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Es ist Murmeltiertag im beschaulichen Lake Eden, als Feinbäckerin Hannah Swensen in ihrem hübschen Café Cookie Jar vom Frühling träumt. Und davon, dass die Beliebtheit des neueröffneten Café Magnolia nur vorübergehender Natur sein möge. Ein Hochzeitsfest, für das beide Cafés grandiose Torten liefern, endet jäh, als die Besitzerin des Magnolia tot aufgefunden wird. Plötzlich sind alle Augen auf Hannah gerichtet, die aus ihrer Antipathie gegen die ehrgeizige Konkurrentin keinen Hehl gemacht hatte ...
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Seitenzahl: 376
Es ist Murmeltiertag im beschaulichen Lake Eden, als Feinbäckerin Hannah Swensen in ihrem hübschen Café Cookie Jar vom Frühling träumt. Und davon, dass die Beliebtheit des neueröffneten Café Magnolia nur vorübergehender Natur sein möge. Ein Hochzeitsfest, für das beide Cafés grandiose Torten liefern, endet jäh, als die Besitzerin des Magnolia tot aufgefunden wird. Plötzlich sind alle Augen auf Hannah gerichtet, die aus ihrer Antipathie gegen die ehrgeizige Konkurrentin keinen Hehl gemacht hatte …
Joanne Fluke ist das Pseudonym einer amerikanischen Bestsellerautorin. Sie wuchs im ländlichen Minnesota auf, studierte Psychologie an der California State University, San Bernardino, und entdeckte früh ihre Passion für die Kunst des Backens und die Welt der Cozy Mysteries und schließlich auch ihr Talent fürs Schreiben. Ihre Cozy-Crime-Serie um die Bäckerin Hannah Swensen ist auf dem englischsprachigen Markt längst Kult, umfasst mittlerweile über 20 Bände, die in 13 Sprachen übersetzt wurden, regelmäßig auf den ersten Plätzen der New York Times Bestsellerliste zu finden sind und eine Gesamtauflage von 5,5 Millionen Exemplaren erreichten. Außerdem wurden fünf ihrer Romane für das Fernsehen verfilmt und unter anderem auf Deutsch synchronisiert. Die Leser:innen lieben die Romane der Queen of Culinary Mystery wegen ihrer lebensechten Figuren und der Wohlfühlatmosphäre rund um Hannah Swensens Café in der fiktiven Kleinstadt Lake Eden. Joanne Fluke lebt mit ihrer Familie in Südkalifornien.
Kriminalroman
Aus dem Englischen von Angela Koonen
Vollständige E-Book-Ausgabe
des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Deutsche Erstausgabe
Für die Originalausgabe:
Copyright © 2005 by Joanne Fluke
Titel der englischen Originalausgabe: »Peach Cobbler Murder«
Originalverlag: Kensington Publishing Corp., New York
Published by Arrangement with Kensington Publishing Corp.,
New York, NY 10018 USA
Für die deutschsprachige Ausgabe:
Copyright © 2024 by Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Dieses Werk wurde vermittelt durch dieLiterarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.de Einband-/Umschlagmotiv: © iStock/Getty Images Plus: Boonyachoat | Dane Moore | Vac1| Ross- Helen | mkos83 | bluejayphoto; © Shutterstock: JulieStar | Kmannn
eBook-Produktion: hanseatenSatz-bremen, Bremen
ISBN 978-3-7517-4802-5
luebbe.de
lesejury.de
Für meinen Golden Ruel
»Gerade ist Dick Laughlin reingegangen!« Lisa Herman stand im Café am Schaufenster vor der halbhohen Gardine und schaute über die verschneite Main Street. »Und gleich hinter ihm Barbara Donnelly. Sie hat zu uns herübergeguckt und mich wahrscheinlich gesehen. Trotzdem ist sie Dick gefolgt.«
»Ich denke, ich kann ohne ständige Kundenzählung leben«, sagte Hannah Swensen zu ihrer Geschäftspartnerin und schluckte ihren Protest hinunter, als Lisa sich den hohen Hocker von der Kasse holte und ihn so hinstellte, dass sie einen freien Blick auf das Café Magnolia hatte. Der Hocker wurde an der Kasse sowieso nicht mehr gebraucht, denn ihr eigenes Bäckerei-Café, das Cookie Jar, war so leer wie ein Windbeutel, bevor man die Vanillecreme hineinspritzte.
»Ich weiß, das ist deprimierend, aber ich richte hier einen Beobachtungsposten ein. Wir müssen auf die Konkurrenz ein wachsames Auge haben.« Lisa nahm sich einen der Notizblöcke, die Hannah immer griffbereit hielt, und stemmte sich auf den Hocker hinauf, keine leichte Übung für eine zierliche junge Frau, die nicht mal eins sechzig groß war. »Oh, oh!«
»Was jetzt?«
»Charlotte Roscoe kommt gerade mit einer riesigen Kuchenschachtel heraus. Heute ist die wöchentliche Lehrerkonferenz, und dafür hat sie sonst immer bei uns Plätzchen gekauft!«
»Wenn der Reiz des Neuen erst einmal nachgelassen hat, kommen sie alle wieder zu uns«, sagte Hannah. Das war zu ihrem Mantra geworden, das sie während der letzten zwei Wochen bestimmt zehn Mal am Tag heruntergebetet hatte, nämlich seit Shawna Lee Quinn und ihre wohlhabende verwitwete Schwester Vanessa schräg gegenüber die neue Bäckerei eröffnet hatten.
»Das sagst du immer. Aber bist du dir sicher?« Lisa schaute skeptisch. »Ich meine … was, wenn ihr Gebäck besser ist als unseres?«
Hannah war geschockt. Lisa hatte noch nie die Qualität ihrer süßen Leckereien infrage gestellt.
»Entschuldigung.« Lisa sah ihr wohl an, dass sie das als Treuebruch empfand, und ruderte sofort zurück. »Ich bin mir sicher, dass unseres besser ist. Es muss besser sein. Wir sind Profis, Shawna Lee hingegen nicht. Sie tut das nur, weil sie ein eigenes Geschäft haben wollte und Vanessa ihr das Geld dazu gegeben hat. Ich glaube nicht, dass auch nur eine der beiden Schwestern besonders gut backen kann. Aber ich würde gern mal etwas kosten, nur um mich zu vergewissern.«
Untersteh dich!, wollte Hannah erwidern, unterdrückte jedoch den Impuls und zwang sich, vernünftig zu sein. Es stimmte, sie hatten aus dem Café Magnolia noch nichts probiert, und es würde sie sehr beruhigen, wenn die Plätzchen von dort wie Sägemehl schmeckten und der Teigrand ihrer Mürbekuchen steinhart wäre. Aber was, wenn es den beiden Schwestern irgendwie gelungen wäre, überragendes Gebäck herzustellen? War es besser, in seliger Unwissenheit weiterzumachen, sich einfach auf die eigene Kompetenz zu verlassen und zu glauben, dass sie bessere Ware herstellten? Oder sollten sie das prüfen und ihren Laden dichtmachen, wenn Shawna Lee und Vanessa den Kuchenkrieg der Main Street gewinnen sollten?
»Was ist los, Hannah?«
»Ich habe nur einen inneren Kampf ausgefochten.«
Lisa grinste. »Wer hat gewonnen?«
»Ich. Wie wär’s, wenn du Geld aus der Kasse nimmst und hinüberläufst? Wir könnten ihren Südstaaten-Pfirsich-Cobbler probieren. Der soll ihr Paradegebäck sein.«
»Das bringe ich nicht fertig!« Lisa sah sie entsetzt an. »Das wäre illoyal!«
»Nicht, wenn es nur darum geht zu vergleichen.«
»Ich würde mir trotzdem wie eine Verräterin vorkommen. Kannst du nicht hingehen und etwas aus Freundlichkeit kaufen?«
Hannahs Brauen schossen in die Höhe. »Ich soll freundlich sein zu der Frau, die gegenüber von uns ein Bäckerei-Café betreibt und ihre reiche Schwester überredet hat, es zu finanzieren, damit sie uns fast neunzig Prozent unseres Umsatzes wegnehmen kann?«
»Na ja …«
»Soll ich mich wirklich gutnachbarlich gegenüber der Frau verhalten, die unsere Catering-Preise unterbietet, sodass wir mit sechzehn Absagen dastehen?«
»Siebzehn«, korrigierte Lisa. »Rose McDermotts Cousine hat die Plätzchenlieferung für ihre Babyparty heute Morgen gecancelt. Ich habe geahnt, dass das passieren würde, sowie ich die Catering-Anzeige von Shawna Lee und Vanessa im Lake Eden Journal entdeckt habe.«
»Die habe ich auch gesehen. Fünfzig Prozent Rabatt bei Ihre Erstbestellung. Wenn Shawna Lee mich je zu einem Duell herausfordert, wähle ich als Waffe Grammatik.«
Lisa lachte, wurde aber schnell wieder ernst. »Ich kann dir keinen Vorwurf daraus machen, dass du so wütend bist, Hannah. Ich würde rotsehen, wenn Shawna Lee sich an meinen Freund ranmachen würde.«
»Welchen?«
»Herb natürlich.«
»Nicht deinen. Ich rede von mir. Welchen meinst du?«
Das war eine berechtigte Frage, und Hannah wartete unruhig auf Lisas Antwort. Zurzeit datete sie zwei Männer, zur großen Zufriedenheit ihrer hochzeitserpichten Mutter. Nur eines fand Delores Swensen daran nicht zufriedenstellend: Hannah ging seit über einem Jahr mit ihnen aus, und keiner der beiden hatte ihr bisher einen Antrag gemacht.
»Tja … ich weiß nicht mit Sicherheit, dass Shawna Lee sich an ihn ranmacht«, räumte Lisa ein. »Ich denke nur, sie könnte es tun.«
»An welchen?«, fragte Hannah noch mal.
»Äh … Mike.«
Hannah atmete tief durch, um das bange Gefühl in der Brust loszuwerden. Mike Kingston war der leitende Detective der Polizei im Winnetka County, der gar kein Recht hatte, so verdammt gut auszusehen, denn schließlich verdiente er sein Geld nicht vor der Kamera. Hannah vermutete schon länger, dass er und Shawna Lee nicht bloß Freunde, Kollegen und Nachbarn waren, doch er stritt das stets ab. Ob zwischen den beiden etwas lief, war bislang unbewiesen, und darum bemühte Hannah sich, ihm zu glauben, dass er Frauen den Vorzug gab, die wuschelige rote Haare, einen sarkastischen Humor und vom ständigen Kosten ihres Gebäcks ein paar Pfunde mehr auf den Rippen hatten – wie viele genau, ging niemanden etwas an.
»Das hat mir keiner gesagt«, beschwerte sich Hannah, und ihr Magen sackte weg wie ein Fahrstuhl mit defekter Bremse. Wenn jemand in Lake Eden den beiden auf die Schliche käme, wäre er moralisch verpflichtet, es Hannah sofort zu erzählen. So war das nun mal in einer Kleinstadt. Man wurde über alles Druckreife persönlich informiert. Und was nicht geeignet war, im Lake Eden Journal zu erscheinen, wurde einem am Telefon über die Lake Edener Klatsch-Hotline übermittelt.
»Weil nur Herb und ich davon wissen. Warum hast du mich gefragt, welchen ich meine? Norman würde Shawna Lee niemals angucken. Er ist dir gegenüber absolut loyal.«
»So?« Hannah lächelte, als sie an ihn dachte. Norman Rhodes, der Zahnarzt von Lake Eden und Sohn der Geschäftspartnerin ihrer Mutter. Er wirkte nicht annähernd so sexy wie Mike, doch er war intelligent, lustig und absolut zuverlässig.
»Ich habe dich mit beiden gesehen, und Mike macht anderen Frauen schöne Augen. Er checkt sie ab, auch wenn er gerade mit dir ausgeht. Norman tut das nicht. Als er heute Morgen hier war, konnte er sich kaum mal von deinem Anblick losreißen.«
»Nur weil wir beide die einzigen Frauen waren und du in Kürze heiratest.«
Lisas Augen leuchteten auf, und Hannah wusste, sie dachte an ihre Hochzeit, die in zwölf Tagen stattfinden würde. Hannahs jüngere Schwester Andrea arrangierte alles und hatte diese Woche täglich angerufen, um sich mit Lisa wegen der Blumen, der Farbwahl und der Dekoration zu beraten.
Lisa schaute gleich wieder besorgt. »Es tut mir leid, Hannah. Ich hätte nichts über Shawna Lee und Mike sagen sollen. Das war nur eine einzige Sichtung, und vielleicht hatte das gar nichts zu bedeuten.«
»Sichtung?« Hannah lächelte traurig. »Hat jemand ein Ufo gesehen?«
»Natürlich nicht.«
»Das dachte ich mir. Außerirdische sind nämlich intelligenter als wir. Sie würden Minnesota erst im Sommer besuchen. Jetzt sag mir, wieso du glaubst, dass Mike mit Miss Durch-und-durch-Blond etwas am Laufen hat.«
Lisa lachte schallend. »Miss Durch-und-durch-Blond?«
»So nenne ich sie, wenn ich kleinlich sein will. Und das will ich meistens, wenn Shawna Lee ins Spiel kommt. Sie ist eine der oberflächlichen Barbiepuppenblondinen, die echten Blondinen wie Andrea einen schlechten Ruf eingebracht haben.«
»Shawna Lee ist nicht von Natur aus blond, oder?«
»Laut Andrea definitiv nicht. Sie hat sie in dem neuen Schönheitssalon gesehen. Shawna Lee hat sich dort den Ansatz färben lassen.« Hannah ging auf ihren Versuch ein, das Thema zu wechseln, kam aber wieder auf das zurück, was sie eigentlich wissen wollte. »Wie war das mit der ›Sichtung‹? Wer hat die beiden zusammen gesichtet? Wo und wann war das?«
»Herb hat Mikes Hummer gestern Abend auf dem Parkplatz hinter ihrer Bäckerei stehen sehen.«
Hannah glaubte das unbesehen. Herb Beeseman, Lisas Verlobter, war der einzige Verkehrspolizist auf der Gehaltsliste der Stadt. Er setzte innerhalb des Stadtgebiets nicht nur die Park- und Verkehrsverordnungen durch, er drehte auch abends, bevor er Feierabend machte, eine Runde an den Geschäften und Betrieben vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Hannah kannte ihn schon seit der Schulzeit als zuverlässigen Menschen. Wenn Herb sagte, Mikes Hummer habe hinter der Bäckerei gestanden, dann stimmte das. »Um welche Uhrzeit war das?«
»Um elf. Und Vanessa war über Nacht nicht da. Herb dachte, Shawna Lee hätte vielleicht ein Problem und hätte Mike angerufen, damit er ihr hilft.«
Hannah bezweifelte das, aber möglich war es. »Na ja … Mike hat während der Highschool stundenweise als Handwerker gearbeitet. Von daher könnte Herb recht haben.«
»Das glaube ich nicht. Was für ein Problem könnte Shawna Lee abends um elf haben, bei dem es in ihrer Wohnung dunkel ist?«
»Ein elektrisches?« Hannah witzelte, um zu überspielen, wie sehr sie das aufwühlte. »Aber im Ernst, wenn der Strom ausgefallen ist und Shawna Lee nicht wusste, wie sie die Sicherung wieder einschalten muss, könnte sie Mike gerufen haben.«
»Der Strom war nicht ausgefallen. Herb hat in der Wohnung über der Bäckerei schummriges Licht gesehen.«
Hannah hasste es, das zu fragen, doch sie brauchte Klarheit. »In welchem Zimmer?«
»Auf der Hausrückseite. In Shawna Lees Schlafzimmer.«
Hannah schluckte schwer. Das war ernst. Es gab nur eins, was Mike in Shawna Lees Schlafzimmer tun konnte, und dabei waren nicht seine handwerklichen Fähigkeiten vonnöten.
»Ich habe Herb gebeten, gegen Mitternacht noch mal hinzufahren und nachzusehen, und da war Mike noch dort. Natürlich kann es dafür eine harmlose Erklärung geben. Wenn du in ihren Laden gehst und Shawna Lee in ein Gespräch verwickelst, verplappert sie sich vielleicht.«
Hannah schüttelte den Kopf. »Vergiss es. Ich setze keinen Fuß in ihre Bäckerei. Ihr wäre sofort klar, dass ich nur die Konkurrenz in Augenschein nehme. Was wir wirklich brauchen, ist …«
»Andrea«, sagte Lisa.
»Andrea? Meine Schwester?«
»Ja. Sie wäre bestimmt bereit, die Waren dort drüben zu checken.«
»Das ist eine großartige Idee! Andrea bräuchte keine fünf Minuten, dann wüsste sie über Shawna Lees Betriebskosten, den Umsatz und das Kundenprofil Bescheid. Und Shawna Lee und ihre Schwester würden nicht mal merken, dass sie ausgehorcht werden. Andrea ist für die Aufgabe genau die Richtige.«
»Ja, sie kann Leute gut dazu bringen, über sich zu reden.«
»Das hat sie von meiner Mutter gelernt. Die würde eine hervorragende CIA-Agentin abgeben. Ich werde Andrea sofort anrufen.«
»Brauchst du nicht. Da kommt sie gerade.« Lisa glitt von ihrem Hocker und ging in die Backstube. »Sie ist soeben um die Ecke gebogen und sollte jeden Moment an der Hintertür klopfen. Ich lasse sie rein.«
Hannah trat zur Kaffeemaschine, füllte drei Tassen und trug sie zur hintersten Sitznische. Mit düsterer Miene ging sie an den leeren Tischen entlang. Den ganzen Tag waren nur zwölf Kunden bei ihnen gewesen. Für die Zukunft des Cookie Jar verhieß das nichts Gutes.
Andrea stieß die Schwingtür auf, die die Backstube vom Café trennte. »Habt ihr schon gehört? Das berühmte Murmeltier in Pennsylvania hat seinen Schatten gesehen. Das heißt, der Winter ist vorbei!«
Lisa warf Hannah einen schnellen Blick zu und schüttelte den Kopf. »Ich hab’s nicht gehört. Sag du es ihr.«
»Was soll Hannah mir sagen?«
»Es ist genau andersherum, Andrea. Wenn die Sonne scheint und das Murmeltier Punxsutawney Phil seinen Schatten sieht, dauert der Winter noch sechs Wochen.«
»Wirklich?« Andrea runzelte die Stirn. »Das leuchtet mir nicht ein. Wenn es doch ein sonniger Tag ist, warum bekommen wir dann morgen nicht auch schönes Wetter? Und übermorgen? Und überübermorgen? Und ehe man sich’s versieht, gehen all die milden, sonnigen Tage in den Frühling über.«
»Das wäre herrlich, aber man kann ebenso gut irgendeinen Tag wählen und den armen Punxsutawney Phil aus dem Winterschlaf reißen.«
»Genau das meine ich.« Andrea zog sich den Wintermantel aus und schaute sich verwirrt um. »Wo sind denn alle?«
»Gegenüber«, brummte Hannah. »Lisa hat in der letzten Stunde dreiundzwanzig Leute gezählt, die ins Café Magnolia gegangen sind.«
»Das kommt nur daher, dass es neu ist.« Andrea legte Mantel und Handschuhe über einen Stuhl und drehte sich im Kreis. »Was sagst du dazu?«
»Superchic.« Hannah musterte den weinroten Hosenanzug. Die hohen Wildlederstiefel hatten dieselbe Farbe, und ihre glänzenden blonden Haare waren raffiniert geschlungen und mit einer Spange hochgesteckt, die mit weinroten Steinen besetzt war.
»Das meine ich nicht. Was fällt dir noch auf?« Sie warf sich in eine Pose wie ein Model auf dem Laufsteg.
Hannah war ratlos. Was sollte ihr auffallen? Nach einigem Zögern entschied sie sich für das Altbewährte. »Du siehst umwerfend aus. Ist das ein neues Outfit?«
»Nein, das habe ich im letzten Januar gekauft. Da gab es im Shoppingcenter bei den Designersachen lauter Sonderangebote. Aber du sollst nicht auf meinen Hosenanzug achten. Guck nur mich an! Ich habe jedes Gramm verloren, das ich während der Schwangerschaft zugelegt hatte!«
»Das ist toll.« Hannah versuchte, solidarisch und begeistert zu klingen, leider vergeblich. Sie war nun mal keine oscarprämierte Schauspielerin. Ihre Nichte Bethany war im Dezember zur Welt gekommen, am Abend des Lake Edener Weihnachtsbüfetts. Nur zwei Monate später passte Andrea wieder die Kleidergröße, die sie schon seit der Highschool trug. Nach Hannahs Empfinden war das unfair. Sie selbst brauchte ewig, um ein oder zwei Pfunde zu verlieren, und ihre Schwester schüttelte sie praktisch ab wie ein nasser Hund das Regenwasser.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Hannah, obwohl sie zweifelte, ob sie die Antwort hören wollte.
»Ich habe mich in dem neuen Fitnessstudio im Einkaufscenter angemeldet, und sobald Grandma McCann aufgestanden ist und sich um Bethany kümmert, fahre ich los und nehme an dem frühen Gymnastikkurs teil. Das macht Spaß!«
Hannah verzog das Gesicht. Es gab nur eins, was ihr um diese Uhrzeit noch weniger Spaß machen würde als Gymnastik: sich verprügeln zu lassen. Und bei näherer Betrachtung war der Unterschied nicht so groß.
»Ich wusste, ich brauche einen starken Anreiz, um jeden Morgen hinzugehen. Du weißt, wie das ist.«
Hannah nickte, obwohl sie noch nie erwogen hatte, sich morgens vor der Arbeit im Fitnessstudio abzustrampeln.
»Ich dachte, wenn ich beim Sport wirklich gut aussehe, gehe ich tatsächlich hin. Also habe ich mir einen hübschen Gymnastikanzug aus Elastan gekauft, neonpink mit schwarzen Rändern. Du solltest ihn mal sehen. Er ist einfach süß.«
»Ganz bestimmt.« Hannah meinte das ernst. Wieso sahen in Gymnastikanzügen immer nur die Leute gut aus, die Gymnastik eigentlich nicht nötig hatten?
»Und nachdem ich mein gewohntes Gewicht zurückhabe, werde ich wieder halbtags arbeiten. Da Tracey in der Schule ist und Grandma McCann für Bethany sorgt und das Kochen übernimmt, ist für mich zu Hause kaum noch etwas zu tun. Und außerdem möchte ich meinen finanziellen Beitrag leisten.« Andrea wandte sich Lisa zu. »Ich habe heute Morgen das Haus eurer Nachbarin verkauft.«
Lisa wartete, bis Andrea sich an den Tisch gesetzt hatte, und nahm neben ihr Platz. »Welcher Nachbarin?«
»Dora Lambrecht.«
»Das ist eine gute Neuigkeit! Es steht leer, seit sie zu Mary Jean nach Colorado gezogen ist, und wir haben es vermisst, auf dieser Seite Nachbarn zu haben.«
Andrea trank einen Schluck von ihrem Kaffee. Dann fiel ihr auf, dass nichts auf dem Tisch stand. »Gibt es keine Kekse?«, fragte sie verwundert.
»Doch«, versicherte Hannah. »Aber wir dachten, du möchtest mal etwas Neues ausprobieren. Wir wär’s mit einer Gebäckverkostung?«
»Das macht bestimmt Spaß. Da ich nicht mehr Diät zu halten brauche, kann ich ein bisschen schlemmen, besonders wenn es für einen guten Zweck ist. Immer her damit.«
»Ich fürchte, du musst es dir selbst holen«, sagte Hannah ernst. »Lisa und ich müssen hierbleiben.«
»Das kann ich tun. Steht es in der Backstube?«
»Nein, drüben im Café Magnolia. Wir brauchen von jeder Gebäcksorte ein Stück und dazu einen halben Südstaaten-Pfirsich-Cobbler.«
Im ersten Moment schaute Andrea verdutzt, dann grinste sie. »Ich soll bei der Konkurrenz einkaufen? Und Shawna Lee und Vanessa sollen nicht merken, dass ich es zu euch bringe?«
»Genau. Bist du bereit, für uns zu spionieren?«
»Aber klar!«
»Ich gebe dir Geld aus der Kasse.« Hannah schob ihren Stuhl zurück.
»Nicht nötig. Ich konnte durch den Lambrecht-Verkauf eine schöne Provision einstreichen und kann es mir leisten, euch einzuladen. Ich gehe einfach hinten raus und fahre mit dem Auto vor. Dann glauben sie, ich komme von woanders her, und zurück nehme ich den gleichen Weg. Nenn mich Gypsy Rose Lee.«
Gypsy Rose Lee? Hannah stutzte. Ihre Schwester zog offenbar eine Verbindung zwischen der berühmten Schauspielerin und Stripperin und ihrer eigenen Rolle als Spionin, doch Hannah sah sie nicht.
»Augenblick.« Sie holte Andrea ein, die gerade die Schwingtür aufstoßen wollte. »Was hat das alles mit Gypsy Rose …« In dem Moment dämmerte es ihr, und sie lachte. Es gab tatsächlich eine Verbindung, eine irrtümliche. »Du meinst wohl eigentlich Tokyo Rose, oder?«
»Genau! Ich bringe die beiden immer durcheinander. Halte mir den Stuhl warm. Ich bin im Nu wieder da mit einem Sack voll Leckerbissen.«
Hannah hatte sich gerade einen Kaffee eingegossen, als sie an der Ladentür ein vertrautes Gesicht sah. Es war Norman, und er trug ein Päckchen in hellrotem Papier mit goldenen Herzchen und einer hübschen goldenen Schleife.
»Hi, Norman«, grüßte sie, als er hereinkam. »Ich dachte, du hättest heute Vormittag pausenlos Patiententermine.«
»Hatte ich, aber Mrs Barthel rief an, um ihren zu verschieben. Ihr Mann ist nicht da, und ihr Wagen hat sie im Stich gelassen. Sie meinte, bis sie jemanden gefunden hätte, der sie zu Hause abholt und zur Praxis fährt, wäre ihr Termin vorbei.«
Hannah verstand das. Helen und Ed Barthel wohnten zwölf Kilometer außerhalb, und die Fahrt zu ihnen verlief größtenteils über schmale Landstraßen, auf denen zwei Autos kaum aneinander vorbeikamen.
»Kaffee, Norman?«, rief Lisa.
»Ja, danke. Und zwei von euren besten Plätzchen.«
»Wie wär’s, wenn du auf das Gebäck von gegenüber wartest?«, schlug sie vor. »Wir haben Andrea hingeschickt, damit sie von allem eine Kostprobe besorgt.«
»Meinetwegen, doch ich wette, eure Plätzchen sind besser.«
»Heißt das, du warst noch nicht drüben?« Lisa klang deutlich erstaunt.
»Für mich gibt es keinen Grund hinzugehen, wenn ich viel lieber hierherkomme.« Er hängte seine Jacke auf und begab sich mit seinem Päckchen an ihren Tisch. »Das ist für dich, Hannah.«
»Danke! Aber ist es nicht noch ein bisschen früh für ein Geschenk zum Valentinstag?«
»Das ist nicht zum Valentinstag. Es gab nur im Red Owl kein anderes Geschenkpapier.«
»Ach … danke.« Hannah hoffte, dass ihr nicht anzusehen war, wie nervös sie das machte. Warum schenkte Norman ihr etwas?
»Pack es sofort aus. Es muss gekühlt werden.«
Hannah lächelte ihn an und riss das Papier auf. Das Leben war zu kurz, um Geschenkpapier glatt zu streichen und aufzubewahren. Im nächsten Moment war sie sprachlos und blickte Norman verwirrt an. »Kleine Blutwürstchen?«
»Genau. Schließlich ist heute ein besonderer Tag.«
»Ach so? Das einzig Besondere heute ist, dass … Ach ja, heute ist Murmeltiertag!« Sie lachte schallend und gab Norman einen dicken Kuss auf den Mund. »Wie in Und täglich grüßt das Murmeltier: ›Möchten Sie Blutwurst? Ich habe immer etwas Blutwurst im Handschuhfach‹«, zitierte sie. Und weil es beim ersten Mal so großen Spaß gemacht hatte, küsste sie ihn gleich noch einmal.
»Zumindest ist der Deckel schön. Man möchte ihn glatt einrahmen«, bemerkte Hannah mit Blick auf die Kuchenschachtel, die Andrea aus dem Café Magnolia mitgebracht hatte. Die zwei Südstaaten-Schwestern hatten mit einigem Aufwand dafür gesorgt, dass jeder ihre Schachtel wiedererkannte, der sie nur einmal gesehen hatte. Sie bestand aus Goldfolienkarton mit weiß-rosa Magnolienblüten auf dem Deckel.
Lisa betrachtete sie. »Sind Magnolienblüten nicht eigentlich gelb?«
»Es gibt sie in Gelb, Pink und Weiß … und jeder Kombination dieser Farben. Das weiß ich von Vanessa. Sie haben sich für Pink und Weiß als Hauptfarben entschieden und das ganze Geschäft in diesen Tönen eingerichtet.«
»Sie haben pinkfarbene Wände?« Hannah stellte sich einen Raum in Kaugummirosa vor.
»Nein, die sind cremeweiß. Pink haben sie für die Vorhänge genommen. An der hinteren Wand ist ein blühender Magnolienbaum aufgemalt, und sie haben für die Blätter ein glänzendes Dunkelgrün ausgesucht, das auch die Akzentfarbe bei der Ladentheke und den Tischplatten ist.«
»Klingt hübsch.« Das musste Hannah widerstrebend zugeben.
»Es sieht hinreißend aus. Aber das sollte es auch. Shawna Lee hat erzählt, dass sie extra eine Raumdekorateurin aus Minneapolis beauftragt haben, und die hat das Wandgemälde von einen Künstler anfertigen lassen, auch die Magnolienblütenbordüre, die oben an den Wänden verläuft.«
»Hört sich teuer an«, meinte Norman.
»Und sieht bestimmt schön aus.« Lisa wirkte beeindruckt. »Wie viel das wohl gekostet hat?«
»Zu viel für uns.« Hannah hoffte, dass Lisa nicht auf die Idee kam, mitten in ihrer Finanzflaute das Cookie Jar umzugestalten.
»Ich kann dir genau sagen, wie viel sie bezahlt haben.« Andrea schaute stolz, wie immer, bevor sie eine wichtige Information preisgab. »Die Raumdekorateurin hat fünftausend Dollar genommen, und da ist die Einrichtung nicht inbegriffen.«
»Einrichtung?«
»Spiegel, Tische, Stühle, Lampen. Als ich sie auf das Wandgemälde und die Bordüren angesprochen habe, sagte Vanessa, dass der Künstler zwölfhundert verlangt hat. Und sie haben ihm noch mal fünfhundert für das Logo auf der Kuchenschachtel gezahlt.«
»Das ist reichlich viel Geld!« Lisa sah regelrecht geschockt aus. »Das macht zusammen sechstausendsiebenhundert Dollar.«
»Ohne Tische und Stühle und die übrige Ausstattung«, erinnerte Hannah.
»Du hast recht. Das kommt auch noch dazu.« Lisa schaute durch das Cookie Jar. »Zuerst war ich ein bisschen neidisch, doch mir gefällt unser Café, wie es ist.«
Andrea schob einen perfekt manikürten Fingernagel unter das Klebeschild der Schachtel. »Nach dem ausführlichen Bericht habe ich jetzt Hunger. Lasst uns das Gebäck probieren. Dabei kann ich euch erzählen, was ich noch herausgefunden habe.«
Hannah war sich nicht ganz sicher, was sie erwartete, aber nicht das, was Andrea enthüllte, als sie den Deckel der Schachtel hob. Da lagen Törtchen in Papierförmchen, Kuchenstücke in dreieckigen Plastikbehältern, ein Fondant-Brownie, verschiedene Plätzchen und eine Aluschale mit dem Südstaaten-Pfirsich-Cobbler.
»Was ist los, Hannah?«, fragte Norman. »Du scheinst enttäuscht zu sein.«
Sie zuckte mit den Schultern, während sie das ganz alltägliche Gebäck in Augenschein nahm. »Damit habe ich nicht gerechnet. Ich habe wohl gehofft, dass sie etwas Ungewöhnliches anbieten.«
»Wie zum Beispiel?«
»Dinge, die ich noch nie gegessen habe, wie Shoofly Pie und Apple Pandowdy.«
»Kenne ich nur aus einem Song.« Andrea versuchte gerade, das Gebäck aus der Schachtel zu heben, ohne sich die Finger mit Fruchtsoße, Zuckerguss oder anderem zu beschmieren, und hielt inne. »Was ist denn Shoofly Pie und Apple Pandowdy eigentlich?«
»Sind«, korrigierte Hannah. »Das sind zwei Kuchen. Shoofly Pie wird mit Rübensirup und Streuseln gefüllt. Er heißt so, weil Rübensirup Fliegen anzieht.«
»Und Apple Pandowdy?«, fragte Lisa sichtlich fasziniert.
»Der ist ähnlich wie ein Apfelkuchen oder ein Cobbler, wird aber mit Rübensirup gemacht. Er stammt ursprünglich aus Neuengland und wird auch in den Südstaaten gebacken.«
Andrea sah ihre Schwester an, als glaubte sie ihr nicht so ganz. »Woher weißt du das alles?«
»Aus dem Lexikon. Das habe ich damals in der zweiten Klasse nachgeschlagen, nachdem Miss Gladke uns den Song beigebracht hat. Ich wollte wissen, bei welchen Desserts meine Augen aufleuchten und mein Magen Hallo sagt, wie es in dem Lied heißt.«
»Das Einzige, was von den Gebäckstücken nach Südstaaten aussieht, ist der Pfirsich-Cobbler«, bemerkte Norman, der ihn durch die Plastikhaube musterte. »Und das auch nur, weil auf dem Klebeschildchen steht, dass er aus echten Georgia-Pfirsichen hergestellt ist.«
»Norman hat recht«, sagte Lisa grinsend. »Die Cupcakes sind Cupcakes, wie sie jeder backt. Und die Pies sind ganz gewöhnliche Pies. Jetzt geht es mir schon besser!«
Hannah warf ihr einen warnenden Blick zu. »Freu dich nicht zu früh. Wir wissen noch nicht, wie es schmeckt.«
»Das stimmt. Ich will es nicht beschreien.« Lisa holte ein Messer und schnitt jedes Gebäckstück in vier Teile. Während sie eins nach dem anderen kosteten, hielt Andrea ihr Versprechen und erzählte alles, was sie über das neue Bäckerei-Café erfahren hatte.
»Sie kennen ihre Gewinnspanne nicht.« Andrea schluckte einen Bissen Pie herunter und trank einen Schluck Kaffee hinterher. »Sie machen sich nicht die Mühe, darüber Buch zu führen, weil Vanessa das Geschäft ein Jahr lang sponsert.«
»Muss schön sein, einen Steigbügelhalter zu haben«, murmelte Hannah.
»Das hat Bill auch gesagt, als er mich zum Auto gebracht hat.«
»Bill war da?«
»Er saß mit Mike zusammen an der Theke. Ich habe ihm meine Meinung gegeigt, weil er euch untreu geworden ist, aber er meinte, sie sind nur dort, um sich die Konkurrenz anzusehen.«
Hannah zog die Brauen zusammen. Laut Herb war Mike um Mitternacht bei Shawna Lee gewesen und hatte vielleicht sogar die Nacht bei ihr verbracht. Hatte er sich die Konkurrenz dabei nicht lange genug angesehen?
»Vielleicht sollte ich das lieber nicht erwähnen, aber alle Plätze waren besetzt, und die Kundenschlange vor der Kasse reichte bis zur anderen Wand. Deshalb hat es so lange gedauert. Ich musste mich hinten anstellen.«
Danke für die Info, dass es drüben rappelvoll ist, dachte Hannah. Jetzt fühle ich mich richtig gut. Natürlich sprach sie das nicht aus. Sie hatte Andrea gebeten zu berichten, und genau das tat ihre Schwester. »Was hast du noch erfahren?«
»Shawna Lee hat ihr Bett nicht gemacht, und sie hat ein durchsichtiges Negligé-Set.« Andrea schaute Norman ein bisschen verlegen an. »Entschuldige. Ich habe nicht daran gedacht, dass du Junggeselle bist. Ein Negligé-Set ist …«
»Ich weiß, was das ist«, gab er hastig zurück.
»Tatsächlich? Aber wie kannst du …«
»Erzähl weiter.« Hannah fiel ihr ins Wort, bevor sie noch tiefer ins Fettnäpfchen treten konnte.
»Okay. Also … sie trägt farbige Kontaktlinsen. Ich wusste es! So grüne Augen hat kein Mensch! Und sie schluckt Diätpillen, die ihr ein Arzt in Minneapolis verschrieben hat. Willst du auch wissen, was ich über Vanessa erfahren habe?«
»Klar«, sagte Hannah, um ihrer privaten Spionin den Gefallen zu tun.
»Sie hat Morgenmäntel aus Rohseide, die alle mit Magnolienblüten bedruckt sind. Anscheinend steht sie auf Magnolien.«
»Das ist interessant«, meinte Lisa.
»Aber eigentlich unwichtig. Das Wichtige ist, dass Vanessa ein Dutzend Manolos besitzt, und die lagen alle in ihrem Schlafzimmer verstreut.«
»Was sind Manolos?«, fragte Lisa.
»Manolo Blahniks. Designerschuhe. Sehr teuer. Ich meine, ich hätte auch zwei Paar Louboutins gesehen und vielleicht ein oder zwei Choos, doch ich hatte keine Gelegenheit, das näher zu prüfen.«
Hannah war verblüfft. »Woher weißt du das alles?«
»Ich habe herumgeschnüffelt. Shawna Lee und Vanessa waren beide an der Ladentheke beschäftigt, und Mutter hat mir den Platz in der Schlange frei gehalten. Da konnte ich unbemerkt nach oben huschen.«
»Mutter war ebenfalls da?« Hannah bekam die Worte kaum heraus. Also waren nicht nur ihre Kunden untreu geworden, sondern auch ihre eigene Mutter unterstützte ihre Rivalin!
»Entspann dich, Hannah. Mutter hatte das Gleiche vor wie ich. Sie war nur da, um Kostproben zu kaufen. Luanne und Carrie haben im Antiquitätenladen auf sie gewartet. Sie haben sich heute Morgen darüber unterhalten und beschlossen, die Konkurrenz auszukundschaften.«
Hannah stellte die kritische Frage. »Wer war noch dort, um meine Konkurrenz ›auszukundschaften‹?«
»Cyril Murphy. Er hat einen Karton voll für seine Mechaniker in der Werkstatt gekauft und will mir berichten, was die von Shawna Lees und Vanessas Backkünsten halten.«
»Das ist sehr … hilfreich. Wer noch?«
Andrea wandte sich an Lisa. »Dein Dad war mit Marge da. Man merkt schon den Unterschied, finde ich. Er konnte sich sofort erinnern, wer ich bin, und erwähnte auch dich und Hannah. Ich glaube, das neue Alzheimermedikament wirkt.«
»Ja, es scheint so.« Lisa sah froh aus, bis ihr einfiel, was Andrea als Erstes gesagt hatte. »Was tun die beiden da drüben?«
»Sie saßen bei Herb am Tisch.«
»Meinem Herb?«
»Genau.«
Hannah erkannte allmählich ein Muster. »Haben die auch gesagt, dass sie die Konkurrenz auskundschaften wollen?«
»Genau das! Wie bist du darauf gekommen?«
»Ich habe nur geraten.« Hannah gab sich Mühe, nicht sarkastisch zu klingen. Hin und wieder konnte Andrea ziemlich naiv sein. »Nur so aus Neugier: Wie viele haben das als Grund angegeben?«
»Also … da war Dick Laughlin, Kate Maschler, Vera Olsen Westcott … Sie ist jetzt verheiratet, weißt du? Und Stan Kramer, Charlie Jessup und Doc Bennett. Die saßen zusammen an einem Tisch. Babs und Shirley Dubinski. Sie waren fast fertig und meinten zu mir, dass deine Schoko-Muffins viel besser schmecken. Ich habe mit vielen gesprochen, und jeder versicherte, dass er nur etwas probieren wollte, um dir später Bericht zu erstatten. Du hast viele gute Freunde, Hannah.«
Hannah seufzte, und ihr ging ein altes Sprichwort durch den Kopf: Wer solche Freunde hat, braucht keine Feinde.
»Was ist los? Du siehst nicht zufrieden aus.«
»Überleg mal, Andrea. All diese Freunde, die uns nur helfen, die Konkurrenz auszukundschaften, haben dort ihr Geld gelassen. Was glaubst du, wie viel sie dem Café Magnolia eingebracht haben?«
»Ich … weiß nicht. Eine Menge, denke ich. Ich habe nicht darüber nachgedacht.«
»Lisa und ich haben heute sechsundzwanzig Dollar und fünfunddreißig Cent eingenommen. Wir müssen trotzdem weiter backen, unsere Rechnungen zahlen und die Miete aufbringen, während unsere Freunde sich im Café gegenüber den Bauch vollstopfen.«
»Hannah hat recht.« Norman klopfte ihr auf die Schulter. »Ich kann es verstehen, wenn jemand sich ein Mal in dem neuen Geschäft umsieht und etwas probiert, doch echte Freunde würden dich nicht so im Stich lassen, wie sie es gerade tun.«
»Genau das meine ich!«, rief Hannah aus. »Wie viele Portionen Pfirsich-Cobbler müssen sie essen, um ihn beurteilen zu können? Wir schreiben rote Zahlen, seit Shawna Lee und Vanessa ihre Bäckerei eröffnet haben, und sie können uns nur aus dem Markt drängen, weil unsere Freunde jetzt bei ihnen kaufen.«
Andrea war einen Moment lang still, dann seufzte sie. »Du hast recht. Aber das Gebäck da drüben ist nicht besonders gut. Jedenfalls wenn du mich fragst.«
Hannah blickte auf Andreas Teller. Obwohl ihre Schwester eine Schwäche für Blaubeerkuchen hatte, fehlte davon nur eine kleine Ecke. Und der Schoko-Muffin, ebenfalls eins ihrer Lieblingsgebäcke, war nur ganz leicht angeknabbert.
Lisa pflichtete ihr bei. »Das finde ich auch. Ich habe gerade eines ihrer Rübensirup-Plätzchen gegessen. Er schmeckte genau wie die, die ich aus dem Automaten im Krankenhaus kenne. Ich glaube nicht, dass der frisch gebacken war.«
Hannah nahm sich einen Schokoladensplitterkeks und kostete. Sie musste Lisa zustimmen. Der Keks war trocken und hatte kaum Geschmack, die dunkelbraunen Brocken darin schmeckten wie Johannisbrot, nicht wie Schokolade. »An den Plätzchen, Pies oder Cupcakes kann es nicht liegen, dass die Leute ins Café Magnolia strömen«, schloss sie und schaute auf die angebissenen Gebäckstücke auf dem Tisch.
»Vielleicht ist der Pfirsich-Cobbler der Grund für die Beliebtheit des Cafés«, meinte Norman und deutete auf das einzige Gebäckstück, das noch unangetastet war.
»Möglich.« Hannah sah ihre Schwester fragend an. »Weißt du, ob sie ihn warm oder kalt servieren?«
»Warm. Sie geben ein paar Löffel davon in ein Schälchen, erhitzen es in der Mikrowelle und legen dann eine Kugel Vanilleeis dazu. Ich habe Vanessa dabei beobachtet, bevor sie es Bonnie Surma serviert hat.«
Hannah stöhnte. Bonnie Surma war eine ihrer größten Unterstützerinnen und bestellte Plätzchen für die Pfadfinder und Kuchen für alle Partys und Gruppentreffen, die sie organisierte. Und nun war sie wegen einer Schale Pfirsich-Cobbler zur Konkurrenz übergelaufen!
»Wir sollten den Cobbler genau so probieren, sonst ist es kein fairer Test.« Lisa nahm den Pfirsich-Cobbler und stand auf. »Ich werde ihn erhitzen und Vanilleeis mitbringen.«
Nachdem sie in die Backstube gegangen war, griff Andrea nach Hannahs Hand und drückte sie mitfühlend, bei ihr eine Seltenheit, da sie dazu erzogen war, anderen gegenüber eine gewisse Distanz zu wahren.
»Was?«, fragte Hannah und bemerkte den verräterischen Glanz in den Augen ihrer Schwester.
»Meinst du wirklich, du könntest das Cookie Jar verlieren?«
»Ich hoffe, es kommt nicht dazu, aber es sieht schlecht aus.«
»Also bist du beunruhigt?«
»Oh ja. Ich will nur in Lisas Beisein nicht so viel darüber sprechen. Sie wird in ein paar Tagen heiraten. Sie soll sich jetzt wegen unseres Geschäfts keine Sorgen machen müssen.«
Norman legte Hannah einen Arm um die Schultern, und dann sagte er etwas, was sie von ihm noch nie gehört hatte. »Das ist einer der Gründe, warum ich dich liebe, Hannah. Du denkst immer an andere, sogar wenn du selbst in Schwierigkeiten steckst.«
»Bill und ich haben miteinander gesprochen, ehe er zum Revier gefahren ist.« Andrea drückte noch mal Hannahs Hand. »Wenn du Geld brauchst, werden wir unser Haus beleihen.«
Hannah war so gerührt, dass sie erst mal keine Worte fand. »Das kann ich nicht von euch verlangen, nicht nachdem ich nun weiß, dass Vanessa es sich leisten kann, die Bäckerei ein Jahr lang mit Verlust zu führen. Zieht es gar nicht erst in Erwägung. Du und Bill und die Kinder kommen an erster Stelle.«
»Ich bin ledig und habe keine Kinder«, erklärte Norman. »Von meinen Ersparnissen kann ich dir genug leihen, damit du die Durststrecke überstehst.«
»Herzlichen Dank, aber nein«, antwortete Hannah mit einigem Nachdruck, um jeden Gedanken, sie könnte es sich noch anders überlegen, im Keim zu ersticken. »Das ist wirklich lieb von euch, doch das Problem mit Geld zu bekämpfen wird nichts bringen. Wenn sich unser Geschäft bis zum Monatsende nicht erholt, dann auch später nicht.«
»Was wirst du dann tun?«
»Liquidieren. Wir verkaufen das Betriebsvermögen, und Lisa bekommt ihren Anteil vom Erlös. Sie wird sicher etwas anderes finden, und selbst wenn nicht: Herb hat eine gute Stellung.«
»Aber das ist einfach furchtbar! Mutter hat Geld. Sie kann …« Andrea stockte, als sie Hannahs Gesichtsausdruck sah. »Okay. Vergiss es. Du willst sie auf keinen Fall darum bitten. Doch eine Familie sollte zusammenhalten und … Ich weiß sonst keine Lösung! Wenn mir etwas einfiele, wie wir Shawna Lee und Vanessa loswerden können, würde ich das sofort tun!«
In ihrer Stimme schwang eine leise Panik mit, die Hannah beunruhigte. Ihre Schwester war eindeutig aufgeregt. »Bleib erst mal ruhig und warte auf den Cobbler. Wenn er gut ist, müssen wir uns Sorgen machen. Wenn nicht, dürfen wir ein wenig gelassener sein. Dann ist das Café Magnolia nur ein Strohfeuer, und unsere Kunden kommen zurück, wenn sie das minderwertige Gebäck leid sind.«
Wie aufs Stichwort kam Lisa herein und brachte vier Schalen voll Pfirsich-Cobbler und Vanilleeis, das auf dem heißen Dessert zu Rinnsalen schmolz. »Bitte sehr. Ich hoffe, ihr findet ihn widerlich!«
Hannah lachte. Lisa, die nie etwas Schlechtes über andere sagte und selten etwas kritisierte, gab dem Paradegebäck der Konkurrenz bereits jetzt den Daumen nach unten. »Hast du schon gekostet?«
»Ein Häppchen, aber lasst euch durch mich nicht beeinflussen. Bildet euch selbst ein Urteil.«
Andrea schob sich einen Löffel voll in den Mund. »Das ist sehr gutes Eis.«
»Bridgeman’s. Koste den Cobbler.«
Andrea nahm einen kleinen Bissen. Sie kaute und zuckte mit den Schultern. »Komisch. Ich habe das starke Gefühl, dass ich den schon mal irgendwo gegessen habe. Und bevor ihr fragt: Ich war heute zum ersten Mal im Café Magnolia.«
»Aber wie schmeckt er dir? Ist er gut?«
»Es gibt nichts auszusetzen. Er ist … okay.«
»Nur okay?« Hannah freute sich, als Andrea nickte. Sie probierte ihn selbst und fand, dass ihre Schwester recht hatte. Das war ein stinknormaler Pfirsich-Cobbler, akzeptabel, mehr jedoch nicht. »Was hältst du davon, Norman?«
»Er schmeckt wie der, den man im Coffeeshop bekommt. Man kann nichts Nachteiliges darüber sagen, aber ich würde ihn kein zweites Mal bestellen.«
»Dann sind wir alle einer Meinung.« Hannah seufzte erleichtert. »Doch unser Café ist leer, und das gegenüber ist voll. Wenn es nicht am Gebäck liegt, warum sind unsere Kunden alle zur Konkurrenz gewechselt?«
»Meint ihr, die Aufmachung des Personals könnte der Grund sein?«, wollte Norman wissen.
Hannah sah ihn stirnrunzelnd an. »Du hast doch gesagt, dass du noch nicht dort warst.«
»War ich auch nicht, aber Vanessa war in ihrer Arbeitskleidung zu einer Kontrolluntersuchung bei mir.«
Andrea nickte. »Die hätte ich vorhin schon erwähnen sollen. Wahrscheinlich trägt sie zu dem Andrang bei.«
»Was haben sie denn an?«, fragte Hannah.
»Minikleider mit weiten Röcken und tiefem Ausschnitt. Und beim Servieren beugen sie sich viel über den Tisch. Das könnte für die meisten Männer ein Grund sein, ins Café Magnolia zu gehen.«
»Und welchen haben die Frauen?«, brummte Lisa.
»Die gehen dorthin, wo ihre Männer hingehen«, antwortete Hannah. »Das ist nun mal so. So können sie sie wenigstens im Auge behalten.«
»Außerdem gibt es diese Gewinnspiele«, fuhr Andrea fort.
Hannah zog die Brauen zusammen. Davon hörte sie zum ersten Mal. »Was für Gewinnspiele?«
»Dabei bekommt man eine Bestellung umsonst. Wenn die Titelmelodie von Vom Winde verweht erklingt, während man gerade bezahlt, dann muss man sagen: ›Offen gesagt, meine Liebe, pfeif ich drauf!‹ Und dann braucht man nicht zu bezahlen. Außerdem gibt es die Magnolientasse. Die habe ich bei dem anderen Gewinnspiel bekommen.«
Hannah stöhnte. Andrea hatte ihnen vieles noch nicht erzählt. »Was hat es damit auf sich?«
»Sie servieren den Kaffee in weißen Tassen, aber einige haben auf dem Tassenboden eine Magnolienblüte. Wenn man ausgetrunken hat, dreht man seine Tasse um. Hat sie eine Magnolienblüte, ist die Bestellung umsonst. Ich brauchte heute gar nichts zu bezahlen, weil mein Kaffee in einer Magnolientasse kam.«
»Wie nett«, erwiderte Hannah mit einem Hauch Sarkasmus. »Solche Gewinnspiele sind für die Kunden ein Spaß, aber teuer für das Geschäft.«
»Oh, ich weiß. Shawna Lee hat mir erzählt, dass sie jeden Tag fast dreihundert Dollar verschenken.«
»Viele neu eröffnete Geschäfte veranstalten solche Gewinnspiele in den ersten zwei Wochen«, sagte Lisa.
»Vanessa fand, sie sollten drei Monate lang täglich zwei verschiedene Gewinnspiele veranstalten und das allmählich reduzieren. Sie hat einen Absatzberater beauftragt, sich die Gewinnspiele auszudenken.«
»Oh, Himmel!«, hauchte Hannah. Ein kleines Unternehmen wie das Cookie Jar konnte unmöglich mit den unbegrenzten Finanzen des Konkurrenz-Cafés mithalten.
Lisa seufzte entmutigt. »Wir können nicht für dreihundert Dollar Gebäck verschenken. Und ich werde den Kaffee ganz bestimmt nicht in einem weit ausgeschnittenen Minikleid servieren und mich darin ständig über den Tisch beugen!«
»Das ist nicht nötig«, erklärte Norman. »Reizvoll wäre es sicher, doch bei einem Mann geht die Liebe durch den Magen, und eure Backwaren sind viel besser als die da drüben.«
»Was meinst du, was wir tun sollten?«, fragte Hannah und rückte ein wenig näher an ihn heran.
»Einfach durchhalten und abwarten.« Norman lächelte sie an und überraschte sie mit ihrem Mantra. »Wenn der Reiz des Neuen erst einmal nachgelassen hat, kommen sie alle wieder zu euch.«
Hannah schloss ihre Wohnungstür auf und wappnete sich gegen den Ansturm. Ihr Kater Moishe war seit Tagesanbruch allein gewesen und gierte ganz bestimmt nach frischem Futter und Gesellschaft.
»Ich bin wieder da!«, rief Hannah, drückte die Tür auf und ächzte, als ihr gut zwanzig Pfund schwerer orange-weißer Kater ihr in die Arme sprang. Das war eine der wenigen Gelegenheiten, da sie ihren normalerweise distanzierten Mitbewohner wie ein Baby behandeln durfte, und sie hätschelte ihn mit dem Kinn. »Hast du mich vermisst?«
»Miau!«, sagte Moishe und leckte ihr über die Nase.
Da er brummte wie ein Rasenmäher auf höchster Stufe, wusste Hannah, dass er ihre Rückkehr herbeigesehnt hatte. Sie streifte den Parka ab, indem sie Moishe von einem Arm auf den anderen manövrierte, und stieg aus den Elchlederstiefeln, derentwegen sie bei den Bambi-Fans auf der schwarzen Liste stand. Dabei hatten sie wahrscheinlich noch nie einen Elch aus der Nähe gesehen.
»Jetzt gibt’s Abendessen«, verkündete sie und trug ihren halb blinden Freund in die Küche, um ihn vor seinem Futternapf auf den Boden zu lassen. Dann ging sie zum Besenschrank, in dem sie das Katzenfutter aufbewahrte, und öffnete das Vorhängeschloss.
Stirnrunzelnd bemerkte sie die neuen Bissspuren an der unteren Ecke der Holztür. Es würde nicht mehr lange dauern. Ihr pelziger Vielfraß hatte das Furnier bereits abgenagt und war auf einem guten Weg, auch das frei liegende Holz zum Verschwinden zu bringen. »Ein Schloss ist nur so gut wie die Tür.« Das waren immer die Worte ihres Vaters gewesen, ein Rat an seine Kunden im Eisenwarengeschäft von Lake Eden. Gegen das Vorhängeschloss konnte Moishe nichts ausrichten, doch er war so schlau, seine Anstrengungen auf die Wabentür zu konzentrieren. Er arbeitete an einem katzengroßen Loch, um zur Nahrungsquelle durchzustoßen.
Sie schätzte, dass es noch eine Woche dauern würde, bis Moishe in die Futterfestung eindrang. Es war Zeit, sich eine andere Lösung auszudenken, vorzugsweise eine, die keinen bewaffneten Wächter erforderte. Sie konnte Moishe nicht vorwerfen, dass er versuchte, an sein Futter heranzukommen. Während seines Lebens auf der Straße hatte er nie gewusst, wo er all die Mäuse zum Sattwerden hernehmen sollte, und er war halb verhungert gewesen, als sie ihn schließlich bei sich aufgenommen hatte. Obwohl seit jenem Wintertag fast zwei Jahre vergangen waren und sein Körperumfang sich durch regelmäßiges Fressen und die zusätzlichen Mahlzeiten verdoppelt hatte, wurde er noch immer panisch, sobald das Garfield-Konterfei am Grund seines Napfes sichtbar wurde.
»Katzenknusperfutter oder Leberleckerbrei?«, fragte sie ihren pelzigen Gefährten. »Oder lieber beides?«
Als sie ihm eine dritte Wahl bot, schnurrte er doppelt so laut. Sie schloss daraus, dass er beide Sorten haben wollte. Natürlich würde sie sie ihm getrennt servieren. Moishe betrachtete sich als Feinschmecker und mochte es nicht, wenn das trockene Futter mit dem nassen in Berührung kam.
Nachdem er den Leberbrei verschlungen hatte und zufrieden das Trockenfutter knusperte, ging Hannah ins Schlafzimmer, um in ihre Couchklamotten zu schlüpfen. Im Sommer bestanden sie aus einer leichten Schlupfhose in unscheinbarem Grau und einem weiten kurzärmligen T-Shirt in ihrer Lieblingsfarbe Feuerrot. Die biss sich mit ihren roten Haaren, aber außer Moishe war ja keiner da, der sich beschweren konnte. Und auch wenn Katzen farbenblind waren, was sie manchmal bezweifelte, war er mit Hannahs Erscheinung zufrieden, solange sein Futternapf gefüllt war.
»Zeit für mein Abendessen«, sagte sie, als sie wieder in die Küche ging. Sie trug ihre Wintercouchklamotten, ein kardinalrotes langärmliges Sweatshirt mit dazu passender Tunnelzughose. »Wirst du mich nerven, wenn ich einen Klondike Salad esse?«
Während sie eine Dose Rotlachs aus dem Schrank nahm und sie öffnete, blickte Moishe sie höchst unschuldig an, als interessierte es ihn nicht im Mindesten, was sie da tat. Sie machte sich keine Illusionen. Sein Desinteresse würde nur so lange anhalten, bis der Fischgeruch an seine Nase wehte. Moishe liebte Lachs, besonders den teuersten, den der Supermark Red Owl zu bieten hatte.
Wie erwartet strich Moishe ihr schon um die Beine, bevor sie den Inhalt der Dose auf den Teller löffelte. Sie zog die silberne Haut ab und legte sie für ihn beiseite. Dann zerpflückte sie den Lachs in einer Salatschüssel, nahm ein paar Stücke für Moishe heraus und legte einen kleinen Beutel Tiefkühlerbsen in die Mikrowelle. Während die Erbsen garten, rieb sie ein Viertel einer Zwiebel, gab sie über den Lachs und pellte und hackte zwei hart gekochte Eier, die sie immer im Kühlschrank bevorratete. Dann schreckte sie die Erbsen in Eiswasser ab und gab sie in die Schüssel, rührte Mayonnaise und ein wenig Gurkenwasser hinein, bestreute alles mit frisch gemahlenem Pfeffer, und der Salat war fertig.