14,99 €
Von hasserfüllten Postings über Facebook bis hin zur Enthüllungsplattform Wikileaks: Die Anonymität ist zu einem zentralen Thema des 21. Jahrhunderts geworden. Wann ist die Geheimhaltung der eigenen Identität berechtigt und notwendig? Und wann wird sie als schützender Mantel missbraucht? Seit jeher, in absoluten Systemen oder Krisenzeiten, kann Anonymität lebensnotwendig sein. Derzeit stellt uns der Balanceakt zwischen dem schützenswerten Recht auf Privatsphäre und dem Bedürfnis nach einem respektvollen Zusammenleben vor neue Herausforderungen. Gerade im Netz zeigt sich die Schattenseite der Namenlosigkeit, in Onlineforen wütet die anonyme Masse. Denn die scheinbare Unsichtbarkeit im Netz enthemmt virtuelle Diskussionen maßgeblich. Ingrid Brodnig, netzpolitische Redakteurin in Wien, hat die Geschichte der Anonymität aufgearbeitet und erklärt, wie das Internet die Debatte nun zusätzlich anheizt. Sie liefert keine einfachen Antworten, sondern brauchbare Vorschläge, wie man sowohl Cyberaktivisten schützen als auch moderne Heckenschützen entwaffnen kann. Mit einem Vorwort von Viktor Mayer-Schönberger, Oxford Internet Institut.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 262
Gedruckt mit Unterstützung der Stadt Wien / MA7 Wissenschafts- und Forschungsförderung
Brodnig, Ingrid: Der unsichtbare Mensch – Wie die Anonymität im Internet unsere Gesellschaft verändert / Ingrid Brodnig Wien: Czernin Verlag, 2014 ISBN 978-3-7076-0484-9
© 2014 Czernin Verlags GmbH, Wien Lektorat: Josef Rabl Umschlaggestaltung: Sensomatic Foto: Heribert Corn Satz: Burghard List Produktion: www.nakadake.at ISBN E-Book: 978-3-7076-0484-9 ISBN Print: 978-3-7076-0483-2
Alle Rechte vorbehalten, auch das der auszugsweisen Wiedergabe in Print- oder elektronischen Medien
Demokratie braucht Debatte. Sie lebt von der Einmischung der Bürgerinnen und Bürger. Ohne diese ist sie verloren; degeneriert zu einem dumpfen Abstimmungsformalismus, in dem das Zählen der Stimmen die Auseinandersetzung um den Kurs der Gesellschaft ersetzt hat. Wahlen sind nicht der Gipfel der Demokratie – der ist, was davor passiert: die persönlichen Gespräche und öffentlichen Debatten, in denen Meinungen nicht nur aufeinandertreffen, sondern durch den Austausch geschärft, aber auch geformt werden.
Damit Demokratie funktioniert, müssen die Menschen offen miteinander reden können, ihre Meinungen auch öffentlich äußern können, ohne Angst. Es mag uns nicht immer bewusst sein, aber jede Meinungsäußerung ist ein Akt von Courage. Denn wer sich äußert, macht sich angreif- und damit verwundbar. Wer sich äußert, legt den Panzer der Indifferenz ab, der die Einzelnen zu schützen scheint, aber die Demokratie unterminiert.
Wenigstens das Grundrecht auf Meinungsfreiheit garantiert uns für unsere geäußerten Ansichten in der Regel, nicht vom Staat verfolgt zu werden. Aber kein Recht der Welt kann diese Verwundbarkeit gänzlich verhindern. Indem wir Stellung beziehen und unseren Standpunkt einnehmen, geben wir anderen die Möglichkeit, uns dafür anzugreifen.
Der Meinungsstreit mit offenem Visier funktioniert freilich nur so lange, wie eine Gesellschaft den Wert erkennt, der in der durchaus auch scharf formulierten Äußerung des Einzelnen liegt. Ist das nicht mehr der Fall, drängt eine Gesellschaft andere Meinungen an den Rand. Dann zwingt sie die kritischen Mitmenschen, ihre Visiere zu schließen, sich nicht mehr kenntlich, sondern nunmehr anonym einzubringen.
Wo Anonymität von immer mehr Menschen als notwendig empfunden wird, ist in Wahrheit der demokratische Prozess in Schieflage geraten und wird seiner Aufgabe nicht mehr gerecht, permissive Plattform für Vielfalt zu sein.
Früher nahmen die Bergleute Kanarienvögel mit, wenn sie unter Tage gingen. Denn die Vögel starben bei vergifteter Luft zuerst. Sie waren ein effektives Frühwarnsystem bei Gefahren im Bergwerk.
Anonymität ist ein effektives Frühwarnsystem unserer Demokratie. Je mehr Menschen gerade auch in digitalen Medien anonym bleiben wollen, desto schlechter geht unsere Gesellschaft mit Meinungsvielfalt um, und desto stärker ist unsere Demokratie in akuter Gefahr.
Denn das Problem ist nicht die Anonymität. Wer glaubt, sie bekämpfen zu müssen, kümmert sich lediglich um das Symptom, und lässt dabei die zugrunde liegende Ursache außer Acht. Dass trotzdem in so vielen Gesellschaften über die Einschränkung, ja das Verbot der Anonymität vor allem in digitalen Medien debattiert wird, zeigt, in welcher Schieflage unser Verständnis von Demokratie bereits ist.
Genau deshalb ist das vorliegende Buch von Ingrid Brodnig so wichtig: weil es um viel mehr geht als um die Frage, ob in Zukunft jemand mit Klarnamen online posten muss oder nicht. Es geht um nichts Geringeres als den Fortbestand unserer Demokratie. Erst wenn die Bürgerinnen und Bürger mit offenem Visier streiten wollen, sind wir als Demokratie am Ziel. Bis dahin erfüllt die Anonymität eine notwendige Funktion in unserer Gesellschaft und verdient in entsprechendem Umfang unsere Achtung.
Viktor Mayer-Schönberger, Oxford Internet Institute
Quelle: xkcd.com
Nehmen wir an, wir würden das Internet heute von Grund auf neu erfinden: Würden wir dann erneut Anonymität einprogrammieren? Oder würden wir das Experiment des anonymen Internets für gescheitert erklären und stattdessen ein Identifikationssystem einführen, bei dem jeder seinen Namen angeben muss, ehe er online irgendetwas tut oder postet?
Was wäre, wenn wir jede einzelne Website, die die Menschheit bisher kreiert hat, neu erfinden würden: Wäre dann erneut überall die Verwendung von Pseudonymen erlaubt? Oder würden viele Seiten die Klarnamenpflicht umsetzen, also vorschreiben, dass alle Mitglieder der Community ihren echten Namen angeben müssen?
Diese Fragen sind gar nicht so absurd, wie sie sich anhören mögen. Das Konzept der anonymen Kommunikation im Web wird immer mehr hinterfragt, sowohl von Bürgern als auch von Staaten. Viele Menschen sind entsetzt, was online unter dem Deckmantel der Anonymität alles geschrieben wird und welche Gemeinheiten verbreitet werden. Gleichzeitig haben Geheimdienste, Staaten und auch Internetkonzerne ein großes Interesse daran, zu wissen, wer sich hinter einem Onlinepseudonym versteckt. Das nützt der nationalen Sicherheit oder auch den eigenen wirtschaftlichen Interessen. Würde heute das Internet komplett neu erfunden, wäre es sehr fraglich, ob wir dann noch gleich viel Anonymität hätten.
Die Anonymität nimmt bereits ab: Der große Erfolg von Facebook erklärt sich auch dadurch, dass man dort unter seinem echten Namen verkehrt. Zunehmend denken große Medien und Onlinedienste über eine Abkehr von der Pseudonymität nach. Im August 2013 kündigte Arianna Huffington, Gründerin der »Huffington Post«, an, dass ihr Onlinemedium anonyme Kommentare verbieten wird. »Die Meinungsfreiheit soll Menschen dienen, die zu ihrer Meinung stehen und die sich nicht hinter der Anonymität verstecken«, erklärte sie, »wir müssen eine Plattform entwickeln, die die Bedürfnisse des erwachsen gewordenen Internets erfüllt.«1
1Darrow, Barb: Huffington Post to end anonymous comments, online unter http://gigaom.com/2013/08/21/huffington-post-to-end-anonymous-comments/ (Stand: 26. September 2013, Übers. ins Deutsche von I. B.).
Das Internet hat sich verändert, es lässt sich nicht mehr von unserem Alltag trennen. Was Menschen online tun und sagen, hat wesentlich mehr Konsequenzen als noch vor 20 Jahren. Das wirft die Frage auf, ob wir online nicht auch mehr Rechenschaft benötigen und weniger Anonymität. Es ist also eine logische Konsequenz des heranreifenden Internets, dass wir nun die Klarnamendebatte führen, dass wir also darüber streiten, ob wir online unseren realen Namen angeben sollen beziehungsweise müssen. In Wahrheit ist aber auch die Klarnamendebatte nur ein Stellvertreterkrieg: Im Kern geht es darum, wie wir das menschliche Miteinander in digitalen Zeiten regeln wollen, wie wir ein Mindestmaß an Respekt wahren können.
Mit Sicherheit braucht es online einen respektvolleren Umgang, weil wir sonst als Gesellschaft die Fähigkeit verlieren, miteinander zu kommunizieren. Dieses Buch ist jedoch keine Brandschrift gegen die Anonymität. Ich plädiere weder für null noch für hundert Prozent Anonymität, sondern für eine komplexere Auseinandersetzung mit diesem Thema. Auch die Forschung zeigt, dass nicht allein die Namenlosigkeit für den Hass und die Respektlosigkeit im Netz verantwortlich ist – sie ist ein Faktor, aber nicht der einzige. Anhand von wissenschaftlichen Studien und konkreten Beispielen werde ich zeigen, wie sich das Gefühl der Unidentifizierbarkeit auf unser Verhalten auswirkt, wie es uns mitunter aggressiver, manchmal auch selbstloser macht.
Anonymität ist im Laufe der Geschichte zu einem Kampfbegriff geworden. Sehr oft geht es bei der Auseinandersetzung damit um ein viel tiefer liegendes Unbehagen am gesellschaftlichen Wandel. Um dies fundiert zu erklären, will ich zunächst den kulturgeschichtlichen Hintergrund beleuchten. In Kapitel 1 beschreibe ich die Geschichte des Wortes »Anonymität«, das über große Teile der Menschheitsgeschichte kaum Beachtung fand. Wie auch? Die meisten Menschen konnten nicht einmal lesen oder schreiben, da war eine korrekte Namensnennung wohl nicht das größte Problem. Mit der Zeit wurde das Thema Anonymität aber emotional aufgeladener, und im 18. und 19. Jahrhundert findet sich so manche Parallele zur gegenwärtigen Klarnamendebatte.
In Kapitel 2 gehe ich dann näher auf diesen Streit ein, erkläre, warum die Anonymität den frühen Internetpionieren so wichtig war und in welchen Fällen die Verhüllung des eigenen Namens auch heute von großer gesellschaftlicher Bedeutung ist. Dabei wird zum Beispiel der chinesische Cyberdissident Michael Anti zu Wort kommen, der sich im Netz eine neue Identität zugelegt hat und dadurch zu einem bedeutenden Kritiker der kommunistischen Führung wurde.
Gerade in einer Zeit, in der manch ein Staat ungeheure Überwachungsapparate aufbaut, ist es doch sehr gewagt, allzu sorglos auf Anonymität und Bürgerrechte zu verzichten. Das muss klargestellt sein, ehe ich in Kapitel 3 ein paar sehr dunkle Orte im Web aufsuche und die Verhaltensweisen des digitalen Mobs beschreibe. Die holländische Künstlerin Tinkebell etwa erhielt 100.000 Hass-Mails, die ihr mit dem Tod, der Vergewaltigung und anderem drohten, nachdem sie ihrer todkranken Katze für ein Kunstprojekt den Hals umgedreht hatte. Beispiele wie dieses und einige wissenschaftliche Studien sollen veranschaulichen, welchen Einfluss die Anonymität auf das menschliche Verhalten hat. Die Untersuchungen manch eines Forschers können auch Phänomene wie den Erfolg der Web-Enzyklopädie Wikipedia oder des Online-Kollektivs Anonymous erklären.
Die wichtigste Erkenntnis ist jedoch, dass Anonymität im Netz tatsächlich zu einem radikaleren Konzept wird. Man ist nicht nur namenlos, sondern auch gesichtslos. David Pogue, der bekannte frühere Technikkolumnist der »New York Times«, erklärte mir in einem Interview: »Online sieht einen niemand, hört einen niemand. Man ist anonym. Wenn man inmitten dieser Abermillionen Stimmen gehört werden will, neigt man dazu, zu schreien, schriller zu werden in seinen Aussagen. Mich betrübt das. Ich wünschte mir zutiefst, Menschen würden online mehr Räson annehmen.«2
2Brodnig, Ingrid: »Online neigt man dazu, schriller zu werden, zu schreien«, in: Falter 38/12, 19. September 2012, S. 24.
Die ausschließlich textbasierte Kommunikation führt zu einem Gefühl der Unsichtbarkeit. Der Gesprächspartner weiß in der Regel nicht, wie man aussieht, wie man spricht, welche Gesten man macht und welchen Gesichtsausdruck man gerade hat. Gerade dieses Fehlen nonverbaler Signale führt dazu, dass Menschen harscher oder ungezügelter werden. Der Augenkontakt zum Beispiel hat eine aggressionshemmende Wirkung, er fördert sozusagen die Empathie. Eine der spannendsten Zukunftsfragen lautet daher: Wie können wir online Signale einbauen, die herkömmliche nonverbale Gesten ersetzen, und somit Menschen ermutigen, freundlicher auf ihr Gegenüber einzugehen?
Es ist nicht egal, ob Menschen online übereinander herfallen oder ob sie konstruktiv bleiben. Denn Hass hat eine extrem ansteckende Wirkung, wie ich in Kapitel 4 schildern werde. Vielerorts ist das Klima tatsächlich verseucht, wobei das oft auch an der Architektur des Webs liegt. Den Websites und ihren Nutzern fehlen die Tools, um die destruktiven User auszublenden und die konstruktiven Stimmen in den Vordergrund zu bringen. Noch.
Es findet nämlich gerade ein Umdenken statt. Immer mehr Medien und Onlinedienste wollen die Störenfriede nicht länger hinnehmen und vor allem auch zeigen, wie viele intelligente und sogar witzige Meinungen man online findet. Damit beschäftige ich mich in Kapitel 5, das konkret der Frage nachgeht, was der Staat, was Websitebetreiber oder jeder Einzelne tun kann, um online den Ton zu verbessern, und welche Rolle die Anonymität dabei spielt.
Wie können wir den Umgangston im Netz verbessern? Die Antwort lautet nicht, die Anonymität abzuschaffen, sondern mehr Verantwortung zu übernehmen. Websitebetreiber müssen sich dafür verantwortlich fühlen, was in ihren digitalen Räumen passiert, und jeder Einzelne muss lernen, seine eigenen Worte ernst zu nehmen und auf seinen Namen stolz zu sein – selbst wenn dieser Name nur ein Pseudonym ist. Das Internet ist auf dem Weg erwachsen zu werden. Teil dieses Prozesses ist, dass wir alle uns die Frage stellen, wie wir uns denn ein faires Miteinander online vorstellen.
Im Netz wird heute leidenschaftlich über Anonymität gestritten, die einen fordern das Ende der Namenlosigkeit, die anderen meinen, dass dies zu Zensur und Selbstzensur führen würde. Es handelt sich um eine der bedeutenden Debatte des 21. Jahrhundert, da es darin im Kern um die Frage geht: Wie soll öffentliche Rede in Zeiten des Internets aussehen?
Interessanterweise ist unsere Vorstellung von Anonymität ein vergleichsweise neues Konzept. Über große Teile der Geschichte war Anonymität kein Thema, weil sie Normalität und damit gar nicht groß der Rede wert war. Gerade in mündlich geprägten Kulturen spielte der eigene Name – und vor allem die Konservierung des eigenen Namens für spätere Generationen – keine große Rolle. Das beste Beispiel dafür ist das Mittelalter: Der Großteil der Bevölkerung konnte weder schreiben noch lesen. Nachnamen wurden erst langsam eingeführt, als die Menschen mobiler wurden.3 Bis auf ganz wenige Ausnahmen legten sogar die gefeierten Dichter keinen großen Wert darauf, ihren Namen für die Nachwelt zu verewigen. Urheberrecht und Autorenschaft waren den Menschen fremd. So schreibt der Minneforscher Harald Haferland: »Wenn die Sänger von Heldendichtung nicht mehr singen, verlieren sie die Rechte an einem Lied, das sie vielleicht selbst schon übernommen haben und dessen Stoff sie allemal zu übernehmen gewohnt sind.«
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!