Der Zufall, das Universum und du - Florian Aigner - E-Book

Der Zufall, das Universum und du E-Book

Florian Aigner

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Beschreibung

Der Zufall regiert unsere Welt. Mit welchen Zahlen man morgen im Lotto gewinnt oder wo es in zwei Jahren regnen wird, ist reine Glückssache. Trotzdem gehen wir davon aus, dass sich die Welt an berechenbare Naturgesetze hält – wie eine Uhr, in der ein Zahnrad das nächste bewegt. Wenn man sich auf die Suche nach den wissenschaftlichen Wurzeln des Zufalls begibt, stößt man auf Schmetterlinge, die mit einem Flügelschlag den Lauf der Welt verändern, auf winzige Teilchen, die ihre Eigenschaften ganz zufällig festlegen, und auf genetische Mutationen, die das Leben in neue Bahnen lenken. Seltsamerweise fällt es uns aber schwer, den Zufall richtig einzuordnen. Wir glauben Muster zu sehen, wo in Wirklichkeit nur das Chaos am Werk ist, wir verwechseln echte Leistung mit purem Glück. Florian Aigner nimmt den Leser mit auf eine Reise von der Physik über die Biologie bis zur Psychologie. Leichtfüßig und unterhaltsam manövriert er uns durch ein Panoptikum der Wissenschaften, auf der Suche nach der tiefen Bedeutung des Zufalls für das Universum, für das Leben und für uns alle.

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Florian Aigner — DER ZUFALL, DAS UNIVERSUM UND DU

Florian Aigner

DER ZUFALL, DAS UNIVERSUM UND DU

Die Wissenschaft vom Glück

INHALT

VORWORT

DER ZUFALL IST NICHT UNSERE STÄRKE

Pflaumenpudding, brennende Teilchenbeschleuniger und der Zufall als heimtückischer Mörder: Warum wir Zufälligkeiten nur schwer erkennen können.

DIE WELT ALS UHRWERK

Die Schönheit der Formeln, die Vorhersagbarkeit von Kometen und der Laplacesche Dämon: Wo hat der Zufall seinen Platz, wenn strenge Naturgesetze den Lauf der Welt festlegen?

DER SCHMETTERLING KANN NICHTS DAFÜR

Das Wetter, der Schmetterlingseffekt und drohende Planetenkollisionen: Die Chaostheorie zeigt uns, dass die Berechenbarkeit der Welt ihre Grenzen hat.

AM ENDE GEWINNT DIE UNORDNUNG

Die zerbrochene Kaffeetasse, die Richtung der Zeit und das einsame Gehirn im Weltall: Ohne Zufall und Entropie gibt es keinen Unterschied zwischen gestern und morgen.

QUANTEN, DIE WIE HÜHNCHEN SCHMECKEN

Schrödingers Katze, der Quantenselbstmord und die Welt der kleinsten Teilchen: Die Quantentheorie bringt eine neue Sorte Zufall in die Wissenschaft.

NA, WAS JETZT: ZUFALL ODER NICHT?

Paralleluniversen, der freie Wille und das Mondkalb mit Zylinderhut: Ob es in der Welt zufällig zugeht, lässt sich nicht wirklich beantworten – wir müssen andere Fragen stellen.

DIE LOTTERIE DER GENE

Das fünfäugige Greifrüsseltier, der Stammbaum der Anolis-Echsen und das Ende der Menschheit: Evolution hat viel mit Zufall zu tun, ist aber kein reines Glücksspiel.

DER ZUFALL IN MEINEM KOPF

Abergläubische Tauben, Regentänze und die Angst vor der Haiattacke: Wenn sich Menschen seltsam verhalten, hat das oft damit zu tun, dass sie mit Zufälligkeiten nicht umgehen können.

WAS MAN ÜBER DAS GLÜCKSSPIEL WISSEN SOLLTE

Die Roulette-Prognosemaschine, das Gesetz der großen Zahl und wissenschaftlich korrektes Lottospielen: Wer den Zufall versteht, ist am Ende der Gewinner.

ZUFÄLLIG KRANK, ZUFÄLLIG GESUND

Lebensgefahr in der Geburtenstation, der Placeboeffekt und die Madonna von Lourdes: Gesundheit ist oft Glückssache – echte Medizin beginnt dort, wo der Zufall endet.

MAGIE, DIE NUR DURCH ZUFALL WIRKT

Orakelkraken, Wünschelruten und Telekinese an der Universität: Was sich durch bloßen Zufall erklären lässt, darf man nicht mit Magie verwechseln.

ERFOLG IST GLÜCKSSACHE

Die Arroganz des Erfolgreichen, die Lotteriegesellschaft und das Rätsel der abgeschossenen Flugzeuge: Viele Erfolge verdanken wir in Wahrheit bloß dem Zufall.

DER ZUFALL IST UNSER FREUND

Das unerhörte Glück unserer Existenz, die ausbalancierten Naturgesetze und das anthropische Prinzip: Ohne Zufall gäbe es uns nicht, und ohne uns gäbe es keinen Zufall.

DANKE!

ANMERKUNGENLITERATUR

VORWORT

Begeistert starre ich auf meinen Lottoschein und kann es kaum glauben: Tatsächlich! Ich habe mehrere Zahlen beinahe richtig!

Preisgeld bekomme ich dafür natürlich keines, aber das ist nicht meine Schuld. Ich habe wunderschöne Zahlen ausgewählt – dass sich die Wirklichkeit dann nicht ganz an meine Wünsche gehalten hat, kann mir niemand zum Vorwurf machen.

Der Zufall hat uns fest in der Hand, das Leben ist ein riesengroßes Glücksspiel. Wer sich einredet, die Zukunft präzise vorausplanen zu können, liegt falsch. Der eine kreuzt die Geburtsdaten seiner Großtanten auf dem Lottoschein an und wird reich. Der andere gießt die Tulpen im Vorgarten, während ein Asteroid aus den äußeren Regionen des Sonnensystems rotglühend durch die Atmosphäre rast, um dann den Vorgarten in einen rauchenden Einschlagskrater zu verwandeln. Keiner von beiden hat etwas richtig oder falsch gemacht, der Zufall war bloß unterschiedlich nett zu ihnen.

Aus wissenschaftlicher Sicht ist der Zufall ein seltsames Phänomen: Niemand kann ernsthaft daran zweifeln, dass es ihn gibt. Aber was bedeutet Zufall in einer Welt, die sich mit wissenschaftlicher Präzision beschreiben lässt? Die Kugeln, die bei der Lottoziehung zufällig durcheinandergemischt werden, gehorchen eindeutigen, klaren Naturgesetzen, genauso wie der Asteroid, der zufällig im Vorgarten einschlägt. Wie kann ein berechenbares Universum so etwas wie Zufall überhaupt zulassen?

Gar nicht, haben viele Leute vor hundertfünfzig Jahren noch gesagt, und den Zufall als bloße Illusion abgetan. Die moderne Wissenschaft eröffnet uns heute allerdings einen etwas differenzierteren Blick auf diese Frage. Die Chaostheorie erklärt, wie dramatisch sich winzige Zufälle auswirken können, und die Quantenphysik sagt uns, dass der Zufall in der ungewohnten Welt der winzigkleinen Teilchen eine ganz besondere Bedeutung hat.

Doch damit ist die Sache noch lange nicht zu Ende. Ganz unterschiedliche Wissenschaftsdisziplinen haben uns etwas über Zufall und Glück zu sagen. Eine wichtige Rolle spielt der Zufall in der Evolutionsbiologie. Uns hat die Evolution mit einem Gehirn ausgestattet, das mit dem Zufall oft gar nicht gut zurecht kommt. Aufschlussreiche psychologische Experimente können uns helfen, unsere Schwierigkeiten mit dem Zufall besser zu verstehen: Wir legen uns Theorien zurecht, die wir nicht ordentlich überprüft haben. Wir glauben, Zusammenhänge zu erkennen, wo in Wirklichkeit nur der Zufall regiert. Wir sind stolz auf Erfolge, die wir eigentlich bloß dem Glück zu verdanken haben.

Der Zufall ist ein wichtiger Teil unseres Lebens – ob wir wollen oder nicht. Daher lohnt es sich auf jeden Fall, sich auf eine gedankliche Reise zu begeben und in aller Ruhe nachzudenken – über den Zufall, das Universum und uns.

DER ZUFALL IST NICHT UNSERE STÄRKE

Pflaumenpudding, brennende Teilchenbeschleuniger und der Zufall als heimtückischer Mörder: Warum wir Zufälligkeiten nur schwer erkennen können.

„So ein Zufall!“, dachte Émile Deschamps. Er saß in einem Restaurant in Paris und freute sich darüber, auf der Speisekarte Pflaumenpudding entdeckt zu haben. Als Kind hatte ihm ein Mann, den er kaum kannte, Pflaumenpudding zu kosten gegeben – ein gewisser Monsieur de Fontgibu. Doch seither hatte er diese Nachspeise nirgendwo mehr bekommen.

Doch als er den Kellner rief und den Pudding bestellte, erfuhr er, dass die letzte Portion gerade von einem anderen Gast verspeist worden war – und zwar von eben diesem Monsieur de Fontgibu von damals, der zufällig gerade im selben Restaurant saß.

So einen merkwürdigen Zufall vergisst man nicht so leicht, und so musste Monsieur Deschamps auch Jahre später wieder daran denken, als er bei Freunden ein weiteres Mal Pflaumenpudding serviert bekam. „Jetzt fehlt nur noch Monsieur de Fontgibu“, meinte er.

In diesem Moment geht die Tür auf und ein alter, verwirrter Mann kommt herein. Es ist Monsieur de Fontgibu, der sich in der Adresse geirrt hat und versehentlich in die falsche Wohnung stolpert.

Dreimal Pflaumenpudding und immer hatte Monsieur de Fontgibu seine Hände im Spiel. So viel Zufall kann doch kein Zufall sein! Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung war zumindest davon überzeugt, dass gewisse Dinge auf geheimnisvolle Weise miteinander verbunden sein können. Er erzählte die Geschichte vom Pflaumenpudding als Beispiel für „Synchronizität“, für Ereignisse, die auf mysteriöse Weise zusammengehören. Durch bloßen Zufall, meinte Jung, ließen sich solche Merkwürdigkeiten nicht erklären.

Pauli war schuld

C. G. Jung diskutierte das Thema auch mit dem Physiker Wolfgang Pauli, einem etwas eigentümlichen Wissenschaftler. Unter Physikern gibt es zwei verschiedene Völker mit ganz unterschiedlichen Kulturen – Theoretiker und Experimentalphysiker. Die Theoretiker fühlen sich überlegen, weil sie meinen, die Experimentalphysiker können nicht mit komplizierten Gleichungen umgehen; die Experimentalphysiker fühlen sich überlegen, weil sie meinen, die Theoretiker können nicht mit komplizierter Technik umgehen. Beide Seiten halten sich selbst für die eigentlichen, wahren Wissenschaftler und machen gerne Witze über die Gegenpartei. Ab und zu gibt es Physiker, die sich in beiden Bereichen wohlfühlen, doch Wolfgang Pauli war keiner von ihnen. Er war Theoretiker, daran bestand kein Zweifel. Schon in der Schule fiel er durch seine mathematische Begabung auf, aber Experimentieren war nicht seine Stärke.

Man erzählt, dass physikalische Apparaturen die Angewohnheit hatten, in Paulis Anwesenheit kaputt zu gehen. Er musste nur durchs Labor spazieren, und schon war es ringsherum vorbei mit den Experimenten. 1945 bekam er den Nobelpreis für die Entdeckung des „Pauli-Prinzips“: Zwei Elektronen eines Atoms können sich nicht im exakt gleichen Zustand befinden – mit diesem Grundsatz konnte Pauli den Aufbau von Atomen erklären. In Anlehnung daran wurde der Begriff des „Pauli-Effekts“ eingeführt: Pauli und ein funktionierendes Gerät, so hieß es, können sich nicht im selben Raum aufhalten. Das war sicher scherzhaft gemeint, doch Pauli selbst soll tatsächlich davon überzeugt gewesen sein, dass es sich dabei um einen realen Effekt handelte – um eine „Synchronizität“, wie C. G. Jung gesagt hätte.

Der Physiker Otto Stern erteilte Pauli Institutsverbot, um die Experimente in seinem Labor nicht zu gefährden. Als Pauli die Princeton University besuchte, geriet dort ein Teilchenbeschleuniger in Brand. Als im Labor von James Franck in Göttingen ein teures Gerät kaputt ging, war Pauli nicht im Labor – diesmal treffe ihn also keine Schuld, scherzte Franck in einem Brief an Pauli. Wohl aber doch, antwortete Pauli. Auf einer Zugreise nach Kopenhagen hatte er genau zu dieser Zeit einen Aufenthalt in Göttingen gehabt, er war während des Unglücks also gar nicht weit vom Labor entfernt gewesen.

Wie kann man solche Absonderlichkeiten erklären? Ist das alles bloß Zufall? Vielleicht gibt es hier gar nichts zu erklären.

Wir Menschen sind Geschichtenerzählmaschinen. Wenn wir auf eine schöne Geschichte stoßen, dann merken wir sie uns und tragen sie weiter. Wir fügen Dinge hinzu, die uns gefallen, und lassen Details weg, die uns nicht passen. Wir ordnen unsere Erlebnisse, indem wir sie zu hübschen Geschichten schnüren und in unserem Gedächtnis ablegen. Wie viel diese bunt zurechtgebastelten Geschichtenbündel in unserem Gedächtnis mit der Wirklichkeit am Ende noch zu tun haben, können wir irgendwann selbst nicht mehr so genau sagen.

Stimmt die Geschichte von Monsieur Deschamps und dem Pflaumenpudding, oder hat in dieser Überlieferung jemand ein bisschen übertrieben, damit die Erzählung unterhaltsamer wird? Vielleicht hat Deschamps in seinem Leben sehr oft Pflaumenpudding zu essen bekommen und die zahlreichen Fälle, in denen der geheimnisvolle Monsieur de Fontgibu nicht mit dabei war, sind einfach vergessen worden?

Hat Pauli wirklich Apparate zum Versagen gebracht? Wer sich jemals in einem Labor über falsche Messdaten geärgert hat, weiß ganz genau: Die meisten Experimente gehen schief, das liegt in der Natur des Experiments. Wäre es einfach, hätte es schon längst jemand anderer gemacht. Normalerweise muss man sich lange mit unzähligen unerwarteten Ärgerlichkeiten herumquälen, bevor man es schafft, dem Apparat am Ende vertrauenswürdige Daten zu entlocken. Ein Experiment, das nicht funktioniert, ist eigentlich der Normalfall. Dass Wolfgang Pauli immer wieder an Experimentalphysikern vorbeikam, die sich gerade über ihr Gerät ärgerten, ist nichts Ungewöhnliches, es ist an einem Forschungsinstitut sogar völlig unvermeidlich. Wenn man sich schließlich nur die besonders einprägsamen Anekdoten merkt, die zur schönen Geschichte des Pauli-Effekts passen, dann entsteht der Mythos des experimentzerstörenden Theoretikers.

Der Zufall als Mörder

Leider sind wir Menschen außerordentlich schlecht darin, Zufälligkeiten zu erkennen und Wahrscheinlichkeiten richtig einzuschätzen. Wir haben ein ziemlich gutes Gefühl dafür, ob uns jemand sympathisch findet oder nicht, wir müssen meist nur kurz am Kochtopf schnuppern, um zu erkennen, ob uns das Mittagessen schmecken wird, aber wenn wir mit Wahrscheinlichkeiten und Statistiken, mit Glück und Zufall umgehen sollen, dann scheitert unser Bauchgefühl kläglich. Im Beurteilen von Zufälligkeiten und Wahrscheinlichkeiten sind wir Menschen ungefähr so gut wie eine schwerhörige Hauskatze im Klavierspielen.

Wir fürchten uns vor dem weißen Hai, aber nicht vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Wir beobachten die Roulettekugel dabei, wie sie sich siebenmal hintereinander für Rot entscheidet, und sind davon überzeugt, dass beim nächsten Mal Schwarz an der Reihe sein muss. Die Zufälligkeiten, die uns das Leben vor die Füße wirft, biegen wir uns zu seltsamen Theorien zurecht und erfinden tiefsinnige Begründungen, wo in Wirklichkeit nur der Zufall regiert.

Manchmal kann ein falsches Verständnis von Zufall und Wahrscheinlichkeit sogar ein Leben zerstören, das zeigt die traurige Geschichte von Sally Clark aus Großbritannien. Sie brachte 1996 ihren ersten Sohn zur Welt. Einige Wochen später hörte das Kind im Schlaf plötzlich auf zu atmen. Sally Clark rief die Rettung, aber es war zu spät, ihr Sohn war tot. 1998 wiederholte sich diese Tragödie – auch ihr zweiter Sohn starb im Alter von einigen Wochen. Man spricht in solchen Fällen vom „plötzlichen Kindstod“. Die Hintergründe dieser Todesursache sind bis heute wissenschaftlich nicht geklärt. Man kann den plötzlichen Kindstod medizinisch nicht diagnostizieren, es ist bloß die Erklärung, die übrig bleibt, wenn man keine andere gefunden hat.

Im Fall von Sally Clark gab man sich damit aber nicht zufrieden, sie wurde wegen Mordverdachts festgenommen. Bei der Gerichtsverhandlung kam ein Kinderarzt zu Wort, der Sally Clarks Geschichte für höchst unglaubwürdig hielt. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Kind an plötzlichem Kindstod stirbt, liegt bei etwa eins zu 8543. Daher, so argumentierte der Arzt, sei die Wahrscheinlichkeit für zwei solche Fälle hintereinander lächerlich gering, nämlich eins zu 8543 zum Quadrat, also eins zu 73 Millionen. Das sei eine derart geringe Wahrscheinlichkeit, dass man davon ausgehen müsse, dass Sally Clark ihre Söhne getötet habe. Sally Clark wurde schuldig gesprochen und zu einer lebenslangen Gefängnisstrafe verurteilt.

In den Medien wurde ausführlich über diesen Fall berichtet, und schließlich fühlte sich auch die Royal Statistical Society in London berufen, die Sache zu kommentieren: Das Wahrscheinlichkeits-Argument mag auf den ersten Blick überzeugend wirken, es ist aber grundfalsch, erklärten die Statistik-Experten.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, zweimal hintereinander eine Sechs zu würfeln? Das kann man sehr einfach ausrechnen: Beim ersten Mal Würfeln liegt die Wahrscheinlichkeit bei eins zu sechs, beim zweiten Mal auch. Die Gesamtwahrscheinlichkeit dafür, dass wir beide Male eine Sechs würfeln, liegt daher bei eins zu sechsunddreißig. Hier kann man die Wahrscheinlichkeiten einfach multiplizieren, weil die beiden Ereignisse nichts miteinander zu tun haben. Beim plötzlichen Kindstod sieht die Sache aber anders aus. Vielleicht wird die Gefahr des plötzlichen Kindstodes durch genetische Ursachen oder Umwelteinflüsse erhöht, die beide Kinder gleichermaßen betroffen haben? Solche Zusammenhänge müsste man kennen, um die wahre Wahrscheinlichkeit für zwei Todesfälle bei zwei Kindern auszurechnen.

Das entscheidende Problem in der Argumentation des Kinderarztes ist aber ein anderes: Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit für zwei zufällige Todesfälle bloß bei eins zu 73 Millionen läge, würde das noch lange nicht bedeuten, dass die Wahrscheinlichkeit für Sally Clarks Unschuld bloß eins zu 73 Millionen beträgt. In der Statistik nennt man das den „Trugschluss des Anklägers“.1

Es geht in diesem Fall nicht darum, wie wahrscheinlich es ist, dass zwei neugeborene Kinder am plötzlichen Kindstod sterben werden, sondern um die Frage, wie groß die Wahrscheinlichkeit dieser Todesursache bei zwei bereits verstorbenen Kindern ist – und das ist ein großer Unterschied. Die beiden Möglichkeiten, die zur Auswahl stehen, lauten nicht „die Kinder überleben“ und „die Kinder sterben am plötzlichen Kindstod“, sondern „die Kinder wurden von ihrer Mutter getötet“ und „die Kinder starben auf natürliche Weise“. Beide Varianten, sowohl der Doppelmord als auch der doppelte plötzliche Kindstod, sind extrem unwahrscheinlich. Aber davon dürfen wir uns nicht verwirren lassen, denn offensichtlich ist einer dieser unwahrscheinlichen Fälle eingetreten. Es geht daher nicht um die absolute Wahrscheinlichkeit für zwei spontane Todesfälle, sondern um die relative Wahrscheinlichkeit von plötzlichem Kindstod verglichen mit Mord.

Wenn nach der Lottoziehung ein Freund voll strahlender Begeisterung an meine Tür klopft und mir seinen Lottoschein mit den richtigen Zahlen unter die Nase hält – wie werde ich mich dann verhalten? Wenn man der Logik des statistisch eher ungebildeten Kinderarztes folgt, dann müsste man sagen: Die Wahrscheinlichkeit für einen Haupttreffer im Lotto ist so klein, dass wir diese Möglichkeit getrost außer Acht lassen können. Der Freund muss den Lottoschein also gefälscht haben. Doch wenn mein Freund kein notorischer Lügner und begnadeter Fälscher ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit dafür sehr gering. Der Lottoschein ist aber da, irgendein unwahrscheinliches Ereignis muss also eingetreten sein, daher ist die geringe Wahrscheinlichkeit des Lottogewinns kein sinnvolles Argument.

Wenn man schon mit Statistik argumentieren möchte, wäre es im Fall von Sally Clark klüger gewesen, sich die typischen Todesursachen bei Babys anzusehen. Im Alter von einem Monat bis zu einem Jahr gehört der plötzliche Kindstod zu den häufigsten Todesursachen – Mord kommt zum Glück nur sehr selten vor. Ray Hill, ein Mathematikprofessor an der Universität Salford, berechnete, dass in Sally Clarks Fall die Wahrscheinlichkeit für doppelten Mord statistisch betrachtet deutlich geringer war als für doppelten plötzlichen Kindstod. In einem Berufungsverfahren hieß es dann, man hätte das ursprüngliche Wahrscheinlichkeits-Argument des Kinderarztes niemals zulassen sollen, Sally Clark wurde nach drei Jahren aus dem Gefängnis entlassen.

Das einzig Sichere ist der Zufall

Unsere bauchgefühlte Intuition kommt einfach sehr schwer damit zurecht, dass immer wieder unwahrscheinliche Ereignisse eintreten. Der pure Zufall kommt uns verdächtig vor, da suchen wir lieber nach irgendwelchen versteckten Gründen. Dabei passiert jeden Tag so viel Zufälliges auf dieser Welt, dass immer etwas höchst Unwahrscheinliches geschehen muss. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass immer nur das Wahrscheinliche passiert, ist so gering, dass ein Ausbleiben von Unwahrscheinlichem selbst am allerunwahrscheinlichsten wäre.

Wenn ausreichend viele Leute Lotto spielen, dann wird schon irgendjemand von ihnen die richtigen Zahlen angekreuzt haben. Wenn physikalische Experimente oft scheitern, dann wird es irgendeinen Wissenschaftler wie Wolfgang Pauli geben, der zufällig bei einer ziemlich großen Anzahl gescheiterter Versuche anwesend ist. Wenn Millionen Menschen in Millionen unterschiedlichen Situationen Millionen andere Menschen treffen, dann muss sich ganz zwangsläufig ab und zu eine verrückt klingende Geschichte ergeben, wie die von Monsieur Deschamps, Monsieur de Fontgibu und dem Pflaumenpudding. Es ist klar, dass wir uns über solche Zufälle wundern. Aber wir sollten uns nicht darüber wundern, dass wir immer wieder etwas finden, worüber wir uns wundern können. Das Leben wäre sonst auch ziemlich langweilig.

Die interessantesten Geschichten in unserem Leben haben keinen tiefsinnigen, bedeutungsvollen Grund, sie werden uns nicht durch irgendeine mystische Vorsehung bestimmt, sie purzeln uns durch bloßen Zufall entgegen. Deshalb lohnt es sich, über den Zufall ein wenig genauer nachzudenken.

Ist Zufall bloß die Abwesenheit einer Ursache? Das ist keine besonders befriedigende Erklärung, denn Ursachen kann man immer finden. Wenn an Wolfgang Paulis Forschungsinstitut ein Messgerät in einer streng riechenden Rauchwolke seinen Dienst beendete, dann hatte vielleicht einfach einer der Studenten den Draht falsch angelötet. Wenn ich eine Sechs würfle, dann liegt das an den physikalischen Eigenschaften des Würfels und an der Bewegung, die ich ihm anfangs mitgegeben habe. Wenn ich mir ganz zufällig eine Zahl zwischen eins und hundert aussuche, dann ergibt sich meine Wahl aus dem Feuern meiner Gehirnzellen, aus einem elektrochemischen Gewitter in meinem Kopf, das wir als Gedanken bezeichnen. Aber wenn alles eine Ursache hat, kann es dann Zufall überhaupt geben?

Die Welt ist ein unübersichtliches Gewirr aus winzigen Partikeln, aus Protonen, Neutronen, Elektronen und ähnlichem Kleinzeug. Alle wabbeln wild durch den Weltraum, verbinden sich oder stoßen einander ab. Kein herumfliegendes Staubkorn kann sich aussuchen, ob es nach links oder rechts abbiegen will. Seine Bewegung ergibt sich aus den Naturgesetzen, auf eindeutige, zwingende Weise.

Können wir uns dann also das ganze Universum wie ein Uhrwerk vorstellen, in dem unzählige Rädchen ineinandergreifen, in dem jede Wirkung eine Ursache hat, in dem alles geschieht, wie es geschehen muss? Ist unser Universum auf ähnliche Weise vorhersehbar wie die Wohnzimmeruhr, die in gemächlichem Sekundentakt vor sich hin tickt? Wenn sich mit wissenschaftlichen Methoden die ganze Welt beschreiben lässt, wo ist dann überhaupt Platz für Zufall? Gibt es irgendwo in dieser mathematischen Strenge geheime Ritzen und Spalten, durch die sich das Zufällige, das Beliebige, das Unvorhersehbare ans Tageslicht zwängen kann wie das Unkraut zwischen den Terrassenfliesen? Hat die Natur irgendwo in ihrem tiefsten Inneren einen Zufallsgenerator eingebaut, sodass sie selbst nicht weiß, wie ihr geschieht?

DIE WELT ALS UHRWERK

Die Schönheit der Formeln, die Vorhersagbarkeit von Kometen und der Laplacesche Dämon: Wo hat der Zufall seinen Platz, wenn strenge Naturgesetze den Lauf der Welt festlegen?

Die Katze langweilt sich. Den Nachbarkater hat sie bereits erfolgreich vertrieben, Mäuse lassen sich im Garten längst keine mehr finden und ihr Zweibeiner, der sich mit ihr die Wohnung teilt und diese merkwürdigen Dosen öffnen kann, aus denen das Futter kommt, ist seltsamerweise noch immer nicht da. Erst Stunden später sperrt er die Tür auf, die Katze maunzt ärgerlich, lässt sich dann aber mit einer großen Portion Hühnerfleisch versöhnen.

Für die Katze ist diese Verspätung ein völlig zufälliges Ereignis. Dass es gerade heute eine Abweichung vom gewohnten Tagesablauf geben würde, war für sie nicht vorherzusehen. Ihr Zweibeiner sieht das aber vielleicht ganz anders. Möglicherweise hatte er an diesem Abend einen wichtigen Termin, der schon lange geplant war.

Ob wir etwas als zufällig betrachten oder nicht, hängt davon ab, welche Information uns zur Verfügung steht. Es gibt Maschinen, die eine Münze mit genau dosiertem Schwung und exakt bestimmter Drehung in die Luft befördern können, sodass sie nach mehreren Rotationen mit der vorherberechneten Seite nach oben auf dem Tisch aufkommt. Wenn man mir dieses Experiment zum ersten Mal vorführt, wird mir das Münzwurfergebnis völlig zufällig erscheinen – aber nur, weil ich die inneren Gesetze der Maschine nicht kenne.

Die überraschende Nützlichkeit der Zahlen

Vielleicht löst sich jeder Zufall in glasklare Berechenbarkeit auf, wenn man genau genug hinsieht. Mit Hilfe der Wissenschaft haben wir in den vergangenen Jahrhunderten beeindruckend viele Phänomene verstehen gelernt, die vorher wie bloßer Zufall oder wie göttliche Willkür gewirkt haben: Wir wissen heute, warum Blitze einschlagen, wir können erklären, warum Krankheiten ausbrechen, und nach den Abendnachrichten sagt man uns mit durchaus akzeptabler Trefferquote voraus, wie morgen das Wetter wird.

Unsere Welt lässt sich erklären, mit mathematischen Formeln. Das klingt banal, ist aber überhaupt nicht selbstverständlich. Die erstaunliche Vorhersagbarkeit unseres Universums nehmen wir einfach hin, ohne viel über sie nachzudenken.

Woher weiß die Natur, dass sie sich an physikalische Gesetze zu halten hat? Kann die Natur mathematische Gleichungen lösen? Warum sind die Naturgesetze so aufgebaut, dass wir Menschen sie erkennen und nutzen können?

Die moderne Physik kennt heute vier fundamentale Grundkräfte: Gravitation, Elektromagnetismus, starke Kernkraft und schwache Kernkraft. Alle vier lassen sich mathematisch beschreiben und gemeinsam erklären sie beinahe alles, was wir beobachten können, von der Atomphysik bis zur Astronomie. Wir könnten uns ebenso gut eine Welt vorstellen, in der die Mathematik bloß eine grobe Richtlinie bietet, in der ein Stein aus unerklärbarer Ursache manchmal eben ein wenig schneller zu Boden fällt und dann wieder langsamer, in der Wasser heute klar und morgen orange aussieht, in der sich eine Banane im Kühlschrank manchmal spontan in ein schlecht gelauntes Babykrokodil verwandelt.

Vielleicht wäre das ganz unterhaltsam, aber in einer solchen Welt des Zufalls scheinen wir nicht zu leben. Je mehr wir über die Welt lernen, umso besser können wir unsere Beobachtungen erklären. Je genauer wir messen, umso besser passen die Messungen zu den mathematischen Berechnungen. Je exakter wir rechnen, umso besser passen die Ergebnisse zu den Experimenten. Oft stellen sich die Gesetze, an die sich die Natur zu halten scheint, als erstaunlich einfach heraus. Manche Leute glauben sogar, dass es ein Hinweis für die Gültigkeit einer Theorie sein kann, wenn sie mathematisch schön und einfach aussieht. Man kennt das von den Mathematikaufgaben in der Schule: Wenn man sich durch ein Dickicht an unübersichtlichen Gleichungen kämpft, und am Ende kürzt sich alles schön weg, sodass nur eine einfache, kurze Formel übrigbleibt, dann kann man das als gutes Zeichen dafür sehen, dass man richtig gerechnet hat.

Doch egal ob man schöne oder hässliche Formeln verwendet: Die Tatsache, dass wir die Welt überhaupt mathematisch beschreiben können, ist bemerkenswert. Der Physiker und Nobelpreisträger Eugene Paul Wigner wunderte sich darüber: „Die enorme Nützlichkeit der Mathematik in den Naturwissenschaften grenzt ans Mysteriöse, und es gibt keine rationale Erklärung dafür“, schrieb er. „Das Wunder, dass die Sprache der Mathematik für die Formulierung physikalischer Gesetze taugt, ist ein großartiges Geschenk, das wir weder verstehen noch verdient haben. Wir sollten dankbar dafür sein und hoffen, dass es auch in der zukünftigen Forschung gültig bleibt.“

Eine radikale Erklärung für die erstaunliche Nützlichkeit der Mathematik schlägt der Kosmologe Max Tegmark vor. Für ihn ist das Universum nicht bloß mathematisch beschreibbar, sondern das Universum selbst ist reine Mathematik.

Wenn sich die Welt perfekt mathematisch beschreiben lässt, dann muss man die beiden Dinge – die Welt und ihre mathematische Beschreibung – nicht getrennt voneinander betrachten. Sie sind genau dasselbe, definitionsgemäß, so wie der Donnerstag und der Tag, der nach dem Mittwoch kommt. Wenn die Welt reine Mathematik ist, dann muss man sich nicht wundern, dass wir mit Mathematik der Wahrheit immer näher kommen können. Man muss auch nicht überlegen, warum das Universum entstanden ist. Es ist eben einfach da, so wie die Zahl fünf einfach da ist, oder die Wurzel aus zwei – darüber wundert sich auch keiner.

Für Max Tegmark ist unser Universum eine mathematische Struktur mit bestimmten unveränderlichen Eigenschaften. Und aus diesen Eigenschaften folgt zwingend, dass negativ geladene Elektronen einander abstoßen, dass sich die Erde um die Sonne dreht und dass ich heute gerade Lust auf Pizza habe. Die Zukunft des Universums steht längst eindeutig fest, genau wie die korrekte Lösung einer Gleichung. Zeit hat keine echte Bedeutung mehr, und für den Zufall ist in einem solchen Tegmark-Universum kein Platz.

Die Aufklärung

Wer bei solchen Thesen Kopfschmerzen bekommt, sollte sich nicht ärgern. Auch die Kopfschmerzen sind schließlich bloß eine unangenehme mathematische Eigenschaft der Wirklichkeit. Die Idee, die ganze Welt als reine Mathematik zu sehen, ist originell und radikal. Doch die Vorstellung, dass alle Ereignisse in unserem Universum in gewissem Sinn bereits vorherbestimmt sind, ist nicht neu. Für naturwissenschaftlich denkende Menschen ist das sogar ein ziemlich naheliegender Gedanke. Wir messen die Bahn eines Asteroiden und sagen dann mathematisch voraus, ob er die Erde treffen wird. Wir analysieren eine Flüssigkeit und können berechnen, welche chemische Reaktion ablaufen wird. Wir untersuchen eine elektrische Schaltung und prognostizieren, dass sie gleich durchbrennen wird, weil irgendein Dummkopf versehentlich einen Kurzschluss produziert hat. Wenn die Vorhersage zukünftiger Ereignisse mit Hilfe der Wissenschaft so gut klappt, sollte dann nicht mit einer noch größeren Portion Wissenschaft irgendwann alles vorhersagbar werden?

Sicher kein Zufall ist, dass solche Gedanken im Zeitalter der Aufklärung recht beliebt waren. Die Aufklärung war eine für die Wissenschaft äußerst spannende Epoche. Aus heutiger Sicht war sie für die neuzeitliche Wissenschaftsgeschichte vielleicht ungefähr das, was für die persönliche Biografie eines Menschen die frühe Jugend ist. Man beginnt, völlig neue Dinge auszuprobieren, manches davon gilt als unanständig, aber es ist spannend und aufregend, auch wenn man noch nicht wirklich verstanden hat, wofür es eigentlich gut sein soll. Die ersten Dampfmaschinen wurden gebaut, man führte Experimente zum mysteriösen Phänomen der Elektrizität durch, mit den ersten Heißluftballons wagte man, den sicheren Erdboden zu verlassen. Isaac Newton hatte die Formeln aufgestellt, mit denen man berechnen konnte, warum der Mond auf seiner Bahn um die Erde stabil am Himmel bleibt, während uns die Hinterlassenschaften vorüberfliegender Tauben parabelförmig auf den Kopf fallen. Es war eine glorreiche Zeit.

Für den Philosophen und Mathematiker Gottfried Wilhelm Leibniz war klar, dass nichts ohne hinreichenden Grund geschieht, und der tiefe Grund für die existierende Welt war für ihn Gott. Die Vorstellung von Gott als allererster Ursache, die dann alle Ereignisse im Universum ins Rollen bringt, war nicht neu. Religiösen Leuten gefällt diese Idee oft nicht so sehr, schließlich kann man diesen Gedanken als praktische Taktik sehen, den Einfluss eines höheren Wesens diskret zu entsorgen: Man deponiert es möglichst weit weg, am Anfang der ewigen Kausalkette aus Ursache und Wirkung, und es wird selbst zum ersten Zahnrädchen im grundsätzlich berechenbaren Getriebe der Welt.

Nicht einmal bei der Erschaffung der Welt hatte Gott eine Wahl, meinte Leibniz. Auch bei der Schöpfung blieb nichts dem Zufall überlassen, Gott musste nämlich die beste aller logisch möglichen Welten schaffen, sonst wäre er ja nicht Gott. Man könnte mit Gott beinahe Mitleid haben: Es muss doch irgendwie frustrierend sein, wenn man ein allmächtiges Wesen ist und dann erst recht keine Wahlfreiheit hat. Aber zumindest erklärt diese Annahme auf elegante Weise, warum es Leid auf der Welt gibt: Besser geht es eben nicht, jede Abweichung von Gottes Plan würde die Welt bloß noch schlechter machen. Wenn ich mir also die Zehe breche, dann muss das langfristig doch irgendwelche positiven Auswirkungen haben, denn sonst wäre diese Welt nicht die bestmögliche? Logisch betrachtet kann das durchaus sein. Aber dass die Vorstellung, dass wir in der „besten aller möglichen Welten“ leben, von Leibniz formuliert wurde, einem angesehenen, wohlhabenden Mitteleuropäer, und nicht von jemandem, der im Leben etwas weniger Glück hatte, ist wohl auch kein Zufall.

Thomas Hobbes, ein britischer Materialist, war Gott gegenüber etwas skeptischer eingestellt. Wenn es Gott gibt, dann sollte man sich ihn auch materiell vorstellen, bestehend aus Teilchen, mit einer Ausdehnung im Raum. Sein Landsmann Robert Boyle, der sich im Lauf seiner Karriere vom Alchemisten zum Chemiker entwickelt hatte, verwendete das oft zitierte Bild vom Universum als Uhrwerk, in dem viele Zahnräder auf wohlgeordnete Weise ineinandergreifen. Ein Zahnrad wird von einem anderen bewegt und bewegt seinerseits wieder das nächste, und genau wie ein verlässlich vor sich hin ratterndes Uhrwerk ist auch die große Maschine des Universums nichts anderes als eine logische Abfolge von Ursache und Wirkung.

Laplace, Gott und der Dämon

In einem kleinen Dorf in Nordfrankreich hielt der neunjähriger Pierre-Simon Laplace Ausschau nach einem hellen Licht am Nachthimmel. Er war nicht der Einzige: In ganz Europa warteten Astronomen gespannt auf die Rückkehr des Halleyschen Kometen, die für das Jahr 1758 vorausgesagt worden war. Für den kleinen Pierre-Simon Laplace war das ein prägendes Erlebnis, er sollte später zu einem der radikalsten Denker über Gott und die Welt werden.

Schon fünfzig Jahre vorher hatte der britische Astronom Edmond Halley die Umlaufperiode des Kometen berechnet, doch nun war die Bahn des Himmelskörpers von französischen Astronomen noch genauer bestimmt worden. Sie hatten den Einfluss von Jupiter und Saturn exakter berücksichtigt und festgestellt, dass sich der Komet verspäten würde. Am 13. April 1759 werde der Komet der Sonne am nächsten sein, sagten sie voraus – und damit lagen sie beinahe richtig. Tatsächlich war es dann der 13. März, aber trotzdem galt die derart genaue Vorhersage der Kometenbahn damals als großer Triumph. Pierre-Simon Laplace meinte später, dieses Ereignis sei ein wesentlicher Grund dafür gewesen, dass seine Generation außergewöhnliche Naturphänomene nicht mehr als göttliches Zeichen verstand, sondern als berechenbare Konsequenz von Naturgesetzen, die man analysieren und verstehen kann.

Laplace forschte in Paris, als Mitglied der angesehenen Akademie der Wissenschaften. Während der Französischen Revolution galt er als politisch nicht ausreichend vertrauenswürdig und musste die Hauptstadt verlassen. Später knüpfte er Kontakt zu Napoleon, den er Jahre zuvor an der Militärakademie in Mathematik unterrichtet hatte, kehrte nach Paris zurück und wurde Innenminister. Doch wer ein genialer Wissenschaftler ist, muss noch lange kein großartiger Politiker sein: Nach nur sechs Wochen wurde Laplace entlassen, Napoleon beklagte sich über seine Detailverliebtheit und meinte, Laplace habe den „Geist des unendlich Kleinen“ in die Verwaltung hineingetragen.

Berühmt wurde eines seiner Gedankenexperimente, das den Geist der Wissenschaft in dieser Epoche treffend illustriert: Der Laplacesche Dämon. Laplace stellte sich eine übermenschliche Intelligenz vor, die mühelos unbegrenzte Mengen an Information aufnimmt und in kürzester Zeit beliebig komplizierte Rechnungen durchführt. Nehmen wir an, ein solcher „Dämon“ kennt zu einem bestimmten Zeitpunkt den Zustand aller Objekte im Universum, weiß genau über Position und Geschwindigkeit jedes einzelnen Atoms Bescheid und kennt außerdem die Kräfte, die zwischen all diesen Objekten wirken.

Wenn das Universum funktioniert wie eine Maschine, als Abfolge von Ursachen und Wirkungen, dann muss ein solcher Laplacescher Dämon aus dem Zustand des Universums vorherberechnen können, wie das Universum mit all seinen Atomen, Menschen und Himmelskörpern zu einem beliebigen anderen Zeitpunkt aussehen wird. Für den Dämon wäre jeder Augenblick gleichbedeutend mit jedem anderen, denn aus jedem kann er sich alle anderen zwingend herleiten. Das heißt, dass alles im Universum bereits seit Beginn der Zeit vorherbestimmt ist, genau wie es durch die ausgeklügelte Mechanik einer Uhr vorherbestimmt ist, dass der Stundenzeiger in den nächsten sechzig Minuten von einer Zahl zur nächsten wandert. Wenn es einen solchen Dämon geben kann, dann ist die Welt deterministisch, die Zukunft ist bereits da, fertig verpackt in den ersten Anfangsbedingungen am Beginn des Universums. Jede Art von Zufall ist ausgeschlossen.

Wie viele Gelehrte seiner Zeit beschäftigte sich Laplace mit der Bewegung der Himmelskörper und beschrieb mit mathematischen Formeln, wie sich die Planeten nach unverrückbaren Gesetzen um die Sonne drehen, wie Zahnräder in einem kosmischen Uhrwerk. Über zwanzig Jahre lang arbeitete er an seinem großen Werk über die Himmelsmechanik, und als es fertig war, stellte er es Napoleon vor. Napoleon sah sich das Buch an und bemerkte, dass darin kein einziges Mal das Wort „Gott“ vorkomme. „Sire, diese Hypothese hatte ich nicht notwendig“, soll ihm Laplace geantwortet haben.

Aus solchen Zitaten zu schließen, dass die Wissenschaftler und Philosophen der Aufklärung Atheisten waren, wäre allerdings ganz falsch. Laplace wollte Gott aus seiner Weltanschauung nicht verbannen, er wollte ihm nur einen angemessenen Platz zuweisen. An einen Gott, der zufällig und willkürlich von außen in das Weltgeschehen eingreift, kann man nicht glauben, wenn man die Welt als verlässlich tickendes Uhrwerk betrachtet. Aber zumindest die Position des Uhrmachers, des ursprünglichen Planers und Gestalters, kann man Gott noch zugestehen – anders als in Max Tegmarks mathematischem Universum, das bloß aus der reinen Logik heraus besteht und keinen Schöpfer braucht.

Isaac Newton, der Mechaniker fürs Universum

Der wahre wissenschaftliche Star der Aufklärung war allerdings weder Laplace noch Leibniz, sondern Isaac Newton, einer der wegweisendsten und seltsamsten Wissenschaftler der Geschichte. Er dürfte nicht die Art von Mensch gewesen sein, die man abends gerne mal zu einer Party mitnehmen würde, zumindest nicht, wenn man von den Gastgebern auch in Zukunft noch einmal eingeladen werden möchte.

Seine Auseinandersetzungen mit anderen Wissenschaftlern waren legendär. So soll er etwa stolz darauf gewesen sein, Leibniz das Herz gebrochen zu haben. Die beiden hatten nämlich darüber gestritten, wer von ihnen als Erfinder der Infinitesimalrechnung gelten darf. Die Royal Society in London setzte ein Komitee ein, um zu klären, wer von beiden recht hatte. Leibniz wurde nicht befragt, der Bericht des Komitees erklärte Newton zum Sieger. Kein Wunder – Newton selbst war der Autor dieses Berichts.

Isaac Newton zerstritt sich auch mit dem britischen Hofastronomen John Flamsteed vom königlichen Observatorium in Greenwich. In jahrelanger Arbeit hatte Flamsteed die Positionen von Himmelskörpern vermessen. Veröffentlichen wollte er sie allerdings noch nicht, obwohl Newton die Daten für seine eigene Arbeit dringend gebraucht hätte. Daraus entwickelte sich ein jahrelanger Streit, in dem Newton als berühmter Wissenschaftler mit exzellenten Verbindungen nach oben einfach die besseren Karten hatte. Newton war inzwischen Präsident der Royal Society geworden und zwang Flamsteed schließlich zur Herausgabe der Daten. Ohne Flamsteeds Zustimmung wurden sie abgedruckt, in einer Auflage von 400 Stück. Dass es Flamsteed später gelang, ungefähr 300 dieser Exemplare aufzutreiben und zu verbrennen, war für ihn wohl nur ein kleiner Trost.