8,99 €
»Ein großartiges Epochenbild des historischen Sevillas und seiner Kathedrale.« Ildefonso Falcones Sevilla 1248: Nach jahrelangen Kämpfen gewinnen die Christen die letzte Schlacht gegen die Mauren. Deren Herrscher Axataf muss die Stadt König Fernando von Kastilien übergeben. Die Giralda jedoch – das wunderschöne Minarett der Moschee von Sevilla und Stolz der Muslime – soll nicht in Christenhände fallen. Doch der christliche König gewinnt Axataf für einen Pakt: Ein Schachturnier soll über das Schicksal des gewaltigen Turms entscheiden. Fünfhundert Jahre später steht noch immer kein Sieger fest. Doch es gibt einen geheimnisvollen Auserwählten, der die letzte Partie für die Christen spielen soll. Und es gibt jene, die dies verhindern wollen …
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 712
Nerea Riesco
Der Turm der Könige
Historischer Roman
Roman
Aus dem Spanischen
Fischer e-books
In Erinnerung an José Miguel Vicente Navarro, der (mindestens) sechzig Jahre mehr verdient hätte.
N. R.
Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Jesus Christus.
BRIEF DES APOSTELS PAULUS AN DIE GALATER 3,28
Oh ihr Menschen, wir haben euch von Mann und Weib erschaffen und euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möchtet.
KORAN, SURE 49, AL-HUJURAT, 13
Schon lange saßen sie da und spielten Schach. Das Schlagen der Glocken und der Duft von heißer Milch und frisch geröstetem Brot erinnerte sie daran, dass es Morgen war und sie seit Beginn der Partie nichts gegessen hatten. Der Ort wirkte ebenso geheimnisvoll wie die alten römischen Katakomben. Auf den langen Tischen ringsum befanden sich ohne offensichtliche Ordnung Aktenbündel, Bücher, Mappen, Notizen und eine Reihe von Schachbrettern, die ungeduldig darauf warteten, sich wieder in ein Schlachtfeld zu verwandeln. Die dicken steinernen Mauern waren mit Fresken geschmückt, die weltliche Szenen zeigten: unterschiedliche Darstellungen der Giralda im Laufe der Zeit, Schiffe, die gegen Stürme ankämpften, Ritter, die mit erhobenem Schwert auf den Gegner einrannten, belagerte Zinnen … Vielleicht war das der Grund, warum die Ordensbrüder diesen Raum den »Krak des Chevaliers« nannten.
Die beiden Gegner maßen sich mit Blicken. Der weiße König war in Gefahr. Bedroht von der unerschrockenen schwarzen Dame, verschanzte er sich hinter zwei Bauern und einem Springer, aber der Angriff war zermürbend, und er wusste nicht, wie lange er der Belagerung noch standhalten konnte. Der jüngere Spieler seufzte und bezähmte seine Ungeduld. Ganz behutsam nahm er seinen schwarzen Läufer zwischen Daumen und Zeigefinger und schob ihn auf das richtige Feld. Ein kaum merkliches Lächeln huschte über sein jugendliches Gesicht. Jetzt stand es fest: Sein Gegner hatte keinen Ausweg mehr.
»Schach«, verkündete er langsam, bemüht, in seiner Genugtuung nicht die Sünde des Stolzes zu begehen.
»Kein Zweifel, Bruder«, sagte der Ordenskomtur. »Ihr habt alle Partien gewonnen. Ihr seid der Bessere.«
»Danke für das Kompliment«, antwortete der junge Mann.
»Nein, es ist kein Kompliment: Es ist die Wahrheit. Ihr habt ein außergewöhnliches Talent zum Schachspiel. Ich habe Euch beobachtet, seit Ihr ein Kind wart. Meine Mission lautete, den Besten zu finden, und Ihr seid der Beste. Wir brauchen den Besten, um gewinnen zu können … Und meine Wahl ist auf Euch gefallen.«
»Wann? Wo? Wer wird mein Gegner sein?«
»Nur die Ruhe«, flüsterte der Komtur und legte eine Hand auf die Schulter des jungen Mannes. »Noch gibt es keine Antworten auf diese Fragen. Nur eines ist sicher: Irgendwann müsst Ihr diese Partie spielen … Und wir müssen sie gewinnen.«
Ein Läufer ist jede Lippe, die sich berührt;
ein Pferd jeder geschenkte Kuss;
Türme sind die Zähne, von der Zeit versteinert;
die Zunge das süße, unerwartete Schach.
ENRIQUE GONZÁLEZ
Das Erdbeben kam an Allerheiligen. Wie jedes Jahr entstaubten die Sevillaner an diesem Tag ihre Samtjacketts und Spitzenmantillen und kleideten sich ganz in Schwarz, vom Hut bis in die Tiefen ihrer Seele, auf dass sich ihr Kummer über die Vergänglichkeit des menschlichen Lebens im Straßenbild widerspiegele. An diesem Tag war es üblich, den Verstorbenen Blumen zu bringen und mit ihnen Zwiesprache zu halten, sie über die jüngsten Vorkommnisse in der Familie und der Gesellschaft in Kenntnis zu setzen und seine Demut durch den Besuch der Messe zu bezeugen. Dann blieb nur noch, auf den nachmittäglichen Imbiss zu warten, bei dem die Sterblichen luftige Windbeutel und Mandelmarzipan verzehrten, Heiligenknochen genannt, die ihrem Namen alle Ehre machten, gefüllt mit zuckrigem Eischnee.
Am Morgen hing ein leichter Nebel in der Luft. Die Menschen tauchten wie Schatten aus dem Dunst auf und gingen schweigend ihrer Wege, um nicht zu viel von der kalten Herbstluft einzuatmen. Sie schienen einem vorgezeichneten Weg zu folgen, einer einstudierten Choreographie, die sie in Gruppen aufteilte: Die einen gingen zum Friedhof am Prado de San Sebastián, andere zum Armenfriedhof, wieder andere zum Kanonikerfriedhof, die Übrigen zum Friedhof von San José in Triana.
Doña Julia, die junge Witwe de Haro, machte da keine Ausnahme. Gegen halb zehn am Morgen verließ sie ihr Haus, die Druckerei in der Calle Génova. Sie ging am Arm von Mamita Lula, der schwarzen Dienerin, die im Dienste ihrer Familie stand, seit sie denken konnte. An diesem Tag war Lula mit unruhigem Herzen aufgestanden.
»Heute geht die Welt unter«, hatte sie in aller Herrgottsfrühe mit resigniertem Seufzen verkündet, während sie, mit ihrem ausladenden Hinterteil wackelnd, das Frühstückstablett ans Bett der Herrin gebracht hatte.
»Solche Bemerkungen sind der Grund dafür, dass die Leute dir aus dem Weg gehen«, hatte Julia geantwortet, bevor sie lustlos in ihr Brot biss.
Den Gerüchten zufolge war Mamita Lula auf einem Sklavenschiff, das nach Elfenbein und Tyrannei roch, nach Sevilla gekommen, eine Angehörige des afrikanischen Stamms der Yoruba, der als Wiege des Voodoo galt. Dünn sei sie gewesen, in ihrem geflochtenen Haar hausten die Flöhe, sie habe eitrige Pusteln an Augen und Lippen gehabt und Laute ausgestoßen wie ein wildes Tier. Doña Julias Vater, der angesehene Apotheker Juan Nepomuceno Gil de la Sierpe, hatte sie auf einem seiner Spaziergänge durch den Hafen entdeckt. Dort hatte er auf die Ankunft eines Schiffes aus Neuspanien gewartet, das endlich ein Wundermittel mitbrächte, um das Sumpffieber zu kurieren, das sich in der Stadt allmählich zu einer Seuche entwickelte. Juan Nepomuceno kannte sich mit Pflanzen aus und war überzeugt, dass es in Übersee Heilkräuter gab, welche die Krankheiten des europäischen Kontinents ausrotten konnten.
»Hätte ich keine Familie, die auf mich angewiesen ist, ich würde mich einschiffen und mit Heilmitteln gegen sämtliche Krankheiten zurückkehren. Die Burschen, die in dieses gelobte Land ziehen, sind unkultivierte Esel, die nichts weiter zustande bringen, als sich mit den bedauernswerten Indianern herumzuschlagen«, erklärte er. »Was für eine Verschwendung! Dabei heißt es, dass da drüben sogar unter den Steinen Heilkräuter wachsen! Wir sind völlig auf dem Holzweg. Da schaffen wir Gold und Silber herbei, wo doch die Gesundheit das einzig wahre Gut ist. Was nützt einem alles Geld, wenn man nicht gesund ist?«, sagte er zu seinen Freunden, die lächelnd zu seinen Predigten nickten, allerdings mehr aus Sympathie als aus Überzeugung.
Señor Gil de la Sierpe fühlte sich zum Humanismus hingezogen; die Nächstenliebe war sein oberstes Gebot. Und so erbarmte er sich, als er das schwarze Mädchen in sich zusammengesunken auf einer Kiste stehen sah. Ihre Blöße bedeckte sie mit einem schmutzigen Fetzen Stoff, um den Hals ein rostiges Halseisen, das mit Hand- und Fußfesseln verbunden war, während der Sklavenhändler ihre Vorzüge anpries, als ginge es um einen Sack Gerste. Señor Gil de la Sierpe bezahlte ohne mit der Wimper zu zucken den geforderten Preis und nahm sie mit nach Hause. Den Protest seiner Frau ignorierte er. Als das Mädchen sauber und neu eingekleidet war, konnten sie feststellen, dass es sich um eine etwa Vierzehnjährige handelte, die nicht einmal ansatzweise mit Messer und Gabel umzugehen wusste. Das einzige Wort, das sie einigermaßen deutlich ein ums andere Mal wiederholte, war »Lula«.
Julia, die damals knapp fünf Jahre alt war, war hingerissen von der neuen Mitbewohnerin. Sie nahm sie bei der Hand, und die beiden verschwanden die Treppe hinauf. Zweieinhalb Stunden sah und hörte man nichts mehr von ihnen. Die anderen riefen nach ihnen, suchten sie unter den Betten, auf dem Dachboden, in der Vorratskammer. Doña Julias Mutter warf ihrem Mann vor, er habe eine Menschenfresserin ins Haus geholt, die kleine weiße Kinder verspeise. Bis der Gärtner eine Kleiderspur entdeckte, die von der Küche in den Hinterhof führte. Dort fanden sie die beiden Mädchen, nackt, wie Gott sie erschaffen hatte, lachend, in einem unverständlichen Kauderwelsch plappernd und bis zu den Ohren mit Dreck beschmiert.
»Da siehst du, was du mit deinem krankhaften Mitleid angerichtet hast«, herrschte Julias Mutter ihren Mann an, während sie ihre Tochter am Arm wegzerrte und mit ihrem Umschlagtuch bedeckte. »Wir müssen uns diese Brut vom Hals schaffen … Sie wird eine Wilde aus dem Mädchen machen. Ich will, dass sie unverzüglich dieses Haus verlässt!«
Die Entschlossenheit seiner Frau schien Juan Nepomuceno zu überzeugen. Doch als die kleine Julia sah, dass man sie von ihrer neuen Freundin trennen wollte, bekam sie einen Tobsuchtsanfall. Sie wurde knallrot, warf sich auf den Boden und biss und trat jeden, der sich ihr näherte. Während sie kreischte, schluchzte und lautstark die Nase hochzog, war nur zu verstehen, dass sie in den Fluss springen werde, wenn Lula wegginge.
Im Laufe der Jahre lernte Mamita Lula, mit andalusischem Akzent zu sprechen, und wurde eine treue Dienerin Unserer lieben Frau von den Engeln, der Schutzheiligen der Bruderschaft der armen Neger. Niemand bereitete eine so gute Gazpacho zu wie sie, wobei sie dem Gericht mit Bitterorangen eine eigene Note gab. Allmählich handhabte sie Messer und Gabel gut genug, dass sie keine Gefahr mehr für sich und andere darstellte. Aber die Leute betrachteten sie mit Argwohn, auch wegen der Dinge, die Julias Mutter bei gesellschaftlichen Anlässen erzählte. Sie behauptete, ihre schwarze Dienerin habe unter dem Bett eine mit Nadeln gespickte Puppe versteckt, mit der sie Leuten, die sie nicht mochte, Bauchweh anhexen könne.
Mamita Lula war eine gute Beobachterin. Seit über einer Woche hatte sie bemerkt, dass sich die Hunde sonderbar verhielten und nachts den Mond anheulten. Die Vögel, die hoch droben in den Kirchtürmen nisteten, hatten das Weite gesucht und ihre Jungen zurückgelassen, die mit weitaufgerissenen Schnäbeln um Nahrung bettelten. Die Pferde rollten mit den Augen und traten aus, wenn man ihnen die Trense anlegen wollte. Sogar Juan, der alte Bettler, hatte gestern den Verstand verloren. Er kniete mitten auf der Calle Génova, flehte angstvoll den Himmel an und zupfte die vorübergehenden Frauen an den Röcken, während er verkündete, dass Tausende von Menschen den Tod finden würden. Er hörte nicht eher auf, bis die Stadtbüttel kamen. Sie verpassten ihm zwei Ohrfeigen, und als er nicht zu beruhigen war, warfen sie ihn schließlich in den Kerker von Triana, bis der Anfall vorüber war.
»Heute geht die Welt unter«, wiederholte Mamita Lula hartnäckig, als sie mit ihrer Herrin zur Kathedrale ging, um an der Allerheiligenmesse teilzunehmen. »Ich weiß es, weil sich die Tiere seltsam verhalten. Die Esel sind störrisch, und die Hunde bellen wie verrückt …«
»Was du nicht sagst!«, entgegnete Julia und fasste sich theatralisch mit der linken Hand an die Wange. »Die Esel sind störrisch, und die Hunde bellen? Wie außergewöhnlich! Da ist Vorsicht geboten …«
»Die Stare sind verschwunden. Seit drei Tagen ist keiner mehr zu sehen. Und …«
»Herrgott, genug jetzt! Diese irren Phantasien machen mich noch wahnsinnig. Wenn du weiter solchen Blödsinn redest, stecke ich dich ins Hospital San Cosme y San Damián – angeblich kümmert man sich dort um Dienstboten wie dich, die den Verstand verloren haben.«
Mamita Lula beschloss, sich auf die Zunge zu beißen, aber die Unruhe brodelte in ihr. Schweigend ging sie weiter, und während sie die Kirchentreppe hinaufstieg, betrachtete sie aus dem Augenwinkel ihre verärgerte Herrin. Vor dem Eingangsportal angekommen, ging Doña Julia voran, um einen Türflügel aufzustoßen. Mamita Lula wartete, während sie mit verschränkten Händen, gerunzelter Stirn und vorgeschobener Unterlippe ihren Weidenkorb umklammerte.
»Ja, ja … nenn mich verrückt«, murmelte sie vor sich hin, als sie über die Schwelle trat, »aber heute geht die Welt unter.«
Mamita Lula hasste es, nicht das letzte Wort zu haben, wenn sie doch wusste, dass sie recht hatte.
UNTER DEN PRÜFENDEN BLICKEN der Statuen der Heiligen Petrus und Paulus betraten sie die Kathedrale durch das Portal der Gnade. Petrus stand mit düsterer Miene und wirrem Haar zur Linken, die Himmelsschlüssel in der Hand. Direkt daneben befand sich das Gitterfensterchen, durch das man den Pfarrer zur letzten Ölung rief, wenn ein Gläubiger zu einem ungelegenen Zeitpunkt beschlossen hatte, diese Welt zu verlassen. Paulus hielt ein Schwert in seiner Rechten, die Linke hatte er wie ein verwegener Fechter hinter seinem Rücken verborgen. Aber das Auffälligste an ihm war, dass sich diese Hand, die in den Falten seines Gewandes verschwand, auf wundersame Weise zu strecken schien, um unter der Figur wieder aufzutauchen und den Sockel zu tragen. Die beiden Apostel sowie der Erzengel Gabriel, Mariä Verkündigung und das darüberliegende Hochrelief mit der Vertreibung der Händler aus dem Tempel – im klaren Widerspruch zu der weitverbreiteten Tradition, die Stufen der Kathedrale als städtische Warenbörse zu nutzen – waren der christliche Rahmen, der dieses Portal, das das älteste der Kirche war, zusammenhielt. Mit dem Überschreiten der Schwelle betrat man eine fremde Welt, einen Patio mit Orangenbäumen, ehemals der Vorhof der Moschee, wo die Gläubigen an einem Becken, das einmal zu einer antiken römischen Thermenanlage gehört hatte und das immer noch in der Mitte des Patios stand, ihre Waschungen vorgenommen hatten. Im Orangenhof von Sevilla liefen die Wege der Zivilisationen des Mare Nostrum zusammen.
Die beiden Frauen überquerten den Hof und wichen den heruntergefallenen Orangen aus, bis sie die Puerta del Lagarto erreichten, die Echsenpforte, wo Mamita Lula unweigerlich nach oben blickte.
»Echse, Echse …«, sagte sie, während sie mit Zeigefinger und kleinem Finger der rechten Hand ihren Kopf berührte.
Die Ärmste war furchtbar abergläubisch. Sie fand es ganz und gar fehl am Platz, dass seit ewigen Zeiten ein ausgestopftes Krokodil von der Decke der Kathedrale hing, das der Sultan von Ägypten König Alfons X. zum Geschenk gemacht hatte, als er um die Hand von dessen Tochter Berenguela anhielt. Der weise König lehnte den Heiratsantrag ab, behielt jedoch das Krokodil, das durch den Duft der Orangenblüten und die sommerliche Hitze nach wenigen Wochen träge und faul wurde. Es lernte, seinen Wächtern aus der Hand zu fressen, und döste unter einem schattigen Baum in der friedlichen Abendstille des königlichen Alcázars vor sich hin. Einige Chroniken versicherten gar, es habe wie ein Schoßhündchen mit seinem gewaltigen Reptilienschwanz gewedelt, wenn es den König herannahen sah. Schließlich hatte man es so liebgewonnen, dass man ihm nach seinem Tod die Innereien entfernte, es mit Stroh ausstopfte und als Glücksbringer in der Kathedrale aufhängte.
Durch die Puerta del Lagarto betraten sie die bläuliche Dunkelheit der Kirche, die nur schwach von dem trüben Licht erhellt wurde, das durch die Fenster hineinfiel. Sie gingen über den schwarz-weißen Marmorfußboden, vorbei am Portal der Giralda, der Puerta de los Palos, der Petruskapelle und der königlichen Kapelle. Direkt hinter der Capilla Mayor befand sich die Grabkapelle der Familie López de Haro. Doña Julia löste sich von Mamita Lulas Arm, drückte ihr den Strauß rosafarbener Begonien in die Hand, den sie zu Hause im Patio geschnitten hatten, und nahm den Schlüssel aus der Rocktasche, um das Gitter zu öffnen.
Bevor sie aufschloss, fiel ihr Blick auf die glänzenden, gläsernen Augen des Evangelisten Johannes, Jesu Lieblingsjünger, der mit entrücktem Gesicht auf dem Altar thronte. Ihr verstorbener Gatte hatte ihn sehr verehrt, nicht nur, weil er als Verfasser des vierten Evangeliums der Schutzpatron der Drucker war. Er hatte ihn auch bewundert, weil er es mit heldenhaftem Gleichmut ertragen hatte, als ihn der römische Kaiser Domitian mit einem Krug kochenden Öls übergoss. In den Augen Señor de Haros war dies der Beweis dafür, dass die Drucker selbstlose Märtyrer waren, die seit den Anfängen der Christenheit verfolgt wurden, weil sie unbequeme Wahrheiten schriftlich festhielten. Aber trotz der guten Referenzen des Heiligen fühlte sich Doña Julia beim Anblick dieser in roten Samt gekleideten Steinfigur mit dem langen Echthaar, dem Schmuck aus farbigem Glas und den schamlos roten, mit einer dicken Lackschicht überzogenen Lippen jedes Mal an die Frauen mit dem losen Lebenswandel erinnert, die in den Bordellen am Hafen lebten.
Sie wandte den Blick ab, um sich wieder auf das Schloss zu konzentrieren, und drehte den Schlüssel um. Just in dem Moment, als das Gitter nachgab, begann der Fußboden der Kathedrale zu schwanken wie ein Floß auf einem See aus Öl. Julia wurde schwindlig, und sie klammerte sich an die Gitterstäbe der Tür.
»Gott erbarme dich unser und vergib uns unsere Sünden! Amen!« Mamita Lula bekreuzigte sich mit außergewöhnlicher Geschwindigkeit.
Die Erschütterung dauerte nur einige Sekunden, aber die darauffolgende Stille hielt eine ganze Weile an. Die Besucher der Kathedrale sahen sich fragend an, in der Hoffnung, jemand hätte eine logische Erklärung für das, was soeben vorgefallen war. Doch niemand sagte ein Wort. Als das Schwindelgefühl nachließ, gingen die Gläubigen wieder ihren Beschäftigungen nach, zweifelnd, ob sich der Boden wirklich bewegt hatte.
Doña Julia stieß das Gitter der Kapelle auf, und sie traten ein. Sie nahmen einige Lappen und eine Flasche mit Seifenlauge aus dem Korb, den Mamita Lula trug, und die beiden begannen mit demselben Eifer, mit dem sie zu Hause den Staub von der Anrichte wischten, die Steinplatte zu schrubben, die das Grab des verstorbenen Señor de Haros bedeckte. Als sie sauber war, entfernte Julia die verwelkten Blumen aus den Vasen, die vor dem Bildnis des heiligen Johannes standen, und ersetzte sie durch die, die Mamita Lula ihr reichte. Sie ordnete sie, und als sie fand, dass sie ansehnlich genug aussahen, seufzte sie zufrieden auf. Dann drehte sie sich um und betrachtete die Inschrift auf dem Stein. Sie wollte ihre Gedanken mit frommen Bildern füllen, mit etwas, das mit dem Verstorbenen und seinen irdischen Tugenden zu tun hatte, und wünschte, dass ihr ein Gebet in den Sinn käme. Doch sie konnte an nichts anderes denken als an das, was sie heute noch alles zu erledigen hatte. Trotzdem blieb sie still und reglos vor dem Grab stehen. Sie wollte nicht, dass jemand sah, wie sie allzu eilig den Ort verließ, an dem ihr Gatte seine ewige Ruhe gefunden hatte, und das ausgerechnet an einem solchen Feiertag. Nach einer Zeitspanne, die ihr angemessen erschien, bekreuzigte sie sich, ging mit Mamita Lula hinaus und schloss hinter sich ab. Sie hakten sich wieder unter und gingen zur Capilla Mayor, um sich einen guten Platz zu suchen.
Da es ein besonderer Tag war, würde Pater Zacarías die Messe lesen, der blinde Poet, der für seine flammenden Predigten berühmt war. Der Prediger besaß eine große Anzahl von Anhängern, die ihm folgten, als wäre er der Messias. Gewisse Kreise in der Stadt behaupteten, durch seine Blindheit könne er mit den Augen der Seele sehen und tausendmal mehr wahrnehmen als andere Sterbliche. Ihm eilte ein solcher Ruf voraus, dass Doña Julia einen jungen Kopisten anstellte, der sich in die erste Kirchenbank setzte, um seine schönsten Predigten mitzuschreiben. Danach wurden sie in der Druckerei als geheftete Bögen herausgegeben, damit diejenigen, die des Lesens mächtig waren, sie erwerben, studieren, ergründen und in der Stille ihrer Schlafzimmer verinnerlichen konnten. Es machte nichts, wenn jemand die letzte Predigt des dichtenden Paters verpasste, denn dank der Schriften, die Julia de Haro vertrieb, konnte man sie bald, von Musik begleitet, an den Straßenecken der Stadt hören.
An diesem Samstag stieg Pater Zacarías mit resignierter Miene auf die Kanzel.
»Brüder und Schwestern«, begann er mit wehleidiger Stimme. »Gerne würde ich euch versichern, dass sich alle Seelen, die dieses Jammertal verlassen haben, im Himmel befinden.« Er machte eine Pause. Dann änderte sich sein Ton. Ein Mann in der dritten Reihe, dem der Kopf auf die Brust gesunken war, schreckte mit angstgeweiteten Augen aus dem Schlaf hoch, als er brüllte: »Aber das kann ich nicht! Der Mensch ist eitel, hochmütig und böse … Deshalb gibt es die Verdammnis. Die Hölle!«, wetterte er mit erhobener Faust.
Den Frauen stockte der Atem, die Männer rissen die Augen auf und schlangen die Hände fest um die Knie. Aber die Predigten folgten einer einstudierten Abfolge von Strenge und Milde. Wenn Pater Zacarías merkte, dass sein Publikum fast verging vor Angst, wartete er ein wenig, zögerte diesen Moment wohligen Leidens heraus und legte dann seine düstere Miene ab, um zu beruhigen, dass es noch Anlass zur Hoffnung gebe.
Julia kannte den Ablauf der Predigten genau und ließ sich nicht beeindrucken. Sie war davon überzeugt, dass sie vor Gott eine bessere Christin war, wenn sie fünf Minuten am Tag persönliche Zwiesprache mit ihm hielt, statt stets gebannt zuzuhören, wenn von ihm geredet wurde. Doch da sie sicher war, dass nur wenige ihre Einstellung verstünden, setzte sie sich in die zweite Reihe, um gesehen zu werden. Hier war sie nur einen Steinwurf von dem Prediger entfernt, und die Leute in den Nachbarbänken wurden Zeuge ihrer ernsten Miene, die den Kummer um den Tod des Ehemannes widerspiegelte – die Ärmste, so jung, er hat ihr keine Kinder hinterlassen, dafür aber ein so schwieriges Geschäft. Die zu spät Gekommenen, die in den hinteren Bänken saßen, konnten sie an dem tief sitzenden kastanienfarbenen Haarknoten ausmachen, der ihren schlanken Hals betonte. Doña Julia war selbst aus der Entfernung unverwechselbar. Stets in Schwarz gekleidet, groß, schlank, das Gesicht noch frisch und rosig, der Körper straff und wohlgeformt, der Rücken stets kerzengerade, Ausdruck ihres stolzen Wesens, so bescheiden sie sich auch in der Öffentlichkeit geben mochte.
Als Pater Zacarías an die Stelle mit der Auferstehung der Toten kam, musste sie gähnen. Sie versuchte es hinter vorgehaltener Hand zu verstecken, aber dennoch entwischte ihr ein Geräusch, das wie das Maunzen einer Katze klang. Die Leute in der ersten Reihe drehten sich zu ihr um. Mamita Lula seufzte vernehmlich, um abzulenken, und tätschelte ihr die Schulter. Einige hielten die Laute der Frauen für ein frommes Schluchzen in Gedenken an den vor fünf Jahren verstorbenen Ehemann und bedachten sie mit mitleidigen Blicken. Julia nickte dankbar.
Sie wünschte, die Messe ginge zu Ende. In der Druckerei waren tausend Aufträge zu erledigen: eine Schilderung des Kampfs zwischen den Heeren König Ferdinands VI. und der mohammedanischen Sekte in Ceuta, eine Neuauflage der Zarzuela Das Urteil des Paris und Der Raub der Helena, der Brief des Grafen Nolegar Giatamor über die letzte Erhebung von Toren und Schwachköpfen … Sie wäre gerne nach Hause gegangen, hätte die Schuhe abgestreift und sich in den Patio gesetzt, um den intensiven Duft der Geranien einzuatmen, der sie immer an den Geruch alter Bücher erinnerte. Von dort konnte sie problemlos beobachten, was in der Druckerei vor sich ging. Sie genoss das gleichmäßige Rattern der neuen Druckerpresse, die sie aus Genua hatte kommen lassen, eine wirklich moderne Maschine, wie sie bis dato in Sevilla unbekannt gewesen war. Sie war mit Federn versehen, damit sich die Platte rasch heben ließ, und konnte zweihundertfünfzig Exemplare pro Stunde herstellen. Durch sie würde die Druckerei die beste der ganzen Stadt sein.
Vor allem aber brannte Julia darauf, Leóns Gestalt zwischen den übrigen Angestellten zu sehen. Die Linie seines Kinns, seine meerblauen Augen, die straffe Muskulatur seiner Arme. Am Anfang hatte sie darauf geachtet, dass der junge Mann ihr Interesse nicht bemerkte, aber mittlerweile war es ihr egal, ob er ihren Blick im Nacken spürte und sich umdrehte. Wenn León sie dabei ertappte, wie sie mit dem strengen Gesichtsausdruck der Patronin, die die Arbeit ihres Personals überwachte, gebannt im Schatten saß und seine Wege und Handgriffe verfolgte, hielt er ebenfalls inne und erwiderte ihren Blick. Nicht herausfordernd, eher fragend. Julias Augen faszinierten ihn; bei diesem Messen mit Blicken blieb normalerweise sie die Siegerin. Er senkte dann verwirrt die Augen und setzte mit einem leisen Lächeln auf den Lippen seine Arbeit fort. Erst wenn León aufhörte, sie anzusehen, begann sie wieder zu atmen.
Keiner wusste, woher León gekommen war. Vor Monaten war er aus dem Nichts aufgetaucht, eingehüllt in den Schleier des Geheimnisvollen. Eines Tages war er um die Kathedrale herumgeschlendert wie ein Seemann auf Landurlaub. Er hatte langes, fast weißblondes Haar, wahrscheinlich gebleicht vom Salz und der sengenden Mittagssonne. Er war betörend schön. Die meisten, die sich mit ihm unterhielten, konnten dem Nachdruck seiner himmelblauen Augen nicht standhalten und sahen schließlich zu Boden. León war einer dieser Menschen, die man als Normalsterblicher nicht so schnell vergaß. Seine Gestalt einer griechischen Statue, sein Schweigen, seine langsamen, sicheren Bewegungen betonten nur noch diese Aura des Unergründlichen, welche die Ängstlichen bedrückte und die Unerschrockenen faszinierte. Böse Zungen behaupteten, León habe zur Besatzung eines Schiffes gehört, das unter der Flagge mit dem Totenkopf und den zwei gekreuzten Knochen fuhr und dem Befehl des Piraten Calico Jack unterstand.
Die Männer von der Brigantine, mit der er nach Sevilla gekommen war, berichteten alkoholselig in einer Hafenkneipe, was er ihnen während der Überfahrt erzählt habe: Er behauptete, auf der Insel Malta geboren zu sein, wo ihn die Türken entführt und ihm den Namen Asad gegeben hätten, die arabische Entsprechung für León. Eine Geschichte, die den Schwarzsehern unter ihnen die Haare zu Berge stehen ließ. Die Erwähnung von Piratenschiffen, türkischen Soldaten und stürmischer See rief Erinnerungen an die Wikinger wach, die im Jahre 844 mit ihrem blonden Haar und ihrer ungestümen nordischen Art den Guadalquivir hinaufgekommen waren, um unter Ausnutzung des gutgläubigen Charakters der Sevillaner in weniger als einer Woche die Stadt zu verwüsten.
»Dieser Junge … der ist nicht von hier«, bemerkten die Älteren. »Auf den muss man ein Auge haben.«
Julia erinnerte sich noch genau, wie sie ihn zum ersten Mal gesehen hatte. Cristóbal Zapata, der Druckermeister, war ausgegangen, um einige Dinge zu erledigen, und sie war dageblieben, um die Geschäfte zu beaufsichtigen. Nie würde sie den Anblick dieses Bilderbuchkorsaren vergessen, der durch die Tür der Werkstatt gekommen war. Noch nie hatte sie die Schönheit eines Menschen so tief berührt.
»Ich suche Don Diego de Haro«, stellte er sich vor, als er die Druckerei betrat. »Mein Name ist León. León de Montenegro.«
Sie musterte ihn von oben bis unten.
»Ihr kommt zu spät. Mein Mann ist vor fast fünf Jahren gestorben«, erklärte sie. »Kann ich Euch vielleicht helfen?«
Er schien überrascht zu sein. Doch dann holte er tief Luft und sprach weiter. »Ich suche Arbeit.«
»Das hier ist eine Druckerei«, sagte sie. »Kennst du dich in der Druckkunst aus?«
»Ich kann es lernen.«
Der Setzer, der schon immer für Señor de Haro gearbeitet hatte, wurde langsam alt und begann, das Augenlicht zu verlieren. Er verwechselte das »l« mit dem »f« und dieses mit dem »j«, außerdem zitterten seine Hände, wenn er den Setzkasten benutzte. Während der Arbeit musste er sitzen, weil seine Knie nachgaben. Julia beobachtete ihn schon seit geraumer Zeit, überzeugt, dass sie früher oder später jemanden suchen musste, der seine Aufgaben übernahm. Aber um Setzer zu sein, brauchte man einige Übung und eine lange Ausbildung. Der Setzer war die Seele einer Druckerei. Er bestimmte den Stil der Werkstatt, er musste gute technische Kenntnisse besitzen und die Rechtschreibung perfekt beherrschen. Setzer waren Kopisten. Sie hatten die gleiche Aufgabe und die gleiche Verantwortung wie die Schreiber des Mittelalters. Zuerst mussten sie einen Ausschnitt des Originaltextes lesen, ihn auswendig lernen und dann niederschreiben. Der einzige Unterschied war, dass die einen dabei eine Feder benutzten und die anderen Lettern aus Metall.
»Kannst du lesen und schreiben?«, wollte Julia von León wissen und sah ihn herablassend an.
»In vier Sprachen«, antwortete er ohne Überheblichkeit.
»Es muss Kastilisch sein, und zwar fehlerfrei.«
»Kein Problem.«
Julia nahm León als Setzerlehrling auf, ohne Referenzen von ihm zu verlangen, und ließ ihn unter dem Vorwand, dass rund um die Uhr ein Mann im Haus anwesend sein sollte, im Keller wohnen. Als Cristóbal Zapata zurückkehrte und von der Entscheidung erfuhr, die Doña Julia in seiner Abwesenheit getroffen hatte, schlug er die Hände über dem Kopf zusammen. Er betonte, dass es seit Señor de Haros Tod in seiner Verantwortung als Druckermeister liege, darüber zu entscheiden, wer angestellt wurde und wer nicht, sowie das Geschäft und die Herrin des Hauses wie ein Schießhund zu bewachen. Zudem wies er darauf hin, dass es dem Ansehen einer Frau – erst recht einer Witwe – nicht zugute kam, einen jungen Mann zweifelhafter Herkunft und mit dem Körper eines Adonis unter ihrem Dach aufzunehmen.
»Ich bin die Chefin dieser Druckerei«, warf sie ihm entgegen, in den Augen eine Leidenschaft, wie er sie noch nie zuvor gesehen hatte, »und ich kann tun und lassen, wonach mir der Sinn steht.«
Sie sprach nicht mehr mit Cristóbal über die Sache mit León und vergaß bald die Warnungen des Angestellten das Gerede der Nachbarn betreffend, denn die Anwesenheit des neuen Gehilfen brachte Licht in ihren Alltag.
Julia hatte einen Hang zum Schönen. Nicht nur dem, was man mit den Augen wahrnehmen konnte; sie genoss auch mit allen anderen Sinnen. Sie liebte den Geruch der Druckerei, den zarten Duft des Papiers, vermischt mit dem von frischer Tinte. Sie schwelgte in Vorfreude, wenn sie Mamita Lula in die Küche gehen sah, um die nachmittägliche Schokolade zuzubereiten, und konnte es kaum erwarten, weil sie ihr süßliches Aroma beinahe schon auf der Zunge spüren konnte. Ihr lief das Wasser im Munde zusammen, wenn sie an den Moment dachte, da sie den Arbeitern das heiße Getränk kredenzen würde, den ersehnten Moment, da sie Leóns Finger mit den ihren streifen konnte, wenn sie ihm die Tasse reichte. Sie mochte es, ihn aus der Ferne zu beobachten, wie er mit katzengleicher Geschmeidigkeit umherging, sich mit dem Handrücken eine störrische Haarsträhne aus der Stirn strich, weil er Druckerschwärze an den Fingern hatte, wie er in sich hineinlächelte, wenn er den Scherzen der anderen Angestellten lauschte. Julia gefiel die Stimme des jungen Mannes, weil man sie nicht nur mit dem Gehör wahrnahm. Leóns Stimme hallte innerlich wider. Wenn er sprach, vibrierte die Luft und verursachte ein Kribbeln in ihrem Magen, wie die Orgel in der Kathedrale, wenn sie im Bassschlüssel spielte.
Manchmal erlaubte sie es sich, von ihm zu träumen. Sie stellte sich vor, wie er mitten in der Nacht ihre Schlafzimmertür aufriss und ernst und streng auf sie zukam, nur beleuchtet vom metallischen Licht eines riesigen Vollmonds. León zog mit einem Ruck die Laken beiseite, unter denen sie lag, und schloss sie sanft in die Arme wie ein kleines Kind. Dann schlang sie die Arme um seinen Hals und vergrub ihr Gesicht an dieser dunklen Brust, sog seinen rauchigen Geruch ein, während er zur Tür ging, um sie auf ein phantastisches Schiff zu bringen, das in Richtung neue Welt in See stach. Dort würde sie ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sein.
Nach dem Abendessen setzten sich Mamita Lula und Julia in den hinteren Patio, um zu plaudern, bis sie müde wurden. Hin und wieder baten sie León, ihnen Gesellschaft zu leisten. Dann saß er entspannt da und erzählte von asiatischen Häfen, die nach Curry und Stockfisch rochen. Er berichtete ihnen von einem merkwürdigen afrikanischen Stamm, deren Männer größer seien als der Mond, und von anderen, die kaum zwei Handbreit vom Boden aufragten. Wieder andere seien im Besitz einer magischen Formel, um die Köpfe ihrer Feinde auf die Größe und das Aussehen einer gerösteten Kastanie schrumpfen zu lassen. Manchmal erzählte er ihnen mit verkniffenem Mund die Geschichte, wie die Türken ihn mit knapp fünfzehn Jahren entführt hatten, um ihn zu einem Soldaten des Sultans zu machen; wie er lange Zeit vorgab, sich in sein Schicksal als schnurrbärtiger Krummsäbelträger ergeben zu haben, und wie ähnlich die Janitscharen den christlichen Orden der Mönchsritter seien.
»Die arabische Übersetzung meines Namens lautet Asad.«
»Asad? Spreche ich das richtig aus?«, fragte Julia.
»Perfekt. Tatsächlich habe ich viele Jahre so geheißen … bis ich schließlich fliehen konnte.«
Mamita Lula lauschte Leóns Abenteuergeschichten mit klopfendem Herzen und glaubte ihm jedes Wort, so abwegig es auch klingen mochte. Sie hatte diesen Jungen gern. Sie erkannte die Ausgestoßenen der Gesellschaft sofort, weil sie selbst zu ihnen gehörte. Sie wusste, dass die meisten Menschen Kleingeister waren, die sich in Gegenwart der wenigen besonderen Menschen, die es auf diesem Planeten gab, unwohl fühlten.
Julia hingegen war davon überzeugt, dass die Geschichten, die León erzählte, reine Erfindung waren, was für sie indes nicht die geringste Bedeutung hatte. Die Welt aus Übersee, die in dem Mund dieses jungen Mannes Gestalt annahm, unterhielt sie, ob sie nun echt war oder erfunden. Ihre eigene Welt erschien ihr so leer, dass die Phantasie ihre einzige Flucht war.
Eine Minute, bevor die Kathedrale zu schwanken begann, spürte Mamita Lula die Erdbewegung in der Magengegend. Gerade wurde das Kyrie gesungen, und ein harmonischer Klangkörper aus Stimmen und Orgelrauschen bat den Herrn um Gnade, als die schwarze Dienerin Julia am Handgelenk packte und sie unter den Altar zog. Sie warf sich neben sie und legte schützend ihren Arm um sie, während sie ungeachtet der verdutzten Gesichter der übrigen Gläubigen eine unverständliche Litanei murmelte. Die Kirchenbesucher hatten keine Zeit, sich noch länger über das unangemessene Verhalten der Dienerin zu wundern, denn ein Zittern, das von Westen kam, erfasste das Gebäude, bis schließlich unter ohrenbetäubendem Knirschen die Mauern unter dem Beben nachgaben und zusammenbrachen.
Das Unheil nahm Punkt zehn Uhr morgens seinen Lauf. Die Glocken der Giralda begannen, von allein und wie von Sinnen zu läuten. Die Kirchenbänke bebten unter den Gläubigen, die saßen, und jene, die standen, fielen fassungslos um, weil sie keinen festen Boden mehr unter den Füßen hatten. Die Kanzel drohte von ihrer Säule zu stürzen, und ein paar verängstigte Messdiener liefen schwankend auf Pater Zacarías zu, um ihm die Treppe hinunterzuhelfen.
»Die Apokalypse! Die Apokalypse!«, rief dieser, während er nach dem Kreuz tastete, das auf dem Hauptaltar stand. Nun tanzte es auf seinem Sockel und stürzte dann direkt neben den Köpfen von Mamita Lula und Doña Julia zu Boden.
Jemand hob es auf und reichte es dem blinden Priester. Er klammerte sich daran fest und schien augenblicklich ruhig zu werden.
Die steinerne Balustrade, die außen an dem Gebäude entlanglief, stürzte auf das Gewölbe der Vierung, und ein Schuttregen ging auf den Kirchenboden nieder. Die Luft füllte sich mit Staub und hüllte alles in dichte Schwaden, so dass man die Hand vor Augen nicht mehr sah. Die Menschen in der Kirche drängten nach draußen, für den Fall, dass Pater Zacarías recht haben sollte und dies der Beginn der Apokalypse war. Sie wollten nicht unter einer Steinschicht zermalmt werden. Die Menschen draußen hingegen drängten nach drinnen, überzeugt, dass der Herr in der Kathedrale seine schützende Hand über sie halten werde. Die Türen waren verstopft von einer verängstigten Menschenmenge. Einige schrien, andere schluchzten, wieder andere klammerten sich aneinander oder beteten …
Es dauerte an die fünf Minuten, bis sich die Erde wieder beruhigte, und als sie es tat, entrang sich ihr ein langes Ächzen, auf das eine betäubende Stille folgte. Eine staubige Stille, die allmählich leisem Stöhnen wich, verhaltenen Stoßgebeten, dem Weinen von Babys, dem Geschrei von Erwachsenen, dem Plärren der Betschwestern, Geräusche, die immer weiter anschwollen, bis sie schließlich zu einem ohrenbetäubenden Lärm wurden. Ein Chor verzweifelter Stimmen flehte wie aus einem Munde um Gnade, Erbarmen und Vergebung.
Julia und Mamita Lula blieben auch noch unter dem Altar liegen, als sich die Erde längst wieder beruhigt hatte, denn sie waren nicht sicher, ob das Beben vorüber war. Sie warteten, bis sich der Staub gelegt und das Rasen ihrer Herzen beruhigt hatte, und krochen dann durch den Schutt, der den Boden bedeckte, aus ihrem Versteck heraus. Ein Trümmerteil bohrte sich in Julias Rippen. Als sie es packte, um es beiseite zu schieben, sah sie, dass es sich um einen runden Stein in Form einer riesigen Münze von über einer Spanne Durchmesser handelte. Er zeigte ein Reliefbild, das sie nicht genau erkennen konnte. Sie presste es an ihre Brust wie eine rettende Planke. Dann spürte sie, wie Mamita Lula sie mit aller Kraft weiterzerrte, und sie torkelten benommen vorwärts, mehr ihrem Gefühl folgend, auf der Suche nach einem Fluchtweg aus der dunklen Kirche.
Fahles Licht fiel von oben herab und sickerte durch die Fensterrosetten, schüchterne Strahlen, in denen Staubpartikel tanzten. Sie bemerkten ein schwaches Licht vor ihren Augen, am Ende dieses finsteren Tunnels, durch den sie sich bewegten. Sie taumelten darauf zu und gelangten auf die Straße, indem sie sich schubsend und rempelnd an ihren Mitmenschen vorbeidrängten, die sich in unkenntliche, staubbedeckte Gespenster verwandelt hatten, benommen vor Schrecken und Todesangst.
Keine der beiden Frauen hatte ein Wort gesagt, seit das Beben begonnen hatte. Draußen angekommen, schauten sie sich im Tageslicht an, als sähen sie sich zum ersten Mal, bis sie sich überzeugt hatten, dass sie beide unversehrt waren; dann nahm Mamita Lula ein Spitzentaschentuch aus ihrer Rocktasche, wickelte es um Zeige- und Mittelfinger, befeuchtete es mit Spucke und wischte Doña Julia damit übers Gesicht, um die Schmutzschicht zu entfernen, die ihre Wangen überzog, wie sie es vor vielen Jahren getan hatte, als diese noch ein kleines Mädchen gewesen war. Aber nun war ihre Herrin zu alt dafür und stieß sie von sich weg. Dann blickte Julia nach oben. Unter dem Schleier des diesigen Himmels konnte sie die Scheibe der Sonne erkennen, die sich einen Weg durch die Wolken zu bahnen versuchte. Die Gegenwart der Sonne hatte Julia immer ein unbeschreibliches Gefühl der Erneuerung verliehen. Sie atmete tief durch, immer noch den Stein umklammernd, den sie aus dem Schutt der Kirche gerettet hatte. Sie schloss die Augen, und ein schwaches Lächeln erschien auf ihrem staubgrauen Gesicht. Sie lebte.
»Ich lebe!«, sagte sie bewegt.
»Wir müssen hier weg!«, rief Mamita Lula ihr zu, packte sie an den Schultern und schüttelte sie, um sie aus ihrer Benommenheit zu reißen. »Der Turm stürzt ein.«
Sie waren durch die Puerta de los Palos gekommen, und eine Gruppe von Menschen deutete auf einen Riss, der in der Giralda klaffte. Es sah aus, als hätte eine Axt von riesenhaften Ausmaßen das Mauerwerk vom Glockengeschoss bis zu den ersten Balkonen gespalten. Unterdessen hallte die unbewegte Stimme Pater Zacarías’ so kraftvoll wider wie nie zuvor. Das Kruzifix emporhaltend, lief er umher, gefolgt von einer Menge zaudernder Sevillaner, die von der ungewohnten Stärke des sechzigjährigen Geistlichen wie gebannt schienen. Durch seine Blindheit war er unempfänglich für Panik. Sicheren Schrittes ging er Richtung Plaza, während er die Menge lautstark aufforderte, ihm zu folgen. Er werde die Messe, die das furchtbare Ereignis unterbrochen hatte, wo auch immer zu Ende lesen.
»Sie bricht in der Mitte entzwei!«, schrie jemand und deutete auf die Giralda.
»Gehen wir nach Hause, bevor uns eine Glocke auf den Kopf fällt«, sagte Mamita Lula eindringlich zu Doña Julia.
»Du hast dich geirrt, siehst du? Die Welt ist nicht untergegangen. Wir leben, merkst du? Du lebst!«, entgegnete diese mit einem glücklichen Lächeln.
»Natürlich … Los, gehen wir nach Hause.«
»Ich lebe. Ich lebe. Ich lebe«, wiederholte Julia mit entrücktem Blick, während sie sich von Mamita Lula wegführen ließ.
DIE SCHÄDEN AN DOÑA JULIAS Geschäft waren schon aus der Ferne zu erkennen. Das von zwei Ketten gehaltene Holzschild, auf dem zwei Stunden zuvor noch zu lesen stand: »Druckerei de Haro«, war heruntergefallen. Die Buntglasscheiben zur Straße hin waren größtenteils zerbrochen. Der Gehsteig und das Innere der Werkstatt waren mit Papier übersät, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgefegt. Die beweglichen Lettern waren aus den Setzkästen gefallen und ergossen sich auf dem Boden, wo sie an zerquetschte Insekten aus Metall erinnerten. Die neue Druckerpresse, mit der Julia ihr Geschäft modernisieren wollte, schien beschädigt, und ein besorgniserregender Riss zog sich quer über die Wand des Patios. Trotzdem verlor die Witwe de Haro nicht ihren Ausdruck entrückter Gelassenheit.
»Gott sei Dank!«, seufzte Cristóbal Zapata auf, als er sie, an Mamita Lulas Schulter gelehnt, hereinkommen sah.
Er schob die Dienerin achtlos beiseite und fasste Julia am Arm, um sie zu einem Sessel zu führen. Der Werkstattmeister redete beruhigend auf sie ein, als sei sie ein Kind, das seine ersten Schritte macht. Er nahm ihr den runden Stein ab, den sie unterm Arm trug, brachte ihn in eine Ecke des Patios und half ihr dann, Platz zu nehmen. Nachdem er sie in Sicherheit wusste, trug er den Dienstmägden auf, einen Orangenblütentee zu bringen, und zwar rasch. Er hielt die Teetasse, während sie mit kleinen Schlucken trank, und legte ihr die Hand auf die Stirn, um sich zu vergewissern, dass der Schreck kein Fieber hervorgerufen hatte – er war fest davon überzeugt, dass diese geologische Erschütterung zwangsläufig die Stabilität und Ausgeglichenheit einer so zarten und empfindsamen Person angegriffen haben musste.
»Sie müssen sich ausruhen«, erklärte der Meister energisch.
Als Julia reglos sitzenblieb, mit abwesendem Gesichtsausdruck wie die Insassen des Hospitals San Cosme y San Damián und ohne ein Wort zu sagen, war schließlich auch Mamita Lula davon überzeugt, dass es wohl das Beste war, wenn sie sich hinlegte, während sie versuchten, ein wenig Ordnung im Haus zu schaffen.
Gegen zwei Uhr nachts wachte Julia vom Pochen ihres Herzens auf. Sie öffnete die Augen, ohne zu wissen, wo sie sich befand und wie spät es war. Ihr kam entfernt die Erinnerung an ein Erdbeben in den Sinn, aber es dauerte, bis sie wieder wusste, ob es Wirklichkeit war oder ob sie geträumt hatte. Als sich die Wolken der Verwirrung lichteten und ihr klar wurde, dass es tatsächlich ein Erdbeben gegeben hatte, packte sie die Angst. Sie begann darüber nachzudenken, was wäre, wenn sie an diesem Morgen gestorben wäre. Wo befände sich ihre Seele jetzt? Würde jemand um sie weinen? Zweiunddreißig Lebensjahre waren wie im Flug vergangen, und sie hatte nichts erreicht, auf das sie wirklich stolz sein konnte. War sie glücklich? Hatte ihr Dasein jemanden glücklich gemacht? Nicht einmal ihre Ehe war eine Liebesheirat gewesen. Ihre Mutter hatte einen alten, fetten Ehemann für sie ausgesucht, den sie nicht lieben konnte, einen Mann, der sie niemals nackt gesehen hatte, der sie niemals auf den Mund geküsst hatte … Ein Mann, dem sie keine Kinder schenken konnte. Sie verdorrte vor lauter Langeweile in diesen vier Wänden, wo Geschichten gedruckt wurden, die andere zum Träumen brachten, sie aber nicht.
Sie setzte sich im Bett auf, um nicht länger nachdenken zu müssen. Sie schwang die nackten Füße auf den Boden, und der kalte Marmor ließ sie schaudern. Barfuß tappte sie zur Tür und trat in den Flur hinaus, nur mit einem Nachthemd bekleidet. Ihr Haar war gelöst und floss in weichen Wellen bis über die Taille. Sie ging den Flur entlang und die Treppe hinunter. Als sie in den Patio kam, war sie überrascht, unter den Arkaden sämtliche Gerätschaften aus der Druckerei stehen zu sehen: die Maschinen, die weißen und die bedruckten Bögen, die Tintenbottiche, den Setzkasten … Sie vermutete, dass man sie dorthin gebracht hatte, um Diebstähle zu verhindern, bis die Scheiben zur Straße repariert waren, denn das Wohnhaus war durch ein eisernes Gitter geschützt, das die Vorhalle vom Patio trennte. Sie ging zwischen den Gerätschaften hindurch zu dem Riss, den das Erdbeben in der Mauer ihres Hauses hinterlassen hatte, und fuhr mit dem Zeigefinger darüber. Dann sah sie nach rechts: Dort befand sich die Treppe, die in den Keller hinabführte. Eine unerklärliche Kraft trieb sie darauf zu. Sie merkte erst, dass sie hinunterging, als sie schon die ersten Schritte getan hatte. Wie benommen kam sie schließlich unten an.
Über eine Minute blieb sie vor Leóns Schlafkammer stehen. Ängstlich und aufgeregt lehnte sie den Kopf gegen das Holz und legte die Hand auf die Klinke, bis sie merkte, dass diese nachgab, ohne dass sie sie nach unten gedrückt hatte. León hatte Geräusche gehört und öffnete, eine Kerze in der Hand, die Tür vollständig. Das goldene Licht fiel auf ihr Gesicht und verlieh ihr das unwirkliche Aussehen eines Fabelwesens. Der junge Mann sah sie überrascht an.
»Braucht Ihr etwas, Herrin?«
Julia schloss die Augen und legte sanft den Zeigefinger auf Leóns Lippen. Sie wollte nur, dass er aufhörte zu reden, aber die Berührung seiner warmen Lippen verursachte ihr ein Kribbeln im Bauch, eine wohlige Angst, die sie leise aufseufzen ließ. Schweigend schob sie ihn zurück, um die einfache, fensterlose Lehrlingskammer zu betreten, und schloss die Tür hinter sich, während sie ihn durch ihre geschwungenen Wimpern anblickte. Ihr Mund war leicht geöffnet, sie atmete schwer. Julia war nicht mehr sie selbst. Ein unbekanntes Funkeln verlieh ihr ein so verstörendes Leuchten, dass León die Augen nicht von ihr abwenden konnte. Unbewegt sahen sie einander an, ohne eine Regung, ohne eine Frage, denn die sanften Bewegungen, mit denen sie sich einander näherten, waren Antwort genug. Sie begann, ihr Hemd aufzuknöpfen, und schon die Berührung des Stoffes, der an ihr hinabglitt, brachte ihr Innerstes in Aufruhr. Jede Pore ihres Körpers war hellwach, dürstete nach Zärtlichkeit, hungerte nach warmem, feuchtem Fleisch.
Sie war nun nackt, stand mit rosiger, bebender Haut im Kerzenschein, dem Blick dieses schönen Unbekannten hingegeben, der ihre Seele mit Feuer erfüllte. Sie fasste Leóns Kinn mit der rechten Hand und näherte sich seinem Mund, als wollte sie versuchen, den letzten Schluck aus einem Glas zu trinken. Es war nicht genügend Luft im Zimmer, und sie war überzeugt, dass sie die Luft brauchte, die Leóns Lungen füllte, um weiterleben zu können. Sie standen ganz nah beieinander, die Lippen fast vereint, während sie den arabischen Namen des jungen Mannes flüsterte.
»Asad …«
»So hat mich lange niemand mehr genannt«, antwortete er keuchend.
»Ich lebe«, sagte Julia leidenschaftlich. »Ich lebe!«
Da verschwand die Anspannung von Leóns Gesicht und ein strahlendes Lächeln ließ seine weißen Zähne zwischen den roten Lippen aufblitzen.
»Daran hatte ich nie den geringsten Zweifel.«
Es war das Letzte, was er sagte, bevor er sie in die Arme nahm und küsste.
… eine Welt, in der du dich bewegtest wie ein Springer in einem Schachspiel, der sich wie ein Turm bewegen würde, der sich wie ein Läufer bewegen würde.
JULIO CORTÁZAR, Rayuela
Das Erdbeben ging als »Das Beben von Lissabon« in die Geschichte ein. Denn dort zählte man zwischen sechzig- und hunderttausend Toten, und die meisten Gebäude des Stadtkerns wurden dem Erdboden gleichgemacht. Die Erschütterung war auf der ganzen Iberischen Halbinsel zu spüren, am stärksten jedoch im mittleren Süden.
In Cádiz war es das Meer, von dem das Unheil nahte. Es zog sich mehr als eine halbe Meile von der Küste zurück, bis der Meeresgrund offen lag, sanft und still wie ein Teppich aus braunem Samt. Andächtig schweigend beobachteten die Leute, wie sich das Wasser zurückzog, wie versteinert und zu keiner Reaktion fähig. Der Gouverneur ahnte, dass das Meer früher oder später mit neuer Kraft zurückkehren müsse, und befahl, die Stadtmauern zu schließen. Eine halbe Stunde später überfluteten drei gewaltige Wellen die Stadt. Fische wurden auf die höchsten Dächer gespült, Wagen und aufgedunsene Pferdekadaver lagen am Strand, über sechshundert Personen, die mit ihren Schiffen draußen waren, verschwanden spurlos. Zitternd und bebend versuchte die Stadtmauer, dem Druck standzuhalten, aber am Ende stürzte sie ein, als bestünde sie aus Zuckerwürfeln. Noch Tage später fand man die schweren Steine meilenweit entfernt.
Die Wellen waren so heftig, dass sie in die Mündung des Betis – so der alte Name für den Guadalquivir – drückten und den Fluss hinaufliefen, und noch Tage später war die Luft in Sevilla, die normalerweise nach Orangenblüten und Nelken duftete, von Salz und Entsetzen geschwängert. Über dreihundert Häuser lagen in Trümmern, und weitere fünftausend, so schätzte man, würden dringender Reparaturen bedürfen.
Auf das große Beben folgten immer wieder kleinere Nachbeben, die die Stadt schüttelten wie einen Fieberkranken. Der Bürgermeister versuchte, die Bevölkerung zu beruhigen, indem er versicherte, dass die Bewegungen lediglich zeigten, wie sich die Erde allmählich wieder beruhigte. Doch die Menschen hatten Angst und stürzten bei der geringsten Erschütterung auf die Straße, wo sie mit tränenerstickten Stimmen um Gnade flehten. Die Heiligen Justa und Rufina, die Schutzpatroninnen der Töpfer, wurden zu Heldinnen erklärt. Viele versicherten, gesehen zu haben, wie sie auch diesmal die Giralda gestützt hätten, wie schon bei dem Beben von 1504, und dass der Turm nur deshalb widerstanden habe. Die bekanntesten Künstler machten sich daran, das Wunder auf Gemälden, in Holz und Stein sowie auf Teppichen und Schmuckfliesen festzuhalten. So blieben sie der Nachwelt erhalten, zyklopenhaft groß, die Giralda überragend, mit Tonkrügen zu ihren Füßen und Palmwedeln in den Händen.
Die Bevölkerung von Sevilla, die nur zu gerne bereit war, göttliche Erklärungen für irdisches Unglück zu suchen, richtete den Blick gen Himmel. Die Kirche verkündete öffentlich, dass es sich bei dem Erdbeben um eine Warnung Gottes gehandelt habe. Offensichtlich sei der Allmächtige erbost über den Verfall der Sitten, über die unzüchtige Kleidung, welche die Mädchen in letzter Zeit trügen, und über die Ruchlosigkeit der jungen Burschen, die sich ihre Zeit mit Trinken und Scherzen vertrieben, was im Widerspruch zur christlichen Mäßigung stünde. Die Geistlichen erklärten, dass man Gott für seine Güte danken müsse, weil er eine Mahnung in Gestalt eines Erdbebens geschickt habe, statt ohne Vorwarnung eine Sintflut zu senden wie zu Noahs Zeiten. Und so beschloss man, eine Gedenkstele mit dem Bildnis der Muttergottes und dem Kinde zu errichten, und zwar neben dem Südflügel der Kathedrale, auf der Plaza de Lonja. Es war genau der Ort, wo Pater Zacarías nach dem Beben die Messe zu Ende gelesen hatte. Sie bekam den Namen »El Triunfo«, bekrönt von einem mächtigen Kreuz. Auf dem steinernen Sockel stand geschrieben:
Am Samstag, dem 1. November anno 1755, um zehn Uhr morgens, geschah ein großes, entsetzliches Beben, welches die Stadt heimsuchte und ihre Bewohner unter sich begrub, denn die Gebäude wurden auf das Fürchterlichste erschüttert, deren manche einstürzten, sowie auch ein Teil der Kirchen. In der hohen Kathedrale regnete es Steine von den Gewölben, Pfeiler des Turms stürzten ein. Trotz der großen Beschädigungen kam niemand zu Schaden. In ganz Sevilla starben nur sechs Personen, die übrigen kamen mit dem Leben davon, welches die Stadt der Schutzherrschaft der allerbarmherzigsten Mutter Maria zu verdanken hat, zu deren Ehre und in immerwährender Dankbarkeit die hochwürdigen Herren des Rates dieses Denkmal errichten ließen, an jener Stelle, da an besagtem Tag die Messe gelesen und die Sixt gefeiert wurden.
DAS GESCHIRR, DAS JULIA als Mitgift in die Ehe mitgebracht hatte und das einen Wert von vierzigtausend Reales besaß, war durch das Erdbeben in Mitleidenschaft gezogen worden. Die Dessertteller waren heil geblieben, des Weiteren einige Tassen, eine große Schüssel und die Suppenterrine; der Deckel hingegen war in der Mitte entzweigebrochen. Trotzdem trug Mamita Lula bei Tisch mit derselben Sorgfalt auf wie immer. An diesem Tag, einige Wochen nach dem Erdbeben, servierte sie die Suppe in Schokoladentassen, beginnend mit der Herrin, dann folgten León und schließlich sie selbst. Julia wartete, bis sich die Dienerin gesetzt hatte. Dann faltete sie die Hände, schloss die Augen und dankte Gott für die Speisen, die sie in den wenigen Geschirrteilen erhielten, die ihnen geblieben waren. Als sie zu Ende gesprochen hatte, breitete sie die Serviette über die Knie und begann zu löffeln.
Julia war nervös, denn sie hütete ein Geheimnis. Das größte und aufregendste Geheimnis ihres ganzen Lebens. Ihre Hände zitterten. Sie versuchte, sich auf ein Stückchen hartgekochtes Ei zu konzentrieren, das perfekte Kreise auf der Oberfläche der Suppe zog, aber es gelang ihr nicht. Sie spürte Leóns Blick auf sich ruhen. Der junge Mann beobachtete sie mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen. Er sah die Schönheit, die sich hinter ihrer abweisenden Miene, ihren schwarzen Kleidern und ihrer strengen Frisur verbarg. Für ihn war es ein Leichtes, kraft seiner Phantasie die Attribute zu übersehen, mit denen sie sich am Tage als stolze Dame verkleidete, denn seit einigen Wochen entblätterte er sie wie eine Margerite.
Julia sehnte den Anbruch der Nacht herbei. Jeden Abend, wenn alles im Dunkeln lag und im Haus nur noch das Murmeln der Stille zu hören war, schlich sie sich vorsichtig in die Kammer ihres jungen Geliebten. León empfing sie freudig und drückte sie an seinen Körper. Er küsste sie auf den Mund, spielte mit ihrer Zunge, nahm ihr den Atem. Hinter ihr stehend, öffnete er mit verblüffender Geduld die schier endlose Reihe kleiner Knöpfe, die ihr Trauerkleid verschlossen, einen nach dem anderen, vom Hals bis zur Taille. Dann schob er den Stoff sanft beiseite und streichelte mit den Fingerspitzen über die feine Unterwäsche, sein Verlangen bezähmend, indem er diesen Moment hinauszögerte. Er vergrub sein Gesicht in Julias Haar und sog tief die Luft ein, um in ihrem Duft zu versinken, bevor er seine Lippen auf ihren Nacken und die weißen Schultern presste, die inzwischen vor Erwartung bebten. Vorsichtig zog er die Haarnadeln heraus, die den Knoten hielten, so dass sich das Haar in schwingenden Spiralen aufrollte, während er aufmerksam auf den Atem der Frau achtete, um genau den Moment abzupassen, in dem sie vor Verlangen danach verging, mit ihm in die Laken zu sinken.
Nachdem sie sich geliebt hatten, sah er sie immer lange an. Ohne Kleidung wirkte sie gar nicht mehr streng. Im Kerzenschein, ohne das gnadenlose Tageslicht, glänzten Julias Wangen wie polierte Pfirsiche. Man musste sie in diesen intimen Momenten sehen, ihre empfindsame Haut, wenn sie sich mit gesenkten Lidern, den Mund leicht geöffnet, rhythmisch unter ihm bewegte, um ihre wahre weibliche Schönheit zu erkennen.
Julia konnte Leóns eindringlichem Blick nicht länger widerstehen und wandte sich ihm zu, während sie Mamita Lula fragte, ob sie mit dem Essen fertig sei.
»Ja, Herrin.«
»Dann lass uns allein.«
Die Dienerin stand mit sevillanischer Gemächlichkeit auf, legte die Serviette beiseite, faltete sie sorgfältig, räumte das Geschirr ab und stellte die leeren Teller zusammen, die Schokoladentassen, die Suppenschüssel.
»Du kannst später abräumen«, drängte Julia. »Geh jetzt, tu mir den Gefallen.«
Mamita Lula sah sie argwöhnisch an. Sie kannte ihre Herrin, seit diese ihre ersten unsicheren Schritte gemacht hatte, und bemerkte ihre Ungeduld. Dann ging sie davon, wobei sie etwas von Leidenschaften murmelte, die wie ein laues Lüftchen sind, das sich in einen Sturm verwandelt. Julia wartete, bis sie die Tür ins Schloss fallen hörte.
»Was hältst du davon zu heiraten?«, fragte sie dann ohne Umschweife, in demselben Ton, in dem sie mit den Angestellten der Druckerei zu sprechen pflegte.
»Die Leute werden reden«, erwiderte León überrascht.
»Die reden immer.«
Sie war sich der Macht des Klatsches durchaus bewusst, der Macht des äußeren Scheins. Man hatte ihr beigebracht, den Eltern zu gehorchen, höflich zu den Mitmenschen zu sein, keusch, anständig, aufrichtig und zuvorkommend aufzutreten. Sie war dazu erzogen worden, so zu sein, wie die anderen es von ihr erwarteten, und ihre eigenen Wünsche zugunsten der Erwartungen jener zurückzustellen, die mehr Autorität hatten als sie, was im Falle einer jungen Frau fast alle waren.
Sie erinnerte sich noch genau an den heißen Frühlingstag, an dem sich alles geändert hatte. Sie war soeben siebzehn Jahre alt geworden und besaß die glückliche Unbedarftheit derer, die keine Erwartungen ans Leben stellen. Sie schnitt gerade Gladiolen und Rosen im elterlichen Garten, die sie in die Blumenvasen im Salon stellen wollte, damit der Frühling auch im Haus Einzug hielte. Mamita Lula half ihr dabei, doch in diesem Moment hatten sich die beiden in ein Spiel vertieft; sie knufften einander, verfingen sich im Efeu, rutschten auf der feuchten Erde aus und bespritzten sich mit Wasser, lauthals lachend wie zwei Bauernmädchen. Als sie mit erhitzten Wangen und noch immer lachend in den Salon kam, sah sie einen Mann im Alter ihres Vaters, der wie aufgezogen vom Sofa hochschnellte und ihr mit der einen Hand einen Strauß Nelken und mit der anderen eine Schachtel Schokolade entgegenstreckte.
»Dieser Herr ist Don Diego López de Haro, mein Liebling«, sagte ihre Mutter zu ihr. »Erinnerst du dich an ihn? Ihm gehört die Druckerei. Vor kurzem ist seine Frau gestorben, die Ärmste. Weißt du noch? Sie hat dir die Gedichtbändchen geschenkt, als du kleiner warst. Wir waren bei der Beerdigung.« Angesichts der reglosen Miene ihrer Tochter setzte sie hinzu: »Er ist zum Tee zu uns gekommen, um dich näher kennenzulernen.«
Sie setzten sich in den Patio. Mamita Lula brachte ein Tablett mit Gebäck und einen Krug gut gekühlter Limonade, woraufhin sich Julias Mutter und Don Diego in ein Gespräch darüber vertieften, wie schwierig es war, die Stadt mit Eis zu beliefern.
»Es wird bis aus Constantina geliefert«, erklärte der Witwer. »Man hat drei Keller gegraben, wo in den Winternächten der Schnee gesammelt wird. Schließlich wird der Schnee in Tragkörben abtransportiert und in die Lager gebracht, wo von geistigen Getränken erwärmte Männer ihn so lange treten, bis er sich in Eisblöcke verwandelt. Wenn Luft in die Eisblöcke gelangt, schmelzen sie«, erklärte er. »Dann werden sie öffentlich versteigert. Dieses Jahr hat der Verkauf früher stattgefunden, weil eine solche Hitze herrscht«, sagte er, während er einen Schluck Limonade aus seinem Glas nahm und sich die schweißnasse Stirn mit einem Taschentuch abwischte, bevor er fortfuhr. »Sechs Reales kostete der Eisblock! Ich habe zwanzig gekauft.«
»So viel Arbeit, um das Wasser hart zu machen.«
Es war der erste Satz, den Julia an ihren zukünftigen Ehemann richtete. Er brach in schallendes Gelächter aus und ließ dabei in seinem weit geöffneten Mund einige löchrige, lückenhafte Zähne sehen.
»Das Mädchen ist so unbedarft … Das arme Ding weiß nichts vom Leben«, sagte ihre Mutter und sah sie verschmitzt an.
»Diese Naivität ist entzückend«, bemerkte Don Diego López de Haro mit hingerissener Miene.
Danach begann Julia ihre Worte abzuwägen, damit man nicht noch einmal über sie lachte. In den nächsten Monaten bemühte sie sich sehr um eine ernsthafte Haltung, das Kinn hochgereckt, ein zurückhaltendes Lächeln auf den Lippen, das keine Zähne sehen ließ. Sie brauchte sich nicht einmal sonderlich zu verstellen, denn vor lauter Bemühen um Ernsthaftigkeit wurde sie zunehmend mürrisch.
Nachdem Don Diego López de Haro sich an jenem Nachmittag verabschiedet hatte, breitete ihre Mutter die Vorzüge des Witwers vor dem Mädchen aus wie einen Fächer. So eine hochgeistige Arbeit, der Besitzer der angesehensten Druckerei der Stadt, stell dir nur vor, alle Mädchen im heiratsfähigen Alter werden dich beneiden, wo du doch so gerne Bücher liest, Julita.
»Sie wollen, dass ich Don Diego heirate?«
»Nur, wenn es auch dein Wunsch ist.« Ihre Mutter nahm ihre Hand und tätschelte sie. »Aber du solltest bedenken, dass die Zeiten schlecht sind. Es wird zunehmend schwerer, anständige Männer zu finden, und wenn du nicht aufpasst, wirst du als alte Jungfer enden, wie die Tochter von Doña Elvira, die Ärmste geht schon auf die Dreißig zu und ist immer noch ledig … Na ja, angeblich nicht so ganz, sie hat schon ihre Erfahrungen gemacht … Jedenfalls hat die Ärmste einen ziemlichen Bartflaum, darin kommt sie nach ihrem Vater. Aber du bist bildhübsch …« Sie fasste ihre Tochter am Kinn und sah sie fest an. »Man muss die Gelegenheiten beim Schopf packen, Julita.«
»Aber dieser Mann ist uralt, und ich …«
»Ach Gott, das ist doch ein Vorteil«, unterbrach ihre Mutter sie. »Dann hat er wenigstens klare Vorstellungen. Nicht wie bei mir: Ich habe einen Mann in meinem Alter geheiratet, und bis ich den zurechtgebogen hatte …«
»Willst du auch, dass ich den Drucker heirate, Vater?« Julia sah ihn verzweifelt an, während beide die Blicke der Mutter auf sich spürten.
»Er ist ein guter Kerl«, murmelte Don Juan Nepomuceno mit gesenktem Kopf. Er bedauerte es, dass er nicht den nötigen Mumm hatte, seiner Frau zu widersprechen und sie anzuhalten, das Mädchen in Ruhe zu lassen.
DIE HOCHZEITSVORBEREITUNGEN DAUERTEN DREI Monate, Zeit, die Don Diego für die althergebrachte Brautwerbung nutzte, die an fünf bestimmten Tagen stattfand. Am Tag der Kapitulation schenkte er seiner Zukünftigen eine brillantenbesetzte Repetieruhr aus blauem Email. Am Tag des Aufgebots sechs Rosen aus Türkisen. Zur Kirchweih einen Strauß italienischer Blumen, zwei Korallenringe und eine Auswahl von Bändern und am Hochzeitstag eine große Truhe mit einem kostbaren, silberbestickten Kleid, zwei englischen Fächern und Perlenschmuck.
»So einen großzügigen Bräutigam hat es noch nie gegeben!«, frohlockte die Brautmutter.
Julias Familie bot als Mitgift ein Tafelservice, ein Silberbesteck, zehn Kerzenleuchter, zwei linnene Tischtücher, mehrere Garnituren Bettwäsche mit Spitze sowie die Zusicherung, dass Julia Mamita Lula als Haushälterin in ihr neues Zuhause mitnehmen könne. Für Julias Mutter war Letzteres eher eine Erleichterung als ein Opfer. Sie verstand sich nicht mit diesem dunkelhäutigen Mädchen, das ihr nie in die Augen sah. Sie hielt sie eher der Mode wegen als aus Notwendigkeit. In jener Zeit konnte keine Familie, die etwas auf sich hielt, darauf verzichten, zumindest einen schwarzen Bediensteten zu haben. Aber Julias Mutter fand, dass diese Leute nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt waren.
»Woher kommen diese Geschöpfe?«, fragte sie. »Gott schuf den Menschen nach seinem Bilde, und es ist ja wohl klar, dass wir ihnen nicht gleichen … Also, Menschen sind das nicht.«
Julia verbrachte die Nacht vor der Hochzeit mit Weinen. Sie heiratete in der Kathedrale von Sevilla, in der Capilla Mayor, vor einem der bedeutendsten Retabel der katholischen Kirche. Hunderte geschnitzter Heiligenfiguren wurden Zeugen der Schluchzer der Braut.
»Das ist die Rührung«, sagte ihre Mutter entschuldigend. »Sie ist so verliebt!«