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Zahlen, Daten, Fakten, Statistiken und hochkomplexe mathematische Berechnungsmodelle prägen seit jeher die Wirtschaftswissenschaften. Eines bleibt dabei aber völlig unberücksichtigt - der wichtigste Faktor überhaupt: der Mensch, emotional, irrational und mitunter unberechenbar altruistisch. Neue Modelle wie die Neuro-, Verhaltens- oder sogar Glücksökonomie nützen das Wissen aus Fachrichtungen wie Psychologie, Neurologie und Soziologie, um besser zu verstehen, wie der Mensch im Wirtschaftssystem tatsächlich tickt. Hans Bürger, der Volkswirt und TV-Kommentator für Politik und Europa, begibt sich auf eine Reise durch die menschliche Psyche und trifft auf Motive wie Gier, Neid, aber auch auf Fairness und soziales Denken. Eines ist der Mensch jedenfalls nur in den seltensten Fällen: eine fleischgewordene Rechenmaschine, ein rein rationaler Homo oeconomicus. Aber wie verhält er sich in ökonomischen Entscheidungssituationen wirklich? Warum ist er so leicht zu täuschen - auch von sich selbst? Und weshalb sind seine Emotionen nachweislich schneller als seine Gedanken? Durch eine Symbiose aktueller wissenschaftlicher Ansätze gelangt Bürger zur Erkenntnis: Wir sind mehr als nur Wirtschaft. Denn der Mensch ist nicht für die Wirtschaft da, sondern die Wirtschaft für den Menschen.
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Seitenzahl: 335
Hans Bürger
Der vergessene Mensch in der Wirtschaft
Neue Modelle zwischen Gier und Fairness
Hans Bürger
Neue Modelle zwischen Gier und Fairness
Aus Gründen der Lesbarkeit wurde in diesem Buch darauf verzichtet, geschlechtsspezifische Formulierungen zu verwenden. Der Autor möchte jedoch ausdrücklich festhalten, dass die gebrauchten maskulinen Formen für beide Geschlechter zu verstehen sind.
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2. Auflage 2012© 2012 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wien
www.braumueller.at
Coverfoto: orla / istockphotoISBN Printausgabe: 978-3-99100-074-7ISBN E-Book: 978-3-99100-075-4
In Erinnerung an Kurt Rothschild
Vorwort
Einleitung
I. Wie der Mensch nie war – aber aus Sicht der Wirtschaftswissenschaften bis heute ist
Zur Kritik an der Ökonomie
Der kühle Rechner
II. Wie der Mensch wirklich ist
Warum so verhalten? – Die Verhaltensökonomie
Was ist experimentelle Ökonomie?
Das Ultimatum-Spiel
Das Gefangenen-Dilemma
„Wie du mir, so ich dir“ (Tit for tat)
Kopfmensch trifft „Bauchmensch“ und die unsichtbare Ohrfeige
Der Schönheitswettbewerb
Die Willenskraft
Weshalb die Verlustangst stärker ist als die Gewinnfreude
Der Standort bestimmt tatsächlich den Standpunkt
Was ich besitze, gebe ich nicht mehr her
Getäuscht werden
Geldillusion
Der Zufall und der Anker
„Auf den ersten Blick“ – irrational
Eine ökonomische Reise durch unser Gehirn – Die Neuroökonomie
Die frühen Wurzeln der Neuroökonomie oder der Mann mit der Brechstange im Kopf
Der Blick ins Gehirn und die „Wut im Bauch“
Abenteuer im Kopf und Ergebnisse, die unter die Haut gehen
Sieben Milliarden Tests?
Die staatliche Messung des Wohlstandes – Irrwege und „glücklichere“ Ansätze
Der Index für menschliche Entwicklung (HDI – Human Development Index)
Gewichteter Index des Sozialen Fortschritts (WISP – Weighted Index of Social Progress)
Happy Planet Index (HPI)
Der erste Glücksreport der UNO (World Happiness Report)
Der Better Life Index der OECD
Das BIP und mehr (EU-Kommission)
Der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Report
Action for happiness
Als Bhutan beschloss, glücklich zu sein
BIP und Ökologie
Antwortversuche: Weshalb Glück mit Wohlstand nicht mehr mitwächst – Die Glücksökonomie und die Messung der individuellen Lebenszufriedenheit
Wissen wir, was uns glücklich und zufrieden macht?
Die verdeckte Ermittlung – des Glücks
III. Wie der Mensch sein möchte oder die Hürden zum Glück
Von Tretmühlen und Hamsterrädern des Glücks
Strategien gegen die Tretmühlen
Können uns Ökonomen glücklicher machen?
Wachsen aus glücklichen Menschen auch zufriedene Gesellschaften?
Was kann das „Ich“ gegen Irrationalität tun?
Wenn Unternehmen und Staaten Menschen „schubsen“
Arbeit und Muße – Das Missverhältnis
Die Weitermacher
Geld (fast) ohne Arbeit oder: die Geld-Vermehrer
Die Ausgebrannten
Die Getriebenen
Die Lebenskünstler
Arbeit und Sinn, Muße und Traum
Der Sinn des Wirtschaftens oder „Was für den Menschen gut ist, ist für die Wirtschaft gut“
Das gute Leben
„Ohne Ökonomie bin ich nichts“
Wirtschaft mit Sinn
Ein Schluss: Wenn ich weiß, dass ich nichts weiß, muss ich es nicht auch noch ständig sagen
Danksagung
Literaturverzeichnis
Quellenverzeichnis
Der Titel dieses Buches ist eigentlich falsch.
Auf den ersten Blick.
Ökonomen haben den Menschen nicht vergessen, sie haben ihn nicht einmal gesucht und schon gar nicht gefunden.
Eher müsste es heißen: Der falsche Mensch in der Wirtschaft. Oder noch genauer: Das völlig falsche Menschenbild in der Ökonomie. Denn seit dem 19. Jahrhundert wird mit dem Bild eines Menschen gearbeitet, den es in dieser Form nie gegeben hat. Die Hauptrolle auf der Bühne der Ökonomie hat eher eine Art Kunstfigur gespielt. So gesehen hat man doch den Menschen vergessen und mit einer ökonomischen Puppe gearbeitet. Auf den zweiten Blick stimmt der Titel des Buches also wieder.
Auf den zweiten Blick.
Die Ökonomie macht es uns im Grunde seit ihren Anfängen nicht einfach. Die ökonomische Puppe, Homo oeconomicus genannt, wird in vielen mathematischen Formeln und Kurven exakt beschrieben. Demnach handelt dieser Mensch ausschließlich eigeninteressiert und stellt permanent (Eigen-)Nutzen- / Kostenvergleiche an. Er scheint unabhängig von Gefühlsregungen zu sein.
Die seit der zweiten Weltwirtschaftskrise ab 2008 noch mehr unter Beschuss geratenen Ökonomen, die mit diesem Menschenbild arbeiten, schlagen mittlerweile hart zurück und zitieren konservative Ökonomen der alten (Österreichischen) Schule der Nationalökonomie. Nur „Schwachverständige“ könnten ihren Vorwurf, dass es diesen Menschentypen des rationalen kühlen Rechners ja gar nicht gebe, ernst gemeint haben. Das habe man schon selbst gewusst, dass der Homo oeconomicus natürlich NICHT aus Fleisch und Blut existiere und „dass er keinen aus einem Mutterleib geborenen Menschen darstellen sollte, sondern eine aus einer Gedankenretorte erzeugte abstrakte Marionette, mit bloß ein paar menschlichen Zügen ausgestattet.“ (Fritz Machlup, zitiert nach Franz 2004: 3) Aber im Durchschnitt gesehen verhalte sich der Mensch, wenn er in der Wirtschaftswelt handelt, sehr wohl so. Sozial sei er schon gar nicht und es interessiere ihn nur einer: er selbst.
Nun ist die These des rationalen Wirtschaftssubjekts natürlich nicht nur falsch. Dieses Buch soll zeigen, dass die Mechanismen des Marktes – aufbauend auf dem Egoismus der Einzelnen – auf vielen Güter- und Dienstleistungsmärkten hervorragend funktionieren.
Dann stellt sich aber die Frage: Wenn sich diese Märkte immer wieder durch Preise, Löhne, Zinsen und Kurse ins Gleichgewicht bringen, kann es dann Krisen geben, oder gar Weltwirtschaftskrisen?
Ja, kann es. Erstens, weil der Mensch auch andere Seiten hat und nicht nur „im Durchschnitt“ agiert. Zweitens, weil seit einigen Jahrzehnten ein Markt immer dominanter wird: der Markt der Finanzprodukte, auf dem nichts mehr zu greifen ist.
Spätestens jetzt funktionieren viele mathematische Modelle der Mainstream-Ökonomen nicht mehr. Was ist Herdentrieb? Welche Rolle spielen Verlustaversionen? Besitztum-Effekte? Wie-du-mir-so-ich-dir-Verhaltensweisen oder Fairness? Brauchen wir, wenn schon kein neues, dann zumindest ein zusätzliches Menschenbild? Auf jeden Fall ein realistischeres.
Menschen sind keine Märkte. Und Märkte sind keine Menschen. Obwohl angesichts von diversen Politikeraussagen zunehmend daran Zweifel aufkommen: Wir müssen die Märkte bei Laune halten, sonst bestrafen sie uns. / Hoffentlich können wir sie umstimmen, sonst … / Wir brauchen zufriedene Märkte … (vom Autor selbst vernommene Aussagen bei EU-Gipfeln der Staats- und Regierungschefs 2011 und 2012 in Brüssel). Angela Merkel soll laut Protokoll des britischen Historikers Peter Ludlow bei einem Abendessen der EU-Spitzen im Mai 2010 gesagt haben: „Wir haben keine paar Tage mehr […] Wir müssen zeigen, was wir vorhaben, bevor am Montag die Märkte öffnen.“ (ZEIT ONLINE 2012)
Sind wir also verrückt geworden? Wir haben Angst vor Märkten – oder doch Göttern? – und versuchen sie durch politische und ökonomische Handlungen gnädig zu stimmen. Natürlich sitzen vor den Tastaturen und Bildschirmen der Finanzwelt Menschen, die die Märkte bewegen, aber sie machen nur einen Bruchteil der arbeitenden Weltbevölkerung aus. Und vielleicht sind diese wenigen tatsächlich Fleisch und Blut gewordene Ausgaben des Homo oeconomicus.
Trotzdem bleiben noch immer 99,99 Prozent, die es nicht sind. Das ist keine zufällig gewählte Prozentangabe, es sind tatsächlich nicht mehr als einige hunderttausende Finanzmarkt-„Aktivisten“ in den Wertpapierabteilungen der Banken, die die großen Summen bewegen. Also nicht mehr als 0,01 Prozent.
Und endlich erregen auch jene 99,99 Prozent der Menschen das Interesse von Ökonomen. Von Ökonomen, die nicht nur den Dauer-Kalkulierer, Optimierer und Nutzen-Maximierer beschreiben wollen, sondern auch die Innenwelt der „normalen“ Wirtschaftsteilnehmer. Von Menschen wie dir und mir.
Was treibt diese riesige Mehrheit der Menschen an? Wann handeln sie fair, wann nur noch gierig und voller Neid? Wie viele von ihnen sehen vielleicht ebenso nur das rein Ökonomische? Und steigt die Prozentzahl der ausschließlich rational handelnden Menschen damit vielleicht auf zwei, drei oder fünf Prozent?
Das herauszufinden, daran arbeiten diese „anderen“ Wirtschaftsexperten. Sie stehen im Mittelpunkt dieses Buches. Ökonomen, die seit Jahren, einige seit Jahrzehnten, gegen die Vereinfachung der Welt anschreiben. Einer von ihnen war Kurt Rothschild. So sehr hatte ich gehofft, nochmals mit ihm an einem Buchprojekt arbeiten zu können. Als wir gemeinsam „Wie Wirtschaft die Welt bewegt“ erarbeitet haben, war der international anerkannte Doyen der österreichischen Volkswirtschaftslehre 94 Jahre alt. Ein Jahr nach Erscheinen unseres Buches ist Univ.-Prof. Dr. Kurt Rothschild gestorben.
Ihm möchte ich dieses Folgebuch widmen.
Das ist die Geschichte von drei Menschen.
Vom Menschen, der so nie gelebt hat und trotzdem von vielen
Ökonomen als Prototyp angesehen wird.
Vom Menschen, der so ist, wie er wirklich ist.
Vom Menschen, wie er gerne wäre.
Der Mensch hat sich immer im Griff. Er gibt nie mehr Geld aus, als er einnimmt, und hat keinerlei Neidgefühle seinem Nachbarn oder Arbeitskollegen gegenüber. Er vergleicht – bevor er etwas kauft – Preislisten und ersteht das Produkt dort, wo er es am günstigsten bekommt. Er fährt öffentlich, weil er sich ausgerechnet hat, dass der Weg per Auto teurer ist. Auch alle Zusatzkosten werden mit einkalkuliert. Er wechselt sofort den Stromanbieter, wenn ein attraktiverer Konzern auf den Plan tritt. Und selbstverständlich lässt er sich nie und nimmer von Aktienbooms an der Börse mitreißen, um vielleicht überteuerte Wertpapiere zu kaufen.
Ja, genau so ist er, der Mensch. Sagen die meisten Ökonomen. Und wie bereits im Vorwort angeführt, fügen sie mittlerweile gerne hinzu: Nur die Dummen würden sie bewusst missverstehen. Natürlich sei kein Mensch wirklich so, aber im Schnitt, oder sagen wir: Als Recheneinheit sei der Mensch sehr wohl so. Ein andauernd kalkulierendes Wesen, stets auf seinen Kostenvorteil bedacht, egal ob er nun Arbeitnehmer oder Unternehmer ist.
Und weil diesem Irrglauben zwei Jahrhunderte lang noch ein zweiter folgen musste, gehen jene Ökonomen seit fast ebenso langer Zeit davon aus, dass man diesen Durchschnittsmenschen, der sich im Dauergleichgewicht befindet, gleich auf ein ganzes Land übertragen kann. Ein Mensch im Gleichgewicht heißt mehrere Menschen im Gleichgewicht, bedeutet ein ganzes Land im Gleichgewicht. Niemand gibt mehr aus, als er verdient, niemand ist arbeitslos, weil er nur suchen muss, wo es eine Stelle gibt, wenn auch mit etwas geringerem Lohn. Und an den Börsen sorgen die Kurse dafür, dass jeder sein Papier zu einem markterzeugten Preis bekommt. Der Schluss daraus: Genau so müsse man mit dem Staatsbudget verfahren. Nie mehr ausgeben als einnehmen. Und soweit es nur irgendwie geht, alles dem „gerechten“ Markt überlassen. Privatisieren, deregulieren, liberalisieren.
Also alles in bester Ordnung?
Natürlich nicht. Dieses Buch soll sich vor allem einer zentralen Frage widmen: Wenn wir den Menschen anders sehen, nur ein wenig mehr so, wie er wirklich ist, können wir dann herausfinden, weshalb es immer wieder zu Krisen kommt? Denn wenn wir wissen, wie der Mensch wirklich tickt, dann könnten wir doch auch versuchen zu ergründen, wie eine Gruppe von Menschen tickt, und wenn wir das wissen, vielleicht auch, warum ein ganzes Land anders funktioniert, als es die ökonomische Theorie vorsieht. Weil eben auch in den Regierungen, den Parlamenten, ja auch in den Wirtschaftsuniversitäten Menschen und nicht Modelle sitzen. Und wenn wir nur ein wenig mehr über das „Menschliche“ in den Institutionen und über den einzelnen Wirtschaftsteilnehmer in Erfahrung bringen können, gelingt es uns dann vielleicht besser, Länder-, Kontinents- oder Weltkrisen vorauszusagen?
Vermutlich ja. Und genau das soll in diesem Buch „bewiesen“ werden: Es gibt Möglichkeiten der Vorwarnung. Schon vor 2008 hatten Ökonomen die Krise prognostiziert. Aber gehört hat kaum jemand auf sie. Damals zählten sie nicht zum sogenannten „Mainstream“. Heute stehen zumindest einige wenige von ihnen hoch im Kurs.
Was bedeutet das nun für die Wirtschaftswissenschaften?
Eine Wissenschaft, die den Menschen als Maschine definiert, die stets gleich handelt, wenn sie eingeschaltet wird, führt sich auf Dauer ad absurdum. Deshalb wird die Ökonomie der Zukunft keine alleinstehende Wissenschaft mehr sein können. Vor allem Psychologen, Soziologen, Neurowissenschaftler und Historiker könnten – und tun es teilweise bereits – ihr vereintes Wissen in eine „Neue Ökonomie“ einfließen lassen.
„Könnten“ deshalb, weil der Widerstand gegen die „Neuen“ weltweit noch immer enorm groß ist. Aus diesem Grund werden etwa Nobelpreise nach wie vor an traditionelle Ökonomen vergeben (zuletzt 2011). Es wird dauern, bis die neuen Modelle und vor allem Experimente Eingang in alle Universitäten gefunden haben.
Auch wenn es in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts bereits einige Experimente gab wie beispielsweise das UltimatumSpiel. Jemand vergibt 100 Euro an einen Teilnehmer des Experiments mit der Bedingung, er könne den Betrag nur dann zum Teil behalten, wenn er den anderen Teil einem zweiten Mitspieler gebe. Lehnt jener den Betrag jedoch ab, bekommen beide nichts. Was würde ein stets kalkulierender Egoist (Homo oeconomicus) tun? Er würde wohl 1 Euro hergeben, damit er – voraussichtlich – 99 Euro behalten kann.
Was aber haben die realen Teilnehmer in diesem bekannten Experiment gemacht? Der Großteil teilte fifty-fifty. Aus Fairness? Kalkül? Aus welchem Motiv auch immer, die meisten Teilnehmer wollten schlicht und einfach nicht, dass der andere Mitspieler die Summe ablehnt, weil sie ihm als zu gering erscheint. Denn dann wären sie selbst ebenfalls leer ausgegangen. So gesehen waren die Beweggründe mehr einer klaren Strategie als einem vagen Gerechtigkeitsgefühl geschuldet.
Mittlerweile sind solche Experimente dermaßen ausgefeilt, dass sogar die Hirnströme gemessen werden können, die den jeweiligen Entscheidungen zugrunde liegen. Diese Neuroökonomie ist eine der jüngsten Wissenschaften, aber sie nimmt in den wissenschaftlichen Journalen von den USA bis Europa einen derart rasanten Aufstieg, dass auch die Kritiker schon lauter werden: „Sind wir wirklich nicht mehr als unser Gehirn?“, fragen besorgte Soziologen und Philosophen. Einer extrem spannenden Debatte in den kommenden Jahren und Jahrzehnten steht also nichts im Weg.
Grundzüge aus dieser Welt der experimentellen Ökonomie sollen in diesem Buch genauso thematisiert werden wie die Frage nach dem Glück. Geht es wirklich immer nur ums Geld? Seit Ende des 20. Jahrhunderts könnte man davon ausgehen. Die Vertreter des reinen, bewusst „unsozialen“ Kapitalismus, der Soziales ausklammert (siehe Hayek: „Soziales Denken ist Unsinn“), hatten ihre Theorie auf den Gipfel getrieben. Alles sollte dem Denkgebäude des Homo oeconomicus unterworfen werden. Geldanhäufung als Zielfunktion. Rendite, Rendite, Rendite. Wer nicht mitmacht, ist selbst schuld. Und wenn einer nicht mitmachen kann, weil er zu arm oder auch nur zu wenig mutig ist, hat er in der Welt des Finanzkapitalismus, oder auch Kasino-Kapitalismus, wie es schon John Maynard Keynes formuliert hat, ohnehin nichts verloren.
Burn-out-Rekordmeldungen, psychisch bedingte Invaliditäts-Ruhestände, die Tatsache, dass immer mehr Menschen mit Depressionen kämpfen, Jugendliche, die zunehmend über Sinnleere klagen – diese Alarmsignale einer Gesellschaft, in der offenbar vieles nicht im Lot ist, haben nicht bloß die Suche nach dem Glück anstatt nur nach Geld beschleunigt, sondern auch immer mehr Glücksforscher auf den Markt der Gefühle gebracht. Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit der Glücksökonomie beschäftigen, interessiert sowohl, was glücklich macht, als auch die daraus folgende Herausforderung für den Staat: also wie Regierungen das, was angeblich glücklich macht, auch umsetzen, in Politik gießen können. Es muss ja nicht gleich wie in Bhutan sein. Im Himalaya-Staat hat König Jigme Singye Wangchuck 1974 das „Bruttoinlandsglück“ erfunden. Statt Effizienz, Produktivitätssteigerungen und Profitgier regiert dort das Glücklich-Sein – per Verordnung.
Aber auch andere Staaten befassen sich mit der Frage, wie Wohlstand gemessen werden kann. Wirklich nur über die Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts? Ob in Großbritannien oder in Frankreich und mittlerweile auch in Deutschland – die neuen Vermesser des Wohlstandes, teils mit, teils ohne Glücksökonomen, sind unterwegs und beginnen auch die Wirtschaftswissenschaften zu erobern.
Brauche ich das neue Auto wirklich oder neide ich es nur meinem Arbeitskollegen? Warum höre ich auf meinen Bauch und nicht auf meinen Verstand? Warum gehe ich an einem Samstagnachmittag auf Einkaufstour, ohne einen konkreten Konsumwunsch zu verspüren? Arbeit für Verhaltensökonomen, Prestigeforscher, Konsumpsychologen. Auch sie sollen in diesem Buch nicht zu kurz kommen.
Oder liegen wir überhaupt falsch? Messen wir Geld und Arbeit grundsätzlich zu viel Bedeutung bei? Mit Überlegungen darüber soll ein durchaus philosophischer Ausklang gefunden werden. Und nicht mit dem zynischen Ansatz, dass Arbeit nicht wichtig ist – Millionen von Arbeitslosen würde man damit brüskieren. Angesprochen wird das Paradoxon, dass ein nicht unerheblich großer Teil der Gesellschaft so viel und so schnell arbeiten muss, dass die jeweilige Tätigkeit nur noch krank macht, während anderen die Arbeit ausgeht.
Muße statt Gier?
Wir werden sehen.
Krisen haben viele Väter. Gäbe es einen Vaterschaftstest für ökonomische Krisen, könnte es ein Überraschungs-Papa werden: der Ökonom selbst. Nicht der Politiker, nicht der Banker, nicht der Investor … nein: der Wirtschaftswissenschaftler. Bald 250 Jahre lang lehrt seine Zunft bereits den freien Markt. An Universitäten, bei Fachvorträgen in den Sälen der Interessenvertreter, in den Staatskanzleien. Unterbrochen nur von John Maynard Keynes, dessen makroökonomische Lehren für einige Jahrzehnte nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Universitäten erobern konnten. Umso heftiger fiel dann der Gegenschlag der Neoklassiker ab den 1970er-Jahren aus, die in ihrer Allianz mit überzeugten Politikern als die sogenannten „Neoliberalen“ so ziemlich alle Regeln für Märkte niederrissen. Aber eines schafften sie nicht: die große Krise von 2008 / 2009 plus Folgekrisen in ihrer weltweiten Dimension einzuschätzen, geschweige denn sie gar zu prognostizieren. Für derartige Prognosen wären sie aber eigentlich da. Bautechniker, die Brücken sperren lassen, weil sie einsturzgefährdet sind, wissen offenbar, was sie tun. Wirtschaftswissenschaftler der alten Schule sehen sich da vielleicht eher den Erd- und Seebebenforschern verbunden. Auch ein Tsunami ist schwer vorauszusehen. Allerdings gilt sogar das nur noch mit Einschränkungen, die Vorwarnsysteme für Beben funktionieren zumindest manchmal.
Grundsätzlich glauben die Anhänger des freien Marktes seit 250 Jahren an das Gleiche: an das sogenannte „simultane Gleichgewicht“ auf allen Produkt-, Arbeits- und Kapitalmärkten. Das bedeutet, dass alle Wirtschaftssubjekte ein individuelles Gleichgewicht zustande bringen und zwar so, dass das gesamte Angebot auch immer nachgefragt wird. Voraussetzung dafür ist, dass jeder Haushalt seinen Nutzen und jedes Unternehmen seinen Gewinn maximiert. Möglich wird das alles durch sich ständig verändernde Preise, Löhne und Zinssätze.
So weit, so unrealistisch. Märkte sind selbstverständlich nahezu nie im Gleichgewicht. Wie wäre sonst etwa Arbeitslosigkeit erklärbar? Warum ist oft ein Mehr an Arbeitskräften vorhanden, als von den Unternehmen nachgefragt wird? Die Antwort der Neoklassiker ist eine einfache: Runter mit den Löhnen und Unternehmen werden wieder mehr Arbeitskräfte einstellen. Tun sie das wirklich? Tun sie es vor allem dann, wenn vielleicht gerade ihre Branche in der Krise steckt und die Produkte ohnehin schon viel schwieriger abgesetzt werden als in den Jahren zuvor? Nehmen sie dann neue Mitarbeiter auf? Mitnichten. Sinkende Löhne führen dazu, dass die Mitarbeiter des betroffenen Konzerns weniger Kaufkraft haben, was wiederum Nachfragerückgänge in anderen Branchen bedingt. Mögliche Folgen: Auch dort kommt es zu Lohnsenkungen und / oder zu Kündigungen von Mitarbeitern.
Ein weiteres Hauptargument konservativer Ökonomen: Der Markt sei eben nicht frei, denn wäre er wirklich frei, vor allem von Eingriffen des Staates, dann würde er auch funktionieren. Eine gewagte These. Und sie stimmt durchaus auf bestimmten Güter- und Dienstleistungsmärkten. Auf den Finanzmärkten ist sie grundfalsch. Diese Märkte unterliegen kaum staatlichen oder globalen Regeln. Und haben sie sich selbst zurück ins Gleichgewicht gebracht? Mitnichten.
„Diese Volkswirtschaftslehre hat die intellektuelle Basis für die Deregulierungsbewegung geliefert“, sagt Nobelpreisträger Joseph Stiglitz (2010b). Tatsächlich geht die alte, klassische Wirtschaftstheorie davon aus, dass jeder Mensch, der ausschließlich seine eigennützigen Interessen verfolgt, dem Wohlstand der Gesamtheit dient. Wenn der Bäcker seine Semmeln bäckt und dabei einen Gewinn erzielt, dann erzielt nicht nur er einen Gewinn, sondern viele Menschen werden satt (allerdings nur jene, die sich den Kauf leisten können, was aber in der Theorie nie dazugesagt wird). So hat es Adam Smith 1776 beschrieben. Damit der Bäcker nicht zu viel Gewinn für sich herausschlägt, also einen ungerechtfertigt hohen Preis verlangt, gibt es den Wettbewerb und alles wird für alle gut.
Unglaublich eigentlich, dass sogar mitten in der zweiten Weltwirtschaftskrise noch immer die meisten Ökonomen an Milchmädchenrechnungen wie diese glauben.
Wenn Bäcker Banker sind und Semmeln Risikopapiere – was ist dann? Gigantische Profite, die der Allgemeinheit zugutegekommen sind? Der Allgemeinheit? Bemerkt hat diese es jedenfalls nicht. Oder ist die „unsichtbare Hand“ des Adam Smith, die für diese vielen Gleichgewichte sorgen sollte, nur deshalb unsichtbar, weil es sie vielleicht nie gegeben hat? (Stiglitz 2002)
Mit dem Aufstieg des Finanzkapitalismus, als Geld großteils aufgehört hat, im Zusammenhang mit Waren oder Dienstleistungen zu stehen, sondern Geld wieder Geld geschaffen hat, gelten all die Regeln der alten ökonomischen Theorie noch viel weniger, als sie ohnehin je gegolten haben. Dieser „neue Finanzsektor“ mit seinen teils irrwitzigen Produkten, die abgesehen von ihren Erfindern ohnehin kaum noch jemand versteht, kommt übrigens in all den schönen Modellwelten der sogenannten „Mainstream“-Ökonomen gar nicht vor. Wie überhaupt Banken in der Ökonomie fehlen. (Gaulhofer 2010)
Ein weiterer Nobelpreisträger, ebenfalls ein Mainstream-Ökonom, Robert Lucas, hatte um die Jahrtausendwende Rezessionen noch für unbedeutend erklärt. „Wirtschaftsabschwünge richten langfristig so geringe Schäden an, dass sich die Wirtschaftspolitik nicht darum kümmern muss. Die Volkswirtschaftslehre hat das zentrale Problem, wie Depressionen verhindern, gelöst.“ (Storbeck 2010)
Dabei war man schon einmal viel weiter. In den 1950er- und 1960er-Jahren glaubte man durchaus daran – auch in der Wissenschaft –, dass man nicht von der Mikroökonomie auf die Gesamtwirtschaft, vom Einzelfall auf das Gesamtergebnis schließen kann. Am besten bringt diese keynesianische Erkenntnis Kurt Rothschild auf den Punkt. „Wenn Sie im Theater in der 17. Reihe sitzen und aufstehen, um besser zu sehen, dann ist das gut für Sie. Wenn alle aufstehen, sieht niemand etwas, und es ist schlecht für alle.“ (Bürger, Rothschild 2009)
Wie muss also eine Ökonomie der Zukunft aussehen, wenn sie sich von allem Bisherigen unterscheiden soll? Auf jeden Fall werden sich Wirtschaftswissenschaftler genauer damit beschäftigen müssen, wie Menschen ihre Entscheidungen wirklich treffen. Abseits alter, verstaubter Modelle. Sie werden herausfinden müssen, was zur Welt der undurchschaubaren Finanzprodukte geführt hat. Wirklich die Gier? Vielleicht auch der Wettbewerb einiger Mathematikstudenten? Und wie haben diese Entwicklungen die Welt der Realwirtschaft, also die der Güter und Dienstleistungen, beeinflusst?
Welche Rolle spielen Vertrauen, Unsicherheit und Irrationalität? Um Antworten auf diese Fragen zu finden, müssen Feldversuche und Fallstudien durchgeführt werden, nicht zu vergessen die virtuelle Reise ins menschliche Gehirn. Die Anwendung der für die Wirtschaftswissenschaften neuen Methoden wird unumgänglich sein.
Nur diese Rückbesinnung der gescheiterten Naturwissenschaft „Ökonomie“ kann zu einer Humanwissenschaft „Ökonomie plus“ führen.
Beginnen wir dort, wo alles angefangen hat: beim Homo oeconomicus. Natürlich gibt es ihn nicht! Damit verteidigen sich, wie angeführt, heute Wirtschaftswissenschaftler, die von allen Seiten angegriffen werden.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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