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Die Suche nach dem historischen Jesus beginnt im deutschen Sprachraum mit Hermann Samuel Reimarus. Er meinte, man brauche nur die "Tünche" der Apostel wegzunehmen, um die "tatsächliche" Stimme Jesu zu vernehmen. An dem sich hier zeigenden Grundproblem hat sich seitdem nichts geändert und kann sich angesichts der Quellenlage auch nichts ändern: Wer nach dem "historischen" Jesus fragt und also die "tatsächlichen" Fakten sucht, muss mit für dieses Unternehmen äußerst widerständigen Texten rechnen. Wengst stellt die ersten beiden Phasen der Leben-Jesu-Forschung modellhaft vor. Anschließend wendet er sich der "dritten Suche nach dem historischen Jesus" zu und fragt, was es denn Neues bei dieser dritten Suche gibt - mit negativem Ergebnis. Aufgabe der Exegeten kann daher nur sein, nicht die Texte der Evangelien für eigene Hypothesengebilde auszuschlachten, sondern sie immer wieder auszulegen.
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Seitenzahl: 576
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Die Suche nach dem historischen Jesus beginnt im deutschen Sprachraum mit Hermann Samuel Reimarus. Er meinte, man brauche nur die 'Tünche' der Apostel wegzunehmen, um die 'tatsächliche' Stimme Jesu zu vernehmen. An dem sich hier zeigenden Grundproblem hat sich seitdem nichts geändert und kann sich angesichts der Quellenlage auch nichts ändern: Wer nach dem 'historischen' Jesus fragt und also die 'tatsächlichen' Fakten sucht, muss mit für dieses Unternehmen äußerst widerständigen Texten rechnen. Wengst stellt die ersten beiden Phasen der Leben-Jesu-Forschung modellhaft vor. Anschließend wendet er sich der 'dritten Suche nach dem historischen Jesus' zu und fragt, was es denn Neues bei dieser dritten Suche gibt - mit negativem Ergebnis. Aufgabe der Exegeten kann daher nur sein, nicht die Texte der Evangelien für eigene Hypothesengebilde auszuschlachten, sondern sie immer wieder auszulegen.
Prof. Dr. Klaus Wengst lehrt Neues Testament und Judentumskunde an der Universität Bochum.
Klaus Wengst
Der wirkliche Jesus?
Eine Streitschrift über die historisch wenig ergiebige und theologisch sinnlose Suche nach dem 'historischen' Jesus
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2013 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Umschlag: Gestaltungskonzept Peter Horlacher Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-023009-5
E-Book-Formate
pdf:
978-3-17-026428-1
epub:
978-3-17-027178-4
mobi:
978-3-17-027179-1
Einleitung
I. Von Reimarus bis Käsemann Blicke zurück auf rund 200 Jahre Suche nach dem „historischen“ Jesus
1. „Die wahre einfache und thätige Religion Jesu“ Jesus als Helfer der „vernünftigen Verehrer Gottes“ HERMANN SAMUEL REIMARUS (1694–1768)
a) Skizze seines Lebens und Wirkens
b) Die Intention der „Apologie“
c) Kriterien für die Prüfung positiver Religionen
d) Kritik des Alten Testaments
e) Ausfälle gegen das Judentum
f) Unterscheidung der Lehre Jesu von der der Apostel
g) Die Lehre Jesu
h) Die Lehre der Apostel
i) Die Aussage von der Auferstehung Jesu als Betrug
j) Wahrheit, Faktizität, Religion
k) Das Interesse an Jesus
l) Zusammenfassung zu Reimarus und Ausblick
2. Vor allem Weiteren: das eigene Recht der Evangelien bedenken!
a) Ausgangsfragen
b) Das Zeugnis von der Auferweckung Jesu als Konstruktionspunkt der Evangelien
c) Das Erzählen der Evangelisten mit ihrer Bibel
d) Die biblische Erzählweise der Evangelisten
e) Konsequenzen
3. „Das einfache historische Gerüste des Lebens Jesu“ Radikale historische Kritik der Evangelien DAVID FRIEDRICH STRAUß (1808–1874)
a) Skizze seines Lebens
b) Strauß über Reimarus
c) Zwischen Skylla und Charybdis: Mit der „mythischen“ Erklärung gegen Supranaturalisten und Rationalisten
d) Was übrig bleibt: „das einfache historische Gerüste des Lebens Jesu“
e) Die Unsicherheit darüber hinausgehender historischer Feststellungen
f) Strauß über Jesus als Juden und zu Jüdischem
g) Die historische Destruktion der Aussage von der Auferstehung Jesu
h) Hegelsche Philosophie als Fundament des Straußschen Denkens
i) Unmittelbare Reaktionen auf das „Leben Jesu“ und die Konsequenzen für Strauß
j) Kritische Würdigung des Straußschen „Leben Jesu“ von 1835
4. Eine „Persönlichkeit, in welcher das göttliche Wesen sich … vollkommen ins Menschliche übersetzt“ Die Wahrheit gewinnen durch historisches Verifizieren des Absoluten WILLIBALD BEYSCHLAG (1823-1900)
a) Warum sich mit dem „Leben Jesu“ von Willibald Beyschlag befassen?
b) Hinweise auf Beyschlags Lebensgang
c) Was Beyschlag wollte
d) Was Beyschlag bei der historischen Arbeit theologisch voraussetzt
e) Wie Beyschlag historisch arbeitet
f) Beyschlags Bild vom Judentum und von Jesus als einem Juden
5. „… und man ist eben auf dem Holzwege“ Radikale theologische Kritik der Leben-Jesu-Forschung MARTIN KÄHLER (1835–1912)
a) Was Beyschlag und Kähler unterscheidet
b) Skizze seines Lebens und Wirkens
c) Die Frage nach dem „wirklichen Christus“ als dem Grund des Glaubens
d) Die sich der Rekonstruktion eines „Leben Jesu“ entgegenstellenden Schwierigkeiten
e) Die Suche nach dem „historischen“ Jesus: ein theologisch unmögliches Unternehmen
f) Ein offenes Problem: Kähler über Jesus als Juden und über das Judentum
6. „… eine einzigartig große Wahrhaftigkeitstat“ Darstellung der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung als „Irrewerden an dem historischen Jesus“ – und die dennoch behauptete Lösung ALBERT SCHWEITZER (1875–1965)
a) Biographische Notiz
b) Das nur eingeschränkte „Todesurteil“ über die Leben-Jesu-Forschung: Wie Schweitzer seine Forschungsgeschichte organisiert
c) „Die Lösung der konsequenten Eschatologie“
d) Vom eschatologischen Jesus zur Jesus-Mystik: Was Schweitzer mit seiner Rekonstruktion anfängt
e) Kritische Würdigung
7. „Das Entscheidende ist schlechthin das Daß“ Der „historische“ Jesus in existentialer Interpretation RUDOLF BULTMANN (1884–1976)
a) Biographische Notiz
b) Das Ende der Leben-Jesu-Forschung und die weitere Produktion von Jesusbüchern
c) Bultmanns Umgang mit den Quellen
d) Bultmanns Zeichnung des Judentums
e) Jesus, der radikale Jude, der das Judentum überwindet
f) Bultmanns existentiale Interpretation Jesu
g) „Historischer Jesus“ und „Christuskerygma“ – die Behauptung des bloßen „Daß“
h) Weitere Probleme
8. „Die theologische Relevanz des Historischen“ Die „neue Frage“ nach dem „historischen“ Jesus ERNST KÄSEMANN (1906–1998)
a) Bigraphische Notiz
b) Eine „neue Frage“ nach dem „historischen“ Jesus?
c) „Das Problem des historischen Jesus“ – ein theologisch relevantes?
d) Irdischer Jesus und „historischer“ Jesus – Kerygma und Geschichte Jesu
e) Theologische Relevanz des Historischen?
f) Die behauptete Eigenart Jesu
9. Ergebnisse und Folgerungen
a) Die Widerständigkeit der Quellen gegenüber der historischen Rückfrage nach Jesus
b) Die Hilflosigkeit der Methoden
c) Das Problem der Selbstspiegelung
d) Die Permanenz des Chaos
e) Die theologische Verwendung des „historischen“ Jesus
f) Der unjüdische Jesus
II. Was gibt es Neues bei der „dritten Suche“ nach dem „historischen“ Jesus?
1. Gibt es neue Quellen?
2. Gibt es neue Methoden?
a) Die Wende vom Differenz- zum Plausibilitätskriterium
b) Der „erinnerte Jesus“
c) Erweiterung durch sozialwissenschaftliche Methoden?
d) Aufschlüsse durch Archäologie und Landeskunde?
3. Der Jude Jesus – eine neue Erkenntnis?
a) Die Jüdischkeit Jesu – keine neue Erkenntnis der „dritten Suche“
b) Jesus und „die Anfänge des christlichen Glaubens“?
4. Hat man aufgehört, sich im eigenen Rekonstrukt zu spiegeln?
5. Gibt es neue gesicherte historische Erkenntnisse?
a) Das nach wie vor bestehende Chaos
b) Jesus und die Königsherrschaft Gottes
c) Jesus und die Tora
d) Jesus und die Wunder
e) Jesus und das national-politische Messiasideal
f) Jesus als Kultkritiker und Kultstifter?
g) Jesu „Selbstverständnis“?
h) Jesu Ende in Jerusalem
6. Gibt es neue theologische Einsichten über Notwendigkeit und Nutzen der Rückfrage nach dem „historischen“ Jesus?
a) Der „historische“ Jesus – „ein unausweichliches Moment der westlichen Wissensordnung“?
b) Historische Jesussuche als Kompensation für die verlorene „Göttlichkeit“ Jesu?
c) Die Existenz der Evangelien und die „geschichtliche Gestalt“ Jesus als Begründung für die historische Jesussuche?
d) Die „Diastase zwischen biblischem Christus und historischem Jesus“ als „Dilemma“?
e) Keine „Diastase“, sondern der „historische“ Jesus als „Anfang des Christentums“?
f) Eine ideologie-, theologie- und kirchenkritische Funktion der historischen Jesussuche?
g) Der jüdische Jesus als Herausforderung an die Theologie – und was noch viel mehr herausfordert
Schluss Was wir als theologische Exegetinnen und Exegeten im Blick auf die Evangelien tun und was wir lassen sollten
Literaturverzeichnis
Als ich im Mai 1961 an der Kirchlichen Hochschule Bethel mit dem Theologiestudium begann, war die Debatte um die „neue Frage nach dem historischen Jesus“ in vollem Gange. Auf einer Tagung für Theologiestudenten nach meinem ersten Semester vernahm ich aus dem Mund schon fortgeschrittener Kommilitonen verwundert den ersten Satz aus Bultmanns „Theologie des Neuen Testaments“. Dieses Buch – wie auch seine „Geschichte der synoptischen Tradition“ – habe ich dann zwischen meinem zweiten und dritten Semester gelesen. Damit meinte ich, eine tragfähige theologische Position gefunden zu haben. Im Wintersemester 1962/63 hörte ich in Bonn eine Vorlesung über die Synoptiker von Erich Dinkler, die ausschließlich an der Frage der Vorgeschichte der Evangelientexte orientiert war. Als ein Studienfreund den Nachweis eines Textes als „Gemeindebildung“ mit dem Seufzer kommentierte, jetzt wäre uns wieder etwas genommen worden, antwortete ich, mir würden eher die Texte Probleme bereiten, die für „echt“ erklärt würden. Mit einem von Ernst Fuchs geprägten Hilfspastor in unserer Gemeinde diskutierte ich ausgiebig die theologische Berechtigung oder Fragwürdigkeit der Rückfrage nach Jesus. Diese Diskussion setzte ich intensiv mit Kommilitonen fort, als ich im Wintersemester 1963/64 in Tübingen Ernst Käsemanns Vorlesung über „Theologie des Neuen Testaments“ hörte, in der das Problem des „historischen“ Jesus eine wesentliche Rolle spielte.
In den 70er Jahren, nachdem ich inzwischen selbst zu lehren hatte, übernahm ich in dieser Frage Käsemanns Position und arbeitete während einer Lehrstuhlvertretung in Marburg im Sommersemester 1978 eine Jesus-Vorlesung aus. Als ich sie in Bochum im Wintersemester 1982/83 hielt, bekam ich Zweifel an der Stimmigkeit dieses Unternehmens. Ich habe die Vorlesung zunächst liegen gelassen, aber in meiner „Pax Romana“ (1986) doch noch ein Kapitel über Jesus geschrieben. Als ich mir etwas später Teile der Vorlesung wieder ansah, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Der Jesus, den ich dort vorfand, hatte an der Studentenbewegung teilgenommen. Der große methodische Aufwand, den ich in der Bearbeitung der Texte betrieben hatte, um das zu gewinnen, was dem „historischen“ Jesus zugeschrieben werden kann, hatte mich nicht davor bewahrt, ihn für meine politischen Einsichten zu funktionalisieren. Seitdem war die Jesussuche für mich erledigt. Allerdings hatte schon in der Schlussdiskussion nach dem erstmaligen Vortrag der Vorlesung ein kluger Student die mich entlarvende Frage gestellt, ob ich denn, gesetzt den Fall, meine Jesusdarstellung würde sich, was er nicht annehme, als historisch falsch erweisen, daraufhin meine politische Meinung ändern würde. Damals war ich noch zu stolz auf die gerade vollbrachte Leistung, um sofort eine Revision vornehmen zu können.
Bei meiner ersten Lektüre des berühmten Vortrags von Martin Kähler: „Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus“ meinte ich, noch grundsätzliche Vorbehalte anmelden zu müssen. Sie sind bei weiterem Nachdenken ausgeräumt worden. Ernst Käsemann hatte 1953/54 geäußert, Kählers Vortrag habe „nach 60 Jahren an Aktualität noch kaum eingebüßt“ und sei „auch nicht wirklich widerlegt“, sich aber nicht auf ihn eingelassen. Ich denke, dass Käsemanns Urteil über Kähler, noch einmal 60 Jahre später, immer noch Gültigkeit hat. Alles Wesentliche ist von ihm in dieser Sache gesagt worden. Daran kann die neutestamentliche Wissenschaft nur zu ihrem eigenen Schaden vorbeigehen; sie hat das leider – aufs Ganze gesehen – getan. So dient dieses Buch nicht zuletzt auch der Erinnerung an Martin Kähler. Wenn ich während der Zeit, als sein Urenkel Christoph Kähler Landesbischof von Thüringen war, zu Besuch in Eisenach weilte, habe ich gerne unter der auf der Fensterbank stehenden Büste von Martin Kähler geschlafen.
Dieses Buch ist ein negatives Buch. Es versucht aufzuzeigen, dass die Suche nach dem „historischen“ Jesus zwar historisch grundsätzlich möglich, aber wenig ergiebig und dass sie in theologischer Hinsicht ein unmögliches Unternehmen ist. Es plädiert daher entschieden dafür, diese Suche nicht fortzusetzen. Ich halte es nicht für eine theologisch verantwortliche Aufgabe von Exegetinnen und Exegeten, sich die Texte, die sie auslegen, erst selbst herzustellen. Ein positives Gegenstück zu diesem negativen Buch wäre daher eine Darstellung Jesu, wie er in den Evangelien erscheint, eine Darstellung, die deren Viergestaltigkeit mit ihren Unterschieden, Spannungen und Gegensätzen ernst nimmt.
Wiederum gilt mein herzlicher Dank Herrn Florian Specker vom Verlag für die gute Zusammenarbeit, besonders für das Erstellen der Kolumnentitel und das Einrichten des Inhaltsverzeichnisses.
Bochum, im April 2013
Klaus Wengst
Im letzten Teil seines umfangreichen Buches über „Jesus und seine Zeit“ (2010) bezeichnet Wolfgang Stegemann die Rückfrage nach dem „historischen“ Jesus als „unvermeidlich relativ und relativ unvermeidlich“.1 Die erste Aussage – „unvermeidlich relativ“ – ist in jedem Fall zutreffend. Das zeigen die Ergebnisse dieser Forschungsrichtung in jeder der drei Etappen, in die sie eingeteilt werden kann; sie sind aufs Ganze gesehen schlicht chaotisch. Die zweite Aussage – „relativ unvermeidlich“ – trifft nur auf Historiker zu. Für Theologen, wenn sie denn wirklich Theologen sind und bleiben wollen, besteht nicht der mindeste Zwang, sich auf diese Frage einzulassen. Sie können sie nicht nur vermeiden; sie sollten es auch. Dafür gibt es gute Gründe, die später zu betrachten sein werden. Dagegen gibt es keinen einzigen Grund, der das Verfolgen dieser Frage theologisch nahelegen könnte. Auch darauf wird noch einzugehen sein. Historikern ist es selbstverständlich unbenommen, sich auf diese Suche zu begeben. Wenn Jesus eine Gestalt der Geschichte war, die tatsächlich gelebt hat – und das zu bezweifeln, lässt sich nicht gut begründen –, muss es geboten erscheinen, mit den Mitteln historischer Wissenschaft nach ihm zu fragen wie nach jeder anderen Gestalt der Geschichte auch. Die Berechtigung einer solchen Fragestellung ist unter historischen Gesichtspunkten schlechterdings nicht anzuzweifeln. Wer aber dieser Frage nachgeht, muss zuerst Bescheid wissen über die Quellen seines Gegenstandes, vor allem über deren Relation zu diesem Gegenstand der intendierten historischen Untersuchung. Auch darüber wird ausführlich zu reden sein.
Der erste Teil dieser Untersuchung umfasst den Zeitraum „von Reimarus bis Käsemann“, also rund 200 Jahre, die Zeit der Leben-Jesu-Forschung und die Zeit der „neuen Frage nach dem historischen Jesus“ samt der Zeit dazwischen. Die Formulierung dieser Überschrift spielt natürlich auf den Titel der ersten Auflage von Albert Schweitzers berühmter „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ an: „Von Reimarus zu Wrede“. Der Unterschied ist weniger beträchtlich hinsichtlich der an zweiter Stelle genannten Person; der ist lediglich durch die andere Zeit bedingt. Er ist es jedoch sehr entschieden hinsichtlich der gebrauchten Präposition. Schweitzer war der Überzeugung, eine auf ein Ziel zulaufende Forschungsgeschichte schreiben zu können. Dabei war der Zielpunkt nicht der tatsächlich genannte William Wrede, sondern er selbst, Albert Schweitzer, mit seiner „eschatologischen Lösung“. Diese Sicht hat sich als nicht zutreffend erwiesen. Mir geht es mit der Angabe der beiden Personennamen nur um die Eingrenzung eines Zeitraums. Reimarus steht für den Beginn der Suche nach dem „historischen“ Jesus im deutschen Sprachraum, während Käsemann die „neue Frage nach dem historischen Jesus“ initiiert hat und zugleich als deren wichtigster Repräsentant gelten kann. Auch diese „neue Frage“ liegt inzwischen etwa ein halbes Jahrhundert zurück. Im Abstand lassen sich die Probleme klarer erkennen und gelassener betrachten; man gerät nicht sofort in die Hitze des Gefechts wie bei der Auseinandersetzung mit Zeitgenossen.
Da es, wie am Beispiel der „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“ Albert Schweitzers deutlich werden wird, keine Zielgerichtetheit in der Suche nach dem „historischen“ Jesus gibt, keinen „Fortschritt der Forschung“, ist es nicht meine Absicht, eine Forschungsgeschichte in diesem ersten Teil zu schreiben. Es könnte nur ein Chaos beschrieben werden, was freilich uferlos wäre. Ich greife deshalb aus diesem langen Zeitraum „von Reimarus bis Käsemann“ nur wenige Forscher heraus, um ihren Denkwegen in dieser Frage nachzugehen und die sich dabei zeigenden Probleme herauszustellen. Das lässt es zu, Ergebnisse zu formulieren und Folgerungen zu ziehen.
Auf diesem Hintergrund wende ich mich im zweiten Teil der noch gegenwärtigen „dritten Suche nach dem ‚historischen‘ Jesus“ zu unter der Frage, was es in ihr Neues gibt. Dabei gehe ich anders vor als im ersten Teil, indem ich nicht einzelne Personen, die sich ausführlich und prägnant zur Sache geäußert haben, je für sich darstelle, sondern ich bespreche ihre Beiträge – und wiederum sind es angesichts des wiederum entstandenen Chaos nur wenige – in sechs Abschnitten, die die Leitfrage nach dem Neuen gegenüber vorangegangenen Suchexpeditionen in weiteren Fragen entfalten.
1 W. Stegemann, Jesus, S. 421.
Ich setze ein mit Reimarus, der mit der Unterscheidung zwischen der „Lehre der Apostel“ und der „Lehre Jesu“ die Suche nach dem „historischen“ Jesus, bei ihm noch nicht so benannt, der Sache nach im deutschen Sprachraum eröffnete. Diese Suche ist bei ihm kein selbständiges Programm, sondern ergibt sich im Zusammenhang eines ebenso umfassenden wie fulminanten Angriffs auf die gesamte Bibel. Bereits an diesem ersten Versuch können die leitende Intention dieser Suche und ihre Perspektive deutlich werden, aber auch die Probleme, vor die sie sich gestellt sieht. An diesen Problemen hat sich im Grundsätzlichen nichts geändert und kann sich angesichts der Quellenlage – die vier kanonischen Evangelien sind die einzig relevanten Quellen – auch nichts ändern. Bevor weitere Forscherpersönlichkeiten mit ihren Beiträgen zur Sache dargestellt werden, geht es deshalb im zweiten Kapitel als einer theologischen Grundlegung darum, die Eigenart der Evangelien zu bedenken und ihr eigenes Recht herauszustellen. Sie zeichnen den irdischen Jesus, d.h. sie setzen es als selbstverständlich voraus, dass Jesus als jüdischer Mensch in seinem Volk gelebt und gewirkt hat. Aber dabei geht es ihnen nicht um das chronistische Verzeichnen von Fakten, sondern sie wollen zeigen, was Gott mit dieser Geschichte zu tun hat und wie er in ihr zur Wirkung kommt. Wer nach dem „historischen“ Jesus fragt und also die „tatsächlichen“ Fakten sucht, muss mit für dieses Unternehmen äußerst widerständigen Texten rechnen. Schon David Friedrich Strauß – er wird im dritten Kapitel besprochen – hat gezeigt, dass sich so mit relativ hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr als „das einfache historische Gerüst des Lebens Jesu“ ergibt. Was darüber hinausgeht, sind Hypothesengebilde mit eher geringer Wahrscheinlichkeit. Wer nach dem „historischen“ Jesus fragt, verlässt vor allem die für die Evangelisten entscheidende Perspektive, die das Leben Jesu für sie theologisch relevant sein lässt. Die theologische Kritik an der Leben-Jesu-Forschung ist grundlegend von Martin Kähler geleistet worden. Er kommt im fünften Kapitel zu Wort. Zuvor wird im vierten Kapitel sein Hallenser Kollege und – in dieser Sache – Antipode Willibald Beyschlag vorgestellt, der meinte, David Friedrich Strauß historisch überwinden und damit den Wahrheitsbeweis für das Christentum wissenschaftlich führen zu können. Albert Schweitzer – das wird im sechsten Kapitel deutlich – war kein neutraler Berichterstatter, sondern ein höchst engagierter Mitstreiter in der Sache. Nur so konnte er auch meinen, das Chaos in der Geschichte der Leben-Jesu-Forschung geordnet zu haben. Im siebten und achten Kapitel werden Bultmann und Käsemann dargestellt, der Lehrer und sein mit ihm nicht nur in der Frage des „historischen“ Jesus streitender Schüler. Jenseits des unmittelbaren Kampfgetümmels tritt deutlich hervor, dass sie mehr verbindet, als es scheint. Vor allem aber lässt sich an diesen späteren Beiträgen erkennen, dass neue Methoden an der Problemlage nichts ändern. Im abschließenden neunten Kapitel wird versucht, ein vorläufiges Fazit zu ziehen.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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