7,99 €
Es ist Sommer im beschaulichen Lake Eden in Minnesota, und die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli sind in vollem Gange. Feinbäckerin Hannah Swensen freut sich auf den Besuch ihrer jüngeren Schwester, mit der sie auch ihr Café The Cookie Jar festlich gestalten will. Doch bevor die Schwestern damit beginnen können, macht Hannah eine schreckliche Entdeckung: im Keller liegt die Leiche ihrer Nachbarin. Einziges Indiz ist zunächst einer von Hannahs Zitronenkuchen auf dem Küchentisch der Nachbarin, von dem zwei Stücke fehlen. Anscheinend hatte das Opfer ein Rendezvous geplant. Wird es Hannah gelingen, dem Mörder mit der Vorliebe für Süßes auf die Spur zu kommen?
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 418
Es ist Sommer im beschaulichen Lake Eden in Minnesota, und die Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag am 4. Juli sind in vollem Gange. Feinbäckerin Hannah Swensen freut sich auf den Besuch ihrer jüngeren Schwester, mit der sie auch ihr Café The Cookie Jar festlich gestalten will. Doch bevor die Schwestern damit beginnen können, macht Hannah eine schreckliche Entdeckung: im Keller liegt die Leiche ihrer Nachbarin. Einziges Indiz ist zunächst einer von Hannahs Zitronenkuchen auf dem Küchentisch der Nachbarin, von dem zwei Stücke fehlen. Anscheinend hatte das Opfer ein Rendezvous geplant. Wird es Hannah gelingen, dem Mörder mit der Vorliebe für Süßes auf die Spur zu kommen?
Joanne Fluke ist das Pseudonym einer amerikanischen Bestsellerautorin. Sie wuchs im ländlichen Minnesota auf, studierte Psychologie an der California State University, San Bernardino, und entdeckte früh ihre Passion für die Kunst des Backens und die Welt der Cozy Mysteries und schließlich auch ihr Talent fürs Schreiben. Ihre Cozy-Crime-Serie um die Bäckerin Hannah Swensen ist auf dem englischsprachigen Markt längst Kult, umfasst mittlerweile über 20 Bände, die in 13 Sprachen übersetzt wurden, regelmäßig auf den ersten Plätzen der New York Times Bestsellerliste zu finden sind und eine Gesamtauflage von 5,5 Millionen Exemplaren erreichten. Außerdem wurden fünf ihrer Romane für das Fernsehen verfilmt und unter anderem auf Deutsch synchronisiert. Die Leser:innen lieben die Romane der Queen of Culinary Mystery wegen ihrer lebensechten Figuren und der Wohlfühlatmosphäre rund um Hannah Swensens Café in der fiktiven Kleinstadt Lake Eden. Joanne Fluke lebt mit ihrer Familie in Südkalifornien.
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Angela Koonen
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2003 by Joanne Fluke
Titel der englischen Originalausgabe: »Lemon Meringue Pie Murder«
Originalverlag: Kensington Publishing Corp., New York
Published by Arrangement with Kensington Publishing Corp.,
New York, NY 10018 USA
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, Köln
Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Umschlaggestaltung: Kirstin Osenauunter Verwendung von Motiven von shutterstock.comund getty-images Deutschland GmbH
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-2863-8
luebbe.de
lesejury.de
Dieses Buch ist für den großen Nicky Borzoi.Wir vermissen dich, Junge.
Um vier Uhr siebenundvierzig fuhr Hannah Swensen aus dem Schlaf hoch. Zwei Raubtieraugen starrten sie an. Unwillkürlich schlug sie nach ihnen, und sie verschwanden unter vorwurfsvollem Jaulen.
»Das ist mein Kissen, nicht deins!«, brummte sie, nahm es wieder in Besitz und knuffte es unter ihrem Kopf zurecht. Doch als sie die Augen schloss, um in den letzten kostbaren Minuten vor dem Weckerklingeln noch mal einzudösen, setzten bei ihr Schuldgefühle ein. Sie hatte noch nie nach Moishe geschlagen.
Ihr orange-weißer Kater hatte während seines Straßenlebens genug erlitten. Sein linkes Ohr war eingerissen, und er war auf einem Auge blind, was stets daran erinnerte, wie sehr er einmal um sein Leben gekämpft hatte. Nachdem sie ihn damals eingeladen hatte, bei ihr zu leben, waren sie Freunde geworden. Und diese Freundschaft war nun gefährdet. Im schlimmsten Fall würde Moishe ihr nie wieder trauen.
»Es tut mir leid, Moishe. Komm her, ich kraule dir die Ohren.« Sie klopfte auf die Matratze und hoffte, er möge ihr verzeihen. »Ich würde dir niemals wehtun. Das dürftest du inzwischen wissen. Du hast mich nur erschreckt, das ist alles.«
Vom Boden am Fuß des Bettes kam ein Miau, das schon weniger zornig klang. Noch einmal klopfte sie neben sich und hörte ihn dumpf auf der Matratze landen. Er hatte ihr verziehen, und das war schön. Doch nun, da sie hellwach war, verspürte sie ein mächtiges Ziehen im Nacken. Anscheinend hatte Moishe, schon kurz nachdem sie eingeschlafen war, ihr Kissen geraubt, und jetzt zahlte sie den Preis für den gestohlenen Komfort. Die Schmerzen würden sich nur mit einer langen heißen Dusche vertreiben lassen.
»Na schön. Ich stehe auf.« Grollend drückte sie den Knopf des Weckers hinunter. »Ich gebe dir dein Frühstück, dann dusche ich.«
Nachdem sie ihre Pantoffeln gefunden hatte, ging sie durch den Flur in die Küche, schaltete das Licht ein und öffnete das Fenster, damit etwas von dem kühlen Morgenwind hereinwehte, der hoffentlich um ihr Wohnhaus strich. Doch herein kam nur drückende Wärme. Es war Ende Juni, und Lake Eden ächzte unter einer Hitzewelle, die für Minnesota ungewöhnlich war. Nachts war es fast so heiß wie am Tag.
Moishe ging an seinem Futternapf in Stellung und blickte erwartungsvoll zu ihr hoch. Sein Schwanz schlug hin und her wie ein Metronom. Ob sie einen Fächer daran festbinden und die Energie nutzen könnte?
»Geduld ist eine Tugend«, murmelte sie und zitierte damit ihre Mutter. Dann fiel ihr ein, dass die Mahnung schon bei ihr nicht gewirkt hatte. »Ich hole dein Frühstück sofort, noch vor meinem ersten Schluck Kaffee. Wenn das keine Entschuldigung ist, weiß ich es auch nicht!«
Moishes Schwanz pendelte weiter hin und her, während sie zum Besenschrank ging und das Vorhängeschloss öffnete. Man mochte ein Vorhängeschloss für übertrieben halten, doch Moishe verlor jeden seelischen Halt, sobald er den Grund seiner Futterschale sehen konnte, und hatte keine Skrupel, sich selbst an der Futterquelle zu bedienen.
Hannah war es leid, verstreutes Trockenfutter aufzukehren, und hatte mit verschiedenen Mitteln versucht, ihn von dem Vorrat fernzuhalten. Ohne Erfolg. Moishe hatte einen Gummiseilverschluss, einen schweren Schieberiegel und einen Sturmhaken überwunden. Wenn ihr vierbeiniger Mitbewohner fressen wollte, wurde er zu einem wahren Houdini. Kein Schloss konnte ihn lange aufhalten.
Sobald er zufrieden vor sich hin knusperte, goss sie sich einen Kaffee ein und ging unter die Dusche. Heute war Freitag, und es würde ein arbeitsreicher Tag werden. Nicht nur weil im Cookie Jar, ihrem Bäckerei-Café, freitags Kuchentag war, sondern weil sie fünf Rezepte Zuckerplätzchen backen musste, auf Bestellung eines Caterers in Minneapolis, der sie für eine Hochzeitsfeier benötigte.
Hannah und ihre Partnerin, Lisa Herman, hatten den Teig dafür gestern kurz vor Feierabend hergestellt. Bis halb acht, wenn Lisa zur Arbeit kam, würde sie die Plätzchen und anschließend die Zitronentorten backen, die es jeden Freitag gab. Lisa würde später die Plätzchen mit den Initialen des Brautpaars verzieren, PP für Pamela Pollack und TH für Toby Heller.
Einige Minuten unter der heißen Brause dämpften den stechenden Nackenschmerz. Da der Wettermann im Radio für heute den heißesten Tag des Sommers angekündigt hatte, beschloss sie, ihre leichteste Hose anzuziehen, die sie im vergangenen Sommer bei einem der seltenen Shoppingtrips mit ihrer Schwester Andrea gekauft hatte.
Hannah stieg hinein und hatte Mühe, sie über die Oberschenkel zu ziehen. Dann ging gar nichts mehr. Obwohl der Reißverschluss ganz geöffnet war, passte die Hose nicht über die Hüften. So eng war sie voriges Jahr nicht gewesen!
Ärgerlich musterte sie die Hose. Offenbar hatte sie zugenommen, und zwar beträchtlich. Schlimm genug, dass sie unter ihren zierlichen Familienmitgliedern die Größte war und als einzige Tochter die widerspenstigen roten Haare ihres Vaters geerbt hatte. Nun war sie also auch noch übergewichtig. Es war Zeit, mit einer Diät anzufangen, ob ihr das gefiel oder nicht.
Während sie sich aus den Hosenbeinen schälte und im Schrank nach einer Hose mit elastischem Bund suchte, sah sie unzählige Salatmahlzeiten mit kalorienarmen Dressings auf sich zukommen. Joggen kam nicht infrage. Sie hasste das und hatte sowieso keine Zeit dazu. Genauso wenig wie fürs Fitnessstudio. Das nächste befand sich im Einkaufszentrum, und sie würde bestimmt nicht so weit fahren. So sehr sie die Aussicht verabscheute, sie würde die Nahrungsaufnahme drosseln müssen. Das war für sie der einzig gangbare Weg, um die überschüssigen Pfunde loszuwerden.
Sie drehte sich zu ihrer Waage um. Vermutlich lag es an ihrer lebhaften Fantasie, aber das Gerät lauerte dort hinterhältig wie eine Klapperschlange. Es wäre vernünftig, sich jetzt zu wiegen, sagte sie sich, nur um zu sehen, wie viel sie abnehmen müsste. Sie machte sogar einen Schritt zur Waage hin, blieb jedoch stehen, weil sie Herzklopfen bekam und ihre Handflächen feucht wurden.
Wann hatte sie sich zum letzten Mal gewogen? Das musste mindestens sechs Monate her sein. Vielleicht sollte sie eine Woche lang weniger essen und sich dann erst wiegen. Auf diese Weise wäre der Schock nicht so groß. Wenigstens hatte Kaffee keine Kalorien. Sie würde noch eine Tasse trinken und später entscheiden, wann sie auf die Waage steigen wollte.
Als sie ihre dritte Tasse getrunken hatte, rückten die Zeiger ihrer apfelförmigen Küchenuhr auf fünf Uhr zwanzig vor. Sie füllte Moishes Futternapf für den Tag auf und goss den restlichen Kaffee in den Thermobecher, den Bill Todd, der Mann ihrer Schwester Andrea, ihr vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte.
»Bis später, Moishe. Sei brav, solange ich weg bin.« Sie kraulte ihn unter dem Kinn und hängte sich die Handtasche über die Schulter. »Auch wenn ich dazu verdammt bin, heute Abend Salat zu essen, verspreche ich dir eine große Portion …«
Sie unterbrach sich, weil das Wandtelefon klingelte. Höchstwahrscheinlich war es ihre Mutter. Niemand außer Delores rief so früh bei ihr an. Flüchtig zog sie in Betracht, den AB anspringen zu lassen, doch ihre Mutter würde sie später irgendwann erwischen, vielleicht sogar in einem noch ungünstigeren Moment. Es hatte keinen Sinn, das Unvermeidliche aufzuschieben.
Das Telefon läutete zum zweiten Mal, worauf Moishe dem Apparat das Hinterteil zuwandte und mit dem Schwanz schlug, eine Angewohnheit, die Hannah erheiterte, denn Delores gehörte nicht zu seinen Lieblingsmenschen. Lachend nahm sie den Hörer ab. »Hallo, Mutter.«
Am anderen Ende der Leitung war es zunächst still, dann hörte sie ein Kichern, ein männliches Kichern. »Ich bin nicht deine Mutter.«
»Norman?« Sie warf ihre Tasche auf den Küchentisch und setzte sich. Norman Rhodes war einer ihrer Lieblingsmenschen, und sie ging ab und zu mit ihm aus. »Wieso bist du schon so früh auf?«
»Bin ich immer. Ich wollte dich erwischen, bevor du das Haus verlässt. Hannah, du musst mir einen Gefallen tun.«
»Welchen?« Sie lächelte, als sie sich sein Gesicht vorstellte. Im Hintergrund hörte sie Wasser laufen und wusste, er setzte in der Küche seiner Mutter Kaffee auf. Die meisten Leute würden ihn nicht als gut aussehend bezeichnen, aber ihr gefiel er. Er hatte ein Gesicht, bei dem man instinktiv Vertrauen fasste.
»Würdest du mir an der hinteren Wand für halb zehn einen großen Tisch reservieren?«
»Kann ich nicht«, antwortete sie grinsend.
»Warum nicht?«
Sie lachte unverhohlen. »Weil ich keinen großen habe. Die Tische sind alle klein. Wie wär’s, wenn ich zwei zusammenschiebe?«
»Das wäre gut. Ich habe aufregende Neuigkeiten, Hannah.«
»Wirklich?« Sie sah zur Uhr. Es wurde immer später. Aber das war nicht schlimm. Die Zitronentorten brauchten nicht lange. Die Böden hatte sie gestern Abend schon gebacken, sodass sie nur noch die Füllung und das Baiser fabrizieren musste. Sie hatte Lust, mit Norman zu telefonieren. Dafür würde sie nachher in der Backstube einfach schneller arbeiten.
»Ich habe für ein Haus geboten und den Zuschlag bekommen.«
»Du hast ein Haus gekauft?« Sie hatte keine Ahnung gehabt, dass er eins suchte.
»So ist es, und ich möchte heute Vormittag den Vertrag unterzeichnen, bevor die Besitzerin es sich anders überlegt. Ich habe einen wirklich günstigen Preis erzielt. Es geht um das Voelker-Haus.«
»Das ist wunderbar.« Hoffentlich wusste er, was er da erwarb. Das Voelker-Haus war eine Bruchbude. Es stand auf einem schönen Grundstück mit Blick über den Eden Lake, den See, der zu Lake Eden gehörte, aber an dem Haus selbst war seit über sechzig Jahren nichts modernisiert worden. »Willst du es umgestalten?«
»Da müsste viel zu viel erneuert werden. Ich habe es wegen des Grundstücks gekauft. Ich werde es abreißen und unser Traumhaus bauen.«
Hatte sie richtig gehört? »Sagtest du: unser Traumhaus?«
»Genau das. Mit dem wir bei dem Wettbewerb gewonnen haben. Die Entwürfe waren perfekt, Hannah. Es ist ein großartiges Haus. Das wird ein wahres Schmuckstück.«
Hannah war sprachlos. Sie hatte es mit ihm gemeinsam entworfen und sich riesig gefreut, als sie damit den ersten Platz belegt hatten. Das Preisgeld hatten sie sich geteilt, und dadurch war die Backstube jetzt mit einem Fensterklimagerät und das Café mit acht Deckenventilatoren ausgestattet, und der Vorratsraum bekam noch neue Regale.
Ihr Traumhaus war tatsächlich großartig, doch sie hätte sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt, dass Norman es wirklich bauen würde! Was wollte er eigentlich mit vier Schlafzimmern, drei Bädern und diversen Wohnebenen anfangen?
Zwischen Hannahs Brauen zeigte sich eine Steilfalte. Sicher hatte er nicht vor, allein darin zu wohnen. Glaubte er, sie werde ihn heiraten, ohne dass er sie fragen musste? Und wenn er nicht vorhatte, ihr einen Antrag zu machen, hatte er eine andere Frau auserkoren?
»Ich habe dich wohl geschockt«, bemerkte Norman kichernd. »Du warst noch nie so lange still.«
Hannah nickte, obwohl ihr klar war, dass er sie nicht sehen konnte. »Das hast du wirklich. Ich kann nicht glauben, dass du die Entwürfe tatsächlich umsetzen willst.«
»Tja, genau das will ich. Das Zusammenleben mit meiner Mutter ist nervenaufreibend. Jedes Mal wenn ich das Haus verlasse, fragt sie, wohin ich gehe und wann ich zurückkomme. Sie meint es sicher nur gut, aber sie kann anscheinend nicht akzeptieren, dass ich erwachsen bin.«
»Das kenne ich«, erwiderte Hannah mitfühlend. Carrie Rhodes versuchte, über Normans Leben zu bestimmen, seit er nach Lake Eden zurückgekehrt war und die Zahnarztpraxis seines Vaters übernommen hatte. »Ist deine Mutter sauer, weil du ausziehst?«
»Sie weiß es noch nicht. Ich werde es ihr nachher beim Frühstück sagen. Sie beklagt sich schon die ganze Zeit, weil sie nicht genug Lagerplatz für Granny’s Attic haben. Sie wird bestimmt froh sein, wenn ich mein Zeug aus der Garage wegschaffe.«
Hannah kniff die Lippen zusammen. Warum sollte sie ihm die Illusion rauben? Es stimmte zwar: Ihre Mütter benötigten für das gemeinsame Antiquitätengeschäft mehr Lagerraum, doch der zusätzliche Platz würde Carrie nicht besänftigen. Vielmehr würde sie vor Wut schäumen, weil Norman die Entscheidung gefällt hatte, ohne ihren Rat einzuholen.
»Ich kann mein Glück noch gar nicht fassen. Du wusstest, dass Rhonda Scharf es geerbt hat, nicht wahr?«
Hannah bestätigte das. Rhonda war regelmäßig Gesprächsgegenstand der Lake Edener Plaudertaschen, und jeder in der Stadt wusste von ihrer Erbschaft. Am Tag, nachdem das Testament ihrer Großtante verlesen worden war, hatte Rhonda die Räume des ortsansässigen Maklerbüros betreten und das Haus ins Angebot aufnehmen lassen. »Weiß Andrea, dass du es gekauft hast?« Ihre jüngere Schwester arbeitete in dem Büro.
»Natürlich. Rhonda hat sie gestern Abend angerufen, und Andrea hat ihr geraten, mein Angebot anzunehmen.«
»Ach … das ist schön.« Hannah wunderte sich, warum Andrea ihr das nicht erzählt hatte. Wozu hatte man eine Schwester, wenn sie einem solche Neuigkeiten vorenthielt?
»Ich habe alle Beteiligten gebeten, in dein Café zu kommen. Wir sind zu viert, und ich dachte, du könntest als Zeugin fungieren. Du bist doch bereit dazu, oder?«
»Natürlich.«
»Gut. Dann sehen wir uns um halb zehn. Das ist ein großer Schritt für mich, Hannah.«
»Ich weiß. Ich gratuliere, Norman.« Stirnrunzelnd legte sie auf. Selbstverständlich freute sie sich für ihn, doch sie war ziemlich sauer auf ihre jüngere Schwester. Andrea schlief gern bis sieben, doch Hannah nahm den Hörer erneut ab und wählte ihre Nummer. Zwar war sie am vergangenen Abend lange unterwegs gewesen, weil sie Kaffee und Gebäck bei einer Brautparty serviert hatte, doch Andrea hätte ihr wenigstens eine Nachricht auf Band sprechen können!
Kurz bevor die Verbindung zustande kam, blickte Hannah zum Anrufbeantworter hinüber. Das rote Lämpchen blinkte hektisch. Andrea hatte offenbar doch angerufen, mehrmals sogar. Hannah legte auf, bevor es am anderen Ende läutete, und hörte die Nachrichten ab. Es waren sechs an der Zahl, und alle stammten von Andrea. Als Hannah am vergangenen Abend von dem Catering-Auftrag nach Hause gekommen war, war sie zu müde gewesen, um noch nach dem AB zu sehen. Und heute früh hatte sie es vergessen.
Gerade hatte sie die Nachrichten gelöscht, als das Telefon von Neuem klingelte. Delores? Andrea? Sie nahm beim zweiten Klingeln ab und fragte sich schon, ob sie heute noch mal zur Arbeit kommen würde.
»Hannah?« Es war Norman. »Entschuldige, dass ich dich zweimal störe. Aber hast du noch den Kuli, den ich dir Weihnachten geschenkt habe?«
Hannah zog die Brauen hoch. Männliche Vergesslichkeit! »Du hast mir keinen Kuli geschenkt, sondern einen Seidenschal und eine goldene Haarspange.«
»Ich weiß. Das waren die wirklichen Geschenke für unter den Baum. Ich meine den Werbekuli von meiner Praxis. Du hast ihn nicht weggeworfen, oder?«
»Natürlich nicht. Ich fand ihn süß. Ich hatte noch nie einen Kugelschreiber, der wie eine Zahnbürste aussieht. Er liegt hier … irgendwo.«
»Könntest du nachsehen? Ich habe ein paar aufbewahrt, aber die sind in Mutters Garage, und ich habe keine Zeit, sie hervorzukramen. Ich dachte, es wäre ein hübsches Detail, den Kaufvertrag damit zu unterzeichnen. Das ist nicht ausschlaggebend, doch die Kulis waren eine Idee meines Vaters, und da er nicht mehr dabei sein kann …«
Hannah unterbrach ihn. »Ich suche ihn sofort, warte kurz.«
Sie legte den Hörer ab und kippte ihre Handtasche auf dem Küchentisch aus. Da lagen bestimmt ein Dutzend Stifte, aber Normans Kugelschreiber war nicht dabei. Sie warf alles wieder in die Tasche und schaute in dem angeschlagenen Kaffeebecher nach, der als Stifthalter fungierte. Auch dort war der Kuli nicht.
»Tut mir leid, Norman«, sagte sie in den Hörer. »Er ist weder in meiner Handtasche noch im Stifthalter auf dem Küchentisch.«
»Und auf deinem Nachttisch? Du hast mir erzählt, dass du da immer einen Stift und einen Stenoblock liegen hast für den Fall, dass dir mitten in der Nacht eine Rezeptidee einfällt.«
Hannah war überrascht. Sie erinnerte sich nicht, das erwähnt zu haben. »Ich werde nachsehen, bevor ich gehe. Wenn ich ihn finde, bringe ich ihn mit.«
Sie legte auf und ging ins Schlafzimmer. Norman war eindeutig nervös, weil er zum ersten Mal ein Haus kaufte. Das war in der Tat ein großer Schritt. Als sie seinerzeit den Vertrag für ihre Wohnung unterschrieben hatte, hatte sie schmerzlich gespürt, wie sehr ihr Vater ihr fehlte, und sich gewünscht, er könnte sie bei ihrem Schritt ins Erwachsenenleben sehen. Wenn Norman mit dem Werbekuli seines Vaters unterschreiben wollte und sich damit besser fühlte, dann würde sie ihn gern eine Stunde lang suchen.
Und da lag er! Sie erblickte ihn, sowie sie ihr Schlafzimmer betrat. Erleichtert nahm sie ihn an sich, steckte ihn in die Handtasche und wollte gerade die Wohnung verlassen, als schon wieder jemand anrief. Sie eilte in die Küche, wäre in ihrer Hast beinahe über Moishe gefallen und riss den Hörer von der Gabel, bevor es zum zweiten Mal klingelte.
»Hallo, Norman. Dein Kuli lag auf meinem Nachttisch, genau wie du gesagt hast. Ich bringe ihn dir mit.«
Sie hörte ein erschrockenes Keuchen, dann Schweigen. Der Anrufer war so still, dass Hannah im Hintergrund eine Uhr ticken hörte.
»Oh-oh«, hauchte sie, da sie an den genauen Wortlaut zurückdachte. Für jemanden, der nicht Zeuge des vorigen Gesprächs gewesen war, dürfte das Wort »Nachttisch« reichlich Anlass zu pikantem Klatsch geben. Während sie noch hoffte, der Anrufer wäre völlig fremd und hätte sich bloß verwählt, fing die im Hintergrund tickende Uhr an zu läuten, und sie erkannte die Melodie von Edelweiß.
Sie stöhnte. Da hatte sie etwas angerichtet! Der einzige Mensch in Lake Eden, der solch eine Uhr besaß, war ihre Mutter!
»Hier ist deine Mutter«, sagte Delores Swensen endlich. »Wie kommt Normans Kugelschreiber in dein Schlafzimmer?«
Hannah fing an zu lachen, sie konnte nicht anders. Noch nie hatte ihre Mutter derart schockiert geklungen.
»Hör auf zu lachen und antworte mir! Ich bin deine Mutter. Ich habe ein Recht, das zu erfahren!«
Hannah hatte nicht vor, darüber zu streiten, nicht solange Delores klang, als wäre sie einem Herzstillstand nahe. »Entspann dich. Norman möchte, dass ich ihm den Werbekuli seiner Praxis mitbringe, den er zu Weihnachten verteilt hat. Ich habe ihm mal erzählt, dass ich immer einen Stift auf dem Nachttisch liegen habe, und deshalb hat er mir geraten, dort nachzusehen.«
»Ach so. Das ist etwas anderes. Im ersten Moment dachte ich … nun, das ist jetzt gleichgültig. Wozu braucht Norman gerade diesen Stift?«
»Er unterschreibt heute Vormittag einen Vertrag und möchte den Kuli aus sentimentalen Gründen dafür benutzen. Er hat gerade ein Haus gekauft.«
»Norman hat ein Haus gekauft? Welches? Wo?«
»Das Voelker-Haus. Er will es abreißen und dafür unser Traumhaus bauen.«
»Welches Traumhaus?«
»Das Haus, das wir für den Wettbewerb entworfen haben und den ersten Preis gewonnen hat. Du erinnerst dich sicher noch?«
»Selbstverständlich. Du hast mir den Grundriss gezeigt. Aber das Haus wäre riesig, nicht wahr?«
»Vier Schlafzimmer, drei Bäder.«
»Das wäre doch viel zu groß für …« Delores stockte und keuchte auf. »Verschweigst du mir etwas, Hannah?«
»Nicht das Geringste.«
»Dann erwägst du also keine große Veränderung in deinem Leben?«
Hannah schaute zur Uhr und runzelte die Stirn. »Die einzige Veränderung, die ich erwäge, ist, das Telefonkabel aus der Wand zu reißen, damit ich endlich zur Arbeit fahren kann.«
»Oh. Also gut, Liebes. Ich mache es kurz. Ich rufe an, weil ich wunderbare Neuigkeiten habe. Michelle kommt nach Hause.«
»Wirklich?« Das brachte Hannah zum Lächeln. Ihre jüngste Schwester hatte gerade ihr erstes Jahr am Macalester College absolviert, und Hannah hatte sie seit Weihnachten nicht gesehen. »Wann kommt sie an?«
»Am Dienstagabend. Sie kann bis Sonntag bleiben. Der Drama-Fachbereich zieht in ein neues Gebäude um, und den Studenten, die dabei helfen, wurde eine Woche freigegeben. Sie kommt mit dem Elf-Uhr-Bus und möchte in der Hütte am See wohnen.«
»Hast du sie nicht für den ganzen Sommer vermietet?«
»Doch, aber Andrea hat mit den Mietern eine Vereinbarung getroffen. Natürlich werde ich mit ihr zusammen dort wohnen. Ein Mädchen in ihrem Alter muss beaufsichtigt werden.«
Grinsend malte sich Hannah aus, wie Michelle auf diese Neuigkeit reagieren würde. Dass Delores sie bei ihren idyllischen Ferien am See mit ihrer Anwesenheit beehrte, dürfte sie nicht glücklich machen.
»Ich habe gehofft, du könntest sie am Quick Stop abholen und sie zur Hütte bringen. Ich habe an dem Abend einen Termin mit einer prominenten Dekorateurin, und Carrie dürfte allein nicht mit ihr fertig werden. Und anschließend muss ich direkt zur Hütte fahren und alles vorbereiten. Bis Michelle eintrifft, werde ich gerade genug Zeit haben, um die Betten zu beziehen und Handtücher hinzuhängen.«
»Kein Problem«, versicherte Hannah. »Ich werde sie vom Bus abholen.«
»Danke, Hannah. Ich wusste, ich kann auf dich zählen. Jetzt muss ich mich beeilen. Carrie holt mich in fünf Minuten ab, und ich muss mich noch frisieren. Wir werden heute Vormittag das Schaufenster gestalten.«
Hannah lächelte beim Auflegen, was sie nach einem Gespräch mit ihrer Mutter selten tat. Es würde guttun, Michelle wieder zu Hause zu haben.
Bis halb acht hatte Hannah viel erledigt. In den Backöfen standen ein Dutzend Zitronentorten, und die Zuckerplätzchen für Pamelas und Tobys Hochzeitsfeier waren allesamt gebacken. Sie trank den restlichen Kaffee aus ihrem Thermobecher, setzte sich auf einen Hocker an den Arbeitstisch und griff nach einem der Zuckerplätzchen, die sie als zweite Wahl deklariert hatte. Es war nicht ganz rund geworden, doch Hochzeitsplätzchen sollten in ihren Augen makellos sein.
Als sie es kosten wollte, wurde ihr die Realität bewusst: Sie durfte keine Plätzchen essen. Sie war auf Diät. Im tiefsten Innern wusste sie, dass sie zwanzig Pfund abnehmen musste, wenn nicht mehr. Und bei näherer Betrachtung mochte das der Grund sein, warum Norman ihr noch keinen Antrag gemacht hatte.
Leise seufzend legte sie das Plätzchen zurück auf den Teller. Sie musste sich bezwingen. Sie musste stark bleiben. Zumal sie sich gerade dazu durchgerungen hatte, fettarmen Hüttenkäse und Rohkostsalate zu lieben, bis sie wieder in ihre Sommerhose passte. Wenn sie ihr Idealgewicht zurückerlangt hatte, würde Norman nur einen Blick auf ihren neuen gertenschlanken Körper werfen und sie sofort fragen. Und sie würde … Was würde sie sagen? Wollte sie wirklich einen Mann heiraten, der sie mit zwanzig Pfund Übergewicht nicht haben wollte?
Wieder griff sie nach dem Plätzchen. Sie wollte einen Mann, der sie so akzeptierte, wie sie war. Wenn zwanzig Pfund Übergewicht über Ehelosigkeit oder Hochzeitsglück entschieden, dann war an dem System etwas faul. Außerdem bedeutete eine Ehe mit Norman, dass sie künftig auf Mike Kingston verzichten musste.
Bei dem Gedanken an Mike hörte sie sich seufzen. Er war der leitende Detective der Polizei von Winnetka County und enorm attraktiv. Außerdem war er Bills Partner, und der hatte ihr unverblümt gesagt, dass er hoffte, sie würde sich für Mike entscheiden. Andrea mochte Mike ebenfalls, aber sie war derselben Meinung wie ihre Mutter: Solange der Kandidat männlichen Geschlechts und ledig war, tat es notfalls jeder.
Sowie sie an ihre Mutter dachte, zog Hannah die Hand von dem Plätzchen zurück. Wenn sie abgenommen und Norman ihr den Antrag gemacht hatte, würde Delores sie nicht mehr mit jedem heiratsfähigen Mann verkuppeln wollen, der nach Lake Eden kam.
Aber wollte sie jetzt schon heiraten? Erneut streckte sie die Hand nach dem Plätzchen aus. Es könnte praktischer sein, ihr Gewicht zu behalten und Heiratsanträge zu verhindern, damit sie auch weiterhin Norman und Mike daten konnte.
Die Hintertür wurde geöffnet, und Hannah zog die Hand zurück. Eine schuldbewusste Reaktion, schlicht und einfach, und sie lächelte ihre Geschäftspartnerin verlegen an. »Guten Morgen, Lisa.«
»Hi, Hannah.« Lisa Herman hängte ihre Tasche an einen Haken neben der Tür, griff nach ihrer Schürze und kam zu ihr, um sie neugierig anzublicken. Da sie zierlich war, musste sie die Schürze in der Taille umschlagen und die Bänder zweimal um sich wickeln. »Du wolltest das Plätzchen nehmen und hast es dir anders überlegt. Sind sie misslungen?«
»Nein. Sie schmecken bestimmt köstlich.«
»Warum isst du dann nichts davon?«
»Weil ich auf Diät bin. Ich esse erst wieder Süßes, wenn ich zwanzig Pfund verloren habe. Wenn du mich noch mal nach einem Plätzchen greifen siehst, hau mir auf die Finger.«
»Okay. Aber was hat dich darauf gebracht?«
»Meine schöne Sommerhose. Ich habe sie mir voriges Jahr bei einem Shoppingausflug mit Andrea gekauft, und jetzt kriege ich sie nicht mehr zu.«
»Das ist seltsam. Du siehst nicht aus, als hättest du zugenommen.«
»In deinen Augen vielleicht nicht, aber …« Hannah unterbrach sich und seufzte. »Norman hat ein Haus gekauft.«
»Das hat er getan?« Lisa wirkte erschrocken.
»Das Haus, das Rhonda Scharf von ihrer Großtante geerbt hat. Er kommt später hierher, um den Vertrag zu unterschreiben.«
»Also zieht er um?«
»Noch nicht. Er will das alte Haus abreißen und das Traumhaus bauen, das wir für den Wettbewerb entworfen haben.«
»Das ist wundervoll.« Lisa ging zur Spüle und wusch sich die Hände. »Doch was hat das mit deiner Diät zu tun?«
»Er hat mich heute Morgen angerufen und mir das erzählt, aber nicht gefragt, ob ich ihn heiraten will.«
Lisa drehte sich um und blickte sie ernst an. »Und du glaubst wirklich, er hat das nur nicht getan, weil du zwanzig Pfund Übergewicht hast?«
»Na ja … nein. Doch …«
»Versteh mich nicht falsch. Mach ruhig deine Diät, wenn du willst, aber begründe es nicht mit Norman. Er ist verrückt nach dir. Das sieht jeder. Ich denke, er wird dich bald fragen.«
Hannahs Laune hob sich. »Meinst du wirklich?«
»Absolut. Manche Männer brauchen eine Weile, um all ihren Mut zusammenzunehmen. Ich treffe mich genauso lange mit Herb wie du dich mit Norman triffst, und Herb hat mich auch noch nicht gefragt.«
»Wünschst du es dir denn?« Hannah bereute die Frage sofort. Die Beziehung ihrer Geschäftspartnerin mit Herb ging sie nichts an. Doch Lisa schien keinen Anstoß daran zu nehmen und lächelte, während sie sich die Hände abtrocknete.
»Manchmal ja. Und du? Möchtest du, dass Norman dir einen Antrag macht?«
»Ich weiß nicht so recht. Ich weiß nur, ich will nicht, dass er eine andere fragt.«
Lisa lachte. »Da besteht sicher keine Gefahr. Also, wie steht’s mit der Diät? Ist die noch aktuell?«
Hannah überlegte. »Ja. Ich kann es mir nicht leisten, mich komplett neu einzukleiden.«
»Na, das ist ein guter Grund.« Lisa ging zur Schwingtür, die ins Café führte. »Ich koche jetzt Kaffee, damit du dir den Magen damit füllen kannst, ohne Kalorien zu dir zu nehmen.«
Die Herduhr meldete sich, und Hannah nahm die Tortenböden aus den Öfen. Bis sie sie alle auf Abkühlgitter gestellt hatte, kam Lisa mit einem frisch gebrühten Kaffee zurück.
»Bitte sehr.« Sie reichte ihr einen weißen Becher, auf dem in roter Schrift The Cookie Jar stand. »Der bringt dich auf Touren. Und sobald du deinen Energieverbrauch gesteigert hast, wirst du mehr Kalorien verbrennen … Schön wie immer.«
Hannah hatte den ersten Schluck von dem Kaffee trinken wollen, blickte jedoch bei Lisas Worten auf und sah sie die fertigen Tortenböden beäugen.
»Ich finde, der Kuchen mit dem Zitronenbaiser ist immer unser hübschester. Natürlich sind deine Kirschkuchen auch wunderhübsch. Es sieht lecker aus, wie der rote Guss durch das Teiggitter quillt. Und deine gedeckten Apfelkuchen sind herrlich, so goldbraun, und sie duften so gut. Und deine Heidelbeer…«
»Stopp!« Hannah hob abwehrend die Hände. »Ich bin auf Diät, weißt du noch?«
Lisa schaute verlegen. »Entschuldige, Hannah. Vergiss, was ich über deine Kuchen gesagt habe. Sind die Hochzeitsplätzchen so weit ausgekühlt, dass ich sie verzieren kann?«
»Müssten sie eigentlich.«
Lisa machte sich daran, Puderzucker in eine Schüssel zu sieben. »Ich rühre den Guss an und ziehe zuerst die Buchstaben.«
»Guter Plan. Die sollten durchtrocknen, bevor du die purpurfarbenen Herzen darum ziehst.«
»Violett«, korrigierte Lisa und maß den Puderzucker ab. »Die Braut will die Initialen in der Farbe haben, die der Sommerhimmel kurz nach Tagesanbruch hat. Und die Herzen sollen die Farbe der ersten wilden Frühlingsveilchen haben.«
Hannah zog die Brauen hoch. »Das ist sehr poetisch ausgedrückt, aber am Ende läuft es auf Hellblau und Hellpurpur hinaus, oder?«
»Da hast du recht.« Lisa grinste und rührte die Butter in den Puderzucker, dann griff sie nach der Sahne.
Während Hannah Teig knetete und Plätzchen backte, wurde Lisa mit dem Guss fertig und füllte ihn in eine Spritztüte. Hannah sah mehrmals zu ihr hinüber, als sie die hellblauen Buchstaben auf die Plätzchen zog. Anfangs hatte Lisa Verzierungen mit zittriger Hand aufgetragen, aber sie hatte mit einer Beharrlichkeit geübt, die Hannah bewunderte. Inzwischen beherrschte Lisa diese Kunst meisterhaft, sodass sie individuell verzierte Plätzchen für jede Gelegenheit anbieten konnten.
Sie wurden zur selben Zeit mit ihren jeweiligen Aufgaben fertig, und Hannah ging Lisas Werk begutachten. »Perfekt«, sagte sie und lächelte sie an. »Komm mit. Ich finde, wir haben eine Kaffeepause verdient.«
Sobald Hannah das Café betrat, schaltete sie die Ventilatoren ein. Träge drehten sich die Rotorblätter und erzeugten eine leichte Brise, die die roten, weißen und blauen Luftschlangen in Bewegung versetzten, die Lisa wegen des Vierten Juli unter die Decke gehängt hatte.
»Geh und setz dich. Ich hole uns den Kaffee.« Lisa trat hinter den Ladentisch zur Kaffeemaschine.
Hannah wählte ihren Lieblingsplatz. Der Tisch stand in der hinteren Ecke und bot trotzdem einen guten Blick auf die Straße. Er hatte noch einen großen Vorzug. Von draußen gesehen wirkte das Café leer, solange man nicht die Nase an die Fensterscheibe drückte. Und wenn die Kunden sie nicht erblickten, klopften sie nicht an die Scheibe, um früher eingelassen zu werden.
Die Luftschlangen sahen hübsch aus, und Hannah freute sich, dass Lisa geschmückt hatte. Die Bewohner von Lake Eden waren engagierte Patrioten, und der Vierte Juli gehörte für sie zu den wichtigsten Feiertagen. Am Vormittag würde eine Parade stattfinden, und im Laufe des Tages würden noch andere Veranstaltungen folgen, wie das sogenannte »Potluck-Picknick«, zu dem jeder etwas mitbrachte, das Barbecue am Seeufer und das Feuerwerk am Abend.
»Was ist mit dem Ventilator los?«, fragte Lisa, als sie die Tassen auf den Tisch stellte.
»Welchen meinst du?«
»Den über dir.«
Hannah schaute an die Decke und bemerkte, dass er sich nicht drehte. »Keine Ahnung, aber Freddy und Jed kommen nachher vorbei und bringen im Vorratsraum die neuen Regale an. Ich werde sie darauf aufmerksam machen.«
»Freddy sieht gut aus.« Lisa setzte sich neben sie. »Er hat mir erzählt, dass Jed ihm beigebracht hat, jeden Morgen zu duschen und sich frische Sachen anzuziehen.«
»Das ist ein großer Fortschritt. Ich kann mich noch gut an die Male erinnern, als ich gegen den Wind stand.«
Während sie ihren Kaffee tranken, dachte Hannah über Freddy Sawyer nach. Er war ein wenig zurückgeblieben und nahm in der ganzen Stadt Gelegenheitsarbeiten an, um das Einkommen aus dem kleinen Treuhandfonds aufzubessern, den seine Mutter kurz vor ihrem Tod für ihn eingerichtet hatte.
Freddy musste Anfang dreißig sein, aber durch seine naive Art und sein jungenhaftes Grinsen wirkte er viel jünger. Er wohnte kurz hinter der Stadtgrenze an der Old Bailey Road in dem Haus, das viele Jahre seiner Mutter gehört hatte. Sein Cousin Jed war vergangenen Monat zu ihm gezogen, und anscheinend hatte er auf Freddy einen guten Einfluss.
»Die Leute unterschätzen Freddy«, sagte Lisa ziemlich empört. »Sie glauben, dass er nichts Neues lernen kann, aber da irren sie sich. Janice Cox hat ihm beigebracht, die Uhr zu lesen. Das hat sie mir neulich erzählt.«
»Das ist gut.« Hannah schaute nach draußen, wo gerade ein Wagen vor dem Café anhielt. »Da kommt Andrea, und sie ist früh dran. Sie ist hier erst um halb zehn mit Norman verabredet.«
Lisa sprang auf. »Ich lasse sie rein. Bleib du sitzen und entspann dich. Bestimmt ist es gestern bei der Brautparty spät geworden.«
Hannah gehorchte. Sie war tatsächlich müde. Es war eine große Party mit vierzig Gästen gewesen. Andrea hatte dazugehört, war aber nur so lange geblieben, bis sie ihr Geschenk überreicht und der künftigen Braut gratuliert hatte. Am Schluss hatte sie Hannah etwas von Mike ausgerichtet.
Er war für fünf Tage in Des Moines bei einer Tagung über Interventionsmethoden bei jugendlichen Straftätern. Da er Hannah telefonisch nicht mehr erreicht hatte, hatte er Andrea angerufen und Bescheid gesagt, dass er bis Sonntag fort sei, am Montag gegen Mittag nach Lake Eden zurückkomme und dann im Cookie Jar vorbeischauen werde.
Die Schwestern hatten keine Zeit gehabt, mehr als ein paar Worte zu wechseln, bevor Andrea hatte gehen müssen. Seit sie schwanger war, hatte ihr Mann Bill sich in eine Glucke verwandelt. Er drängte sie, sich auszuruhen, obwohl sie nicht müde war, brachte ihr ständig Wolldecken und Kissen, die sie nicht brauchte, und neuerdings bereitete er ihr kalorienreiche Zwischenmahlzeiten zu, die ihre gesunde pränatale Ernährung über den Haufen warfen.
»Hi, Hannah.« Andrea kam hereingerauscht, wie immer todschick. Sie trug einen hellgrünen Rock, der bei jedem Schritt hin und her schwang, ein passendes hüftlanges Oberteil, einen türkisfarbenen Schal um die Taille und eine silberne Kette mit Türkisanhänger; eine Farbkombination, auf die Hannah nie gekommen wäre. Andreas hellblonde Haare waren zu einem komplizierten Knoten geschlungen. Sie sah aus, als wäre sie einer teuren Modezeitschrift entsprungen.
»Du siehst fantastisch aus«, sagte Hannah ohne den geringsten Neid. Andrea war immer elegant, und Hannah kam sich neben ihr oft ungepflegt vor.
»Mutter hat dich wegen Michelle angerufen?«
»Ja. Ich hole sie vom Bus ab. Es wird wunderbar, sie wieder hierzuhaben.«
»Ich weiß. Wir haben sie eine Ewigkeit nicht gesehen.« Andrea zog sich einen Stuhl heran und setzte sich. »Warum hast du mich gestern Abend nicht zurückgerufen? Ich habe dir zig Nachrichten auf Band gesprochen.«
»Ich habe vergessen, auf den AB zu gucken, als ich nach Hause kam. Ich wusste nichts von Normans Hauskauf, bis er mich heute früh anrief.«
Andrea wirkte verstimmt. »Nun, gib nicht mir die Schuld, dass du ahnungslos warst. Du brauchst wirklich ein Handy, Hannah.«
»Ich will keines.«
»Aber jeder hat eins.«
»Dann bin ich offenbar nicht ›jeder‹. Ich weiß, wir leben im Zeitalter der Technik, doch es gefällt mir nicht, an einer elektronischen Leine zu laufen.«
»Das ist keine Leine. Wenn du einen Anruf nicht entgegennehmen willst, kannst du das Telefon einfach ausschalten.«
»Dann wäre es immer ausgeschaltet.« Hannah grinste. Das Ende der Auseinandersetzung war in Sicht. »Und wenn ich sowieso nie rangehe, wozu sollte ich ein Handy besitzen?«
»Kaffee, Andrea?«, rief Lisa und hielt eine Tasse hoch.
»Nein, danke. Doc Knight hat mich auf eine Tasse pro Tag limitiert, und ich hatte schon eine.«
»Wie wär’s mit einem Glas Orangensaft?«
»Das klingt gut.« Andrea lächelte Lisa an, dann wandte sie sich Hannah wieder zu. »Ich musste im Morgengrauen aufstehen. Der einzig mögliche Termin bei ihm war um halb acht.«
»Halb acht ist nicht gerade im Morgengrauen.«
»Für mich schon. Übrigens ist alles in Ordnung. Die Ultraschalluntersuchung habe ich abgelehnt. Wir wollen das Geschlecht erst erfahren, wenn er geboren ist.«
»Wenn er geboren ist?«
»Das sage ich nur Mutter zuliebe. Sie ist überzeugt, dass es ein Junge wird.«
Hannah fand das erheiternd. »Was macht sie so sicher?«
»Sie sagt, wenn man an den Seiten schmal bleibt und der Bauch sehr vorsteht, wird es ein Junge, und wenn der Bauch breit ist, wird es ein Mädchen.«
»Das klingt mir nach einem Ammenmärchen. Außerdem ist dein Bauch noch flach wie ein Brett.«
»Das stimmt nicht. Ich verberge das mit meiner Kleidung, aber nichts passt mehr richtig. Ich werde Schwangerschaftssachen tragen, sobald Claires Lieferung reinkommt.«
»Du hast Claire gebeten, für dich Schwangerschaftskleidung zu bestellen?« Hannah war überrascht. Claire Rodgers gehörte das Beau Monde, die Boutique neben dem Cookie Jar, und ihre Mode war teuer.
»Ich weiß, das wird mich wahrscheinlich ein Vermögen kosten, doch Bill möchte, dass ich nur das Beste habe. Er meint, die Sachen könnte ich vielleicht sogar von der Steuer absetzen. Schließlich bin ich Immobilienmaklerin und muss bei der Arbeit gut gekleidet sein.«
»Das klärst du besser mit Stan ab.« Hannah bezwang ihren Lachimpuls. Stan Kramer war der beste Steuerberater von Lake Eden und dachte in Abschreibungsfragen ziemlich liberal. Trotzdem glaubte sie nicht, dass er so weit gehen würde.
Andrea blickte auf, als Lisa einen Teller Plätzchen brachte. »Danke, Lisa. Die sehen wunderbar aus, und ich hatte keine Zeit zu frühstücken. Was für eine Sorte ist das?«
»Wir nennen sie ›Apricot-Drops‹, Hannahs neue Erfindung. Das sind praktisch Hafer-Rosinen-Plätzchen, aber mit getrockneten Aprikosen anstelle der Rosinen.«
Das Telefon klingelte, und Lisa eilte hin. Hannah beobachtete das Gesicht ihrer Schwester, die in ein Plätzchen biss, und entspannte sich, als sie sie lächeln sah. »Schmeckt es?«
»Fantastisch.« Andrea biss noch einmal ab und neigte sich nach vorn. »Und? Was hältst du von Normans Vorhaben?«
»Ich finde es großartig. Kann es kaum erwarten, unser Traumhaus zu sehen.«
»Also hast du Ja gesagt?«
»Ja zu was?« Hannah verkniff sich ein Grinsen, denn sie wusste genau, wonach ihre Schwester fragte.
»Zur Heirat mit Norman natürlich!«
»Nein.«
»Du hast Nein gesagt?«
Hannah schüttelte den Kopf. »Ich habe gar nichts gesagt. Norman hat mich nicht gefragt.«
»Hat er nicht? Ich war mir sicher, dass er es tut.« Andrea schaute besorgt. »Er geht doch nicht mit einer anderen, oder?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Okay … das ist gut. Vielleicht solltest du ihm einen kleinen Schubs geben? Du wirst nicht jünger, und wenn du Kinder haben willst …« Andrea hielt mitten im Satz inne und seufzte. »Entschuldige, Hannah. Ich klinge allmählich wie Mutter.«
»Allerdings.«
»Aber wenigstens habe ich aufgehört, bevor ich deine biologische Uhr erwähnen konnte.«
»Hast du nicht. Du hast sie gerade angesprochen.«
Andrea schaute verwirrt, fing sich jedoch rasch. »Ich hab doch gesagt, es tut mir leid, Hannah. Hör zu … ich weiß, das ist für dich ein empfindliches Thema. Ich entschuldige mich dafür, dass ich es aufgebracht habe.«
Hannah blieb vor Verblüffung der Mund offen stehen. Ihre Schwester entschuldigte sich selten. Sie war schwer in Versuchung, zum Drugstore zu laufen und eine Packung von den Goldsternen zu kaufen, mit denen Miss Gladke, ihre Lehrerin in der Grundschule, immer besondere Tage im Klassenkalender markiert hatte. Gerade wollte sie die Entschuldigung annehmen, als Lisa zurückkam.
»Eine gute und eine schlechte Nachricht«, verkündete sie. »Welche willst du zuerst hören?«
Hannah entschied sich ohne Zögern. »Die schlechte. Die gute heben wir uns für später auf.«
»Der Caterer hat angerufen. Pamelas Eltern haben die Hochzeitsfeier abgesagt. Pamela hatte einen Riesenstreit mit Toby und ist mit dem Jungen durchgebrannt, mit dem sie in der Highschool gegangen ist.«
Hannah stöhnte. »Ich glaube, ich brauche die gute Nachricht doch schon jetzt.«
»Ich habe gesagt, dass wir die bestellten Plätzchen schon gebacken haben, und daraufhin hat sie versprochen, sie zu bezahlen. Sie schickt uns einen Scheck, und wir dürfen sie behalten.«
»Das ist nett. Aber was sollen wir mit ihnen anfangen? Plätzchen mit Initialen können wir nicht verkaufen, es sei denn …« Hannah griff nach einer Papierserviette und klappte sie auf, sodass sie ein weißes Quadrat vor sich liegen hatte. »Hast du einen Stift dabei?«
»Habe ich immer.« Andrea nahm ihren goldenen Cross-Kuli aus der Aktentasche.
Hannah zog einen großen Kreis, schrieb Pams und Tobys Initialen hinein und betrachtete sie. »Lisa, bringst du mir bitte einen der Hochzeitskekse? Ich habe eine Idee.«
Einen Augenblick später lag er auf einer Serviette in der Tischmitte. Nach einem Blick darauf sah Hannah ihre Partnerin grinsend an. »Ist da genug Platz für ein H und ein A vor Pams Initialen?«
»Sogar reichlich. Ich musste etwas frei lassen für das violette Herz.«
Andrea schaute überrascht. »Ist der Bräutigam ein Kriegsheld?«
»Nein, doch er hätte einen Orden verdient, weil er es mit Pamela aufgenommen hat.« Hannah wandte sich Lisa wieder zu. »Und bekommst du auch ein Y hinter die beiden P?«
»Ganz leicht. Was machen wir mit Tobys Initialen?«
»Nicht viel. Wir brauchen nur eine Vier davorzusetzen.«
»Ich verstehe!« Andrea klang aufgeregt. »Dann steht da: HAPPY 4TH. Die Plätzchen sind weiß. Wenn ihr die Buchstaben in Blau und die Zahl in Rot malt, habt ihr Plätzchen für den Vierten Juli.«
Lisa schob ihren Suhl zurück. »Perfekt, Hannah. Ich fange sofort damit an. Ich muss den blauen Guss farblich anpassen, bevor er trocken wird.«
»Werden die bis zum Unabhängigkeitstag nicht trocken?«, gab Andrea zu bedenken. »Es sind noch fünf Tage bis dahin.«
»Nicht, wenn wir sie einfrieren. Wir können sie dann über Nacht auftauen und bei der Parade verteilen.«
»Das kann Tracey für euch erledigen«, bot Andrea an. »Sie ist fast fünf und alt genug, um bei der Parade mitzumachen. Sie könnte auf dem Cookie Jar-Festwagen mitfahren und sie den Leuten am Straßenrand reichen.«
Hannah schüttelte den Kopf. »Das ist eine nette Idee, aber wir haben keinen Festwagen.«
»Keinen Festwagen?« Andrea war geschockt.
»Wir wollten einen bauen, hatten jedoch keine Zeit dafür, ganz zu schweigen von dem Geld, das er gekostet hätte.«
»Aber wir müssen einen haben! Jeder hat einen. Ich werde ihn für euch bauen, Hannah. Das wird ein Riesenspaß für mich.«
Hannah öffnete den Mund, um das kategorisch abzulehnen, brachte es jedoch nicht übers Herz. Ihrer Schwester schien es damit ernst zu sein. Da Tracey tagsüber in der Vorschule und Bill auf dem Revier war, wusste sie anscheinend nichts mit sich anzufangen. »Hast du schon mal einen Festwagen gebaut?«
»Eigentlich nicht, doch das kann nicht so schwer sein, oder? Bitte, lass mich es versuchen, Hannah. Betrachte es als Gefallen. Du rettest mich aus tödlicher Langweile und brauchst keinen Cent zu bezahlen. Bills Dad hat einen Heuwagen, den ich mir ausleihen kann, und ich habe tonnenweise Bastelmaterial in der Garage.«
Hannah konnte ihrem flehenden Blick nicht widerstehen. Solche freudige Erregung hatte sie bei ihr zuletzt erlebt, als sie ihre Hochzeit geplant hatte. »Aber bist du sicher, dass du ein so eiliges Projekt in Angriff nehmen willst?«
»Na klar. Sag einfach Ja, und ich fange sofort an.«
Hannah war klar, dass sie es womöglich bereuen würde, doch sie nickte. »Okay.«
»Du bist die beste Schwester der Welt!« Andrea sprang auf und umarmte sie. »Ich fahre sofort zum Kiddie Korner und erzähle es Tracey. Sie wird Freudensprünge machen.«
»Denk an dein Treffen mit Norman. Du musst um halb zehn mit den Unterlagen hier sein.«
»Werde ich. Danke, Hannah. Du gibst mir neuen Auftrieb.«
Hannah seufzte, als Andrea hinauseilte und in ihren Volvo stieg. Sie freute sich, weil ihre Schwester glücklich war, doch es könnte sich als strategischer Fehler erweisen, dass sie ihr die Erlaubnis gegeben hatte, besonders da Bill seine Frau derzeit übermäßig behütete. Was würde er über seine Schwägerin denken, wenn seine schwangere Frau ihm eröffnete, dass sie innerhalb weniger Tage einen Festwagen für das Cookie Jar bauen würde?
Den Ofen auf 175 Grad vorheizen, das Blech auf die mittlere Schiene setzen.
Füllung für einen gebackenen Mürbeboden (Pie-Form mit einem Durchmesser von ca. 23 cm):
3 ganze Eier
4 Eigelb (Das Eiklar in einer Schüssel beiseitestellen und auf Zimmertemperatur erwärmen lassen – Sie werden es für das Baiser brauchen.)
200 g weißen Zucker
125 ml Wasser
120 g Maisstärke
30 ml Limettensaft
75 ml Zitronensaft
1 bis 2 TL abgeriebene Zitronenschale
1 EL Butter
(Im Wasserbad gelingt die Füllung garantiert, aber wenn Sie sehr achtsam sind und ununterbrochen rühren, sodass nichts anbrennt, können Sie die Zitronenfüllung auch in einem Stieltopf bei mittlerer Hitze zubereiten.)
Wasser in einen Wasserbadtopf gießen (es sollte die Schüssel nicht berühren) und zum Sieden bringen. Die Schüssel herausnehmen und die Eigelbe sowie die ganzen Eier schlagen. 125 ml Wasser sowie den Zitronen- und den Limettensaft zugeben. Den Zucker und die Maisstärke in einer Schale gut vermengen, zu der Eimischung geben und gründlich verrühren.
Die Schüssel in das simmernde Wasserbad einhängen. Unter permanentem Rühren erhitzen, bis die Mischung dickt (das dauert etwa fünf Minuten). Die Schüssel herausheben und auf eine kalte Herdplatte stellen. Die abgeriebene Zitronenschale und die Butter zugeben und gründlich unterrühren. Beiseitestellen und abkühlen lassen.
Für das Baiser:
4 Eiklar
½ TL Weinstein
1 Msp. Salz
50 g weißen Zucker
Weinstein und Salz zu den Eiklar geben und mit dem Handmixer auf höchster Stufe schlagen, bis beim Herausziehen weiche Spitzen stehen bleiben. Weiter schlagen und dabei den Zucker hineinrieseln lassen. Wenn beim Herausziehen der Quirle feste Spitzen stehen bleiben, den Mixer abstellen und die Schüssel neigen. Wenn die Schaummasse nicht zur Seite gleitet, ist sie fertig.
Nun die Zitronenfüllung auf den gebackenen Mürbeboden geben und mit einem Gummispatel verstreichen. Den Spatel abspülen und abtrocknen und damit die Baisermasse auf der Füllung bis zum Teigrand verteilen, sodass keine Lücken bleiben. (Andernfalls sinkt das Baiser beim Backen ein.) Anschließend mit der flachen Seite des Spatels die Masse betupfen, damit sich Spitzen bilden.
In den vorgeheizten Ofen schieben und höchstens zehn Minuten backen.
Auf einem Kühlgitter auf Zimmertemperatur abkühlen lassen und anschließend, wenn gewünscht, in den Kühlschrank stellen. Dieser Kuchen schmeckt sowohl gekühlt als auch zimmerwarm.
(Zum Anschneiden das Messer in kaltes Wasser tauchen, damit das Baiser nicht daran haftet.)
(Die Zitronentorte ist Lisas Lieblingskuchen – sie mag den Pfiff des Limettensafts.)
Andrea zeigte auf eine gestrichelte Linie, die mit einem blauen Haftstreifen markiert war. »Jetzt du, Hannah. Hier musst du unterschreiben.«
Hannah tat es an der bezeichneten Stelle, direkt unter den Linien, neben denen ein grüner, roter und violetter Haftstreifen klebte. Andrea hatte den Farbcode erklärt, sobald sie an dem Tisch Platz genommen hatten. Norman war grün, Rhonda Scharf rot, Andrea violett und Hannah blau. Anscheinend bestand Normans erster Schritt in die Welt des Hausbesitzes in einer bunten Fließbandunterschriftenaktion, doch das schien ihm nichts auszumachen. Er lächelte, als er seinen Namen auf das nächste Blatt Papier setzte, und als er aufblickte, lächelte sie zurück.
Howie Levine streckte die Hand nach dem Papier aus, das sie soeben unterzeichnet hatte, und sie gab es ihm. Er beglaubigte die Unterschriften und legte das Blatt auf den Stapel links von ihm. Der wuchs von Minute zu Minute.
Hannah blickte zu Rhonda Scharf, die gerade auf die Uhr sah. Es war klar, dass Rhonda froh war, den Besitz ihrer Großtante verkauft zu haben, doch sie unterzeichneten schon seit fünfzehn Minuten Papiere, und das Aufregende daran hatte sich bereits abgenutzt.
Rhonda trug zu dem Termin einen pinkfarbenen Jersey-Hosenanzug mit einem Schwarm schimmernder Schmetterlinge vorne drauf. Der größte und bunteste Schmetterling saß unmittelbar unter der Spitze des tief gezogenen Revers und lenkte die Aufmerksamkeit auf ihren beträchtlichen Busen. Mit ihren fünfzig Jahren hatte Rhonda eine üppige Figur und zeigte sie gern. Das einzig Störende waren ihre Schuhe: lindgrüne Tennisschuhe, die eigens gefärbt worden waren, damit sie zu dem Kittel passten, den Rhonda hinter dem Kosmetiktisch im Drugstore trug.
»Nur noch zehn.« Andrea seufzte und reichte Rhonda ein weiteres Dokument. Die unterzeichnete und gab es an Norman weiter. Norman unterschrieb mit dem Werbekuli seiner Praxis und reichte das Papier an Hannah. Von ihr ging es an Howie, der es beglaubigte und auf den Stapel legte.
Es schien ewig zu dauern, doch endlich wurden sie fertig. Jetzt fehlte nur noch Rhondas Unterschrift auf der Urkunde.
Sie zögerte mit dem Kugelschreiber über dem Papier. »Entschuldige bitte … Howie? Bevor ich dem Verkauf zustimmte, habe ich Norman gefragt, ob ich übers Wochenende ins Haus darf, um ein paar Andenken an meine Familie einzupacken. Brauchen wir dafür eine schriftliche Vereinbarung?«
Howie wandte sich an Norman? »Sind Sie damit einverstanden?«
»Sicher. Das habe ich ihr schon gesagt.«
»Dann sollte das kein Problem sein. Eine mündliche Vereinbarung genügt dafür.«
»In Ordnung. Ich wollte mich nur vergewissern.« Rhonda setzte ihre Unterschrift unter das Dokument.
Sobald es auf Howies Stapel lag und Rhonda von Norman den Scheck bekommen hatte, schob Howie seinen Stuhl zurück und stand auf, um Rhonda und dann Norman die Hand zu schütteln. »Ich werde die Papiere heute noch einreichen, aber da Freitag ist, werden Sie bis Montag warten müssen, um den Besitz anzutreten.«
Nachdem der Anwalt gegangen war, wandte sich Hannah ihrer Schwester zu. »Müssen wir noch etwas tun?«
»Das ist alles.« Andrea wirkte erleichtert. »Herzlichen Glückwunsch zum Verkauf, Rhonda. Und dir zum neuen Haus, Norman. Du hast einen großartigen Besitz erworben.«
Hannah machte Anstalten aufzustehen, doch Norman kam ihr zuvor. »Das Gebäck geht auf mich«, verkündete er den Kunden an den anderen Tischen. »Ich habe gerade mein erstes Haus gekauft.«
»Und ich habe mein erstes Haus verkauft.« Rhonda stellte sich neben ihn. »Deshalb spendiere ich die Plätzchen. Schließlich gehört jetzt Normans ganzes Geld mir.«
Die anderen Gäste lachten, und Hannah ging hinter den Ladentisch, damit Norman und Rhonda sich genauer absprechen konnten. Das Café war voller Leute, die schon bezahlt hatten, doch Hannah kannte niemanden, der kostenlose Plätzchen ausschlagen würde. Sie nannte das »Büfettmentalität«. Man konnte sich pappsatt gegessen haben, aber bei einem All-you-can-eat-Büfett stopfte man sich weiter voll, bis sich körperliche Beschwerden einstellten.
Dieselbe Denkweise brachte Frauen dazu, sich die Handtasche mit kostenlosen Parfümpröbchen zu füllen, die sie nie benutzen würden, und bescherte den Gästen der All-inclusive-Silvesterpartys einen Kater, der sie bei den Neujahrs-Footballspielen begleitete.