Der Vorweiner - Bov Bjerg - E-Book

Der Vorweiner E-Book

Bov Bjerg

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Beschreibung

Der neue große Roman des Bestsellerautors von "Auerhaus" und "Serpentinen"  Resteuropa, Ende des Jahrhunderts. Bürgerkriege und Naturkatastrophen haben die Welt verwüstet. Eine dicke Schicht Beton hebt den Rumpfkontinent über den steigenden Meeresspiegel. In den Auffanglagern Neuschwanstein und Neulübeck versammeln sich dänische, ghanaische oder niederländische Geflüchtete. Einer von ihnen ist Jan.   Mit nichts am Leib tritt er in die Dienste von A. wie Anna. Für sie war es höchste Zeit, sich einen Trauergastarbeiter zuzulegen.   Tränen bringen Prestige, und nur wer über einen fähigen Vorweiner verfügt, um den wird am Ende überzeugend geweint. Zu echter Trauer ist ohnehin niemand mehr in der Lage. Auch nicht B. wie Berta, Annas Tochter. Berta ist die Erzählerin und das lidlose Auge unserer Geschichte. Und wie sie erzählt: furios, komisch und ohne Mitleid.   Bov Bjergs neuer Roman ist ein kühner Wurf: barock wie ein Menuett, gegenwärtig wie ein Liveticker, fernsichtig wie eine Vorhersage. Und mit absolutem Gehör für Sprache und ihre Möglichkeiten komponiert. Der Vorweiner ist ein preiswürdiges Erzählkunstwerk über eine Welt, die in Staunen versetzt.

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Der Vorweiner

Der Autor

Bov Bjerg, geboren 1965, ist Schriftsteller und Vorleser. Sein erster Roman hieß »Deadline«, sein zweiter, »Auerhaus«, wurde verfilmt und von vielen Theatern inszeniert. Eine Geschichtensammlung erschien unter dem Titel »Die Modernisierung meiner Mutter«.Mit »Serpentinen« war Bov Bjerg auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2020.

Das Buch

Resteuropa, Ende des 21. Jahrhunderts. Bürgerkriege und Naturkatastrophen haben das alte Europa verwüstet. Ein riesiger Betonblock schützt den verbliebenen Rumpfkontinent. In den Auffanglagern Neuschwanstein und Neulübeck versammeln sich dänische, ghanaische oder niederländische Geflüchtete. Einer von ihnen ist Jan.Mit nichts am Leib tritt er in die Dienste von A. wie Anna. Für sie war es höchste Zeit, sich einen Trauergastarbeiter zuzulegen. Denn Trauer ist Arbeit, wird sie ausgelagert an die Mittellosen, müssen die Angehörigen keine Tränen vergießen. Mehr noch, sie sind dazu gar nicht mehr in der Lage. So auch B. wie Berta, Annas Tochter. Berta ist die Erzählerin und das lidlose Auge dieser Geschichte. Und wie sie erzählt: furios, komisch und ohne Mitleid.

Bov Bjerg

Der Vorweiner

Roman

Ullstein

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© 2023 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinLektorat: Gunnar CynybulkAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Anke FeselUmschlagmotiv: istockphoto / CSA ImagesAutorenfoto: © Gerald von ForisE-Book powered by pepyrus

ISBN 978-3-8437-3018-1

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Inhalt

Der Autor / Das Buch

Titelseite

Impressum

Kapitel 2,

welches, da es einen vortrefflichen Eindruck der vollständigen Geschichte zu vermitteln vermag, an erster Stelle steht. Anna kittet ein Fenster, Frau Bartel stellt ihre Nacktschnecken vor. Ort: Bartels Garten (mit Lagerfeuer!)

Kapitel 3,

worin wir Berta kennenlernen, also mich. Berta macht nicht alles. Berta hat einen Hund. Das erste Kapitel folgt bald, keine Panik.

Erstes Kapitel,

worin endlich gezeigt wird, wie alles beginnt. Anna sucht sich doch noch einen Vorweiner. Am Rande wird berichtet, wie Resteuropa gerettet wurde, damals.

Kapitel 4,

worin ein pinker Bote Pizza bringt. Ein grüner Bote bringt einen Brief vom Amt. Vom Amt!

Kapitel 5,

worin Anna tatsächlich zum ersten Mal Stamppot isst. Der Groninger Martiniturm, erfahren wir, ragt noch stets aus der Ostwestsee.

Kapitel 6,

worin Berta die Zerstreuungsfeier der Kanzlerin (viel zu früh verstorben) betrachtet. Pizzapete postuliert, Briefe schreibe man nicht.

Kapitel 7,

worin Anna mit den Freundinnen eine Bootspartie unternimmt. Muntere Konversation, sogar von Eisschollen ist die Rede.

Kapitel 8,

worin der Betäuber dann endlich doch noch Feierabend hat. Er bereitet das Frühstück und tobt.

Kapitel 9,

worin Pizzapete eine Formulierung Bertas anzweifelt und damit fast einen Streit vom Zaun bricht. Berta allerdings entschärft elegant die Situation.

Kapitel 10,

worin Anna sehr, sehr kleine Kartoffeln ausgräbt. In einer ganz anderen Sache jedoch macht Bartel ihr tatsächlich ein wenig Hoffnung.

Kapitel 11,

worin Berta wahrscheinlich reich wird – durch Arbeit! Beim Zappen durch Zerstreuungsfeiern erlebt sie eine faustdicke Überraschung.

Kapitel 12,

worin Annas Vorweiner sich undankbar zeigt. Anna muss ihn leider des Hauses verweisen.

Kapitel 13,

worin wir einiges über Bertas Mutter erfahren (reichlich spät).

Kapitel 14,

worin Berta Pizzapete verdeutlicht, was er will.

Kapitel 15,

worin Anna mit mehreren Männern im Auto singt. Dann rasen sie gemeinsam hinüber ins nasse Westresteuropa.

Kapitel 16,

worin eine Sau nicht zu Wurst wird.

Kapitel 17,

worin ein Pärchen in den Keller geht zum Lachen. Ein Komödiant (unsterblich) macht sich lustig.

Kapitel 18,

worin Anna es beinahe bis nach Beteigeuze schafft (oder wie das heißt).

Kapitel 19,

worin die Regengrenze auf die Küstenkante trifft. Berta verändert den Status ihrer Beziehung.

Kapitel 20,

worin Anna doch noch die Kontrolle verliert. Lebensinhalt ist ein seltsames Wort.

Kapitel 21,

worin bereits gezeigt wird, wie die Geschichte nach dem Ende der Geschichte weiterschreitet.

Kapitel 22

Kapitel 23,

worin Berta voller Schwermut eine lange Nachricht verfasst.

Letztes Kapitel,

worin Berta sich endlich keine Sorgen mehr macht. Es summt.

WEITERFÜHRENDE LITERATUR

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Kapitel 2,

Kapitel 2,

welches, da es einen vortrefflichen Eindruck der vollständigen Geschichte zu vermitteln vermag, an erster Stelle steht. Anna kittet ein Fenster, Frau Bartel stellt ihre Nacktschnecken vor. Ort: Bartels Garten (mit Lagerfeuer!)

(Alkoholkonsum, Rauchen, Gewalt gegen Weichtiere)

Als sie nach dem kurzen Winter wieder auf Bartels Datsche hinauskutschierten, herrschte ein ganz formidables Wetter. Sonntagswetter nannte man diesen wolkenlosen knallblauen Himmel, und seit vielen Jahren war jeder Tag ein Sonntag, seit vielen Jahren herrschte das gleiche prächtige Wetter, herrschte wolkenlos und knallblau der gleiche prächtige Himmel, vom Aufstieg der Sonne am Morgen bis zu ihrem Versinken am Abend herrschte wolkenlos und knallblau der gleiche prächtige Himmel, nur ganz gelegentlich verschleiert durch die Rauchschlieren der Steppen- und der Restwaldbrände.

Die Sonnenpfeile stachen durch die Baumkronen und bohrten in den Sandweg helle Tupfen. Licht und Schatten wechselten schnell und strengten A. wie Anna an, strengten ihre Augen an und noch mehr ihr Gehirn, das Mühe hatte, aus dem konfettihaften Flackern etwas Erkennbares, etwas wenigstens entfernt Bekanntes herauszufiltern. Doch den Fuß nahm Anna nicht vom Pedal.

Zwischen den hellen Klecksen lag bewegungslos ein dunkler Ball, mitten auf der Fahrbahn. Ein Gürteltier?

Es war zu spät, einen Bogen zu nehmen. Anna hielt auf die Kugel zu und nahm sie zwischen die Räder. Die Kugel verschwand unter dem Chassis.

Sie tauchte im Rückspiegel wieder auf, rollte sich auseinander, stand kurz da, für einen Moment, ein Halbrund auf kurzen Stelzen, dann verschwand das Tier mit schnellen Trippelschritten im Unterholz.

Annas Vorweiner fragte: »Wann stirbst du endlich?«

Anna entgegnete: »Das vermag ich nicht zu sagen. Nicht allzu bald, so steht zu hoffen.«

Sie sah konzentriert nach vorn auf den Weg.

Sie fragte: »Warum? Will Er zurück?«

Der Vorweiner holte tief Luft und gähnte dabei lange.

Anna setzte nach: »Ob Er zurückwill.«

»Nein«, sagte der Vorweiner. »Ich will nicht zurück.«

Anna sagte: »Wir fahren einfach hin und kitten.«

Der Vorweiner fragte: »Kitten?«

Sein Resteuropäisch war wirklich sehr gut. Der schwache Akzent hatte sich mit den Jahren fast abgeschliffen.

Anna sagte: »Nicht Katzen. Kitten. Fenster kitten.«

Der Vorweiner sagte: »Ich weiß. Bedeutet in meiner Sprache dasselbe. Fensterkatzen.«

Er war ein Spaßvogel. Es war schön, ihn bei sich zu haben.

Fünfzehn Uhr. Drei Akkorde meldeten den Beginn der Nachrichten.

Bei Apeldoorn, Niederlande, habe eine Familie einen Vergnügungspark besucht. Zum Abschluss hätten die Eltern den beiden Töchtern, sieben und acht Jahre alt, ausnahmsweise erlaubt, mit der Geisterbahn zu fahren. Die beiden Kinder seien im offenen Waggon in die Geisterbahn hineingerollt, allerdings nicht wieder herausgekommen. Die Mutter habe darüber den Verstand verloren. Die Nachrichtensprecherin sagte: »Seit diesem schrecklichen Erlebnis hat die Frau nicht aufgehört zu schreien. Wir wollen unseren Hörer:innen die Schreie der Mutter nicht vorenthalten.«

Schrecklich, dachte Anna, während in den Nachrichten die niederländische Mutter durchdringend schrie, röchelnd und kehlig.

Schrecklich, dachte Anna noch einmal, wirklich schrecklich. Doch dann stutzte sie. Wie geriet eine Meldung aus Apeldoorn in ihren Nachrichtenstrom? Das war nicht mehr ihre Melange. Jemand hatte die Formel verstellt.

Anna fragte den Vorweiner: »War Er am Radio?«

Er sagte nichts.

»Ob Er am Radio war.«

Der Vorweiner starrte zur Seite, in den schmalen Kiefernwald hinaus.

Anna fragte, jetzt etwas durchdringender: »Will Er zurück?«

Der Vorweiner sagte: »Nein, ich will nicht zurück. Ja, ich war am Radio.«

Anna tippte, ohne hinunterzusehen, auf das Display und stellte das Radio auf ihre Formel zurück.

In Königstein im Taunus habe sich ein Ehepaar im Keller seiner Villa eingeschlossen. Die Polizei habe die beiden für Einbrecher gehalten und den Mann erschossen. Wieder schrie eine Frau.

Schrecklich, dachte Anna.

Der Wagen wurde langsamer, das Reifenrollgeräusch verstummte beinahe, jetzt drang von draußen die Motorenlärmersatzmelodie herein, es war die Noise-Rock-Ambient-Version von »Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus«, die andere Verkehrsteilnehmer vor Annas Wagen warnen sollte.

Über Bartels Grundstück waberte dichter Qualm. Der Wagen holperte über den Erdwulst am Wegrand und rollte in die Einfahrt hinein.

Anna hatte stets Furcht, die Wurzel eines Baumes oder eine andere Unebenheit könne den Wagenboden aufreißen und den Akku beschädigen. Es war widersinnig, eine Ladestation an einer derart holprigen Stelle zu platzieren.

Die beiden stiegen aus dem Wagen und hinein in den Rauch.

»Tach, Frau Meisterin«, grunzte Bartel.

»Seien Sie gegrüßt, Herr Bartel«, lächelte Anna, so gut sie konnte.

Am großen Feuer saß die Niederschicht, Bartel mit all seinen Verwandten und Wahlverwandten. Seine Kinder, seine Enkel, seine Freunde.

Am Feuer hockte auch ein junger Mann, den Anna hier noch nie gesehen hatte. Er wirkte etwas verloren.

Anna vermutete, dass es ein Vorweiner war. Es war das erste Mal, dass sie an Bartels Feuer einen fremden Vorweiner sah. Ihr eigener Vorweiner schaute sie fragend an. Anna konnte nur mit den Schultern zucken.

Jedes Mal wenn sie hierherkamen, loderte das Feuer. Lackierte Bretter kokelten darin, Kartons, Matratzen, Farbeimer, Autoreifen. Der Niederschicht ging der Müll niemals aus. Anna erschien es wie ein glücklicher Zufall, dass sie die alte Laube noch nicht verfeuert hatten.

Bartel brachte das Werkzeug und gab es Annas Vorweiner, wortlos und ohne ihn anzusehen.

Den Kitt reichte er Anna selbst, in einer Plastiktüte. Sie zog die Tüte auf und roch daran. Darauf hatte sie sich seit Tagen gefreut. Frischer Kitt, so roch das Leben. Leinöl.

Anna klopfte mit dem Messergriff vorsichtig den brüchigen Kitt aus der Fuge. Bei jedem Schlag klirrte leise das alte Fensterglas.

Die Bruchstücke zupfte sie heraus und legte sie dem Vorweiner in die Hand, dann saßen wieder ein paar Zentimeter trockenen Kitts ganz fest. Anna übersprang sie. Sie klopfte einmal ringsherum, dann betrachtete sie ihre Hand. Sie rieb die trockenen Fingerspitzen aneinander. Sie waren grau. Dunkelgrau. Das waren die Beweise würdiger Arbeit.

Anna drückte frischen Kitt in die Fuge des Fensters, Messerspitze für Messerspitze.

Als die beiden fertig waren, brachte Bartel zwei Flaschen Bier. Anna reichte eine an ihren Vorweiner weiter.

»Was darf ich Ihnen geben, Herr Bartel?«, fragte sie.

»Sagen wir zwanzig«, antwortete Bartel.

Anna zählte Bartel das Geld in die Hand. Das war es ihr wert. Es war eine schöne Arbeit. Bartel bedankte sich, Anna sagte sanft: »Ich habe zu danken.«

Sie verabredeten einen Termin für das Fensterstreichen im Mai und einen für die Kartoffelernte im Juni. Die Ernte belief sich auf dreißig pro Stunde, dazu kamen zwanzig für die Kartoffeln, pro Kilo. Im Laden kosteten sie zehn, doch hier waren die Kartoffeln selbst geerntet, eigenhändig. Das war es Anna wert. Sie würde ihre Finger in die sandige Erde bohren, würde mit den bloßen Händen darin graben, die Kartoffeln herausklauben, eine nach der anderen. Anna freute sich auf den Dreck, der noch tagelang unter den Fingernägeln kleben würde.

A. wie Anna lag ausgestreckt auf dem Gummipolster und blickte in die Sonne.

»Wie ist denn das passiert?«, fragte der Betäuber mit tiefer, beruhigender Stimme.

»Sieht ja schlimm aus! Schmerzen?«

Etwas leiser, die Stimme etwas höher, aufgeregter: »Mensch, Mensch, Mensch.«

Dann sagte er: »Zählen Sie bitte langsam bis zehn. Das kriegen wir schon hin.«

»Eins, zwei, drei …«

»Moment!«, rief der Betäuber.

»… sieben, acht …«

»Erst die Maske!«

»… neun, zehn.«

Anna sah vor sich das Messer, das Schwein, das Blut. Das saublöde Blut.

Annas Stimme drang leise und dumpf unter der Maske hervor: »Eins. Das ist so passiert.«

Später, im Herbst dann, würde sie Laub rechen, Kiefernzapfen einsammeln, umgraben. Das summierte sich alles, doch das war es ihr wert.

Bartel fragte: »Kommt ihr rüber?«

»Wir kommen gleich!«, rief Anna.

Der Vorweiner reichte ihr das Geschirrspülmittel. Sie drückte einen Tropfen auf die Zeigefingerspitze, dann zog sie sorgsam den Kitt in der Fuge glatt.

Die beiden ließen sich am Feuer nieder. Anna verschränkte die Beine zum Lotussitz. Bartels Frau kippte eine Wanne voller neuen Mülls in die Flammen. Ein Elektrokabel blieb am Rand des Feuers liegen. Die Isolierung wurde schwarz, dann schmolz sie und begann zu brennen.

Gegenüber kauerte ein dürrer Glatzkopf. Es gebe welche, begann er unvermittelt laut zu zischen, die würden immer im Warmen und Weichen gehalten. Die bekämen alles umsonst, Drogen, Essen, Unterkunft. Und Ficksachen.

Anna dachte: Kopulationsdokumentationen.

Sie würden aber auch alles geben, fuhr der Glatzkopf fort: Blutwerte, Hirnströme, Sperma. Das würde alles untersucht von Professoren.

Bartels Frau lachte höhnisch.

Er wisse das aus den Nachrichten, rief der Glatzkopf. Diese Menschen stammten ebenfalls alle aus der Niederschicht. Sie lebten in einer äußerst ausgetüftelten Blase, in einer Art von oberschlauer Ganzkörperkapsel. Vor den Augen Schlagzeilen, die unaufhörlich aufdatiert würden, Spielfilme, dazu dreimal täglich Ficksachen, die an die individuellen Vorlieben angepasst seien, die wiederum hochgerechnet würden aus den Hirnströmen. Im Mund den Schlauch für Bier oder Limonade oder eben eine Nährlösung, das Glied – Anna lief ein Schauer über den Rücken, als der Glatzkopf ungeniert auch dafür den Begriff aus der vulgären Wortwelt der Niederschicht verwendete –, das Glied in einem intelligenten Stimulationsmuskel, der sich vollautomatisch mit den Filmen synchronisiere. Vollautomatisch.

Doch keiner könne sagen, wie man dafür ausgewählt werde. Der Glatzkopf beteuerte, er wisse das alles aus den Nachrichten sowie aus anderen vertrauenswürdigen Quellen, die er im Detail nicht nennen dürfe. Er könne nur so viel sagen: Der Bruder eines Bekannten arbeite bei der Behörde, die die Daten dieser Leute auswerte.

Die Niederschicht erklärte sich wieder einmal die Welt, dachte Anna. Ihre Nachrichten hatten ganz eigene Formeln.

»Das wäre das Richtige für Kimo«, sagte Frau Bartels.

»Warum denken Sie das?«, fragte Anna.

Sie wollte nicht uninteressiert erscheinen. Kimo war der Sohn der Bartels. Er saß in der Runde und glotzte ins Feuer, als ob ihn das alles nichts anginge.

»Die haben seine Verbindungen ausgewertet. Hat sich rausgestellt, er kommuniziert zu wenig. Muss man jetzt abchecken, ob es was Ernstes ist. Dann muss er in Behandlung.«

»Dann muss er in Behandlung«, sagte der Glatzkopf gegenüber, »logisch muss er dann in Behandlung.«

Die Flammen wärmten Annas Gesicht. Ihre Augen brannten vom giftigen Rauch, der immer wieder quer trieb. Auf ihren Rücken legte sich die Kälte.

Bartel drehte eine Wodkaflasche auf, kippte einen großen Schluck und reichte sie weiter.

Die Vorweiner sahen sich an. Annas Vorweiner begann zu erzählen.

Anna sprach ihren Vorweiner niemals mit Namen an. Vorweiner waren Dienstleister. Man kaufte nicht die Person, man honorierte lediglich eine Dienstleistung, die diese Person einmal erbringen, und die lange Zeit, die bis dahin vergehen würde. Die Vorweiner nicht mit dem Namen anzusprechen, das war eine Frage des Respekts, auch wenn es durchaus schwerfallen konnte, über zwanzig oder fünfzig Jahre hinweg.

Annas Vorweiner erzählte.

Alle kannten die Geschichte. Jeder Vorweiner konnte sie erzählen, immer wieder. Die Geschichte ging so: Ein Polizist habe Ausländer nach Westafrika oder Schweden gebracht, nach Afghanistan, Frankreich, Italien, jedenfalls von Resteuropa ins Ausland zurück.

Ausreisebegleitung.

»Klingt wie Sterbebegleitung«, musste an dieser Stelle immer jemand sagen, heute war es der Glatzkopf.

»Wie Sterbebegleitung bei den Resteuropäern.«

»Das machen ja auch welche«, sagte Kimo.

»Irgendwer muss es machen«, sagte Bartels Frau.

Niederschichtsgespräche klackerten hin und her wie ein Pingpongball auf der Platte, dachte Anna. Sie hatte Mühe, den Assoziationen zu folgen.

Die Ausländer, die der Ausreisebegleiter ins Ausland zurückgebracht habe, hätten gefesselt und geknebelt neben ihm, also dem Ausreisebegleiter, im Flugzeug gesessen.

An dieser Stelle rief der Vorweiner stets »Gag!«, das war das englische Wort für Scherz, aber eben auch das Wort für Knebel, und alle lachten, am lautesten die Vorweiner.

Der Ausreisebegleiter habe die Leute auf dem Flug bewacht, am Ziel habe er sie zum Einreiseschalter geleitet und den Behörden vor Ort übergeben, dann sei er zurückgeflogen.

Normalerweise.

Denn eines Tages, und an dieser Stelle feixten die Vorweiner, da sie wie alle anderen den Fortgang der Geschichte kannten, diesen Fortgang aber, im Unterschied zu den anderen, immer aufs Neue mit großer Freude erwarteten, eines Tages sei er selbst nach Nigeria geraten oder nach Schweden, das wechselte.

Er sei richtig ins Ausland hineingeraten, weit über den Transitbereich des Flughafens hinaus. Entführt, verlaufen oder per Telekinese, auch in diesem Detail variierten die Erzählungen. Und plötzlich sei die Haut des Ausreisebegleiters

hellrosa

geworden wie die eines Schweden oder seine Haare

schwarz

wie die eines Nigerianers. Da habe er, der Ausreisebegleiter, noch an eine Allergie geglaubt oder an ein Problem mit den Nieren. Doch schließlich, am Ende seiner Metamorphose, zur Krönung seiner neuen Existenz, habe er vollständig die resteuropäische Sprache verloren und nur noch Yoruba gesprochen oder eben Schwedisch.

Annas Vorweiner hielt inne. Er blickte zum anderen Vorweiner, der nahm den Faden auf und spann die Geschichte weiter. Es war tatsächlich der Vorweiner eines Bartel-Kumpels. Die Niederschicht hielt sich jetzt auch Vorweiner, vereinzelt, das war immer noch irritierend. Die Niederschicht strebte nach oben, dachte Anna, und imitierte unsere Bräuche.

Der Betäuber sagte: »Ich fürchte, ich habe den Überblick verloren. Zählen Sie bitte weiter, sonst können wir nicht beginnen.«

Der Vorweiner des Bartel-Kumpels erzählte: Der Ausreisepolizist, der nun kein Polizist mehr war, sei am Polarkreis erwacht oder am Stadtrand von Lagos.

Er habe ein Dorf erreicht oder die Innenstadt und auf einen günstigen Moment gewartet, um nach Resteuropa zu kommen. Das Wichtigste: Geld und Gerüchte.

Er habe versucht, bei Nacht im Schlauchboot zu entkommen. Irgendwo stieß das Dunkel des Himmels an das Dunkel der Erde, doch er habe die Naht nicht erkennen können.

Der Polizist sei ertrunken.

Er ertrank immer wieder. Jedes Mal wenn die Geschichte erzählt wurde, ertrank er aufs Neue.

Die Menschen seien aus dem Wasser gekommen, sagte der Vorweiner von Bartels Kumpel, sie seien im Wasser gestorben, sie seien daraus hervor- und darin untergegangen. Auf dem Land zu sterben und dort zerstreut zu werden, das sei nun einmal der Luxus der Sesshaften.

Neunundzwanzig, einundsiebzig.

Prozent Land, Prozent Wasser.

Achtundzwanzig, zweiundsiebzig.

Siebenundzwanzig, dreiundsiebzig.

Der Ausreisebegleiter sei zu Boden gesunken und gefressen worden von Fischen und Krebsen. Auf dem Grund des Meeres erstreckte sich eine dünne, großflächige Sedimentschicht, die einmal ein Ausreisebegleiter gewesen war. Eine dünne Folie aus Krustentierkacke.

Die Vorweiner kicherten wieder.

Die Vorweiner wussten, dass ein Resteuropäer sich vom Schicksal der Person, von der diese schaurige Legende erzählte, nur ergreifen lassen konnte, wenn diese Person selbst ein Resteuropäer war oder wenigstens bis zu seiner unverschuldeten Verwandlung einer gewesen war.

Die Vorweiner wussten das sehr genau, dachte Anna, ihren Zorn verbergend, nur deshalb trugen die Vorweiner diese ganze krude, unverständliche Geschichte immer weiter.

Einer begann zu summen. Bald sangen alle leise. Sie sangen »Brüder, zur Sonne, zur Freiheit« auf Resteuropäisch, doch als Gospel.

Bartel begleitete das Lied auf der Maultrommel. Boing, doing, hallte es zwischen seinen Schneidezähnen. Doing, boing, boing, doing.

Bartels Lama stellte sich an den Rand der Runde. Es blickte streng. Etwas abseits sammelten sich die Nandus und fauchten genervt.

Der Betäuber sagte: »Würden Sie bitte zählen? Wir waren bei eins.«

Anna sagte: »Zwei.«

Diese losen Reden, dachte Anna besorgt. Die Vorweiner hatten eine Neigung zu losen Reden. Sie gingen ein hohes Risiko ein, wenn sie solche bedrohlichen Geschichten erzählten. Sie gefährdeten ihren Status. Wenn ihre Arbeitgeber sie denunziert hätten, hätten sie Resteuropa verlassen müssen. Doch die Arbeitgeber denunzierten sie nicht.

Es lag im Interesse jedes Arbeitgebers, dass sein Vorweiner blieb. Der Vorweiner erzählte diese Geschichten, und er wusste, sein Arbeitgeber konnte ihn ans Messer liefern. Dass der Arbeitgeber das nicht tat, veredelte den Vorweiner nur. Er war dem Arbeitgeber insgeheim dankbar, und wenn der Arbeitgeber einmal zerstreut werden würde, würde der Vorweiner umso überzeugender weinen, auf eine Art, die tatsächlich geeignet sein würde, die Menschen anzustecken.

Anna wusste, dass ihr Vorweiner gut um sie weinen würde. Sie war nicht allein.

Ihr Vorweiner schaute sie an. Sie schaute zurück. Sie legte alle Wärme in ihren Blick.

Brüder, in eins nun die Hände, o Brüder, o ja!

Brüder, das Sterben verlacht, o Brüder, o ja!

Ewig, ein Ende der Sklaverei, Brüder, o ja!

Heilig, o Brüder, o ja, o Brüder,

heilig die letzte Schlacht!

Anna knotete die Beine auseinander, richtete sich auf und ging ums Feuer herum. Neben Bartel ging sie wieder in die Hocke und sagte: »Herr Bartel?«

Bartel brummte.