunt, obwohl er bereits wusste, dass man einen neuen Gast hatte. Sefren, der Jüngste der Wache, hatte es ihm gesteckt, nur er hatte Zugang zum Gästetrakt.

„Nun, das ist eine frohe Botschaft. Der Herrscher sei gesegnet. Jetzt ist unsere Arbeit doch nicht umsonst, es sei Dir gedankt, großer Fürst!“

Unwillig wandte der Fürst sich ab. Er liebte die Unterwürfigkeit nicht, die der Palastmeister zuweilen an den Tag legte.

„Ihr habt's ja gehört. Machen wir weiter.“

Naid nahm seinen Hammer wieder auf und drehte sich zu den übrigen Mitgliedern eines seltsamen Ensembles, das mit Brechstangen, Feilen und Hämmern große Metallgegenstände bearbeitete. Einige hatten Drähte, andere waren mit Wasser gefüllt. Er gab den Einsatz, und alle begannen zu hämmern, zu sägen, zu raspeln und zu brechen. Langsam begann sich ein Rhythmus zu formen, erst forsch und brachial, dann sanfter, zurückhaltender, wieder frecher und schließlich in einem ohrenbetäubenden Creszendo endend.

„Garstig, garstig, meine Herren.“ Der Fürst schien begeistert. „Aber Du hast recht, Naid, eine Stimme fehlt noch. Die Stimme eines Menschen.“

Naid sah zum Fürsten herüber. Eine Weile blickte er ins Leere, dann bemerkte er ein Funkeln im Auge des Fürsten, tat so, als wenn er nichts gesehen hätte und erwiderte: „Ein Mensch, wie lange habe ich nicht mehr mit einem Menschen gesprochen. Aus welcher Zeit kommt er?“

„Siebziger Jahre, soweit ich weiß.“

„Eine gute Zeit für unsere Musik. Weiß er schon etwas?“

„Nein, der Herrscher will ihn persönlich einweihen. Solange kein Wort mehr. Ich habe schon mehr erzählt, als Du zu wissen brauchst. Übt weiter, heute Abend will der Herrscher mit euch singen.“

„Jawohl, mein Fürst.“

Naid verstummte. Er schaute zu Sefren, doch der blickte zu Boden und kratzte sich mit einer Feile am Rücken.

„Auf geht's!“

Seit die frühere Halbinsel Agzag Mabûl keinen Zugang mehr zum Land hatte, war auch die Palastwache arbeitslos geworden. Shako der Erste, seit mehreren Generationen Herrscher über Schloss und Land Agzag Mabûl, hatte sich der Musik verschrieben und die letzten Getreuen einschließlich seines Fürsten und Statthalters der ehemaligen Provinz auf dem Festland, Drago II., zu einem Orchester geformt. Es war kein Orchester im herkömmlichen Sinne, eher eine Art Gruselkabinett mit absurden Instrumenten, aber Shako hatte Gefallen daran. Er schrieb Verse, die im Allgemeinen von Ekel, Überdruss und Hass handelten und in denen er Gott und die Welt beschimpfte und beleidigte. Er war seit langer Zeit opiumsüchtig, und Opium war auch das einzige landwirtschaftliche Produkt, das Agzag Mabûl noch hervorbrachte. Eine seltsame Aura umgab ihn, er schien immer noch jung zu sein, obwohl er doch schon seit langer Zeit herrschte. Niemand wusste, wie alt er wirklich war. Manche erzählten, er sei mit dem Teufel im Bund, andere sagten, er sei aus dem Grabe wiederauferstanden, so etwa wie ein Zombie, in Wirklichkeit schon längst tot. Auch über seine Getreuen schwatzte man ähnliches, doch Genaues wusste keiner. Nachdem ein Erdbeben die Halbinsel vom Land getrennt hatte und die frühere Provinz auf dem Festland verloren ging, war der Kontakt zu den Nachbarn ebenfalls abgebrochen, und nur einige wenige Opiumschmuggler wagten es, den einsamen Hafen der Insel anzulaufen. So waren der Herrscher und seine Insel schon fast in Vergessenheit geraten, und nur einige alte Ammenmärchen erinnerten noch an das sonderbare Schloss und seinen Regenten.

Seine Majestät Shako I. hatte also für diesen Abend zum Vortrag geladen, und seine Musiker, gleichzeitig sein Hofstaat, bereiteten sich darauf vor. Der König hatte eine recht gute Stimme. Tief und gurgelnd in den Bässen, scharf und durchdringend in den Höhen wusste er sich im Rahmen seiner Begleiter wohl zu präsentieren. Eine eigentümliche Macht ging von seiner Stimme aus, die sowohl Beherrschung als auch Willensstärke ausdrückte. Er sang nur selten, meist musste seine Combo ohne ihn üben bis sie Blasen an den Händen hatte. Aber heute wollte er sich nicht lumpen lassen, zumal Drago, der auch sein Hofastrologe und Magier war, für diesen Abend ein Fest anberaumt hatte, zu Ehren der verlorenen Liebe des Herrschers. Seit sie ihn verlassen hatte, und das war schon einige Jahre her, hatte er nicht mehr gelacht und jeder, der vor seinen Augen auch nur ein Lächeln zeigte, war unweigerlich des Todes. So waren die Bestimmungen nun schon seit langer Zeit.

3. Kapitel

Andi in seiner Zelle wusste davon natürlich nichts. Das Wasser war aufgetrunken und die Kerze bis auf einen Stummel niedergebrannt. Gelangweilt schaute er zu, wie das Wachs in Bahnen den Stumpf hinunterlief und sich in der kleinen Messingschüssel des Halters sammelte. Er fragte sich, ob es wohl Tag oder Nacht wäre und ob man ihn diesmal auch wieder einschläfern würde; er war überzeugt, dass es ein betäubendes Gas war, was er gerochen hatte.

Die Kerze ging aus und nichts geschah. Die Stille war unheimlich. Andi überlegte, wie er wohl reagieren würde wenn plötzlich die Tür aufginge und jemand hereinkäme, ob er laut werden sollte oder sich lieber in stiller Ergebenheit fügen; aber da niemand kam, erübrigte sich die Frage.

Plötzlich registrierte er einen leichten grünlichen Schimmer über der Tür, den er bis jetzt noch nicht wahrgenommen hatte. Das Leuchten wurde stärker, begann zu phosphoreszieren und nahm schließlich violette und orange Farbtöne an. Es zog ihn an. Gebannt schaute er das Farbenspiel an, das immer neue Formen und Muster zeigte. Es schien dreidimensional im Raum zu sein, wurde immer größer und begann allmählich, Andi einzuhüllen. Unerwartet gelassen nahm er das hin, spürte, wie die Farbzungen ihn streichelten und zu liebkosen schienen. Dann roch er wieder den süßlichen, betäubenden Geruch und konnte sich von da ab an nichts mehr erinnern.

Als er wieder aufwachte, brannten zwei Kerzen auf dem Tisch und neben Wasser und Brot lagen eine dicke Havanna und zwei Streichhölzer von der Art, die man auf allen rauen Flächen anzünden konnte. Fast komplett, dachte Andi, fehlt nur noch ein Stück Käse.

Erstmal aber machte er sich über das Brot her, das tatsächlich recht frisch zu sein schien, und trank mit gierigen Zügen aus dem Krug. Beim Essen fiel ihm ein, was er gestern gesehen hatte, tat das aber als Halluzination ab. Nachher zündete er sich die Zigarre an und blies kleine Rauchringe, die in der Mitte des Zimmers über den Kerzen tanzten.

„Ein bisschen einsam hier.“ Er begann schon halblaut mit sich selber zu reden. „Aber ganz gemütlich. Nur das Essen ist recht karg.“

Er hatte sich schon in das scheinbar Unabänderliche gefügt und war nicht dazu aufgelegt, sich seinem Schicksal zu widersetzen. Er dachte an eine alte Freundin zurück, die er mal sehr gemocht hatte, aber sie hatte sich nicht an sein unstetes Leben gewöhnen wollen und ihn letztendlich versetzt. Seitdem litt er an gebrochenem Herzen. Sie war nicht gerade eine Schönheit gewesen, ein bisschen mager und mit dicken Beinen, aber vielleicht hatte er sich gerade deshalb in sie verliebt.

Ein dicker Rauchring schwebte in der Mitte des Raumes. Andi pustete in Richtung des Ringes, und er verflüchtigte sich zu blauem Nebel.

„Möchte doch zu gern wissen, wo ich bin und was ich hier soll. Unheimlich genug ist das hier ja.“

Er stand auf, streckte sich, ließ ein paar Knochen knacken und ging zur Tür, wo er eine Weile angestrengt lauschte. Aber nichts war zu hören.

4. Kapitel

„Ihr wart großartig, mein Herrscher.“ Fürst Drago räusperte sich. „Wunderbar abgründige Melodien und welch abseitige Texte. Ihr seid ein Genie, mein Herrscher!“

„Ich weiß.“ Seine Majestät liebte es lakonisch.

Shako saß kerzengerade aufgerichtet auf einem hölzernen Thronsessel. Er würdigte den Fürsten keines Blickes.

„Und das Licht! Meint ihr, dass unser Neuankömmling etwas bemerkt hat?“

Der Regent schaute weiter auf einen Platz an der gegenüberliegenden Wand, wo ein Diagramm aus verschlungenen Schriftzeichen hing, nur ein Blitzen in seinen Augen verriet eine Regung seiner Gefühle.

Der Fürst verstand.

„Ich denke auch, dass es ihm gefallen hat. Es war vortrefflich, ich wäre beinahe nicht wieder zurückgekommen. Er hat Kraft, der Bursche, wahrscheinlich ein alter Hase. Seit wann kennt ihr ihn?“

Shako schwieg.

Dann, mit einer plötzlichen Regung wandte er sich zum Fürsten und erwiderte: „Lange“, sah dabei Fürst Drago durchdringend an und fügte hinzu: „Ihr kennt ihn auch. Es ist der Wanderer.“

Drago lief ein Schauer über den Rücken. Momentan wusste er den Begriff nicht recht einzuordnen, das war wohl ein Teil seiner Biographie, den er noch nicht so eindringlich erforscht hatte, aber eine Ahnung von alten Kriegen und grausamen Schlachten durchfuhr ihn.

„Ich glaube, ich weiß Bescheid, Meint Ihr, die Integration wird so einfach verlaufen? Ich sehe da erhebliche Schwierigkeiten auf uns zukommen, wenn es der ist, den ich meine. Seid Ihr ganz sicher, Majestät?“

„Stellt keine törichten Fragen. Ihr seid es, der rechnet.“

Nicht ganz befriedigt wandte Drago sich ab. Auf einmal öffnete sich die Tür und Naid, der Vorsteher der Palastwache trat ein.

„Ihr habt einen Wunsch, mein Gebieter?“

Er machte einen Bückling.

„Ja. Bring mir Sefren.“

„Sofort, mein Herrscher.“

Eilends verließ er den Raum. Kurz darauf trat Sefren ein.

„Mein Herr und Gebieter, ihr wünscht?“

„Es ist an der Zeit. Morgen will ich ihn sehen. Einen Tag gib ihm noch, was er begehrt, dann muss er bereit sein für die Prüfung. Wie verhält er sich?“

„Er ist ganz ruhig, isst und trinkt, macht auch sonst keinen Lärm. Ich glaube, er hat sich an seine Lage gewöhnt.“

„Gut. Bring ihm die Regeln bei, sobald er soweit ist. Jetzt darfst du gehen.“

Sefren verneigte sich vor Shako, deutete eine leichte Verbeugung Fürst Drago gegenüber an und verschwand. Der Fürst leckte mit seiner Zunge über die Schneidezähne und sah zum König herüber.

„Ein ruhiges Bürschchen also. Der Letzte schrie so erbärmlich dass wir ihn lebendig einmauern mussten, wie Ihr Euch erinnert. In stillen Vollmondnächten hört man ihn immer noch, draußen bei den Klippen. Er war halt Solist. Aber nun besteht Hoffnung.“

„Wir werden sehen.“

Düster blickte der König Fürst Drago an.

Sefren nahm den Auftrag seines Herrn und Meisters sehr genau. Es gab ein altes Buch in Schloss Agzag, das von Generation zu Generation weitervererbt wurde und dessen Ursprung sich im Dunkel mabûlscher Dynastien verliert. In ihm waren aufgeschrieben Anekdoten und Begebnisse, die die Vorfahren Shakos als Gleichnisse aus dem Leben zur moralischen Erziehung ihrer Nachkommen nutzten, sowie Regeln der allgemeinen Ethik. Dieses Buch war in einer besonderen Schrift, die als Geheimlehre überliefert wurde, und deren eifriger Schüler Sefren war. Aufgehoben wurde das Buch in der Bibliothek des Schlosses in einem besonderen Schrein. Zur Lektüre gab es eine Abschrift, die Pseudes, der Verwalter der Bibliothek und einer der fünf Getreuen des Königs, verwahrte.

Sefren steuerte also die Bibliothek an, um sich aus diesem Buch eine letzte Sicherheit zu besorgen, was und auf welche Art er dem Adepten beibringen würde. Der erste Schritt wäre, ein Vertrauensverhältnis zu dem Gefangenen aufzubauen und ihm dann Schritt für Schritt die Regeln und Gesetze von Agzag Mabûl nahe zu bringen. Das würde nicht einfach sein. Zuerst aber sprach er mit Pseudes, erzählte ihm kurz von seinem Vorhaben und bat ihn dann, ihm die Kopie des Buches herauszugeben. Pseudes, graubärtig und ein wenig beleibt, verschwand also schnaufend in einem Hinterzimmer und kam nach einer Weile mit zwei großen Papierrollen zurück, die ähnlich einer jüdischen Thora mit Schnüren verziert waren.

„Da hast du, aber geh pfleglich damit um, wie du weißt, ist es die einzige Abschrift und vor allem: Zeig sie dem Fremden nicht, auf keinen Fall, denn du musst wissen, kennen erst einmal Ungeweihte das Geheimnis von Agzag Mabûl, so ist sein Sturz nicht mehr weit. Denke immer daran, dass du den Abgrund in Händen trägst und vergiss nicht: Auch du bist durch die Zeit mit dem Schicksal Agzags verwoben. Deine Hand kann diejenige sein, die den tödlichen Streich gegen sich selber führt, also pass auf!“

Sefren dankte. Seltsam klangen die Belehrungen des Greises,