Die verfluchte Judenstraße - Günter Görlich - E-Book
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Die verfluchte Judenstraße E-Book

Günter Görlich

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Beschreibung

In einem Vorwort zu seinem Buch nimmt der Autor Bezug auf die Zeit des Schreibens: Da ich diese Zeilen zu Papier bringe, im Herbst 1992, ist in Europa Krieg, ist in Asien Krieg, in Afrika. Da ich diese Zeilen schreibe, ist die Welt erschrocken über das Niederbrennen der jüdischen Baracke im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen. Zu Beginn des Jahres 1991 reifte in mir der Plan, eine Geschichte zu schreiben, die nun gedruckt vorliegt. Sie heißt „Die verfluchte Judenstraße“. Diese Geschichte, in der es um Menschliches und Unmenschliches geht – beides liegt im Krieg immer dicht beieinander –, spielt Anfang April 1945 in Görlichs Geburtsstadt Breslau. Einem bitterkalten Winter folgte damals ein sehr warmes Frühjahr. Er habe Erlebtes, so Görlich, als sehr junger Mensch grauenvoll Erlebtes, in die Erzählung hineingenommen, und habe eine ungewöhnliche Liebesgeschichte erfunden, die aber möglich gewesen wäre in dieser wahnsinnigen Zeit. Zugleich fragt der Autor nach dem Sinn und nach den Möglichkeiten von Literatur in der heutigen Zeit. Görlichs Geschichte spielt in Breslau, das mit wenigen Sätzen so charakterisiert wird: Aber weit im Rücken der Front vor Berlin war eine Stadt von den Russen fest eingeschlossen. Sie lag an der Oder und hieß Breslau. Schon seit Februar war sie eingekesselt und durch erbitterte Kämpfe arg zerstört. Die in der Stadt waren, Soldaten, Kinder und Frauen, alte Leute, dachten angstvoll an das nahende Ende. Sie wollten alle leben, überleben. Aber was wird sein, wenn die Russen die Stadt erobern? Vergeltung werden sie üben, Rache nehmen. Dann ist von zwei jungen deutschen Soldaten die Rede, beide waren Söhne von Lokomotivführern und beide waren im Januar siebzehn geworden, die in einem Keller in der Frontlinie im Süden der Stadt hocken - Hans Sawade und Herbert Sommerlatte. Nach ihrer Ablösung erfahren sie von einem besonderen Einsatz, den Oberleutnant Persicke befohlen hat. Aus einer Straße sollen sie dort noch lebende jüdische Mischlinge holen. In mäßigem Tempo fährt ihre Kolonne in Richtung Güterbahnhof. Dort lag die Judenstraße – die verfluchte Judenstraße. In der Wohnung im Haus Nr. 14 entdecken Sawade und Sommerlatte eine alte Frau und ihre Enkelin Eva. Und plötzlich kommt dem Soldaten Sawade das jüdische Mädchen schön vor … Am Ende seines Vorworts schreibt Günter Görlich: „Aber ein Buch, das man liest, fördert die Auseinandersetzung mit sich selbst, es weckt Emotionen. Ich glaube doch an die Möglichkeiten von Literatur.“

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Seitenzahl: 138

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Impressum

Günter Görlich

Die verfluchte Judenstraße

Erzählung

ISBN 978-3-96521-705-8 (E-Book)

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Buch erschien 1992 im SPOTTLESS-Verlag, Berlin.

© 2022 EDITION digital Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.edition-digital.de

Vorwort

Da ich diese Zeilen zu Papier bringe, im Herbst 1992, ist in Europa Krieg, ist in Asien Krieg, in Afrika.

Da ich diese Zeilen schreibe, ist die Welt erschrocken über das Niederbrennen der jüdischen Baracke im ehemaligen Konzentrationslager Sachsenhausen.

Zu Beginn des Jahres 1991 reifte in mir der Plan, eine Geschichte zu schreiben, die nun gedruckt vorliegt.

Sie heißt „Die verfluchte Judenstraße“.

Zu Beginn des Jahres 1991 zogen sich drohend die Kriegswolken am Golf, über dem Nahen Osten zusammen. Ungewissheit herrschte, welches Ausmaß der sich abzeichnende Waffengang zwischen der westlichen Welt und dem Irak annehmen könnte. Stand ein Atomkrieg bevor?

Auf diesem Hintergrund kam mir meine Geschichte in den Sinn, die in den letzten Monaten des bisher furchtbarsten aller Kriege spielt, dem 2. Weltkrieg.

Und der Ort, in dem das Erzählte passiert, ist meine Geburtsstadt, die Stadt Breslau.

Und ich nahm Erlebtes, als sehr junger Mensch grauenvoll Erlebtes, in die Erzählung hinein, und erfand eine ungewöhnliche Liebesgeschichte, die aber möglich gewesen wäre in dieser wahnsinnigen Zeit.

Unmenschliches und Menschliches liegen im Krieg dicht beieinander.

Das Menschliche bleibt meistens auf der Strecke.

Was soll aber so eine Geschichte? Was soll überhaupt Literatur in der heutigen Zeit?

Soll sie mahnen? Soll sie aufrütteln?

Doch seit Monaten ziehen allabendlich die Bilder aus Sarajewo über die Bildschirme, heulen Granaten heran, töten Menschen. Rinnsale von Blut werden deutlich in Farbe abgefilmt. Menschengesichter, verzweifelt und hoffnungslos, dringen auf uns ein. Und das nicht nur von Sarajewo, sondern von zahlreichen Orten unserer Erde.

Und das stumpft ab.

Aber ein Buch, das man liest, fördert die Auseinandersetzung mit sich selbst, es weckt Emotionen.

Ich glaube doch an die Möglichkeiten von Literatur.

Günter Görlich

Berlin, Oktober 92

1. Kapitel

Im Jahre fünfundvierzig dieses Jahrhunderts, Anfang April, wüteten Kriegsbrände in weiten Teilen Europas.

Russische Armeen rückten auf Berlin zu, Amerikaner und Engländer drangen im Westen und Norden Deutschlands vor. Der blutige Krieg näherte sich seinem Ende.

Aber weit im Rücken der Front vor Berlin war eine Stadt von den Russen fest eingeschlossen. Sie lag an der Oder und hieß Breslau. Schon seit Februar war sie eingekesselt und durch erbitterte Kämpfe arg zerstört.

Die in der Stadt waren, Soldaten, Kinder und Frauen, alte Leute, dachten angstvoll an das nahende Ende.

Sie wollten alle leben, überleben. Aber was wird sein, wenn die Russen die Stadt erobern? Vergeltung werden sie üben, Rache nehmen.

An einem frühen Morgen Anfang April hockten zwei junge deutsche Soldaten in einem Keller in der Frontlinie im Süden der Stadt.

Ihre Namen waren Hans Sawade und Herbert Sommerlatte. Gegen sechs sollte ihre Ablösung kommen. Die Nacht war ruhig gewesen. Die Russen, auf der gegenüberliegenden Straßenseite in den Kellern verschanzt, hatten keinen Schuss abgefeuert, keine Handgranate geworfen.

Herbert Sommerlatte sagte zu Hans Sawade: „Die haben was vor. Hoffentlich sind wir schon hinten, wenn's losgeht.“

„Glaub' nicht, dass was losgeht“, antwortete Sawade und spähte aus der mit Sandsäcken geschützten Kellerluke in die graue Morgendämmerung.

„Ist überhaupt ruhig geworden“, sagte Sommerlatte, „in der letzten Woche ist keiner draufgegangen.“

„Halt den Kopf unten, Herbert“, warnte Sawade, „die Scharfschützen haben Langeweile.“

Ausgebrannt waren die Häuser auf der anderen Straßenseite, die Bäume davor hatten Granaten zersplittert. Einer aber war wie durch ein Wunder unversehrt geblieben. Bald werden die ersten zarten Blättchen an seinen Zweigen treiben. Nach einem bitterkalten Winter war ein sehr warmes Frühjahr gekommen.

Hans Sawade kannte die Straße, in der sie den Russen gegenüberlagen. Nicht weit von hier hatte seine Tante Lena gewohnt. Dort war aber schon seit Februar russisches Hinterland.

Wann hatte er Tante Lena das letzte Mal besucht? Im vergangenen Herbst, bevor er ins Wehrertüchtigungslager einrücken musste. Damals färbte sich das Laub an den Bäumen. Die Häuser in der Straße waren heil. Die Stadt war von Luftangriffen verschont geblieben. Bis hier an die Oder reichte der Treibstoff für die Bomber nicht.

Die letzten Monate hatten alles nachgeholt. Gab es überhaupt noch heile Häuser in der Stadt?

Herbert Sommerlattes Kopf mit dem Stahlhelm war nach vorn gesunken. Das Sturmgewehr zwischen den Knien, schlief er an der schmutzigen Kellerwand.

Herbert ist für das Sturmgewehr zu klein. Aber man staunt, was der Kerl wegschleppt an Handgranaten und Munition. Aber gefährlich für Herbert ist, dass er so rasch einnickt. So hat's manchen schon erwischt. Hans Sawade konnte das nicht passieren, er war immer hellwach, wenn sie im Einsatz waren. War das die Angst? Ja, auch. Aber mit der Angst ist das so eine Sache. Andauernd Furcht haben, das geht gar nicht. Das stumpfsinnige Leben an der Front erstickt die Angst. Doch sie flammt immer wieder auf. Am schlimmsten ist, wenn sie zum Fronteinsatz ausrücken müssen aus den Quartieren in der Innenstadt, aus den tiefen Kellern einer Brauerei. Das passiert immer im Morgengrauen. In der Ferne tacken Maschinengewehre, einzelne Schüsse und Detonationen sind zu hören. Leuchtkugeln schweben am Himmel. Schwere Artilleriegeschosse heulen über die Köpfe hinweg.

Und du kannst nichts tun, nichts. Beten vielleicht. Lieber Gott, lass alles gut gehen in den nächsten Stunden. Lass mich am Leben, lieber Gott …

Hans Sawade richtete sich auf, beugte sich vor, wollte einen größeren Abschnitt der Straße überblicken. Er traute der Stille nicht.

Da entdeckte er auf der anderen Straßenseite in einem Kellerfenster den Kopf eines Russen. Der hatte keinen Stahlhelm auf. Der war ihm wohl lästig geworden, oder die Kopfhaut juckte unerträglich. Er hatte helles Haar, bot ein gutes Ziel.

Hans Sawade hob sein Sturmgewehr an. Vielleicht tat der Russe drüben dasselbe mit seiner Maschinenpistole.

Doch dann duckte sich Hans Sawade hinter dem Sandsack. Auf der anderen Seite fiel kein Schuss. Hätte ich abgedrückt, wäre es losgegangen, dachte Hans Sawade. Wer weiß, wen von uns es noch erwischt hätte kurz vor dem Abmarsch in das Hinterland. Der Kolben seines Sturmgewehrs klirrte auf den steinernen Kellerboden.

Herbert Sommerlatte fuhr hoch und packte seine Waffe.

„Was ist los?“, rief er.

„Nichts“, sagte Hans Sawade, „schlaf weiter.“ Herbert Sommerlatte blickte auf seine Uhr.

„Wann kommen die Ärsche von der Ablösung endlich“, schimpfte er, „die Brüder sind nicht von den Strohsäcken hochgekommen. Die haben gestern gesoffen, haben Weiber aufgegabelt.“

„Mensch, Herbert, deine Fantasie möchte ich haben.“

Die beiden Soldaten im Kellerloch wohnten in einer Straße dieser Stadt, in der Patschkauer, in der Eisenbahnersiedlung hinter dem Bahnhof. Ihre Väter waren Lokomotivführer. Seit Monaten wussten die Jungen nichts mehr von ihnen. Die Väter fuhren Kriegstransporte. Waffen, Vieh, Eisenerz, alles Mögliche hatten sie in den Kriegsjahren mit ihren Lokomotiven kreuz und quer durch Europa geschleppt. Die Mütter und Geschwister der beiden konnten im kalten Januar noch die Stadt verlassen, lebten in einem Dorf in den Sudeten.

Die Jungen waren in eine Volksschule gegangen. Später trennten sich ihre Wege. Hans Sawade kam auf die Mittelschule, sollte einen besseren Start ins Leben haben, hoffte seine Mutter. Vor einem Jahr hatte er die Schule mit dem mittleren Reifezeugnis verlassen, verschiedenes gemacht, war Luftwaffenhelfer gewesen. Doch eigentlich hatte er nur auf die Einberufung gewartet. Das war bei allen in seinem Alter so üblich. Herbert Sommerlatte hatte Lokomotivschlosser gelernt.

Im Januar waren Hans und Herbert siebzehn geworden, auch das hatten sie gemeinsam.

Im Februar schloss sich der Ring der russischen Truppen um die Stadt und sie wurde zur Festung erklärt. Hans und Herbert wurden zur „Kampfgruppe Hitlerjugend“ eingezogen, die aus sechzehn- und siebzehnjährigen Jungen bestand. Offiziere und Unteroffiziere waren meistens erfahrene „Frontschweine“, darunter ehemalige Fallschirmjäger. Die Jungen waren gut einsetzbar, sie kannten die Stadt, ihre Straßen, Höfe, verborgenen Gassen, Parks und Schrebergärten. Sie waren hier zu Hause.

Hans Sawade hörte Schritte und Stimmen.

„Ablösung kommt“, sagte er.

Sommerlatte schob den Stahlhelm aus dem Gesicht.

Die Jungen von der zweiten Kompanie schleppten ein leichtes Maschinengewehr und blecherne Munitionskisten.

„Na, ihr Penner. Fünf Minuten vor der Zeit ist des Soldaten Pünktlichkeit“, bemerkte Sommerlatte.

Die beiden Ablöser antworteten nicht.

Oberfeldwebel Mudra betrat hinter ihnen den Keller, Mudra der Fallschirmjäger, Held von Kreta, ihr Zugführer.

„Wie pünktlich wir kommen, bestimme ich. Verstanden, Sommerlatte“, sagte Mudra ohne Schärfe.

„Jawohl, Herr Oberfeldwebel“, antwortete Sommerlatte, blieb aber an der Kellerwand hocken.

Mudra musste im niedrigen Keller den Kopf einziehen. Sein Stahlhelm baumelte am Koppel, die Tarnjacke war ohne Rangabzeichen. Über der Schulter trug Mudra eine Maschinenpistole.

Hans Sawade meldete: „Alles ruhig. Die drüben rühren sich nicht.“

„Vielleicht gruppieren sie um“, überlegte Mudra und spähte aus der Kellerluke.

Mudra zeigt sich ziemlich lange, dachte Hans Sawade. Wie der Russe vorhin, trägt er keinen Stahlhelm. Sein helles Haar muss gut zu erkennen sein. Aber Mudra ist gefeit gegen Kugel und Eisen.

Der Oberfeldwebel meinte, der Keller sei eine günstige Stellung für ein Maschinengewehr. Gutes Schussfeld.

„Wenn die drüben das spitzkriegen, ist hier die Hölle los“, sagte Sommerlatte.

Mudra holte eine Zigarettenpackung aus der Tasche.

„Na, stoßen wir noch eine?“

Er, Sommerlatte und die beiden von der Zweiten rauchten schweigend.

Hans Sawade aber ließ die Straße, die Niemandsland war, nicht aus den Augen.

Mudra wandte sich an die Ablösung: „Wenn die Russen kommen, schießt nicht zu früh. Nerven behalten, Jungs. Sie müssen in der Mitte der Straße sein, dann habt ihr sie auf dem Präsentierteller.“

Nerven behalten, das hört sich ganz gut an, dachte Hans Sawade. Aber wenn die Russen, bevor sie kommen, die hier mit Granatwerfern und Panzerbüchsen eindecken? Dann lauere mal hinter dem Maschinengewehr und warte, bis sie die Straßenmitte erreicht haben.

Aber das waren die Sorgen der Ablösung, Sommerlatte und er hatten sie im Augenblick nicht mehr.

Sie folgten Mudra durch enge, modrige Kellergänge und verließen die Hausruine aus einem hinteren Kellereingang, der durch einen Granateinschlag erweitert war. Ziegelbrocken hingen gefährlich locker über ihren Köpfen.

Der Zug sammelte sich im Hinterhof. Kein Soldat lag steif und stumm unter einer Zeltplane, niemand war zu Schaden gekommen. Die Jungen sehnten sich nach dem Brauereikeller, dem Essenfassen, dem ruhigen Sitzen an rohen Holztischen, sie sehnten sich nach traumlosem Schlaf auf den Strohsäcken.

„Herhören mal“, sagte Mudra, „nach dem Essenfassen ist Appell. Oberleutnant Persicke hat ihn befohlen. Sind für einen besonderen Einsatz vorgesehen. Der Strohsack hat vor euch noch eine Weile Ruhe. Zug Aufstellung nehmen. Kolonne marsch.“

Wie vor zwei Tagen aus der Innenstadt gekommen, zogen sie in lang gezogener Reihe in diese zurück. Im Osten stieg die Sonne auf.

Sommerlatte trottete hinter Hans Sawade.

„Verdammte Scheiße“, schimpfte er leise, „der Persicke hat einen zu laufen. Der macht uns kaputt. Sollen wir wieder am Notflugplatz schippen? Wenn Tiefflieger kommen, putzen sie uns nur so weg auf der freien Fläche.“

Hans Sawade teilte die Befürchtung seines Kameraden. Den Flughafen der Stadt, im Westen gelegen, hatten vor ein paar Wochen die Russen eingenommen. Die Festung war von jeder Versorgung aus der Luft abgeschnitten. Nur noch mit Fallschirmen konnten Munition, Medikamente und Lebensmittel in die Stadt gebracht werden. Oft trieben die Fallschirme ab, gingen im russischen Hinterland nieder. Da hatte der Festungskommandant beschlossen, einen Behelfsflugplatz anzulegen, draußen am Oderstrom, hinter der Kaiserbrücke. Dort mussten die Jungen schon einmal arbeiten, neben russischen Gefangenen, Franzosen und anderem Volk. Eine breite Allee wurde durch Häusersprengungen noch erweitert, planiert und befestigt. Man sagte, dass es dort täglich Tote gab durch Artilleriefeuer und Tiefflieger. Dort draußen konnte man nirgends in Deckung gehen, sich nur flach hinwerfen und warten, bis es vorüber war. Und immer standen einige nicht mehr auf.

Wenn wir dort hin müssen, überlegte Hans Sawade, warum hat Mudra uns nicht vor diesem Einsatz bewahrt. Er nimmt sich doch immer viel raus, auch gegenüber dem Oberleutnant Otto Persicke.

Der Oberleutnant ist kein Frontschwein wie Mudra, hat nur wenige Orden, und wo er die her hat, weiß niemand genau. Persicke war Hitlerjugendführer, ein Höherer im Gau. Mudra, viermal verwundet, hat einen Haufen Orden. Zum Ritterkreuz hat es noch nicht gereicht. Das haben sie ihm noch nicht an den Hals gehängt, weil er zu oft ein großes Maul hatte. Sagte er selber. Seine Orden trägt er nicht, die liegen in seinem Feldbeutel. Wenn er den schüttelt, klirrt es ganz schön.

Aber er könnte doch Persicke den Einsatz auf dem Flugplatz ausreden. Doch Befehl ist Befehl. In einer Festung hat ein Befehl schreckliche Bedeutung. Das wusste Hans Sawade, das wusste jeder.

Der Verpflegungssatz an diesem Morgen war ungewöhnlich. Doppelte Ration Brot, eine halbe harte Wurst, zwei Stück Käse, eine Tafel Fliegerschokolade, Marmelade so viel man wollte, Milchsuppe, in der Butterklumpen schwammen. Sie hockten an den langen Holztischen im Brauereihof, hatten die Schätze vor sich liegen.

„Was hat das bloß zu bedeuten?“, fragte Hans Sawade.

Herbert Sommerlatte löffelte schon den dritten Nachschlag. „Warum fragen?“, sagte er, „erst den Wanst vollschlagen, dann hören, was sie von uns wollen.“

Hans Sawade aber grübelte weiter. Vielleicht sollen sie einen Spezialauftrag übernehmen, wie er einen im Februar erlebt hatte, ein Stoßtruppunternehmen im Hinterland der Russen.

Damals waren sie im Westen der Stadt eingesetzt, dort wo die großen Fabriken liegen, die Waggonfabrik und das Motorenwerk. Ohne Schwierigkeiten waren sie durch Nebenstraßen und Schrebergärten hinter die russischen Linien gekommen. Hans Sawade kannte die Gegend recht gut. Sein Großvater hatte als Stellmacher in der Waggonfabrik gearbeitet, und Hans hatte ihn oft von der Arbeit abgeholt. Er wusste von Abkürzungen und verdeckten Schleichpfaden. Die Jungen hatten Pioniere geführt. Die sprengten in der Waggonfabrik zwei Werkhallen, in denen Munition lagerte. Es entstand ein völliges Durcheinander, die Russen beschossen sich selbst vor Schreck. Das Kommando war von diesem Unternehmen ohne Verluste zurückgekehrt.

Aber das war im Februar, im Süden und Westen trennten die Festung und die Hauptkampflinie nur dreißig bis vierzig Kilometer. Da war noch an Entsatz zu denken. Alle hofften darauf. Doch heute, Anfang April? Die Russen rückten auf Berlin zu. Im Süden waren sie in die Tschechoslowakei eingedrungen.

Zum Appell hatten sie die Stahlhelme aufzusetzen, die Sturmgewehre und die vorgeschriebenen Munitionssätze mitzunehmen. Sturmgepäck und andere Ausrüstung blieben im Brauereikeller.

Die Kompanie nahm in einem offenen Karree Aufstellung. Im Schutz der hohen Brauereigebäude fühlten sich die Jungen ziemlich sicher.

Oberleutnant Persicke trat hastig vor die Front. Er lief in seltsamen Tippelschritten. Er trug eine Uniform, an der alles glänzte, als wolle er zur Parade.

Persicke legte die Hände auf den Rücken. Seine Stimme war schneidend und befehlsgewohnt.

„Kameraden“, rief Oberleutnant Persicke, „unsere Kompanie hat die Ehre und die Pflicht, an einem besonderen Einsatz teilzunehmen. Der Festungskommandant hat ihn befohlen. Im Kampf gegen die bolschewistische Gefahr leistet unsere Festung Übermenschliches. Unsere Kompanie hat Heldenhaftes vollbracht in vorderster Front. Unsere Festung muss durchhalten, damit die große Wende im Endkampf kommen kann, wie unser Führer Adolf Hitler verkündet hat. Damit wir unsere vaterländische Pflicht weiterhin erfüllen können, müssen wir uns vor innerer Zersetzung schützen. In unserer Stadt gibt es noch eine Straße, in der jüdische Mischlinge leben. Sie sind unsere Feinde. Wir müssen sie aus ihren Schlupflöchern herausholen. Dazu ist eine harte, gnadenlose, nationalsozialistische Einstellung nötig. Die verlange ich von jedem. Wir werden die von mir genannte Personengruppe zu einem Sammelpunkt bringen. Was weiter mit ihr geschieht, erfahren wir dort. Wir werden jeden uns gegebenen Befehl ausführen. Widerstand bei Räumung der Häuser wird gebrochen. Dieser Auftrag, davon bin ich überzeugt, wird wie jeder Einsatz an der vordersten Front von uns ausgeführt. Wir handeln für unser deutsches Vaterland, für unseren Führer Adolf Hitler. Rührt euch. Die Zugführer zu mir.“

Die Kolben der Sturmgewehre knallten hart auf das Pflaster des Brauereihofes.

In Hans Sawades Ohr gellte noch Persickes Stimme.

Das also war der besondere Auftrag, dafür die reichliche Verpflegung.

Hans Sawade kannte die Straße. Oft war er durch sie mit dem Fahrrad gefahren, wenn er zu den Großeltern wollte. Die meisten mieden aber die dunkle und besondere Straße. Man wusste, dort lebten Leute, zu denen man keine Verbindung haben durfte. Bei seinen schnellen Durchfahrten hatte Hans Sawade manchmal Frauen, Kinder und alte Männer gesehen, jüngere Männer nie.

Juden waren sie ja nicht, Mischlinge eben.

Hans Sawade hatte noch nie in seinem Leben mit einem richtigen Juden gesprochen. Sie waren das Böse auf der Welt, hatte er in der Schule gehört. Sie waren über die ganze weite Welt verteilt und saugten die Völker aus. Sie waren sehr schlimm, genauso schlimm wie die Russen. Sie waren noch gefährlicher.

In der Familie wurde darüber nicht gesprochen. Hans wusste aber, dass Tante Lena anders über die Juden dachte. Das hatte er einmal bei einem Gespräch zwischen Mutter und Vater aufgeschnappt. Tante Lena war einige Jahre Sekretärin bei einem jüdischen Rechtsanwalt gewesen.

Persicke setzt diesen Einsatz mit den Tagen an der Front gleich. So soll jeder das sehen, und die Befehle werden bedingungslos ausgeführt.

Hans Sawade spürte, wie seine Hand, die den Lauf des Sturmgewehrs umschloss, feucht wurde.

Oberfeldwebel Mudra kam zu seinem Zug zurück.

„Mal herhören“, sagte er, „wir haben die Häuser Nummer 14 bis 17. Immer zwei Mann eine Wohnung. Dass keiner von denen drin bleibt. Und fix muss es gehen, verstanden. Eine Viertelstunde Zeit haben sie, um ein paar Klamotten zusammenzusuchen. Aber kein Mitleid, wenn sie jammern.“

Die Jungen bestiegen offene Lastkraftwagen, die mit laufenden Motoren vor der Brauerei warteten. Eng nebeneinander hockten sie auf den harten Holzbänken.

Hans Sawade schaute nach oben. Leichte Wölkchen trieben über einen blauen Himmel.

Wann kamen die Flugzeuge? So ein Wetter mussten sie doch ausnutzen. Eine Autokolonne bot ein herrliches Ziel für die Bordkanonen. Zusammengesunken saß Herbert Sommerlatte neben Hans Sawade. Schweigend war er zum Lastwagen getrottet, war aufgesessen und hatte immer noch kein Wort gesagt. Selten bei Herbert, dachte Hans Sawade. Auf der Ladefläche des Lastautos wurde kaum gesprochen.

Einer aber sagte: „Wer hätte gedacht, dass noch so viel Judenvolk in der Stadt ist.“