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Spirituelle Suche Drei Tage und drei Nächte erzählt der Wanderer, was ihm auf seiner langen Reise durch das Leben widerfahren ist, und seine Gastgeber lauschen gebannt seinen weisen Worten. Khalil Gibran vollendete den ›Wanderer‹ wenige Tage vor seinem Tod. Noch einmal hat er sich in dieser Sammlung wunderschöner Gleichnisse und Parabeln den Dingen gewidmet, die ihn zeit seines Lebens bewegten: Schönheit und Hässlichkeit, Freud und Leid, Freiheit und Unterdrückung, Liebe und Hass, Seele und Leib, Gott und Mensch.
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Khalil Gibran
Der Wanderer
Seine Gleichnisse und Erzählungen
Ins Deutsche übertragen von Giovanni und Ditte Bandini
Deutscher Taschenbuch Verlag
Deutsche Erstausgabe 2009© Deutscher Taschenbuch Verlag GmbH & Co. KG, MünchenDas Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlags zulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.Rechtlicher Hinweis §44 UrhG: Wir behalten uns eine Nutzung der von uns veröffentlichten Werke für Text und Data Mining im Sinne von §44 UrhG ausdrücklich vor.eBook ISBN 978-3-423-40422-8 (epub)ISBN der gedruckten Ausgabe 978-3-423-34535-4Ausführliche Informationen über unsere Autoren und Bücher finden Sie auf unserer Website www.dtv.de
Der Wanderer
Gewänder
Der Adler und die Lerche
Das Liebeslied
Tränen und Lachen
Auf dem Jahrmarkt
Die zwei Fürstinnen
Der Blitzstrahl
Der Eremit und die Tiere
Der Prophet und das Kind
Die Perle
Leib und Seele
Der König
In den Sand
Die drei Geschenke
Frieden und Krieg
Die Tänzerin
Die zwei Schutzengel
Die Statue
Der Tausch
Liebe und Hass
Träume
Der tolle Mensch
Die Frösche
Gesetze und Gesetzgebung
Gestern, heute und morgen
Der Philosoph und der Schuster
Brückenbauer
Das Feld von Zaad
Der Goldgürtel
Die rote Erde
Der Vollmond
Der Einsiedler-Prophet
Der alte, alte Wein
Die zwei Gedichte
Frau Ruth
Die Maus und die Katze
Der Fluch
Die Granatäpfel
Gott und viele Götter
Die taube Frau
Die Suche
Das Zepter
Der Weg
Der Wal und der Schmetterling
Der ansteckende Frieden
Der Schatten
Siebzig
Gott finden
Der Fluss
Die zwei Jäger
Der andere Wanderer
Ich begegnete ihm an der Kreuzung, einem Mann, der nichts als einen Umhang und einen Stab hatte und einen Schleier von Schmerz auf seinem Antlitz. Und wir grüßten einander, und ich sagte zu ihm: »Komm in mein Haus und sei mein Gast.«
Und er kam.
Meine Frau und meine Kinder empfingen uns an der Schwelle, und er lächelte ihnen zu, und sie freuten sich seines Kommens.
Dann saßen wir alle zusammen um den Tisch, und wir waren glücklich mit dem Mann, denn er war voller Stille und Geheimnis.
Nach dem Mahl versammelten wir uns am Feuer, und ich fragte ihn nach seinen Wanderungen.
Manch eine Geschichte erzählte er uns an jenem Abend und ebenso am folgenden Tage. Doch was ich jetzt festhalte, war aus der Bitterkeit seiner Tage geboren, wenngleich er selbst gütig war, und diese Geschichten handeln vom Staub und der Duldsamkeit seines Weges.
Und als er uns nach drei Tagen verließ, hatten wir nicht das Gefühl, dass ein Gast abgereist war, sondern dass einer von uns noch immer draußen im Garten sei und noch nicht hereingekommen.
Eines Tages trafen sich die Schönheit und die Hässlichkeit am Ufer eines Meeres. Und sie sagten zueinander: »Baden wir im Meer.« Dann entkleideten sie sich und tauchten in die Fluten.
Nach einer Weile kam die Hässlichkeit wieder ans Ufer, legte das Gewand der Schönheit an und ging ihres Weges.
Und auch die Schönheit stieg aus dem Wasser, doch sie fand ihr Gewand nicht, und da sie sich scheute, nackt zu gehen, legte sie die Kleider der Hässlichkeit an. Und die Schönheit ging ihres Weges.
Bis zum heutigen Tag verwechseln die Menschen die eine mit der anderen.
Doch manche gibt’s, die das Angesicht der Schönheit geschaut haben, und die erkennen sie ungeachtet ihres Gewandes. Und manche gibt’s, die das Antlitz der Hässlichkeit kennen, und das Tuch verbirgt sie nicht vor ihren Augen.
Eine Feldlerche und ein Adler begegneten einander auf dem Felsengipfel eines hohen Berges. Die Lerche sagte: »Einen guten Morgen Euch, mein Herr.« Und der Adler blickte auf sie herab und sagte matt: »Guten Morgen.«
Und die Feldlerche sagte: »Ich hoffe, es geht Euch gut, mein Herr.«
»Ja«, sagte der Adler, »es geht Uns gut. Aber weißt du nicht, dass Wir der König der Vögel sind und dass du Uns nicht ansprechen darfst, ehe Wir nicht selbst gesprochen haben?«
Sprach die Feldlerche: »Ich dächte, wir seien Blutsverwandte.«
Der Adler sah verächtlich auf sie herab und sagte: »Wer hat je behauptet, du und ich seien Blutsverwandte?«
Darauf sagte die Lerche: »Gestattet mir indes, Euch daran zu erinnern: Ich kann ebenso hoch fliegen wir Ihr, noch dazu kann ich singen und den anderen Geschöpfen dieser Erde Freude bereiten. Während Ihr weder Freude noch Vergnügen bereitet.«
Da geriet der Adler in Zorn, und er sagte: »Freude und Vergnügen! Du kleine, anmaßende Kreatur! Mit einem einzigen Schnabelhieb könnte ich dich vernichten! Du bist nicht größer als mein Fuß!«
Da flog die Lerche auf und ließ sich auf des Adlers Rücken nieder und fing an, seine Federn zu zausen. Der Adler war verärgert, und er flog schnell und hoch hinauf, um sich von dem kleinen Vogel zu befreien. Doch es gelang ihm nicht. Schließlich landete er, ärgerlicher denn je, wieder auf demselben Felsengipfel des hohen Berges, die kleine Kreatur noch immer auf dem Rücken, und verfluchte die Ungunst der Stunde.
Gerade in diesem Moment kam eine kleine Schildkröte des Weges und lachte über das Bild, das sich ihr bot, und sie lachte so sehr, dass sie fast auf den Rücken gefallen wäre.
Und der Adler sah auf die Schildkröte herab, und er sagte: »Du langsames, kriechendes Geschöpf, allzeit erdgebunden, was gibt es da zu lachen?«
Und die Schildkröte sagte: »Nun, ich sehe, du bist zum Pferd geworden und trägst einen kleinen Vogel auf dem Rücken – aber der kleine Vogel ist der bessere Vogel.«
Und der Adler sagte zu ihr: »Kümmer dich um deine eigenen Geschäfte! Das ist eine Familienangelegenheit und geht nur meine Schwester, die Lerche, und mich etwas an!«
Ein Dichter schrieb einmal ein Liebeslied, und es war wunderschön. Er fertigte davon viele Abschriften an und sandte sie seinen Freunden und Bekannten, männlich wie weiblich, und sogar einer jungen Frau, der er nur ein einziges Mal begegnet war und die jenseits der Berge lebte.
Und ein, zwei Tage darauf kam ein Bote von der jungen Frau und überbrachte ihm einen Brief. Darin schrieb sie: »Seid versichert, das Liebeslied, das Ihr für mich geschrieben, hat mich tief berührt. Kommt sofort und sprecht mit meinen Eltern, und wir wollen unsere Verlobung ausrichten.«
Der Dichter beantwortete den Brief und schrieb der Frau: »Meine Freundin, das war nur ein Liebeslied aus einem Dichterherzen, von jedem Mann für jede Frau gesungen.«
Und sie schrieb ihm abermals und sagte: »Heuchlerischer Lügner! Von diesem Tag an, bis ich zur Grube fahre, werde ich um Euretwillen alle Dichter hassen!«
Einmal, zur Abendzeit, begegnete am Ufer des Nils eine Hyäne einem Krokodil, und sie blieben stehen und grüßten einander.