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Wer am lautesten und aggressivsten auftritt, bekommt am meisten Reichweite. Öffentliche Debatten werden gezielt emotionalisiert, polarisiert und manipuliert, die Stimmung wird dadurch feindseliger. Das ist nicht nur im persönlichen Alltag extrem frustrierend, sondern auch brandgefährlich für unsere Gesellschaft und Demokratie. Bestsellerautorin Ingrid Brodnig zeigt, wie diese Verrohung des Klimas bewusst herbeigeführt wird – zum Beispiel durch Bullshit-Debatten, populistische Diskussionsmuster, Diffamierung und Hetze gegen öffentliche Personen, Fake News und rechtsextreme Kampagnen, angetrieben von Mechanismen sozialer Medien. Sie gibt zahlreiche Tipps und zeigt Strategien, wie wir solche Eskalationsmuster erkennen und mit Klarheit darauf reagieren können. Auch, damit wir wieder Wege finden, respektvoll miteinander zu sprechen und Diskussionen über Meinungsunterschiede hinweg zu führen – online ebenso wie im Umgang mit dem persönlichen Umfeld. Denn davon lebt unsere Demokratie: gemeinsam Lösungen finden zu können. Dieses Buch liefert das Rüstzeug für politisch erhitzte Zeiten. Es hilft uns, selbst einen klaren Kopf zu bewahren, strategisch zu entscheiden, in welche Diskussionen wir Zeit und Energie investieren wollen, und uns selbst politisch nicht entmutigen zu lassen. Und es baut auf der Überzeugung auf, dass jede und jeder Einzelne von uns positiv mitbeeinflussen kann, wie in unserer Gesellschaft miteinander gesprochen wird.
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Seitenzahl: 172
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INGRID BRODNIG
ÜBER DIE GEZIELTE ZERSTÖRUNG ÖFFENTLICHER DEBATTEN
Strategien & Tipps, um auf Emotionalisierung und Fake News besser antworten zu können
Vorwort
KAPITEL 1
Eskalation als Geschäft
KAPITEL 2
Kalkulierte Wut und emotionale Achtsamkeit
KAPITEL 3
Gegen politischen „Bullshit“ – in sozialen Medien und klassischen Medien
KAPITEL 4
Was gegen Spaltung hilft
KAPITEL 5
Rhetorik als Waffe und Reaktionsmöglichkeiten
KAPITEL 6
Die Verzerrung der Realität
KAPITEL 7
Beharrlich für Demokratie eintreten
Quellen und Anmerkungen
Die Autorin
Impressum
Die Rhetorik von Politikerinnen und Politikern kann so ausgerichtet sein, dass sie das Schlechteste aus Menschen herausholt: dass sie Neid, Missgunst, Misstrauen und Schwarz-Weiß-Denken nährt. Wir befinden uns in einer Zeit, in der genau das beobachtbar ist. Mit aufgeladenen Worten fördert politisches Spitzenpersonal, aber auch andere Personen und Interessengruppen eine Spaltung, Social Media wiederum eignet sich gut, um Feindbilder wiederholt zu verbreiten und zu verfestigen. Die Debatte ist dermaßen verroht, da wird zum Beispiel im Deutschen Bundestag behauptet, die Regierung würde Deutschland „hassen“. In Österreich sagt der Chef einer rechtspopulistischen Partei, dass er bereits eine „Fahndungsliste“ erstellt habe – auf der sich die Namen von Politikerinnen und Politikern anderer Parteien finden. Und sogar zu Gewalt kann es kommen, etwa wenn in der Politik tätige Personen physisch angegriffen werden.
Ich schreibe dieses Buch, weil mir diese Situation nicht behagt – und weil ich es für wichtig empfinde, die Methoden zu verstehen, wie politische Diskussionen zur Eskalation gebracht werden. Ich werde deshalb sprachliche Tricks und Mechanismen erklären, mit denen politische Spaltung herbeigeführt wird und mit denen Menschen zum Feindbild gemacht werden. Darunter fallen zum Beispiel der Einsatz emotional aufgeladener, moralischer Worte; die Diskreditierung anderer; die Provokation von Wut; und auch rhetorische Ablenkungsmanöver, um den Fokus von unerwünschten Themen wegzulenken. Solche Tricks führen zu einer verrohten Diskussionskultur, in der vorrangig jene Aufmerksamkeit erhalten, die besonders laut oder derb auftreten. Ebenfalls spielen mediale Mechanismen hier eine Rolle. So verleihen die großen Digitalplattformen in ihrer heutigen Ausrichtung denjenigen, die auf Provokation aus sind, gesteigerte Sichtbarkeit, und auch etablierte Medien ringen mit der Frage, wie sie auf kalkulierte Tabubrüche reagieren können. Zu solchen Fragen können wir aber auch interessante Denkanstöße und Anregungen finden.
Genau darum geht es im zweiten Kernelement des Buchs: Es besteht Grund zur Hoffnung. So gibt es verschiedene Rezepte, um als Gesellschaft sowie als Einzelne auf rhetorische Eskalations- und Ablenkungstaktiken zu antworten und die Verrohung in der Diskussionskultur ein Stück weit zurückzufahren. Ich werde beispielsweise erprobte Ansätze beschreiben, wie Menschen (wieder) besser ins Gespräch kommen können. Oder wie man reagieren kann, wenn nachweisbar etwas Falsches verbreitet wird. Auch finde ich interessant, dass das Appellieren an Empathie etwas bewirken kann. Blickt man näher hin, lassen sich sehr wohl kleinere Kniffe sowie größere Ideen finden, wie man die demokratische Debatte gegen Eskalationsversuche verteidigen und Feindseligkeit verringern kann. Solche Best-Practice-Beispiele werden in diesem Buch erläutert. Am Rande gehe ich auf die Frage ein, wie ein achtsamer Medienkonsum aussehen kann – damit man sich nicht von all den negativen und aufwühlenden Nachrichten in der heutigen Zeit zermürben lässt, sondern Acht gibt auf die eigenen Energiereserven und die einem zur Verfügung stehende Zeit.
Jede und jeder Einzelne hat die Möglichkeit, die Diskussionskultur mitzuprägen, und sei es allein dadurch, dass man nicht selbst in solche Schwarz-Weiß-Fallen im eigenen Denken oder der eigenen Rhetorik tappt. Dieses Buch beschreibt also Methoden der Diskussionszerstörung und liefert Tipps zur Gegenwehr. Eines möchte ich dabei betonen: Auch wenn wir uns hier vorrangig mit einer kommunikativen Analyse beschäftigen, geht es bei diesem Thema selbstverständlich um das Bewahren demokratischer Werte. Denn ein fairer Austausch von Argumenten in einer pluralistischen Demokratie ist nur möglich, wenn wir auf die Art des Umgangs miteinander achten, wenn sich Menschen nicht durch Beleidigungen oder Bedrohungen eingeschüchtert fühlen müssen und wenn wir auch Versuche abwehren, von den großen Herausforderungen unserer Zeit (wie der Bewältigung der Klimakrise) durch rhetorische Nebelgranaten oder dem wiederholten Anzweifeln von Fakten abzulenken. Dieses Buch will ein Rüstzeug geben – zur Abwehr von Spaltungsversuchen und zur Verteidigung fair geführter, demokratischer Diskussionen.
Immer wieder staune ich, wie wenig ausreicht, um hitzig geführte Diskussionen auszulösen. Lassen Sie mich ein Beispiel geben: Im Mai 2023, am Pfingstsamstag, prangt in der Online-Ausgabe der Bild-Zeitung die Schlagzeile: „Nur noch eine Wurst pro Monat für jeden!“ Dazu sieht man eine schön angerichtete Currywurst. Gleich zu Beginn des Artikels warnt Deutschlands größtes Boulevardmedium sein Publikum, „diese Nachricht könnte ihnen das Essen vermiesen.“ Der Anlass: Die Bild hatte in Erfahrung gebracht, dass die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) an neuen Ernährungsempfehlungen arbeitet. Die DGE ist laut eigenen Angaben die „für Deutschland zuständige Wissenschaftliche Fachgesellschaft im Bereich Ernährung“.1 Intern plante sie, die Empfehlungen, wie viel Fleisch Menschen essen sollten, herabzusetzen. Die Bild-Zeitung spricht daraufhin von einem „brisanten Vorschlag zum Fleischkonsum“. Und berichtet, die Fachgesellschaft für Ernährung wolle in Zukunft zehn Gramm Fleisch pro Tag empfehlen: „Das entspricht nicht einmal einer ganzen Scheibe Mortadella (15 Gramm)! Oder anders gesagt: Pro Bürger wäre nur noch eine Currywurst pro Monat drin!“2
Eine wichtige Information zur Einordnung: Die Empfehlungen der DGE sind nicht verpflichtend. Alle Deutschen dürfen weiterhin so viel Currywurst, Mortadella, Döner oder Cevapcici essen, wie es ihnen mundet. Doch das Boulevardblatt nutzt eine Wortwahl, welche bereits die bloße Anregung, weniger Fleisch zu essen, skandalisiert: Vorrangig ist von einem „radikalen Fleischverzicht“ und von einer „neuen Höchstgrenze“ die Rede. Erst später und eher nebenbei wird der klare Hinweis eingebracht, dass sich niemand an die Empfehlungen halten muss, eingebettet ist dieser Hinweis in weitere Kritik. Sie können sich womöglich vorstellen, wie das Thema online diskutiert wird: Auf Facebook schreibt ein User: „Ihr könnt euch 1Wurst im Monat dahinschieben wo die Sonne nicht Scheint“. Auf Google Maps hinterlässt jemand eine negative Bewertung der DGE und meint: „Hilfs und Verbots Verein der Grünen Klimaspinner Sekte !!! Wollen uns das Fleisch essen verbieten ! Was für ein drecks Verein !“
Relevanter ist folgende Reaktion: Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder (CSU) postet diese Geschichte auf Twitter und schreibt dazu: „Warum soll immer alles verboten werden? Was die Menschen essen, sollen sie selber bestimmen. Wir leben in einer Demokratie.“3 Jetzt kocht es weiter hoch: Die einen schimpfen über die DGE, die anderen über Söder. Eine Userin meint: „Ich hasse es, wenn Menschen sich so dumm anstellen!!!“ Ein anderer Account sagt: „Der ewige Populismus-Zirkel: Dinge kommentieren, die eigentlich niemand gesagt hat.“
Letztere Kritik halte ich persönlich für angemessen: Söder stellt ein angebliches Verbot in den Raum, obwohl die DGE gar keine Möglichkeit hat, Menschen etwas zu verbieten. Mit dieser Aussage trägt er zusätzlich zur Aufgeregtheit in dieser Debatte bei. Mich irritiert, dass eine solche Dynamik kein Einzelfall ist: Über soziale Medien und die Berichterstattung in Zeitungen, auch in einflussreichen Blättern, erleben wir vielfach Diskussionen, die von Eskalation geprägt sind – in denen es wenig um Fakten oder um ein Abwägen unterschiedlich ausgerichteter Standpunkte geht, sondern in denen mit Emotionalisierung und politischer Zuspitzung dafür gesorgt wird, dass es rasch zu einer Spaltung in verschiedene Lager kommt. Schlimmstenfalls schadet das unserer Demokratie, denn diese braucht Raum für unaufgeregteren Austausch. Haben wir diesen Raum noch zur Genüge?
Bleiben wir kurz beim eigentlichen Anlass des Zeitungsartikels. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung erwägt, den Menschen künftig weniger Fleischkonsum zu empfehlen. Klar, Ernährung ist ein emotionales Thema, wir alle müssen essen, Essen ist auch eine Genusssache und zu einem gewissen Grad sogar Teil unserer Identität – zum Beispiel verbinden viele von uns mit bestimmten Gerichten schöne Kindheitserinnerungen. Aber eine Fachgesellschaft wie die DGE denkt sich ihre Empfehlungen zur Ernährung nicht aus Jux und Tollerei aus, sondern berücksichtigt medizinische Erkenntnisse und mittlerweile auch Nachhaltigkeitsfragen. Viel Fleisch zu essen, ist einerseits ungesund, und andererseits hat die landwirtschaftliche Tierhaltung leider eine schlechte CO2-Bilanz, verglichen mit der Produktion pflanzlicher Lebensmittel. Ich kann gut nachvollziehen, dass Menschen lieber nicht hören wollen, sie sollen weniger Fleisch essen, denke aber auch: Angesichts der Tatsache, dass es eine Klimakrise gibt (das heißt, die Erde wird heißer und der Mensch verursacht die Erhitzung der Erdoberfläche mit seinen Treibhausgasemissionen), ist es nachvollziehbar, dass wir auch über die Rolle von Ernährung und Landwirtschaft vermehrt nachdenken sollten. Ich bin selbst Fleischesserin und mich beschäftigt zum Beispiel die Frage: Bei welchen Gerichten kann ich Fleisch oder Wurst durch pflanzliche Produkte ersetzen, ohne dass ich einen großen Unterschied merke? Auch ein Politiker wie Markus Söder hätte diese Nachricht nehmen können, um eine ernsthaftere Debatte anzustoßen. Was ist etwa sein politischer Plan, um die Landwirtschaft im eigenen Bundesland zu unterstützen, sich passend auf klimatische Veränderungen vorzubereiten? Nur: Politisch ist es wahrscheinlich einfacher, gegen angeblich drohende Verbote von Fleischkonsum zu poltern, als sich solchen komplexen Sachfragen zu stellen. Und ich fürchte, einige Politikerinnen und Politiker haben auch medial gelernt, dass sich Poltern oft mehr lohnt als Differenzieren – in Form von Likes und Sichtbarkeit.
Ich schreibe dieses Buch, weil ich den Eindruck habe, dass wir derzeit eine Tendenz zum Emotionalisieren und Zuspitzen erleben, unter anderem angetrieben von den Logiken sozialer Medien, aber auch der bewusst spaltenden Rhetorik von rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien und jenen, die diesen Stil nachahmen, aber politisch anderen Lagern angehören. Viele provokante Wortmeldungen verfolgen wohl oft ein Ziel. Ein solches kann sein, ein Thema nicht in seiner Komplexität, in seinen Grautönen zu präsentieren, sondern in einer simpleren Schwarz-Weiß-Optik, die eine Lagerbildung erleichtert. Wir alle müssen aufpassen, in der eigenen Reaktion auf solche Polarisierungsversuche nicht selbst die Grautöne aus dem Blick zu verlieren. Mir erscheint zur Einordnung oft hilfreich, die konkret verwendete Sprache anzusehen und wiederkehrende Muster zu identifizieren, wie Emotionalität begünstigt und Polarisierung erleichtert wird.
Grundsätzlich gilt: Sprache hat einen Effekt. Indem man Signalworte verwendet, kann man dem eigenen Publikum zum Beispiel suggerieren, dass es gleich Gelegenheit für Empörung bekommt. Der Bild-Artikel zum drohenden Fleischverzicht beginnt mit den Worten: „Frühsommer, Sonne, freies Pfingstwochenende – Millionen Deutsche freuen sich aufs Grillen! Doch diese Nachricht könnte ihnen das Essen vermiesen. Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) plant neue Richtlinien für ihre Essens-Empfehlungen. Und will den Bundesbürgern einen radikalen Fleischverzicht nahelegen. Aus einem brisanten internen Dokument zur neuen ‚Lebensmittel-Strategie‘ (…)“
Schon die Einleitung hebt die Nachricht auf eine emotionale Ebene („freuen“, „vermiesen“) und liefert dann wertende Zuschreibungen („radikaler Fleischverzicht“, „brisantes internes Dokument“), wie man sie verstehen könnte. Solche Texte bieten eine Steilvorlage für Aufregung, also dafür, dass sich ein Teil des Publikums lautstark und teils nicht zimperlich in der eigenen Wortwahl zu dem angeblich brisanten Vorfall öffentlich zu Wort meldet. Dieser Text wurde natürlich auf Social Media verbreitet und löste allein auf Facebook fast 1000 Kommentare aus. Die etwas beruhigender klingende und deutlich formulierte Information, dass die Empfehlungen der DGE eben nicht verpflichtend sind, wird, wie schon gesagt, erst nach der emotionalen Einleitung geliefert.4
Allgemein können – und sollten – wir immer fragen: Welche Infos werden in einem Text eher vergraben oder gut kaschiert? Wir wissen nämlich, dass viele Menschen Artikel im Internet nicht so genau lesen, ja dass manche sogar Artikel mit anderen teilen, ohne sie selbst aufgerufen zu haben.5 Bei Online-Medien, die Werbung einblenden und damit Geld verdienen, kann das zu einer Verlockung führen: Man spitzt im Titel und den ersten Zeilen des Textes zu, liefert vielleicht sogar leicht irreführende Headlines, die aber Aufmerksamkeit erregen und gut geklickt werden. Falls dann Kritik folgt, lässt sich als Einwand bringen, dass irgendwo im Artikel die Sachlage beschrieben werde (auch wenn das ein Teil des Publikums nicht mitbekommt).
Sprache ist auch deshalb interessant, weil manche Wörter eine besondere Verbreitungswirkung haben. Nehmen wir zum Beispiel politische Social-Media-Postings. Der US-Psychologe William J. Brady und seine Kollegen analysierten, wie republikanische und demokratische Abgeordnete sowie der republikanische Präsidentschaftskandidat Donald Trump und die demokratische Kandidatin Hillary Clinton auf Twitter in den zwölf Monaten vor der US-Wahl 2016 kommunizierten. Wenn solche politischen Führungsfiguren moralisch-emotionale Sprache in ihren Beiträgen verwendeten, stieg die Wahrscheinlichkeit auf Retweets – also dass viele Menschen diese Beiträge weiterleiteten. Es handelte sich um Begriffe wie „wars“, „blame“, „greed“, „sickening“, „immoral“ oder „protest“, „hate“, „offensive“, „hell“, „abusers“ (Kriege, Schuld, Gier, ekelerregend, unmoralisch, Protest, Hass, anstößig, Hölle, Täter:innen). Bemerkenswert war: Mit jedem zusätzlichen moralisch-emotional aufgeladenen Wort, das Kongressabgeordnete in ihren Postings benutzten, stieg die Anzahl der Shares um zwölf Prozentpunkte. Es schien sich also zu rentieren, viele aufgeladene Begriffe einzustreuen.
Der Effekt war bei republikanischen Abgeordneten stärker messbar, was die Forscher auf eine stärker patriotische und religiöse Sprache in dieser Partei zurückführen. Aber sie bemerkten sowohl bei der Republikanischen als auch der Demokratischen Partei: „Ausdrucksformen von moralischer Wut und (zu einem geringeren Grad) Ekel waren mit einer Zunahme von Retweets sowohl bei Konservativen als auch Liberalen verbunden (…).“6 Im Englischen wird im Rahmen solcher Studien von „Moral Outrage“ gesprochen – also moralischer Entrüstung, bei der Emotionen wie Wut und Ekel zutage treten.
Mehr Reichweite mit aufgeladenen Worten
Wohlgemerkt: Emotionalität oder moralische Entrüstung stellen an sich nicht automatisch ein Problem dar. Wut beispielsweise ist eine wichtige Emotion, auch um demokratische Veränderungen zu erzielen. Wären nicht viele Frauen darüber entrüstet gewesen, dass ihnen das Wahlrecht verweigert wurde, dann hätten wir Frauen bis heute kein Wahlrecht. Und eine Politik, die niemanden aufregt, ist vielleicht auch eine Politik, die viele wichtigen Fragen einfach nicht anspricht. Insofern befinden wir uns als Gesellschaft permanent in einem Prozess des Ausverhandelns, wo Entrüstung angemessen ist oder nicht. Auch sind wir Menschen generell Wesen mit moralischem Kompass: Wir echauffieren uns über vermeintliche Fehltritte und Fouls anderer und warnen damit unser Umfeld vor Widrigkeiten. Ein Team von Forschenden der Universitäten Yale und Harvard berichtete in der New York Times, dass es mehr als eine Erklärung gibt, warum wir Menschen zu moralischer Empörung neigen: „Wir verurteilen Übeltäter:innen, weil wir Fairness und Gerechtigkeit schätzen und weil wir wollen, dass die Welt ein besserer Ort wird. Unsere Entrüstung erscheint in ihrem Wesen selbstlos zu sein.“ Hinzu komme aber noch eine weitere Komponente: Das eigene Entrüsten über die moralischen Verfehlungen anderer kann vorteilhaft sein, weil es den Ruf in der eigenen Community steigert, wenn man Grenzüberschreitungen abmahnt.7
Entrüstung kann also auch Selbstdarstellung oder ein Kalkül sein, um mehr Aufmerksamkeit zu erreichen. Wer sich – wie ich selbst – häufig auf digitalen Plattformen bewegt, hat vielleicht schon bei sich selbst beobachtet: Die Logik sozialer Medien macht es verlockend, schnell mal Moral Outrage, also moralische Entrüstung, über die andere Seite zu zeigen, das fühlt sich gut an und wird von Gleichdenkenden mit Beifall bedacht. Das Spiel mit der Empörung ist potenziell sogar lukrativ: Moral Outrage kann Klicks und damit Werbeeinnahmen bringen, dementsprechend passt das Auslösen moralischer Entrüstung auch zu manch einem Geschäftsmodell. Leider ist es so, dass heutige Medien unter enormem finanziellen Druck stellen, und es kann ganz einfach kostengünstiger sein, aufwühlende Geschichten, die wenig Recherche erfordern, zu publizieren. Auf politischer Ebene wiederum ist der Nutzen von Moral Outrage vielseitig: Man kommt gar nicht erst in die Verlegenheit, eigene inhaltliche Lösungsvorschläge vorzulegen, wie wir am Beispiel von Söders Reaktion auf den DGE-Artikel der Bild gesehen haben. Zweitens wird durch das Appellieren an moralische Entrüstung das Thema weg von der spröderen Sachebene hin auf die Ebene von Überzeugungsfragen gehoben – es geht dann plötzlich auch darum, moralische Werte oder gar die eigene Identität zu verteidigen. Und somit begünstigt, drittens, dieses Ausweichen auf die moralische Ebene eine Lagerbildung. Die Autoren des vielbeachteten Buchs Triggerpunkte, das sich unter anderem mit gesellschaftlichen Reizthemen beschäftigt, verwenden ein treffendes Wort: Sie sprechen von politischen „Polarisierungsunternehmern“, die Themen überhöhen und damit eine Positionierung veranlassen.8
Das führt zu einer wichtigen Dynamik, die Moral Outrage oft vorantreibt. Nehmen wir an, jemand hat das Interesse, bei einem bestimmten Thema konsensorientierte Debatten zu erschweren, um so die Bevölkerung zu spalten. Dann empfiehlt sich das Mittel der „Wir gegen die“-Logik. Deutlich fällt der Einsatz der „Wir gegen die“-Rhetorik bei rechtspopulistischen bis rechtsextremen Parteien auf. Zum Beispiel hielt AfD-Chefin Alice Weidel am 31. Januar 2024 im Deutschen Bundestag eine vielbeachtete Rede. Zu Beginn des Monats hatte hat das Online-Medium Correctiv.org einen Bericht vorgelegt, der zeigte, dass AfD-Mitglieder an einem Geheimtreffen unter anderem mit Rechtsextremen teilnahmen. Dort seien weitreichende Ideen formuliert worden – darunter, dass man nicht nur Ausländerinnen und Ausländer abschieben sollte, sondern sogar Möglichkeiten suchen könne, deutsche Staatsbürger:innen mit Migrationshintergrund aus dem Land zu verdrängen. Es wurde in diesem Zusammenhang von „Remigration“, ein wichtiger Begriff in der rechtsextremen Szene, gesprochen.9 Die Correctiv-Recherche löste eine bemerkenswerte gesellschaftliche Reaktion aus: Vielerorts fanden nach Bekanntwerden des Treffens in ganz Deutschland und in mehreren österreichischen Städten Massenproteste gegen Rechtsextremismus statt.
Vor diesem Hintergrund beginnt Alice Weidel ihre Bundestagsrede, ihre Partei ist eigentlich gerade in der Defensive, aber sie geht prompt in die Offensive. Sie startet mit der Behauptung: „Es brennt in Deutschland.“ Und sie meint, die Regierung „ist der Brandstifter“. Sie nimmt dabei Bezug auf die im gleichen Zeitraum stattfindenden Proteste von Bäurinnen und Bauern und anderer Berufsgruppen und sagt: „Die geschundenen Leistungsträger dieses Landes gehen auf die Straße.“ Diesen Protest stellt Weidel also sehr positiv dar, als legitime Wahrnehmung des Demonstrationsrechts. Doch Weidel kommt auch auf die Proteste gegen Rechtsextremismus zu sprechen. Hier fällt ihr Urteil ganz anders aus: Weidel suggeriert, diese würden das Demonstrationsrecht „pervertieren“, die Regierung würde „gegen die Opposition“ demonstrieren. Die großen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus, an denen zum Teil sogar hunderttausende Menschen teilnahmen, wären nach dieser Logik lediglich ein Spielball der Regierung gewesen. Dann spannt Weidel den Bogen von der Kritik an ihrer Partei zu den Protesten von Bäurinnen und Bauern und Co.: „Wird der Bürger unangenehm, bezeichne ihn als rechtsextrem.“10 Auf X (früher: Twitter) postet Weidels offizieller Kanal dazu passend: „‚Wird der Bürger unangenehm, bezeichne ihn als rechtsextrem: Die Ampel führt eine beispiellose Verleumdungskampagne nicht nur gegen die einzige echte Opposition im #Bundestag, sondern auch gegen die bundesweiten Mittelstands-Proteste.“11 Bleiben wir kurz bei dieser Wortmeldung: Hier werden viele steile Thesen aufgestellt, etwa, dass die AfD die „einzige echte Opposition“ wäre – was ausblendet, dass sehr wohl andere, demokratisch gewählte und regierungskritische Parteien im Bundestag in der Opposition sitzen. Zweitens wird einiges vermengt: Genau genommen sind die Proteste von Mittelstandsgruppen wie Bäurinnen und Bauern und die Enthüllungen des Mediums Correctiv zwei sehr unterschiedliche Themengebiete. Aber indem Weidel diese beiden Themen gemeinsam nennt, deutet sie die Kritik an der AfD kurzerhand zu einem angeblich größeren Angriff auf Opposition und Bürgerinnen und Bürger um. Populistische Rhetorik kann sogar so weit gehen, dass sie suggeriert, Kritik an der Partei oder ihrem Spitzenpersonal wäre ein Ausdruck dessen, dass „das Volk“ kleingehalten wird. So hat der Rechtspopulist Jörg Haider schon in den 1990er-Jahren plakatiert: „Sie sind gegen IHN. Weil ER für EUCH ist.“12
Inhaltlich fundierte Kritik an einem selbst kann abgeschmettert werden, indem man sie als angeblich unfairen Angriff auf eine größere Gruppe umdeutet – und damit eine „Wir gegen die“-Abwehrhaltung befördert. Einige Leserinnen und Leser dieses Buchs wird es nicht überraschen, dass „Wir gegen die“-Gefühle gerade in der verhärteten Rhetorik von Rechtsaußen eine große Rolle spielen. Aber nicht nur dort. Wenn wir für eine sachlichere Diskussionskultur eintreten wollen, dann lohnt es sich generell, die Macht von Gruppengefühlen genauer zu betrachten, ob sie nun der gesellschaftlichen Spaltung dienen oder für mehr Zusammenhalt eingesetzt werden.
Ich habe bisher einige ernste Beispiele gebracht, nun möchte ich eine witzige Anekdote zitieren, die zeigt, wie sehr wir Menschen Gruppentiere sind. Das heißt, es fällt uns sehr leicht, uns (auch unbewusst) bestimmten Gruppen zuzuordnen und mit anderen Gruppenmitgliedern verbunden zu fühlen.
In dem berühmten Science-Fiction-Film Planet der Affen kommt es zur Begegnung eines Astronauten, gespielt von Charlton Heston, mit hochintelligenten Menschenaffen, beispielsweise Orang-Utans, Gorillas und so weiter. Heston berichtete mehrere Male, dass sich bei den Dreharbeiten ein kurioses Phänomen zeigte: In der Mittagspause setzten sich Schauspielerinnen und Schauspieler, die Gorillas darstellten, zu anderen, die ebenfalls ein Gorilla-Kostüm trugen. „Orang-Utans“ hingegen aßen neben den anderen „Orang-Utans“ und so weiter. „Es gab eine Art Selbst-Aufteilung“, erzählte Heston.13 Dabei war es ja eigentlich eher Zufall, wer als Gorilla und wer als Orang-Utan besetzt worden war, auch hatte niemand der Crew angeordnet, sich so in Grüppchen zu teilen. Dieser Vorgang wurde auch bei den Nachfolgefilmen der Planet der Affen-Reihe beobachtet.14
Für die Erklärung solcher Phänomene zieht die Psychologie die Begriffe „In-Group“ (Eigengruppe) und „Out-Group“ (die anderen, die Fremdgruppe) heran. Wir Menschen ordnen uns schnell Eigengruppen zu – wenn ich zum Beispiel im Zug sitze und durch Zufall bemerke, dass die Frau neben mir ebenfalls Journalistin ist, dann sind wir gefühlt die Eigengruppe der Journalistinnen und die anderen sind die Fremdgruppe. Ich selbst sehe mich, je nach Kontext, mal als Journalistin, mal als Mutter, mal als Science-Fiction-Fan, mal als Fleischesserin. Wir Menschen können mühelos Teil unterschiedlicher Eigengruppen sein und auch mühelos hin- und herwechseln, welcher Eigengruppe wir uns gerade zugehörig fühlen.15 Die Frage ist, ab wann der Appell an Gruppengefühle gefährlich wird – ab wann er Spaltung und Zwietracht begünstigt.