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Das passiert auch nicht alle Tage. Da kommt einer aus der Schule, wo er vielleicht eine wichtige Mathe-Arbeit versaut hat – die nicht angekündigt war – und wird von einem Mann angesprochen, der behauptet, sein Großvater zu sein. Nein, nicht Großvater Willi, denn den kennt der eine, der übrigens Markus heißt, Markus Stojahn. Aber einen Großvater Paul, den kennt Markus Stojahn nicht. „Mein Großvater heißt Willi“, sagte Markus. „Er wohnt in Prenzlau.“ „Willi heißt er, so“, sagte der Mann, „aber ein Mensch hat gewöhnlich zwei Großväter. Und ich bin eben der andere.“ Doch Zweifel bleiben. Das versteht Großvater Paul, und er liefert Beweise: Er entnahm der Brieftasche ein Schwarz-Weiß-Foto, das im Laufe der Zeit bestimmt oft angeguckt worden war, abgegriffen waren die Ecken und das Papier von feinen Rissen durchzogen. „Schau hin“, sagte der Mann. Markus erkannte drei Menschen auf dem Foto. Sie standen vor einem Autobus, einer Busart, die er nur vom Hörensagen oder aus alten Zeitschriften kannte, doppelstöckig. Der Mann wies auf einen Jungen, der in der Mitte stand. Und Markus erkannte seinen Vater Georg, vielleicht so alt wie er heute. Man hätte auch annehmen können, er, Markus, war dort auf dem Foto zu sehen, so groß war die Ähnlichkeit. „Und hier, wer ist das?“, fragte der Mann. Es gab keinen Zweifel, das war Oma Renate, nur viel jünger und überhaupt. „Das ist Oma“, sagte Markus. „Ich kenne auch andere Bilder, auf denen sie so aussieht.“ „Na, siehst du“, sagte der Mann zufrieden. „Das hier ist der Beweis. Schau genau hin.“ Trotzdem bleibt der Mann für Markus ein fremder Mann. Der schreibt seinem Enkel eine Nachricht auf, die er seiner Familie übergeben soll. Als Markus genau das beim Abendbrot tut, löst das unterschiedliche Gefühle aus, verlangt aber zunächst einmal nach der Kunst des Dechiffrierens, wie das die Geheimdienstleute nennen. Oma Renate blieb in der Tür stehen. Vater setzte das Bierglas ab. Mutter Sabine sah rasch auf Schwiegermutter und Mann und trat auf Markus zu. „Du sagst, er soll herkommen. Übermorgen Abend soll er herkommen. Hier in die Wohnung. Wir werden mit ihm reden.“ Tatsächlich folgt Opa Paul dieser Einladung seiner Schwiegertochter, die einen festlichen Abendbrottisch für fünf Leute gedeckt hat – für Oma Renate, für ihren Mann Georg, den Sohn von Renate und Paul, für sich und für Markus, und - für Opa Paul. Doch am Abend bleiben zwei Plätze leer …
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Seitenzahl: 171
Veröffentlichungsjahr: 2022
Günter Görlich
Der unbekannte Großvater
978-3-96521-695-2 (E-Book)
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
Das Buch erschien erstmals 1984 in Der Kinderbuchverlag Berlin.
© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de
Für Leser von 10 Jahren an
„Hallo, du bist doch Markus? Markus Stojahn?“
Der Junge blickte auf, sah einen älteren Mann, lang und hager, und er trug eine abgewetzte schwarze Lederjacke. Dichtes, ziemlich langes weißes Haar umrahmte ein braungebranntes Gesicht.
Der Mann schaute mit hellen Augen Markus an, lächelte und beugte sich zu dem Jungen, als wolle er genau hören, was der antworten würde.
Und der Junge sagte: „Ja, ich bin Markus.“
Der Mann richtete sich auf, lächelte noch immer und sagte: „Und ich bin dein Großvater, ja, dein Großvater Paul.“
Markus trat einen Schritt zurück. Der Mann sah nicht so aus, als müsse man vor ihm Angst haben.
Zudem war lichter Tag, später Mittag, und alles spielte sich vor der Schule ab – Markus war, in Gedanken versunken, aus dem Schulgebäude gekommen. In der letzten Stunde hatte Mathe-Stössel eine Arbeit schreiben lassen, ziemlich gemein die Sache, weil nicht angekündigt. Markus weiß nicht, ob er die letzten beiden Aufgaben richtig gelöst hat. Wäre schlimm, hätte er sie verhauen, wenn auch die Arbeit bestimmt nicht mehr für das Jahreszeugnis von Bedeutung ist. In drei Wochen beginnen die großen Ferien; aber bei Mathe-Stössel weiß man nie genau, woran man ist, er liebt Überraschungen.
Markus trat einen kleinen Schritt zurück, um den Mann besser im Auge zu haben, er wollte den Kopf nicht zu sehr zurückbeugen.
„Mein Großvater heißt Willi“, sagte Markus. „Er wohnt in Prenzlau.“
„Willi heißt er, so“, sagte der Mann, „aber ein Mensch hat gewöhnlich zwei Großväter. Und ich bin eben der andere.“
Markus schaute zweifelnd: „Ich weiß aber nichts von Ihnen.“
„Dann weißt du’s jetzt“, sagte der Mann. „Du kannst du zu mir sagen, ich bin ja dein Großvater.“
Markus betrachtete den Mann genauer.
Der soll mein Großvater sein? Ist man sich da nicht ein bisschen ähnlich? Steht ganz locker da, der Mann, hat die Hände in die Taschen der Lederjacke geschoben. Braune Cordhosen trägt er, sie sind recht eng und an den Knien ausgebeult.
Da Opa Willi aus Prenzlau Mutters Vater ist, müsste der, falls seine Behauptung stimmt, Vaters Vater sein. Aber Ähnlichkeit mit Papa hat der nicht. Oder doch? Die hellen Augen, die hat Papa auch. Sie wirken bei ihm nicht so hell, doch Papas Gesicht ist auch nicht so braun gebrannt. Der Mann, der sein Opa Paul sein will, lächelt gutmütig.
„Von mir hat man dir also nichts gesagt, hat mich einfach verschwiegen“, sagte er.
„Wer hat nichts von Ihnen gesagt?“, fragte der Junge.
„Na, dein Vater und deine Mutter. Und dann natürlich deine Oma.“
„Meine Oma?“
„Ja, deine Großmutter Renate. So heißt sie doch, stimmt’s. Aber du sagst ja immer noch Sie zu mir.“
„Woher kennen Sie denn meine Oma?“, fragte Markus.
„Na, woher schon, Junge. Ich war mit ihr verheiratet. Ist zwar eine Weile her, aber es war so. Du glaubst mir nicht? Ist ja auch nicht ganz richtig, dass ich dir hier aufgelauert habe. Ich hab’s einfach nicht mehr ausgehalten. Musste dich mal sehen. War lange nicht im Lande, hatte nie Zeit und dazu noch ein Versprechen gegeben. Aber, nun habe ich Zeit und konnte nicht widerstehen. Hab dich sofort erkannt. Als du mit den vielen anderen herausgekommen bist, habe ich sofort gewusst: Das ist er. Siehst so aus wie dein Vater, als er so alt war wie du. Ein klein wenig kommst du auch nach mir.“
„Warum kommen Sie nicht zu uns nach Hause?“
„Und wenn die nicht wollen, dass ich komme, mich nicht reinlassen?“
„Sie schwindeln vielleicht ganz schön“, sagte Markus.
Der Mann zuckte mit den Schultern. „Ich seh schon, du bist misstrauisch, du brauchst Beweise. Ich habe aber welche, und du wirst sehen, ich schwindle nicht.“
Aus seiner Lederjacke zog dieser Großvater eine Brieftasche.
Noch immer standen sie auf dem Vorplatz der Schule. Es war ruhiger geworden, die meisten Schüler hatten das Gebäude verlassen. Aus einem Fenster schallte plärriger Gesang, und Markus wusste, das ist die Parallelklasse, die hat Musik bei Frau Lehmann, und man plärrte absichtlich so. Bei Frau Lehmann kann man nur so langgezogen singen, weil sie so schleppend dirigiert.
Der Mann sagte: „Setzen wir uns drüben auf die Bank. Und ich beweise dir, dass ich dein Großvater Paul bin.“
„Ich muss aber nach Hause“, sagte Markus.
„Ein paar Minuten wirst du wohl Zeit haben für einen nahen Verwandten“, antwortete der Mann.
Mit weit ausholenden Schritten ging er auf die Bank zu, die neben einer Linde stand. Vor ein paar Jahren, als die Schule eingeweiht wurde, hatte man sie als zarten Setzling in die Erde gebracht. Viele Linden hatte man gepflanzt, doch nicht alle hatten den strengen Winter jenes Jahres überstanden.
Markus folgte dem Mann, der sein Großvater sein wollte, und auf einmal war ihm, als träume er. Manchmal hat man verrückte Träume, da ist alles möglich, man kann fliegen und spricht perfekt russisch.
Doch das hier war kein Traum.
Er saß neben dem Mann, und der herbe Geruch der Lederjacke drang bis zu ihm. Sein Banknachbar kam ihm nicht mehr so lang vor, vielleicht weil der Mann zusammengekrümmt auf der Bank hockte.
Er entnahm der Brieftasche ein Schwarz-Weiß-Foto, das im Laufe der Zeit bestimmt oft angeguckt worden war, abgegriffen waren die Ecken und das Papier von feinen Rissen durchzogen.
„Schau hin“, sagte der Mann.
Markus erkannte drei Menschen auf dem Foto. Sie standen vor einem Autobus, einer Busart, die er nur vom Hörensagen oder aus alten Zeitschriften kannte, doppelstöckig.
Der Mann wies auf einen Jungen, der in der Mitte stand. Und Markus erkannte seinen Vater Georg, vielleicht so alt wie er heute. Man hätte auch annehmen können, er, Markus, war dort auf dem Foto zu sehen, so groß war die Ähnlichkeit.
„Und hier, wer ist das?“, fragte der Mann.
Es gab keinen Zweifel, das war Oma Renate, nur viel jünger und überhaupt.
„Das ist Oma“, sagte Markus. „Ich kenne auch andere Bilder, auf denen sie so aussieht.“
„Na, siehst du“, sagte der Mann zufrieden. „Das hier ist der Beweis. Schau genau hin.“
Markus brauchte gar nicht so genau hinzuschauen, die dritte Person, die er auf dem Foto sah, war unverkennbar die jüngere Ausgabe des Mannes neben ihm: Die Haltung lässig, eine Hand in die Jackentasche geschoben, die andere umfasste die Schulter des Sohnes Georg.
„Ja, das sind Sie“, sagte Markus, „ist wohl schon sehr lange her?“
„Schon ziemlich lange“, bestätigte der Mann. „Da waren wir in Wandlitz. Ein Ausflug mit dem Bus. Haben wir immer gemacht, wenn ich zu Hause war. Meistens dorthin.“
„In Wandlitz haben wir unseren Garten“, sagte der Junge.
„Ach, sieh an, ihr habt in Wandlitz einen Garten?“
„Oma hat dort auch einen.“
Der Mann lächelte.
„Sind also alle in meiner Ausflugsgegend gelandet. Ist was hängengeblieben von meiner Schwärmerei für den Berliner Norden.“
Markus schwieg, sah auf das Foto, das in der kräftigen Hand des Mannes lag.
„Erkennst du jetzt an, dass ich dein Großvater bin?“, fragte der Mann.
„Ja. Sie sind Paul Stojahn.“
„Dein Großvater“, drängte der Mann.
„Ja, mein Großvater sind Sie also.“
„Bist du, musst du jetzt sagen, bist du.“
„Für mich sind Sie ein fremder Mann, ich kenne Sie doch nicht“, sagte der Junge.
Paul Stojahn seufzte, legte das Foto wieder in seine Brieftasche.
„Ist schon wahr“, sagte er. „Ich bin für dich ein Fremder, aber warum? Muss das sein? Weil man mir so ein Abkommen aufgeschwätzt hat. Verstehst du, so was Unnatürliches. Und ich bin darauf eingegangen. Ich hab eingewilligt und gedacht, die Zeit bringt das in Ordnung.“
Er spreizte die Knie, ließ die Hände baumeln, senkte den Kopf und betrachtete seine Schuhspitzen.
„Ach, warum erzähle ich dir das alles, mache dir den Kopf heiß. Ich schreibe ein paar Zeilen, und die gibst du deinem Vater, meinem Sohn Georg. Sie können darüber nachdenken, und ich meine, es wird schon alles ins Lot kommen.“
Er kramte einen Notizblock aus seiner Tasche, kritzelte ein paar Zeilen auf das Papier, drückte es Markus in die Hand.
„Wirst du das abgeben?“
„Ich gebe es meinem Papa.“
„Richtig. Und deine Mama kann’s auch lesen.“
„Das wird sie“, sagte Markus.
„Ich kenne deine Mama gar nicht“, sagte Paul Stojahn.
„Du kennst Mama nicht?“, fragte der Junge ungläubig.
„Nein.“
„Wo bist du denn die ganze Zeit gewesen?“, fragte der Junge.
„Immer weit weg. In Sibirien zum Beispiel.“
„Sibirien? Das ist wirklich weit.“
„Oder in Afrika.“
„Ist ja noch weiter“, sagte Markus.
„Wie man’s nimmt. Ist eine ziemliche Ecke bis nach Sibirien. Musst mal auf die Landkarte gucken.“
„Aber nach Afrika muss man übers Meer“, sagte Markus.
„Das ist wahr“, gab Paul Stojahn zu.
Der Junge öffnete seine Schultasche und legte den Zettel sorgsam in ein Buch.
„Mama und Papa werden bestimmt staunen“, sagte Markus.
„Hast du’s weit nach Hause?“, fragte Großvater Paul.
„Nein. Zehn Minuten, mehr nicht.“
„Soll ich dich fahren?“
„Haben Sie ein Auto?“
„Ja. Hat dein Papa ein Auto?“
„Einen Trabant haben wir“, sagte Markus.
„Wie geht’s deinem Papa so?“, fragte der Mann. „Aber du sagst ja wieder Sie zu mir. Warst vorhin besser.“
„Papa geht’s gut. Ich glaub schon“, sagte der Junge verwundert.
„Und Oma Renate?“
„Auch gut, was denn sonst“, sagte Markus, überlegte aber im gleichen Augenblick, ob es Oma Renate wirklich gut gehe. Manchmal hat sie’s im Kreuz, dann geht sie schwimmen oder zur Gymnastik, und hin und wieder wird sie in ihrer Klinik „aufgehängt“, wie sie sagt.
„Na, du überlegst ja so“, sagte Paul Stojahn. „Stimmt was nicht?“
„Stimmt alles“, erwiderte Markus.
„Ist Oma Renate noch Krankenschwester?“
„Oberschwester ist sie“, sagte Markus.
„Schau an, tüchtig. War sie ja schon immer“, meinte Paul Stojahn, erhob sich von der Bank, ging zur Straße und blieb vor einem Auto stehen. Der Junge folgte ihm.
Das war vielleicht ein Auto. Es sah grau, blau und grün aus, aber auch gelb und braun waren zu erkennen.
„Dein Auto?“, fragte Markus.
„Ja“, sagte Paul Stojahn und schloss auf, die Tür klemmte, und er musste tüchtig rütteln, um sie zu öffnen.
Paul Stojahn bemerkte den skeptischen Blick seines Enkels. „Schön bunt, mein Auto, was?“
„Fährt das überhaupt?“
„Das Äußere ist nicht wichtig. Was unter der Haube steckt, zählt. Außerdem musst du dir stets die Reifen anschauen, daran erkennst du den Besitzer. Und das hier fährt.“
„Aber ziemlich alt, was?“, sagte Markus.
„Ein paar Jährchen hat’s schon auf dem Buckel. Ich brauch’s ja nur, wenn ich im Lande bin. In Zukunft werd ich’s mehr beanspruchen. Euer Auto sieht anders aus, wie?“
„Ja, immer sauber und überhaupt.“
„Gefällt dir besser?“
„Hab noch nicht darüber nachgedacht. Ist bloß eine Feststellung“, sagte Markus.
„Ich sage immer, ein Auto muss im Innern stimmen. Und da ich ein wenig Ahnung habe, ist unterm Blech alles in Schuss. Setz dich rein. Drehen wir eine Runde.“
Markus zögerte. „Ich hab’s nicht weit, lohnt nicht zu fahren.“
„Es muss ja nicht bis vor die Haustür sein.“
Der Junge schüttelte den Kopf.
„Na schön, wir werden uns ja öfter sehen, hoffe ich jedenfalls. Und wenn ich morgen um die gleiche Zeit wieder hier bin, wirst du dann auch da sein?“
„Morgen haben wir eine Stunde früher Schluss“, sagte Markus.
„Bin ich eine Stunde früher hier“, sagte Paul Stojahn.
„Hast du denn Urlaub?“, wunderte sich der Junge.
„Urlaub? Ja, hab noch den vom letzten Jahr. Bin einfach nicht dazu gekommen, Urlaub zu machen.“
„Jeder hat doch einmal im Jahr Urlaub“, ereiferte sich Markus.
„Ich brauche meine Ferien immer.“
„Hast recht. Bloß manchmal geht’s nicht so, wie man möchte. Da probieren wir zum Beispiel unsere Bagger im Norden Sibiriens aus. Alles ist zwar durchgerechnet, theoretisch, weißt du, aber die Bodenverhältnisse sind doch anders, das Gelände voller Tücken und dazu die Wetterkapriolen. Dann hat man Zeitverlust und muss das Verlorene aufholen. Mit den Jahren habe ich mich daran gewöhnt.“
„Bagger fährst du?“, fragte der Junge.
„Montiere, probiere aus, teste sie unter allen Bedingungen, fahre sie auch eine Weile, lerne Leute an. Unsere Bagger haben es in sich“, sagte Paul Stojahn.
Markus betrachtete das Armaturenbrett. „Du hast ja den Zündschlüssel steckenlassen“, rief er erschrocken.
„Na und?“, fragte der Großvater.
„Kann doch einer einsteigen und einfach davonfahren. Das Auto ist dann über alle Berge.“
„Wer soll schon einsteigen? Gibt’s denn so viele Spitzbuben? Und am helllichten Tage, Markus?“
„Aber so was verleitet zum Diebstahl, sagt mein Papa. Ordnung muss sein.“
„Ach, das sagt dein Papa. Er schließt immer ab, wie?“
„Klar, er geht immer um das Auto herum, rüttelt an den Türen, am Kofferraum. Mama ist manchmal so schusslig und vergisst abzuschließen“, erklärte Markus.
„Und Mama sieht dann ein, dass man nicht so schusslig sein darf.“
„Ach, die sieht gar nichts ein, das ist es ja. Das bringt Papa ganz schön auf die Palme.“
Paul Stojahn lachte schallend. „So also ist deine Mama. Macht sich einfach nichts draus. Ich hab vielleicht eine Schwiegertochter!“
Markus entdeckte ein seltsames Anhängsel am Zündschlüssel. Gewöhnlich befestigt man einen Zündschlüssel an einem Lederfleck oder steckt ihn in eine Ledertasche oder an eine Metallkette mit einem Wappen oder irgendeinem Zeichen, doch an diesem Zündschlüssel hing ein großer Gegenstand – gebogen und sah fast aus wie ein Minidolch.
„Was hängt denn an deinem Zündschlüssel?“, fragte Markus. Paul Stojahn zog den Schlüssel ab und reichte ihn dem Jungen.
„Ist ja ein Zahn“, stellte Markus fest, „von einem großen Tier, wie?
„Der Fangzahn eines afrikanischen Löwen“, sagte der Großvater.
Fast hätte Markus den Zündschlüssel fallen lassen. „Vom Löwen? Von einem richtigen?“
„Ein Stofflöwe war’s nicht.“
„Hast du den geschossen?“
„Das nicht. Hat mir ein Kumpel geschenkt, in Algerien, am Rande der Wüste. Den hab ich auf unserem Bagger ausgebildet. War ein kluger Bursche, hat unheimlich schnell die schwere Technik begriffen. Und zum Abschied schenkte er mir den Zahn. Soll mich beschützen vor Unglück und Gefahr.“
Markus betrachtete den Zahn von allen Seiten und drückte ihn vorsichtig mit der Spitze auf den Handrücken.
„Ja, wenn der Löwe damit zubiss, war Feierabend“, sagte Paul Stojahn.
„Hast du einen Löwen gesehen, in der Wüste oder in der Steppe?“, fragte Markus.
„Nein, hab ich nicht. Ich interessiere mich nicht für die Jagd. Ich kann keine Tiere totschießen. Einmal hab ich einen Löwen brüllen hören. Ich lag im Zelt, und draußen war stockdunkle Nacht.“
„Im Tierpark hat auch mal einer gebrüllt, bloß ganz kurz.“
„Im Tierpark ist der breite Wassergraben zwischen dir und dem Löwen. Aber in der afrikanischen Nacht kannst du das Fürchten bekommen.“
Markus hielt noch immer den Zündschlüssel in der Hand, betrachtete den gelben Fangzahn.
„Jetzt muss ich nach Hause“, sagte er.
Er gab Großvater Paul den Schlüssel zurück, der steckte ihn in das Zündschloss. Der Zahn pendelte hin und her.
„Vergiss nicht, meine Nachricht abzugeben“, mahnte Paul Stojahn.
„Vergesse ich wirklich nicht“, versprach der Junge.
Großvater Paul reichte ihm die Hand, sie war schwielig und fest.
Papa hat auch eine feste Hand, dachte Markus.
„Bis morgen, Markus“, sagte der Großvater.
Der Junge stand vor dem Auto, wäre nun doch gern ein Stückchen mitgefahren, hätte noch gern andere Geschichten von dem Mann gehört, der sein Großvater Paul war.
Der Großvater startete, der Motor brummte tief und kräftig auf und lief dann sehr ruhig.
„Mach’s gut“, rief der Mann. Markus hob leicht die Hand.
Die Wagentür schlug zu, und der Junge fuhr zusammen.
So darf man keine Autotür schließen, das war ihm oft und nachdrücklich erklärt worden. Leicht und leise muss sie ins Schloss fallen, damit das Auto geschont wird.
Doch die Tür von diesem Lada musste man kräftig aufreißen, also musste sie auch mit einem kräftigen Schwung geschlossen werden. Das ist klar wie Kloßbrühe, würde Mama sagen.
Der Wagen fuhr scharf an, befand sich im Nu an der nächsten Kreuzung, bog rechts in die Straße ein.
Mein Gott, der Mann muss Geld und Beziehungen haben – die Reifen! hätte Vater ausgerufen, stünde er hier an Markus’ Stelle.
Und Oma Renate würde düster bemerken: Diese verrückten Raser. Ja, ja, der Rausch der Geschwindigkeit. Nachher liegen sie bei uns. Arme und Beine in Gips, Gesicht zerschrammt. Wenn sie überhaupt noch bei uns liegen …
Mama sähe das ein wenig anders: Manche fahren wie lahme Enten. Sie behindern den Verkehrsfluss. Ein bisschen sportlich muss schon gefahren werden. Sonst kann ich ja laufen und brauche kein Auto. –
Markus bewunderte das rasante Anfahren des bunten Lada. Der kommt an den Ampelkreuzungen gut weg, der ist kein Hindernis für die hinter ihm wartenden Fahrzeuge. Noch eine Weile blickte Markus zu der Kreuzung, an der der Großvater rechts abgebogen war.
Er warf die Schultasche über die Schulter, sie hing an dem Riemen ein bisschen schief, das sah lässiger aus, schließlich wird er in wenigen Wochen schon in der sechsten Klasse sein.
Markus überquerte die Hauptstraße und stand bald vor dem Reihenhaus, in dem die Stojahns wohnten, solange der Junge denken konnte.
Markus hatte seinen Flaschenwegbringe-und-Einkaufstag.
Im Flur auf der Kommode lag der Einkaufszettel, dort war er stets zu finden, und so konnte es keine Ausrede von wegen verlegt geben. So war es auch heute. Der Junge warf einen flüchtigen Blick auf den Zettel, Mutters Schrift war gut zu entziffern. Viele Wünsche hatte sie aufgeschrieben. Er würde in den Regalen in der Kaufhalle suchen und aufpassen müssen. Das war nicht gerade die liebste Beschäftigung für Markus.
Markus überprüfte die Kammer, zwei Körbe mit leeren Flaschen standen bereit, in dem einen die Brause- und Seltersflaschen, in dem anderen die Milch- und Bierflaschen. Das blieb Vaters ständige Aufgabe, und er erledigte sie korrekt.
In seinem Zimmer warf der Junge die Schultasche mit Schwung auf die Couch. Sie federte hoch und riss einen Blumentopf vom Fensterbrett.
Der Junge erschrak. So gut es ging, beseitigte er die Spuren und hoffte, die feuchten Flecke würden bis zum Abend verschwinden.
Die Schultasche war heute zu leicht, das hatte er nicht überlegt. Er hatte überhaupt nicht überlegt, das war es, seine Gedanken waren ganz woanders.
Markus’ Zimmer war nicht sehr groß. Es war mit einer Couch und einem Schreibschrank aus hellem Holz ausgestattet, den Opa Willi aus Prenzlau getischlert hatte, mit einem Kleiderschrank und einem festen Stuhl, auch ein Werk des Großvaters. Trotzdem blieb genügend Platz auf dem Fußboden zum Spielen und Basteln, sogar für Liegestütze und Kopfstand.
Die Sache mit dem Blumentopf hatte Markus vorsichtiger gemacht, und behutsam zog er die Gardine zur Seite. Er blickte auf den Platz hinter dem Haus, auf die Wiese zum Fußballspielen.
Wie erwartet, war alles ruhig, seine Kumpel hatten noch ihre Beschäftigungen. Vor einer Bank, auf der ein Mann saß, zeichnete ein kleiner Junge Figuren in den Sand. Der Mann erinnerte Markus an die Begegnung vor der Schule, an jemand, der Paul Stojahn heißt und sein Großvater ist.
Der Junge holte den zusammengefalteten Zettel aus der Schultasche und wendete ihn hin und her. Die Nachricht war ja in keinem verschlossenen Umschlag und bestimmt kein Geheimnis.
Aber es blieb eins für Markus, denn er konnte das Geschriebene nicht entziffern. Die Schrift war groß und schwungvoll, und doch konnte der Junge nur ein paar Buchstaben erkennen und die Unterschrift Paul. Er legte den Zettel in das oberste Fach seines Schreibschrankes, dort bewahrte er sein Schreibzeug auf. So konnte er die Nachricht nicht vergessen.
Aber Markus hätte den Zettel sowieso nicht vergessen, er dachte immerfort an die Begegnung mit dem Großvater Paul, erinnerte sich vieler Einzelheiten genau.
An Paul Stojahns schwarze Lederjacke zum Beispiel, die von Wind und Wetter und vom vielen Tragen schon arg mitgenommen ist und an der unterschiedliche Knöpfe angenäht sind, zwei glatte und ein angerauter, gewölbter.
Pauls Manchesterhose wird von einem breiten, braunen Ledergürtel zusammengehalten, der mit einem Schloss versehen ist, auf dem ein Büffelkopf prangt.
Halbschuhe trägt dieser Paul auch nicht, sondern hohe, feste blankgewienerte Treter mit dicken Sohlen.
Und über den Rücken der rechten Hand des Mannes zieht sich eine lange Narbe.
Der gelbe Zahn des Löwen aus der fernen afrikanischen Steppe ging Markus ebenfalls nicht aus dem Sinn.
Er holte sich den Globus vom Schrank, stellte ihn auf den Fußboden und legte sich bäuchlings davor.
Die Erdkugel glitt an seinen Augen vorüber. Und Markus sah das Mittelmeer, dann kam die grüne Küste Algeriens, dann braune Berge und dahinter die gelbe weite Wüste.
Markus suchte Europa, und sein Finger glitt über die grüne Tieflandfläche bis zur bräunlichen Uralkette und weiter nach Norden. Wenige Städte waren über eine weite Fläche verstreut.
Der Globus ist nicht groß und verkörpert doch die Erde, auf der er, Markus, lebt, und Mama, und Vater und Großmutter Renate, und, nun weiß er, auch Großvater Paul.
Markus drehte den Globus und vergaß die Zeit.
Doch dann besann er sich, sprang auf und kam seinen Pflichten nach für diesen Tag.
Der Abend verlief wie die meisten im Sommer. Da es lange hell blieb, aß man bei Stojahns nicht zu früh Abendbrot.
Das hatte Frau Sabine durchgesetzt. Sie konnte sich mehr Zeit lassen, musste nach der Arbeit nicht so hetzen.
Vater hatte es nicht weit von seinem Betrieb bis zur Wohnung. Doch Mutter arbeitete in der Innenstadt, und die Geschäfte dort lockten sie und auch die kleinen Cafés am Alexanderplatz.
Für Markus war der Sommerbrauch angenehm, er hatte mehr Zeit, konnte auf dem Fahrrad die vertraute Gegend durchstreifen, am meisten Spaß machte es ihm, durch die weitläufigen Gartenanlagen zu fahren.
Heute aber erwartete er mit Ungeduld das Abendessen.
Die Mutter war erstaunt, als sie ihren Sohn an diesem schönen Sommertag so früh in der Wohnung vorfand. Sie fragte auch gleich: „Was passiert, Markus?“
„Was soll passiert sein?“
„Das frag ich dich ja. Du bist schon oben.“
„Ich hab Hunger.“
„Warum hast du dir keine Schrippe gemacht?“
„Die sind hart.“
„Hättest sie aufbacken können.“
„Zu faul, Mama“, sagte Markus.
Mutter lachte und fuhr ihrem Sohn durch das dichte braune Haar – das hatte er vom Vater.