UND STATT ODER - Hans Bürger - E-Book

UND STATT ODER E-Book

Hans Bürger

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Beschreibung

Die Polarisierung in der Gesellschaft und auf Schwarz-Weiß-Denken reduzierte Debatten nehmen zu. Flüchtlingswellen, eine Pandemie, staatlich verordnete Corona-Maßnahmen, neue für undenkbar gehaltene Kriege - auch in Europa-, Teuerungswellen und neue Armut in manchen Bevölkerungsschichten, die heftige Diskussion über sexuelle Identitäten oder das ebenso intensive Aufeinanderprallen der Standpunkte beim Gendern, all das und noch viel mehr hat für diese Entwicklung gesorgt. Man fühlt Unbehaglichkeit, Debatten werden immer bedrohlicher geführt, heftige Anschuldigungen ersetzen den vernünftigen Austausch. Hinzu kommt, dass man für Andersdenkende immer weniger Tolerenz aufbringt. Dieser Essay soll eine Ermunterung sein, sich nach einem Jahrzehnt Unversöhnlichkeit eines kleinen Wörtchens mit größem, verbindendem Charakter zu besinnen, UND wäre so eine Möglichkeit. Statt des so ausweglosen Entweder-Oder.

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Inhalt

Ein Vorwort

oder von der morbiden Schönheit der SPALTPILZE

Wo findet Polarisierung statt?

1Das schwierige Leben mit Grautönen

Von Autoritäten, Erziehung, Freiheitsbegriffen und Polarisierungen in der Gesellschaft

Von dem, was der Bürger wirklich denkt, und einer Politik, die nicht immer so handelt

Vom Guten und vom Bösen

Was sollte man nun von einer breiteren grauen Mitte erwarten können?

Weltvernetzt oder isoliert – von Finanz- und Casinokapitalismus und der Lebensrealität der Menschen

Grau statt bunt, weshalb sich das Unbeliebte durchgesetzt hat – eine Philosophie der Farbenlehre

Philosophie und Farbenlehre

Das Problem der Vieldeutigkeit

Die Ambiguitätstoleranz

Aufhalten und aushalten, nicht ungehalten

Ja, aber

2Menschsein in der Grauzone – ist ein gutes Leben mitten in Unsicherheit und Vieldeutigkeit je erlernbar?

Herzensbildung

„Non vitae sed scholae discimus“ –„Nicht fürs Leben, für die Schule lernen wir“

Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr

Von Glück, Sinn und Weisheit

HerzensBILDUNG?

3Schwarz-Weiß-Denken – von Informationsangst und Verweigerung

Informationsangst und Verweigerung

Im Netz: teilen ja, lesen nein

Das Vertrauen-Angst-Denken

Grau ist Arbeit.

Wer nicht für mich ist, ist gegen mich,

Wer schwarz-weiß denkt, hält den Kompromiss immer für faul, ein Nebeneinander für sinnlos und ein Miteinander für ausgeschlossen

Das Ganz-oder-gar-nicht-Denken

Schwarz-Weiß-Denken in der Ökonomie

Wenn Schwarz-Weiß-Denken auf die Seele drückt

4Von Wutauslösern, Kipp -und Triggerpunkten

Alles ist möglich – schon immer ein dummer Denkfehler

Polarisierung. Polarisierung! Polarisierung!! – Stimmtdiese Zuschreibung überhaupt?

Oben – Unten (Wohlstandsverteilung durch den Staat, ja oder nein?)

Getriggert

Ungleichbehandlungen

Normalitätsverstöße

Entgrenzungsbefürchtungen

Verhaltenszumutungen

Die Erforschung der Polarisierung – noch in den Kinderschuhen

Zuwanderung

Ukrainekrieg

COVID-19-Pandemie

Klimawandel

Sozialleistungen und ihre Finanzierung

Sexuelle Minderheiten

5Der eigene Verstand oder der Versuch eines Resümees

BINÄR?

Ist das Glas halb voll, halb leer oder ganz voll?

Endnoten

Impressum

Ein Vorwort

oder von der morbiden Schönheit der SPALTPILZE

UND!

Dieses kleine Wörtchen verbindet. Und lässt Raum. Es steht am „guten“ Ende des heute so viel diskutierten Schwarz-Weiß-Denkens, der Kompromisslosigkeit, des Entweder-oder. UND ist wie GRAU. Wie die „graue“ Mitte zwischen Schwarz und Weiß.

UND ist vielleicht auch zwischen links und rechts – geografisch zwischen Nord- und Südpol, also dort, wo sich das Sein ereignet. Und doch hat die Gesellschaft offenbar ihre Liebe zu den Polen entdeckt. In der Qualität ihrer Diskussionskultur.

Die Polarisierung schreitet voran, man fühlt Unbehaglichkeit, Debatten werden immer bedrohlicher geführt. Und das, was kaum für möglich gehalten worden war, in Wahlkämpfen wird gegen Vertreterinnen und Vertreter der Politik sogar Gewalt angewendet.

Doch was hat dazu geführt?

Auch die SPALTPILZE.

Dazu ein kurzer Ausflug in die Biologie: „(Spalt-)­Pilze beeindrucken mich immer wieder auf überraschend neue Weise. Im vorliegenden Fall sprießt aus dem Stamm eines gesundheitlich bereits angeschlagenen Baums ein ganzes Bündel eines Pilzes hervor, das wie ein üppiger Blumenstrauß wirkt und den Ernst der Situation zu konterkarieren scheint. Im näheren Umfeld hat bereits die Trockenheit der letzten Jahre gewütet und einen Kahlschlag bewirkt. Der stehen gebliebene Baum war wohl so etwas wie die Hoffnung eines Neuanfangs. Nun zeigt sich mit aller Zwiespältigkeit der wuchernden Schönheit, dass auch für diesen Baum – trotz des Schmucks – die Zukunft fragwürdig geworden ist“1, schreibt der deutsche Physiker, emeritierte Hochschullehrer und Fachdidaktiker Hans-Joachim Schlichting unter dem Titel „Morbide Schönheit“. Und weiter: „Vieles Schöne findet im Verborgenen statt und zeigt, dass es gar nicht als etwas Schönes gedacht war. Erst dadurch, dass ein Mensch es zu Gesicht bekommt, wird es zum Schönen …“2oder „… in der Natur als Pilz, der sich durch Spaltung verbreitet und den Rest der Welt in Ruhe lässt“3.

Jene Spaltpilze, um die es in diesem Essay gehen soll, werden jedoch weder im Verborgenen zum Schönen noch lassen sie den Rest der Welt in Ruhe. So, wie wir Spaltpilze heute verstehen, schicken sie sich eher immer mehr dazu an, ganze Gesellschaften zu zerstören.

Gemeint sind die Spaltpilze der Gesellschaft, wobei sie zum Gedeihen eine Lücke, ein gutes Wachstumsumfeld und möglichst viel Dunkelheit brauchen (ganz wie ihre biologischen Urahnen). Spaltpilze sind also lange Zeit im Verborgenen, wenn sie dann plötzlich sichtbar werden, ist es meist zu spät. Denn irgendwann ist es ein Spaltpilz zu viel.

Gesellschaftliche Spaltpilze können Politikerinnen oder Politiker sein, Manager, Interessensvertreterinnen, Superreiche, Unverschämte, Eitle im weiten Netz der süchtigen Sensationsempfänger, Künstlerinnen und Künstler, Personen aus der Wissenschaft und der Forschung, auch Ländervertreter mit schönen Stimmen in auffallenden Kostümen bei einem Eurovision Song Contest, Spitzensportlerinnen oder, um zumindest einen Namen zu nennen, Menschen wie Donald Trump.

Diktatoren und Kriegsherren wollen wir beiseitelassen. Auch mit europäischen oder gar deutschen und österreichischen Funktionsträgern in Parteien wollen wir so verfahren, weil es in diesem Essay nicht um Politik gehen soll. Eher um Soziologisches, vielleicht sogar Philosophisches.

Letztlich hat jede und jeder das Zeug zum Spaltpilz, wenn es ihr/ihm nur gelingt, Aufmerksamkeit zu erregen, ins Licht zu geraten, die Scheinwerfer für befristete Zeit geliehen – von den schrillen Medien dieser Zeit. Aber eigentlich soll sich dieses Büchlein gar nicht um die Spaltpilze selbst drehen. Vielmehr wollen wir die Reaktionen auf Spaltpilze der Gesellschaft in den Fokus nehmen. Warum schaffen es bestimmte Personen oder ganze Parteien und Interessensvertretungen immer heftigere Reaktionen in immer größeren Bevölkerungsgruppen auszulösen? In sozialen und unsozialen Netzwerken, in den klassischen elektronischen Medien, bei Großveranstaltungen, nach wie vor bei Stammtischen und – gerade rund um die Coronamaßnahmen – in Freundeskreisen und sogar innerhalb von Familien.

Es sind Risse entstanden. Große und kleine. In nicht wenigen Fällen unkittbar.

Spaltpilze haben diese Risse ausgelöst und zu dem geführt, worum es in diesem Essay gehen wird: um das Schwarz-Weiß-Denken. Um das Entweder-oder.

Dieses Schwarz-Weiß-Denken nimmt mit steigender Anzahl an „Spaltpilzen“ in der Gesellschaft zu. Die breite Mitte der Grautöne wird kleiner. In folgender, selbstverständlich nur beispielhafter, grafischer Darstellung habe ich versucht, die Grundthese dieses Buches zu veranschaulichen.

In der oberen Grafik hält die „graue Mitte“ der Gesellschaft (Grauzone), in der eine mehr oder weniger ausgeprägte Debattenkultur noch möglich ist, 70 Prozent, die Ränder – eben Schwarz oder Weiß – jeweils 15 Prozent. Der Anteil von sogenannten „Schwarz-Weiß“-Denkern beträgt also 30 Prozent.

In der unteren Grafik hat sich die Stimmungslage gedreht. Mehrere Ereignisse mit „Spaltpilz“-Charakter haben dazu geführt, dass mehr Menschen nur noch in schwarzen oder weißen Mustern denken. Kompromisse lehnen sie ab, die Welt – zu einem speziellen Thema – ist nur noch so oder eben nicht so. Jetzt haben die Schwarz-Weiß-­Denker die Mehrheit. 60 Prozent der Gesellschaft sind nicht mehr bereit, mit den Andersdenkenden zu kommunizieren, deren Argumente für sie uninteressant. Der jeweils eigene Standpunkt ist klar, eindeutig und unveränderbar. Dummes Gerede oder gar harte Kritik der anderen Seite am eigenen Standpunkt verhärtet diesen nur noch.

Die „graue Mitte“ der Gesellschaft, in der mithilfe der Vernunft Standpunkte zwar aneinanderprallen, aber zumindest diskutiert werden, schrumpft auf 40 Prozent und stellt gegenüber den Schwarz-Weiß-Denkenden nun die Minderheit.

Das sind vorerst frei erfundene Größen und Zahlen, sie sollen lediglich eine vorherrschende Tendenz veranschaulichen. Empirische Daten dazu finden sich in Kapitel 4.

Und irgendwann war es ein Spaltpilz zu viel. Wann war das? Was diesen Zeitpunkt betrifft, gehen die Meinungen und Ansichten auseinander. Dennoch soll hier folgende Behauptung aufgestellt werden.

Manche Aussagen zur Flüchtlingswelle in Europa ab 2015 haben den (Spaltpilz-)Anstoß für die erste deutliche Zunahme einer sich polarisierenden Gesellschaft und für das daraus ­folgende Entweder-oder beziehungsweise das Schwarz-Weiß-Denken gegeben. Alles Gesagte und Angedeutete rund um die COVID-19-Pandemie war dann wohl dieser eine Spaltpilz zu viel, der die Meinungsströme im Fass der möglichen Debattenkultur – also aus der Grauzone heraus – zum Überlaufen gebracht hat. In Richtung Schwarz oder Weiß. Ein Denken, auf das es sich so angenehm zurückziehen lässt.

Als Kevin Dutton, Psychologieprofessor an der Universität Oxford, 2012 sein Buch „Psychopathen – Was man von Heiligen, Anwälten und Serienmördern lernen kann“veröffentlicht, ist die Aufregung groß. Er selbst habe, wie er in einem Interview verrät, erst später verstanden, dass er mit diesem Buch, das auf einer großen Umfrage in Großbritannien basiert, „die Kategorien in den Köpfen der Menschen durcheinandergebracht“4habe. Denn die Menschen würden es bevorzugen, Dinge in kleine Boxen zu stecken und klare Grenzen zu ziehen. Hier die Guten, dort die Bösen – also auch die Psychopathen. Im selben Interview, das anlässlich des Erscheinens seines Buches „Schwarz. Weiß. Denken! – Warum wir ticken, wie wir ticken, und wie uns die Evolution manipulierbar macht“ (2021) geführt wurde, sagt er: „Wenn unsere prähistorischen Vorfahren ihres Wegs gingen und dabei plötzlich einen Ast sahen, der einer Schlange ähnelte, sprangen sie einfach weg. Warum? Weil es besser ist, falsch zu liegen und umsonst weggesprungen zu sein, als stehen zu bleiben und womöglich gebissen zu werden. Sie haben den Ast als Schlange stereotypisiert, ihn einer Kategorie zugeordnet. Das ist kein Problem, man kann die Gefühle des Asts nicht verletzen. Unsere Gehirne funktionieren allerdings immer noch so und diese Instant-Kategorisierung wird zu einem echten Problem, wenn wir sie auf unsere Mitmenschen anwenden.“5

In diesem Essay soll aufgezeigt werden, warum trotz aller Bemühungen, die Debattenkultur in der modernen Gesellschaft auszuweiten und gleichzeitig qualitativ zu verbessern, diese „Kultur“ irgendwann an ihre Grenzen gestoßen ist. So wie der „gute Mensch“ mit seiner Haupteigenschaft der großen Toleranz gegenüber Andersdenkenden oder Menschen mit anderer Hautfarbe, Religion, Herkunft und politischer Einstellung in immer größer werdenden Teilen der Gesellschaft zum „Gutmenschen“ verkehrt worden ist, war in dieser Gruppe die gute Debattenkultur zum Vorwurf der „Political Correctness“ mutiert. Seit 2016 wird auch der Begriff „Cancel Culture“ verwendet, der Versuch, eine Art allgemeingültiges Fehlverhalten, beleidigende oder diskriminierende Aussagen oder Handlungen, meist in den sozialen Medien und häufig von Prominenten, öffentlich zu ächten. Es kann zu einem völligen sozialenAusschluss von Personen oder ganzen Organisationen kommen, wenn der Vorwurf rassistischer, antisemitischer, verschwörungsideologischer, frauenverachtender, homophober oder zuletzt auch transphober Aussagen in Teilen der Gesellschaft gegriffen hat.

Die Gegenreaktion: Ihr betreibt ja eine Zensur-Kultur, ihr politisch Korrekten!

Die einen stehen auf der ihrer Ansicht ganz sicher „guten“, die anderen auf der bösen Seite. Und umgekehrt. Schwarz oder Weiß. Die Grauzone der kultivierten verbalen Auseinandersetzung, des Annehmens von Argumenten der jeweils anderen Gruppe, ist verlassen worden.

Wo findet Polarisierung statt?

Die Antwort ist einfach. In immer mehr Gesellschaftsbereichen. Die folgende Aufzählung soll einen kleinen Überblick geben, ohne den Anspruch der Vollständigkeit zu erheben.

Coronapandemie: Maßnahmengegner, Impfgegner oder Maßnahmenbefürworter, später Impfbefürworter.

Migration/Flüchtlinge: Willkommenskultur oder Abwehrhaltung.

Ukrainekrieg: Gegen Putins Russland oder zwar kaum ein „für“ Putin, aber doch für einen Erklärungsversuch dafür, was Putin zu diesem Krieg gegen die Ukraine veranlasst haben könnte.

Auch in vielen anderen Lebensbereichen hat die Rückkehr in diese Denkweise Platz gegriffen:

Plurale sexuelle Identitäten – dafür oder dagegen

Gendern in der Sprache – dafür oder dagegen

Klimawandel/Klimaschutz – dafür oder dagegen

Verbrenner-Autos – dafür oder dagegen

Europa/EU – dafür oder dagegen

Kosmopolitisch oder national

Globalisierung oder Re-Regionalisierung

Kritikerinnen und Kritiker dieses Pessimismus, die Welt werde immer gespaltener, wenden ein, was denn daran neu sein solle. Das gesamte politische System sei von – gefühlt – schon ewig währendem Links-Rechts-­Denken- und -Wählen geprägt. Und ebenso verhalte es sich mit Arbeitgebern und Arbeitnehmerinnen. Mit Arm und Reich. Mit Oben und Unten. Und als ob es nicht auch schon jahrzehntelang einen BVB-Dortmund gegen den FC Bayern, ein Rapid Wien gegen Austria Wien, ein Österreich gegen Deutschland oder auch nur ein Bayern gegen Norddeutschland oder die österreichischen Bundesländer gegen die Bundeshauptstadt Wien gebe, ein Westen gegen Osten, Nord gegen Süd und, und, und.

Diesen Argumenten ist wohl schwer etwas entgegenzusetzen.

Wirklich nicht?

Ich denke schon. Denn wie wir festgestellt haben, betrifft das Schwarz-Weiß-Denken immer mehr Lebensbereiche. Und nicht nur jene, in denen jahrzehntelang diese Art zu denken vorherrschend war.

Und auch wenn das einige Sozialwissenschaftlerinnen und Soziologen für nicht zulässig erachten (wir werden beim Thema „Triggerpunkte“ näher auf sie eingehen), weil empirisch nicht bewiesen, kann man auch folgende These aufstellen: Die jeweiligen Denkweisen lassen sich auf der jeweiligen Seite des Schwarz-Weiß-Denkens durchaus zusammenfassen. Hinzu kommt, dass sich von Jahr zu Jahr mehr Haltungen zu bestimmten Themenbereichen zusammenfügen lassen. Und immer wieder sind auch neue Aufsummierungen von Sichtweisen dabei. Das eine in den „schwarzen“ Block, das andere in den „weißen“. Das eine Richtung Weiß, das andere Richtung Schwarz. Selbst die Autoren des Buches „Triggerpunkte“, die diese „Verschmelzung“ innerhalb der jeweiligen Meinungsblöcke eigentlich ablehnen, stellen sie zumindest am Beginn ihrer Analyse einander so gegenüber:

Hier die Migrationsoffenen, Rassismus scharf Verurteilenden, diverse Lebensformen wertschätzenden, EU-freundlichen Umweltschützenden.

Da die Antigenderanhänger, Wohlstandchauvinisten, Migrationsgegner und Fleisch-Konsumierer.

Jedoch seien diese einzelnen Themengruppen, argumentiert das deutsche Autorentrio Mau/Lux/­Westheuser im Verlauf ihres Buches „Triggerpunkte“, viel loser verknüpft als in der Zwei-Welten-Theorie angenommen. Das würden auch ältere Studien belegen. Aber kann man „alte“ Studien für ein derartiges Resümee wirklich heranziehen? Ich bezweifle das.

Die Welt der Polarisierung, ja Spaltung, dreht sich bedauerlicherweise keineswegs mit konstanter Geschwindigkeit, sondern mit jedem neu dazustoßenden „Triggerpunkt“ schneller und schneller. Jeder „neue Aufreger“ lässt sich dem einen oder dem anderen Block zuteilen.

Nehmen wir die neue Kommunikationswelt. Lassen wir deren Entwicklerinnen und Entwicklern weiterhin freien Lauf, oder sagt die Gesellschaft irgendwann „Stopp“? Für mich ist es eines der größten Rätsel in der jüngeren Menschheitsgeschichte, dass dieses „Stopp“ nicht schon längst erfolgt ist.

Jugendliche, die zwischen 12 und 13 Stunden am Tag vor und an ihren Geräten hängen, um sich in der virtuellen Welt der (Video-)spiele online wüst gegenseitig zu beschimpfen oder in den diversen hoch technisierten Kommunikationskanälen mehr von sich zu zeigen, als ihnen im späteren Erwachsenleben mit ziemlicher Sicherheit lieb sein wird. Mittlerweile eine Art Normalzustand, der vielen Erwachsenen nicht mehr gefällt, vor allem, wenn sie betroffene Eltern sind, aber irgendwann ist in fast allen Familien der Widerstand gebrochen – und selbst ist man ebenso selten ein Vorbild, man starrt im Schnitt 30–40-mal am Tag auf das Smartphone, Jugendliche liegen bei einem Wert von mehr als 80-mal.

Auch hier passt wenig zwischen die virtuelle Welt der Zukunftsgeneration und der analogen Welt der (ganz) Alten. Fortschrittsanhänger oder Fortschrittsverweigerer. Wobei es längst nicht nur ein „Jung gegen Alt“ ist. Immer öfter ist die Ü-60-Generation technikaffiner als je eine Generation der „Alten“ zuvor.

Nicht nur die Kommunikation zwischen uns allen hat sich in den vergangenen Jahrzehnten vermillionenfacht, auch die Sprache atmet in immer höherem Tempo mit – nicht nur wegen der Geschwindigkeit des Sprechens, neue Ausdrücke lagern sich in unser Denken, Schreiben und Aussprechen ein, nicht immer wissen alle, was das Gegenüber eigentlich genau meint.

In die größer werdende Verwirrung zwischen Künstlicher Intelligenz und virtueller Halbrealität gesellt sich also noch eine neue Verirrung in Worten.

Dieser Essay soll eine Ermunterung sein, sich nach einem Jahrzehnt Unversöhnlichkeit in immer breiteren Bevölkerungsschichten eines kleinen Wörtchens mit großem, verbindendem Charakter zu besinnen. Jenes Wörtchens, das Sätze, Gliedsätze und Satzglieder miteinander verbindet, warum denn nicht auch Menschen und Gesellschaftsgruppen. Werden wir uns dieses Wörtchens wieder bewusst: UND statt Entweder-oder.

1

Das schwierige Leben mit Grautönen

Was machte bis Anfang des 16. Jahrhunderts ein Menschenleben aus?

Stark vereinfacht formuliert war jeder Mensch in eine Kultur, eine Gemeinschaft, eine Religion und letztlich in eine Art Rangordnung hineingeboren worden. Die Antworten auf spätere Sinnfragen waren schon vor dem ersten Blick in diese Welt gegeben. Dafür sorgten schließlich Gott, die Kirchenvertreter auf Erden, Eltern, deren Stand und der Geburtsort.

Ab 1517 entwickelte sich mit Martin Luther die Reformation, die westliche Kirche war gespalten. Ein Vierteljahrhundert später verortete Nikolaus Kopernikus die Sonne statt der Erde als Mittelpunkt unseres Sonnensystems. Die Vorstellung von der Welt änderte sich. Erstmals musste sich der Mensch damit befassen, was denn nun sei, wenn alles infrage gestellt werde. Die ersten zarten Pflänzchen der Hinwendung zum Ich sprossen. Geprägt von enormer Unsicherheit.

Wer bin ich. Wozu bin ich?

Was ist der Sinn des Ganzen?

Von Autoritäten, Erziehung, Freiheitsbegriffen und Polarisierungen in der Gesellschaft

Einige Jahrhunderte danach beschreibt der kanadische Politikwissenschaftler und Philosoph Charles Taylor die spätere Neuzeit als „Wurzel für die Ratlosigkeit der Moderne“6. Die kosmische Ordnung wird hinterfragt, auf das Ich reduziert. Taylor spricht von einer Verengung des Lebens.

Wie soll eine Gesellschaft funktionieren, wenn nur noch der Blick auf das eigene Ich und der damit einhergehende Wunsch nach Selbstverwirklichung zählen?

Aus der Nationalökonomie kennen wir das sogenannte „Pareto-Optimum“ (aufgekommen Ende des 19. Jahrhunderts, nach dem italienischen Ökonomen und Soziologen Vilfredo Pareto benannt). Dieser gesellschaftliche, eben optimale (Wohlfahrts-)zustand ist dann gegeben, wenn niemand sein eigenes Wohlstandsniveau verbessern kann. Würde es ein Individuum dennoch tun, würde automatisch mindestens ein anderes Individuum gegenüber dem bisher gesamt gesehenen optimalen Zustand schlechter gestellt sein. Bis zu diesem Optimum kann also jedes Individuum sein Leben verbessern, die eigene gesellschaftliche Situation durch Umverteilung der Ressourcen erhöhen. Geht man allerdings über diese Grenze hinaus, weil einen etwa die Gier ohne Rücksicht auf Verluste (anderer) antreibt, dann kann man zwar seine eigene Wohlfahrt weiter erhöhen, aber ab diesem Punkt nur noch auf Kosten eines anderen und damit letztlich auf Kosten der Gesellschaft, deren Wohlstand sich durch die auf Egoismus basierende Aktion verringert. Das Pareto-Optimum, der Grundstein der modernen Wohlfahrtsökonomie, besagt: Von einer Steigerung der Wohlfahrt kann strikt nur dann gesprochen werden, wenn der Nutzen zumindest eines Individuums erhöht wird, ohne ein anderes schlechter zu stellen.

Woran sollte man sich also damals am Beginn der Neuzeit orientieren, wenn diese kosmische Weltordnung – Gott, Kirche, Hierarchien – wegfiel? Eine erste Grauzone der Gesellschaft?