Der zweite Engel - Philip Kerr - E-Book

Der zweite Engel E-Book

Philip Kerr

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Beschreibung

Am Ende des 21. Jahrhunderts kommt das Chaos über den Planeten Erde. Ein neues, tödliches Virus ist aufgetreten und nur durch einen kompletten Austausch mit nicht infiziertem Blut heilbar. Blut ist die heimliche Währung, und Dana Dallas, dem Sicherheitsexperten der Blutbanken, geht es bestens. Doch dann erkrankt seine eigene Tochter, und Dallas selbst wird zum Sicherheitsrisiko ... «Kerrs neuer Roman ist ein wahres Vergnügen für anspruchsvolle Leser.» (New York Times)

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Philip Kerr

Der zweite Engel

Roman

Aus dem Englischen von Cornelia Holfelder-von der Tann

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

WidmungMottoMondkartePrologIIIErster Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. KapitelZweiter Teil1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel
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Für Caradoc King, in Dankbarkeit und Zuneigung

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Und der zweite Engel goss aus seine Schale ins Meer, und es ward Blut wie eines Toten.

Die Offenbarung des Johannes 16; 3

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Prolog

I

Es war ein weiterer klarer, kalter Tag auf dem Mond, und die Atomuhren zeigten gerade dreihundert. Dreihundertvierundzwanzig Stunden hat ein lunaräquatorialer Tag, was heißt, dass ein Tag auf dem Mond vollen zwei Wochen auf der Erde entspricht. Von den Leuten, die in der Bergbau-Strafkolonie Artemis Sieben arbeiteten, hätten wohl die wenigsten dieser Rechnung zugestimmt. Denn in einer Strafkolonie vergeht die Zeit langsam, vor allem, wenn dort Schwerstarbeit geleistet wird, und das im permanenten Kunstlicht einer luftdicht abgeschlossenen Mondkaverne bei minus zwanzig Grad.

Die Strafkolonie befand sich in einer Kaverne unter dem überhängenden Rand eines großen Kraters in den Vorbergen der Mondkarpaten. Zehn Meilen lang, zwei- bis dreihundert Meter breit und fast ebenso hoch, beherbergte diese Kaverne über dreitausend Männer und Frauen, verurteilt wegen verschiedenster Delikte, von einfachem Diebstahl bis zu vorsätzlichem Mord. Die kürzeste Strafe waren fünf, die längste fünfzehn Jahre. Lebenslängliche gab es auf Artemis Sieben nicht. Langjährige Schwerstarbeit in einer Mondkolonie gilt als hinlängliche Strafe für jedes Verbrechen, ausgenommen die allerabscheulichsten Untaten.

Durch die staubigen Fenster von Artemis Sieben betrachtet, stand die leuchtend blauweiße Erdkugel in scharfem Kontrast zur leblos grauen Mondoberfläche. Sie schien schon fast absichtlich dort hingehängt, wie eine auf ewig unerreichbare blaue Frucht, eine Tantalusqual für die Sträflinge – eine ständige Erinnerung an die extreme Art ihrer Verbannung.

Niemand schenkte der Erde so viel Aufmerksamkeit wie Cavor, der zehn Jahre abzubrummen hatte. Er hatte zu Hause ein besseres Leben gehabt als die meisten, die hier an seiner Seite schufteten. Wenn er nicht zu dem strahlend blauen Erdenauge sah und von seinem alten terrestrischen Leben träumte, starrte er auf die blinkend grünen Ziffern der Monduhr und dachte an seine nächste Ruhephase. Cavor hatte seine dreizehnte Acht-Stunden-Schicht halb geschafft, und nur noch eine Schicht trennte ihn von seiner nächsten zweiundsiebzigstündigen Ruhephase. Er bediente gerade einen Gesteinsschroter, eine solarstromgetriebene Maschine, die den Prozess der Heliumgewinnung aus Mondgestein einleitete, als plötzlich das gefräßige Ding den staubigen Ärmel seiner Thermojacke erwischte und seinen rechten Arm pulverisierte. Eben noch hatte er von seiner Ruhephase und einer Mahlzeit geträumt, und jetzt wurde er selbst von dem Gesteinsschroter gefressen. Ehe ein Mitsträfling die Maschine abstellen und Hilfe herbeirufen konnte, war Cavors Arm schon bis über den Ellbogen zermalmt.[1]

Ein paar Sträflinge trugen Cavor aus dem hinteren Teil der Kaverne, wo er gearbeitet hatte, zu einem Elektrowagen, der ihn zu der Krankenstation gleich beim unbewachten Eingang der Kolonie brachte. Auf Artemis Sieben waren die Sicherheitsmaßnahmen lax, und abgesehen vom Arbeitszwang gab es kaum Restriktionen. Die Häftlinge konnten ja nirgends hin. Die Krankenstation selbst lag ein paar Ebenen höher, in einer der wabenartigen Höhlen, die von der Hauptkaverne abgingen. Ihr Metallboden erzeugte ein elektrisches Feld, das ein Arbeiten unter nahezu normalen Schwerkraftbedingungen ermöglichte, aber Wände und Decke waren aus Gestein, und sobald das Luftfiltersystem zusammenbrach, was häufig passierte, war binnen kurzem alles – Geräte, Instrumente und Patienten – mit einer feinen Mondstaubschicht bedeckt. Der ganze Bereich roch stark nach Desinfektionsmittel, es sei denn, das Luftfiltersystem funktionierte gerade, was lediglich hieß, dass die Rohre und Schächte die Luft aus dem Speisesaal, die dick von Zigarettenqualm und entomophagischen[2] Küchendünsten war, in die Krankenstation leiteten.

In der Notaufnahme tat ein ebenfalls aus Sträflingen bestehendes Zweierteam Dienst. Raft, der Arzt, half seiner Assistentin Berger, dem schwerverletzten Cavor die Kleidung aufzuschneiden und ihn dann auf den Flachbett-Diagnosescanner zu hieven. Während sie darauf warteten, dass Florence[3], der Computer, mit der klinischen Untersuchung begann, legten die beiden rasch eine Traumainfusion – eine Mischung aus Anästhetika, Inotropen, Antibiotika, Glukose, Insulin und Natriumbikarbonat –, um Cavors Körperfunktionen zu stabilisieren. Doch noch ehe Florence etwas sagte, war Raft klar, dass dieser völlig deformierte Arm abmusste. Das war nichts, was man an Florence delegieren konnte. Die grobe, körperlich anstrengende Chirurgenarbeit blieb an ihm hängen. Beim Gedanken an diese Metzelei verzog er das Gesicht. Amputieren, über Jahrhunderte die Hauptstütze der Notfallchirurgie und von jeher der verzweifelte und oft vergebliche Versuch, Leben zu erhalten, war trotz aller modernen Errungenschaften immer noch ein blutiges Geschäft.

«Peripherer Puls gemessen», verkündete Florence. «Transkutane Dopplersonographie beendet. Thermographie, Radioxenon-Clearance und transkutaner Kaliumspiegel ausgewertet. Geschätzter Blutverlust bisher zwotausend Milliliter. Sämtliche radiographischen und tomographischen Befunde lassen eine Elektivamputation indiziert erscheinen. Ich schlage vor, Sie ersuchen den Patienten um seine Einwilligung in eine solche Amputation – notfalls auch proximaler als geplant.»

«Der Patient ist bewusstlos, Florence», sagte Raft seufzend. «Ich fürchte, da kann ich ihn genauso gut ersuchen, ein fröhliches Liedchen zu pfeifen.»

«Wenn das Einholen der Einwilligung nicht möglich ist, sollten Sie diesen Schritt überspringen und den Arm des Patienten amputieren, indem Sie den Humerus unmittelbar über dem Deltodeideus durchtrennen.»

«Danke für den guten Rat», knurrte Raft.

«Ich markiere die Stelle mit dem Laser, Peter. Und ich empfehle Ihnen, die Blutzufuhr so schnell wie möglich durch Abbinden zu unterbrechen.»

«Holen Sie mal besser sechs Einheiten RHH», wies er Berger an, als sie Cavors Oberarm abbinden wollte.

Berger, eine stämmige Frau, die den gleichen roten Overall trug wie Raft, hatte sich gerade in Richtung Gefrierraum in Bewegung gesetzt, als Florence sie durch ein artifizielles Räuspern stoppte.

«Ähem. Augenblick, bitte, Helen», sagte der Computer. «Rekombinations-Humanhämoglobin könnte bei diesem Patienten zu signifikanten Problemen führen. Laut Patientendatei weist er keinerlei extravasale hämolytische Störung auf.»

«Was?» Raft runzelte die Stirn. «Keine EHD? Das kann nicht sein, Florence. Du musst dich irren.»

«Oder du willst uns nur verarschen», schnaubte Berger. «Dich auf unsere Kosten amüsieren.»

«Helen», sagte Florence streng, «Sie wissen doch, dass ich nur auf entschuldbare Unwahrheiten programmiert bin. Zur Schonung unheilbar kranker Patienten. Es ist mir nicht gegeben, zu meiner Belustigung oder zu meinem persönlichen Vorteil zu lügen.»

«Was du nicht sagst», sagte Berger.

«Möchten Sie vielleicht ein biosynthetisches Profil seiner Blutgruppenantigene sehen?», fragte Florence ruhig.

«Hör mal, Florence, diese Unterlagen sind doch vermutlich getürkt», erklärte Raft. «Auf der Erde lassen sich die Leute alles Mögliche einfallen, um ihre Bluttestergebnisse zu fälschen. Aus verständlichen Gründen. Aber es wundert mich doch, dass so was hier oben auch passiert. Ich meine, wozu? In einer Strafkolonie ändert ein negativer Bluttest doch auch nichts.»

«Die Unterlagen sind absolut echt, Peter», insistierte Florence. «Ich will es Ihnen erklären. Vor sechzehn Monaten hatte Cavor eine kleine Verletzung, die ärztlicher Behandlung bedurfte, und im Zuge dieser Maßnahmen deponierte er eine kleine Blutmenge auf dem Scanner. Ich untersuchte die Probe auf klinisch signifikante Antikörper, fand aber keine. Bis jetzt war ich gezwungen, dieses Ergebnis als vertraulich zu behandeln.»

«Kein P2?» Raft war verblüfft. «Das muss ein Scherz sein.»

«Kein P2», bestätigte Florence. «Immunhämatologisch ausgedrückt, ist er RES-Klasse eins.»[4]

«Du lieber Himmel.»

«So was», sagte Berger.

Raft sah auf Cavors totenbleiches Gesicht und schüttelte müde den Kopf. Er sagte: «Florence? RHH oder gar nichts, das ist für diesen Burschen hier die Alternative. Wenn wir ein anderes Blutpräparat nehmen könnten, würden wir’s tun. Aber echtes Blut kommt für den da nicht in Frage, selbst wenn wir welches hätten. Das weißt du auch. Und das heißt, dass er vermutlich hier auf diesem Flachbettscanner sterben wird, wenn er nicht das übliche Zeug kriegt.»

Florence schwieg, während Raft den Arm abband.

«Ich gehe das RHH holen», sagte Berger und verließ den Behandlungsraum.

«So wird er wenigstens überleben», sagte Raft achselzuckend. «Weiß der Teufel, wie lange. Zehn Jahre. Vielleicht sogar zwanzig. Ich hab es jetzt schon fast zehn Jahre, ohne große Krankheitssymptome.»

Umhüllt von einer Wolke sandigen Mondstaubs, schob Berger jetzt einen Infusionscomputer zur Tür herein. Die Schwester tat ihre Arbeit gern. Man verdiente zwar weniger Credits als beim Gesteinsschroten, aber die medizinische Tätigkeit war interessanter und ganz bestimmt befriedigender. Sie postierte das Gerät neben dem Flachbettscanner, zog den Kanülenleger heraus und ließ ihn selbsttätig Cavors gesunden Arm umgreifen. Der Computer quakte wie ein Riesenfrosch, während er selbsttätig den Arm abband, Cavors Haut desinfizierte und dann die Infusionsnadel einführte.

«Wie er wohl so lange davongekommen ist?», sinnierte Raft.

«Vielleicht stammt er aus einer reichen Familie», spekulierte Berger.

«RHH auf siebenunddreißig Grad erwärmt», meldete der Infusionscomputer. «Synthetische Bruchstücke ausgefiltert. Wir können, wenn Sie so weit sind.»

Berger betätigte einen Schalter, um den Infusionsprozess zu starten, und das RHH schlängelte sich durch den Plastikschlauch zu Cavors Arm. Optisch war die dunkelrote Flüssigkeit nicht von gesundem menschlichem Blut zu unterscheiden.[5] Sie konnte einen am Leben halten, aber sie konnte einen auch umbringen. Berger streichelte kurz Cavors Stirn und sagte, Resignation in der rauchigen Stimme: «Sorry, Freund.»

«Was heißt hier ‹sorry›?», sagte Raft. «Mitleid mit einem statistischen Ausreißer? Hier musste er’s doch kriegen. Früher oder später.»

Er konnte kein Mitgefühl für das Immunsystem des Patienten aufbringen, solange das drängendere Problem der Amputation noch vor ihm lag, und so setzte er das Skalpell an und durchtrennte mit einem raschen Schnitt, der bis auf den Knochen durchging, Cavors Oberarmmuskeln. Blut sprudelte aus dem Einschnitt, lief auf den Boden, und Raft schüttelte den Kopf ob dieser Vergeudung. Wenn man bedachte, dass eine Unze qualitätsgesichertes Blut etwa halb so viel kostete wie eine Unze Gold[6], latschte er jetzt wohl in einer Pfütze herum, die einige tausend Dollar wert war. Vielleicht noch mehr.

Die nächsten dreißig Minuten folgte Raft sorgsam Florences höflich formulierten Anweisungen und durchtrennte Cavors Humerus an der schmalsten Stelle mit einer Lasersäge, die gleichzeitig die Hauptblutgefäße verschloss. Als die Amputation vollendet war, wischte er sich den Schweiß von der Stirn und trat einen Schritt zurück.

«Bei dem ganzen gesunden Blut in seinen Adern wundert’s mich, dass er so lange lebend über die Runden gekommen ist. Es gibt hier doch jede Menge Schweinehunde, die ihm für einen kompletten Blutaustausch lächelnd die Kehle durchgeschnitten hätten.»

Berger nahm den abgetrennten Arm vom Flachbettscanner.

«Mich eingeschlossen», sagte sie. «Nur dass das Blut ohne die richtigen Medikamente nichts nützt. Und solange die in keiner Mondkolonie zu haben sind – warum sollte ihn da jemand töten?»

Raft nickte. «Da haben Sie wohl recht. Aber unten auf der Erde wäre ich mächtig in Versuchung gewesen, ihm ein paar gesunde Literchen abzuzapfen, bevor ich ihm das RHH verabreicht hätte.» Er schüttelte den Gedanken ab. «Was er wohl getan hat, um hier oben zu landen? Statt in einem Privatgefängnis wie alle anderen seiner RES-Klasse.»

Florence, der Computer, antwortete ihm.

«Häftlingspatient Cavor. Zehn Jahre Zwangsarbeit auf Artemis Sieben ohne Bewährung, wegen brutalen Mordes an seiner Ehefrau. Sie war dummerweise die Tochter eines einflussreichen Lokalpolitikers. Vier Jahre hat er bereits verbüßt.»

«Tja, ich schätze, das hier bringt ihm ein Heimfahrticket», überlegte Raft. «Gibt nicht viel Schwerstarbeit, die man mit einer Armprothese leisten kann. Selbst diese neuen Dinger brauchen eine gewisse Zeit, um Kraft zu entwickeln.»

«Werden Sie sie ihm selbst ansetzen?», fragte Berger.

Raft zog behutsam die Nerven aus Cavors Armstumpf hervor und kappte sie um ein paar Zentimeter, damit sie sich leichter in das Fleisch zurückziehen konnten.

«Hab’s schon versucht, ist aber nichts geworden. Bei dem ganzen verdammten Staub hier ist eine ordentliche Hämostase so gut wie unmöglich. Und jedes Hämatom am Stumpf erhöht die Gefahr einer Infektion, die das Ansetzen der Prothese verzögert. Nein, er muss in die DR-Klinik[7] einer offenen Haftanstalt unten auf der Erde, und zwar so schnell wie möglich. Je früher das Ersatzglied angesetzt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Prothesencomputer mit den Nervenendungen verwächst.»

«Entfernen der Schlauchbinde einleiten», sagte Florence.

Erst als er sich vergewissert hatte, dass der Stumpf zufriedenstellend durchblutet war, versuchte Raft, die Blutung wieder unter Kontrolle zu bringen, und nachdem er die Hauptgefäße doppelt verschweißt und die kleineren Blutungsherde mit synthetischem Fleischschaum abgedichtet hatte, legte er eine Drainage und schloss die Hautlappen mit künstlicher HFM[8] über dem Knochen. Schließlich schmierte er ein Rekombinations-Zentrosomen-Präparat auf den Stumpf, um die Anziehung von Protoplasmakörperchen zu der künftigen Prothese zu fördern, und legte einen Druckverband an. Als alles getan war, betrachtete er sein Werk mit einer gewissen Befriedigung.

«Nicht schlecht», sagte er. «Saubere Arbeit, auch wenn ich mich selbst loben muss. Danke für Ihre Hilfe, Berger.»

Berger lachte, als sei ihr Beitrag nicht der Rede wert.

«Und was ist mit mir?», sagte Florence.

«Dir auch, Florence. Versteht sich.»

«War mir ein Vergnügen, Peter», sagte die Maschine auf ihre sanft-unterkühlte Art. Obwohl Raft das noch nie laut gesagt hatte, erinnerte ihn Florence’ honigsüße Stimme an die seiner Mutter.

«Okay, wie wär’s mit ein paar Tipps für die medikamentöse Nachbehandlung?», wollte er wissen.

«Geben Sie mir einen Moment Bedenkzeit.»

«Mach’s kurz, Florence. Mir tut der Rücken weh. Ich bin seit zweihundertneunzig Uhr auf den Beinen.»

«Okay, mein Rat ist folgender: Ich empfehle die intravenöse Implantation einer medizinischen Nanomaschine[9] mit einer Kombination aus prophylaktisch-antibiotischer und schmerzlindernder Wirkung. Und Ihnen verordne ich die Einnahme von etwas Glukosaminsulfat.»

«Klingt gut.»

«Möchten Sie, dass ich die MN für Sie vorbereite, Peter?»

«Ja, bitte, Florence.»

Berger war damit beschäftigt, die Überreste von Cavors Arm zu waschen, damit sie anschließend in einem sterilen Polyäthylenbeutel flüssigstickstoffgekühlt gelagert werden konnten. Obwohl der Arm so böse zerquetscht war, enthielt er doch noch Fleisch- und Hautpartien, die später als sicherer biologischer Verband dienen konnten. Auf dem Mond wird nichts vergeudet und schon gar nicht in einer Sträflingskolonie. Obwohl auf dem Mond hoch entwickelte Industrien mit einem Volumen von vielen Milliarden Dollar existieren, gibt es keine einheimischen Rohstoffe außer Gestein und Eis, sodass alles recycelt wird.

Florence präparierte die Nanomaschine in einer Salzlösung, die Raft auf eine Spritze zog und dann in Cavors Drosselvene injizierte. Raft hatte Cavor bisher kaum ins Gesicht geguckt; jetzt sah er, dass dieser Mann klein und dünn war, und es schien kaum zu glauben, dass er vier Jahre Schwerstarbeit überlebt haben sollte. Wenn jemand dem Arzt der Krankenstation von Artemis Sieben gesagt hätte, dass der einarmige Mann dort auf dem Flachbettscanner eine Schlüsselrolle beim Verbrechen des Jahrhunderts[10] spielen würde, hätte er das höchstwahrscheinlich mit jenen Halluzinationen erklärt, die durch minimale Veränderungen der künstlichen Atmosphäre[11] innerhalb der Kolonie hervorgerufen werden.

«Florence? Wann geht der nächste Frachtcontainer zur Erde?»

«Von der Tranquillity Base geht heute Abend einer.»

«Hat er Chancen, das durchzustehen?»

«Ja. In einer Stunde geht von hier ein Transport mit ein paar vorzeitig entlassenen Sträflingen ab.»

«Die Glücklichen. Buch ihm einen Platz.»

Raft, der noch sechs von acht Jahren vor sich hatte, riss sich den einen blutigen Chirurgenhandschuh herunter und musterte seine feuchte rechte Hand so kritisch, als stünde nur sie zwischen ihm und der Freiheit.

«Gibt ja heutzutage ziemlich gute Prothesen», sagte er versonnen. «Wär’s vielleicht wert.»

 

Rameses Gates gurtete sich auf seinem Platz im Superconductor[12] zur Erde fest, kippte seinen Sitz in die Startliegeposition und arretierte dann die Kopfhalterung so fest, wie es gerade noch bequem war, um das kantige Kinn und die Blumenkohlohren. Vor ihm lagen ein dreitägiger Zweihundertsechsunddreißigtausend-Meilen-Flug und dann noch eine kurze Unterbringung in einer offenen Vollzugsanstalt, ehe er wieder in die sogenannte Gesellschaft entlassen wurde. Doch zuerst war da noch die Kleinigkeit dieses Starts. Der Superconductor war wesentlich unbequemer als eine Rakete, da er fast unerträgliche Beschleunigungskräfte entwickelte. Häftlinge und Tiere reisten in einem G-Abteil, das angeblich auf Gewichtskräfte von bis zu 10 G ausgelegt war, aber dennoch kam es zum Absacken des Bluts, was wiederum zu Ohnmacht und bei Leuten, deren P2-Infektion schon im fortgeschrittenen Stadium war, manchmal sogar zum Tod führte. Gates – der P2-positiv war – hatte wie alle Leute, die er kannte, keine Möglichkeit, den exakten Entwicklungsstand der Infektion zu bestimmen, aber er hatte gehört, dass es Leuten, die die Reise überlebten, nicht selten noch tagelang schlechtging.

Der Gedanke an die drohenden Beschwerden, ja, sogar den möglichen Tod, machte Gates, wie auch das Dutzend Männer und Frauen, das mit ihm wartete, nervös und gereizt. Wenn es doch endlich losginge. Aber es gab noch eine Verzögerung. Ein verspäteter Passagier, meldete der Bordcomputer des Superconductors.

«Was für ein verspäteter Passagier?», fragte Gates. «Wir wissen doch alle schon seit Wochen, dass wir heute mit dieser verdammten Schleuder hier starten. Wer ist der Kerl?»

«Muss wohl auch ein Häftling sein», erklärte die Frau, die neben Gates lag. «Wer würde sonst schon dieses Ding hier nehmen?»

Die Frau hieß Lenina. Gates hatte immer schon gefunden, dass sie die schönste Frau auf Artemis Sieben war, aber er hatte noch nie Gelegenheit gehabt, mit ihr zu reden – und jetzt war er zu nervös zum Antworten.

«Ich habe momentan keine weiteren Informationen», sagte der Computer. «Bitte gedulden Sie sich.»

«Du hast gut reden», erklärte Gates dem Bordcomputer. «Du stehst nicht davor, das zweite Newton’sche Gesetz samt all seinen reizenden Begleiterscheinungen am eigenen Leib zu erfahren.»

«Haben Sie Ihre G-Pille schon genommen?», parierte der Computer.

Die Tür ging auf, und zwei Wärter luden eine G-Kapsel[13], in der sich Cavor befand, ein und schnallten sie am Boden fest. Die Kapsel umschloss Cavors gesamten Körper und verbarg, da nur das Visier durchsichtig war, das volle Ausmaß seiner Verletzung. Gates löste die Kopfhalterung und reckte sich über Lenina hinweg, um das Gesicht des Mannes sehen zu können. Er kannte ihn nicht.

Als die Tür wieder zu war, begannen die Supraleiterspiralen in der Aluminiumschiene den elektrischen Strom aufzubauen, der sie auf ihre Bahn katapultieren würde.

Lenina sagte: «Wenn der Superconductor langsam genug wäre, hätte man angeblich einen tollen Blick auf die TB[14]. Heißt es. Aber dafür müsste man natürlich den Kopf in einer Position haben, aus der man durchs Fenster gucken kann, und beim Start ist es nicht drin, auch nur einen Muskel zu bewegen. Es gibt jetzt auf der TB ein Gedenkmuseum für die erste Mondlandung. Dort kann man das Landemodul und die Fußstapfen der Astronauten sehen. Sagen sie jedenfalls.»

«Zehn K[15], und Messung läuft weiter», sagte der Computer.

«Im Ernst?»

«Ich würde jedenfalls gern mal wiederkommen und mir das alles angucken.»

«Tatsache?» Gates sah nervös durch das mondlichthelle Fenster.

«Nervös?», überschrie Lenina den Lärm der Elektrizität. Er wurde mit jeder Sekunde lauter, wie das Brummen einer riesigen und überaus zornigen Wespe.

«Dreißig K, und Messung läuft weiter.»

«Warum sollte ich nervös sein?»

«Fünfzig K, und Messung läuft weiter.»

«Ich dachte, Sie hätten was von Beten gesagt. Möchten Sie meine Hand halten?»

«Übergangstemperatur[16]», meldete der Computer. «Fertig machen zum Start.»

«Danke, nichts dagegen.»

Gates nahm Leninas Hand und stellte fest, dass sie zugriff wie ein Roboter. Er sah auf ihre weißen Knöchel und lächelte leise. Sie klang ja ganz cool, aber in Wirklichkeit war sie genauso nervös wie er.

Sein Blick huschte zu dem Mann in der G-Kapsel auf dem Boden. Irgendwas stimmte da nicht. Die Sichtscheibe war total beschlagen, als ob innerhalb der Kapsel keinerlei Luft zirkulierte. Gates kapierte sofort, was los war. Diese Idioten, die den Mann dort abgelegt hatten, hatten vergessen, seine Atemluftversorgung einzuschalten. Wenn die Kapsel nicht geöffnet und die Luft nicht angeschaltet wurde, würde er ersticken. Keine Zeit zum Überlegen. Gates riss sich die Kopfhalterung herunter und öffnete seine Sitzgurte. Wenn der Superconductor erst einmal in Bewegung war, würden die Beschleunigungskräfte so groß sein, dass er keine Chance mehr hätte, auch nur einen Augenmuskel zu bewegen. Jetzt oder nie.

«Sind Sie wahnsinnig?», protestierte Lenina. «Sie gehen doch drauf.»

«Bitte begeben Sie sich sofort auf Ihren Platz zurück», befahl der Computer. «Wir starten in zwanzig Sekunden.»

Gates kniete sich neben die Kapsel und begann zu zählen. Er riss die Verriegelung auf und klappte den Deckel auf. Es war nur zu offensichtlich, weshalb dieser Mann zur Erde zurückgeschickt wurde. Der holte jetzt tief Luft und lächelte Gates zu dessen Erstaunen an.

«Danke», krächzte er.

«Begeben Sie sich sofort auf Ihren Platz zurück. Noch zehn Sekunden bis zum Start.»

«Nicht der Rede wert, Linkspfot.» Gates schaltete die Luftversorgung ein und knallte den Kapseldeckel wieder zu.

«Hinsetzen, bitte. Noch fünf Sekunden.»

Gates hastete zu seinem Platz zurück, warf sich rücklings auf den Sitz und begann sich wieder anzuschnallen.

«Verrückter Kerl», schrie Lenina.

«Drei, zwo …»

Keine Zeit mehr für die Kopfhalterung. Nicht mal mehr für alle Gurtschließen. Gerade noch Zeit genug, den Kopf in den Sitz zu pressen und das Beste zu hoffen. Im nächsten Moment wurden sie die Rampe entlangkatapultiert. Auf der Erde erreichen Supraleiterzüge Geschwindigkeiten von annähernd dreihundert Meilen pro Stunde. Doch Masse und Anziehungskraft des Mondes tun 83 Prozent weniger, um ein solches Vehikel zu verlangsamen. Binnen Sekunden fühlte Gates enorme Beschleunigungskräfte entstehen, während das Gefährt sein Tempo auf mehrere tausend Meilen pro Stunde steigerte. Und als es am Ende der Rampe in den Raum hinauskatapultiert wurde, galten Gates’ letzte Gedanken, ehe ihm schwarz vor Augen wurde, der unglaublichen Fliehgeschwindigkeit auf der Anzeige an der Abteildecke, der schönen Frau neben ihm und dem einarmigen Passagier.

II

Es war von jeher ein Faszinosum, vielleicht das Ur-Faszinosum überhaupt, und im Bewusstsein der Menschen mit einer mystischen, ja magischen Bedeutung behaftet. Zentrales Totem in allen frühen Kulturen, wichtiges Element der klassischen Mythen, fundamentaler Aspekt fast aller Religionen, ist es bis heute ein immer wiederkehrendes Symbol, möglicherweise das stärkste Symbol überhaupt. Römisch-katholische Christen mögen ihm mit symbolischer Ehrfurcht begegnen, strenggläubige Juden etwas Schändliches und Unreines darin sehen. Es ist die Verkörperung der Verwandtschaft, aber es steht auch für Mord, Fehde und oft genug auch Sühne. Blut: rot, zähflüssig, dicker als Wasser. Das ewig kreisende Blut: Gegenstand von Epen, Fetischkulten, großen Dramen. Quell von Macht – heute mehr denn je – und Opfergabe an die Götter. Blut, der Lebensbaum, den wir alle in uns tragen. Doch was selbst jene Pioniere der Medizin, die ihm all ihre Kraft widmeten, vergaßen: Es ist mehr als nur eine Metapher für Leben. Seit Jahrhunderten ist das Blut nicht nur das größte, sondern auch das besterforschte Organ des menschlichen Körpers. Aber diejenigen, die es erforschten – und bestenfalls als eine Ansammlung von roten Blutkörperchen begriffen, die während ihrer hundertzwanzigtägigen Lebensdauer fünfhundert Kilometer zurücklegen –, näherten sich ihm nicht mit jenem alten Sinn für das Wundersame, jenem Wissen, dass Blut das Leben selbst ist. So leicht zu entnehmen und oft gedankenlos vergeudet, ist dieser Lebenssaft Flüssigkeit und Gewebe zugleich, von der Farbe edler Rubine und doch unendlich viel wertvoller.

Seltsamerweise behandelte es niemand als kostbaren Schatz. Zwar gab es Banken dafür, aber nicht im eigentlichen Sinn: «Blutbank» war ein generischer Begriff und bezeichnete ein Blutlager, eine Klinikeinrichtung für Transfusionszwecke oder eine Mischung aus beidem. Erst jetzt, gegen Ende des einundzwanzigsten Jahrhunderts, wird erkennbar, wie kostbar Blut ist, erfährt es die Wertschätzung, die ihm gebührt. Na ja, fast jedenfalls, was sich den meisten Menschen noch immer entzieht, ist seine kosmologische Bedeutung: die Tatsache, dass die Mathematik des Blutes, die numerische Seite seiner komplexen Struktur, wohl der beste Beweis für die Existenz irgendeiner Art von Schöpfer sein dürfte.

Nehmen wir nur einmal den Prozess der Blutgerinnung, der das Zusammenwirken mehrerer hämostatischer Proteine voraussetzt. Nicht weniger als fünfzehn Gerinnungsfaktoren werden schrittweise aktiviert – wobei jedem als Regulativ ein Antigerinnungsfaktor gegenübersteht – und bewirken schließlich die Bildung eines festen Fibrinklumpens. Als Schutz vor übermäßiger Verklumpung, Thrombose genannt, fungiert eine zweite Serie hämostatischer Proteine, das sogenannte fibrinolytische System (das wiederum durch eigene Inhibitoren in Schach gehalten wird). Das wirksamste dieser Proteine ist das Plasmin. Es muss aus seiner inaktiven Form – dem Plasminogen – in die aktive überführt werden, was ein weiterer Eiweißstoff, der Plasminaktivator, übernimmt. Die irreduzible Komplexität dieses Systems ist kaum darstellbar. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein solches System durch puren Zufall entsteht, ist so verschwindend gering, dass es schwerfällt, sie in Zahlen auszudrücken. Aber sie dürfte sich wohl in etwa an der Zahl der roten Blutkörperchen bemessen, die ein gesunder erwachsener Mann im Lauf seines Lebens produziert; wenn man davon ausgeht, dass er pro Sekunde 2,3 × 106 rote Blutkörperchen produziert, so betrüge diese Wahrscheinlichkeit 1 zu 70 × 365 × 24 × 60 × 60 × 2,3 × 106 oder 1 zu circa 5 × 1015.

Wie Mephistopheles bei seinem Pakt mit Faust bemerkt: Blut ist ein ganz besondrer Saft.

Um wieder auf das prosaischere Thema «Blutbanken» zurückzukommen: Heute versteht man darunter etwas ganz anderes als in der Entstehungszeit dieses Begriffs, da die Sache selbst noch auf einem vergleichsweise simplen und selbstlosen Akt gründete – der Bereitschaft einer gesunden Person, anderen etwas von ihrer Gesundheit abzugeben, indem sie einen halben Liter Blut spendete. Die Macht und die verjüngenden Kräfte des Blutes werden erstmals von Ovid erwähnt, und zwar in dessen Wiedergabe der Sage von Medea und Aeson, dem Vater Jasons[17]. Als Jason von der Erfüllung seiner Aufgaben heimkehrt, findet er seinen Vater dem Tod nahe und lässt sich überreden, ihm neues Leben zu schenken, indem er etwas von seinem Blut abgibt. Dieses Blut mischt Medea in ein Zaubergebräu, das sie dem alten Mann in die Adern füllt – mit wundersamer Wirkung. Doch die Historie lehrt uns, dass der erste Transfusionsversuch 1492 stattfand, als junge Priester in dem fehlgeleiteten und vergeblichen Versuch, das Leben des moralisch verderbten Papstes Innozent VIII. zu retten, Blut für eine Übertragung spendeten. Natürlich starb der Papst. In den folgenden Jahrhunderten gab es viele weitere Fehlschläge in dieser Richtung. John Aubrey schildert in Brief Lives, wie Francis Potter im Jahr 1649, inspiriert durch Ovid, eine Transfusion zwischen zwei Hennen vorzunehmen suchte. Und Samuel Pepys Tagebucheintrag vom 21. November 1667 beschreibt den ersten englischen Transfusionsversuch an einem Menschen, durchgeführt von Richard Lower an einem gewissen Arthur Coga. Unglücklicherweise wurde dabei das Blut eines jungen Schafs benutzt – das biblische Blut des Lammes. Coga überlebte, ein Glück, das anderen Patienten, die in Frankreich ähnlichen Versuchen unterzogen wurden, nicht beschieden war. Nicht zuletzt wegen dieser französischen Experimente[18], bei denen die Patienten starben, wurden die Transfusionsversuche eingestellt und erst im neunzehnten Jahrhundert wiederaufgenommen, diesmal sogar mit Milch. Es erübrigt sich zu sagen, dass auch diese Patienten allesamt starben. Erst 1901 entdeckte Karl Landsteiner das AB0-Blutgruppensystem, das Transfusionen theoretisch ermöglichte, doch selbst jetzt dauerte es noch bis zur zweiten Hälfte des Ersten Weltkriegs, ehe Transfusionen mit natriumnitratversetztem Blut glückten und zum Mittel der Wahl bei schwerem Blutverlust wurden. Und noch ein paar Jahrzehnte vergingen, bis neue Diluenzien, Antikoagulanzien und Konservierungslösungen die Lagerung von Blut so weit ermöglichten, dass Bluttransfusion fast schon zur Routine wurde.

Vorbei.

In unserem Jahrhundert wurde die Welt von einer mörderischen Pestilenz überfallen, deren – um es mit Edgar Allan Poe zu sagen – Avatara und Sigill[19] das Blut ist. Diese Heimsuchung, nur die jüngste einer langen Reihe von Seuchen, die die Menschheit plagen, seit sie es erstmals unternahm, Tiere zu domestizieren – eine agrikulturelle Revolution, die vor gut zehntausend Jahren stattfand –, war das Human-Parvovirus II, auch bekannt als Slow HPV2 oder schlicht P2. Es ist eine langsamere Mutante des sogenannten Fast HPV1, das selbst wiederum eine mutierte Variante eines vergleichsweise harmlosen Virus namens B19 war, dessen exakte chemische Struktur vor nahezu einem Jahrhundert, nämlich 1983, erstmals beschrieben wurde[20].

«Mörderisch» ist in diesem Zusammenhang nicht übertrieben. Genaue Zahlen wird es wohl nie geben, aber vorsichtige Schätzungen besagen, dass HPV1 und HPV2 zusammen seit dem Jahr 2019 nicht weniger als fünfhundert Millionen Menschen das Leben gekostet haben, womit HPV wohl das erfolgreichste Virus aller Zeiten sein dürfte.

Viren sind die einzigen real existierenden Rivalen des Menschen, was die Herrschaft über die Erde anbelangt, denn es scheint immer sicherer, dass es eine Viren-Antibiose nie geben wird: Da Mensch und Virus die gleichen genetischen und metabolischen Mechanismen besitzen, ist ihr Schicksal untrennbar verquickt. Und wie alle Lebewesen haben auch Viren ihre eigene Taxonomie – der Terminus der Biologen für den niemals endenden Prozess der Unterteilung in Familien. In Anna Karenina schreibt Tolstoi, alle glücklichen Familien seien gleich. Und auf einer elementaren Ebene gilt das auch für die Viren: Ihre Familien unterliegen allesamt denselben Imperativen des Überlebens und der Fortpflanzung wie jede Menschenfamilie. Infektion ist ein uraltes Geschehen, eine der Grundlagen des Lebens. Ohne Infektion wäre keine Evolution möglich gewesen.

Die Familie der Parvoviridae umfasst drei Gattungen, die zusammen ein breites Spektrum von Wirtsorganismen befallen – vom Nerz bis zum Menschen. Die Viren selbst sind winzige, ikosaedrale Organismen mit Genomen aus einstrangiger DNA. Was uns hier interessiert, ist die dritte Gattung der Parvoviridae, die autonomen Parvoviren, die über die Fähigkeit verfügen, sich eigenständig zu replizieren, vorausgesetzt, die Wirtszelle ist in Teilung begriffen. Die autonomen Parvoviren heißen so, weil sie für ihre Replikation nicht auf die Präsenz eines Helfervirus angewiesen sind. Ein solches autonomes humanes Parvovirus war das Virus B19.

Bei den meisten normal gesunden Menschen verlief die Infektion, die über die Atemwege übertragen wurde, völlig symptomfrei; in den symptomatischen Fällen war das Krankheitsbild leicht und dem anderer häufiger Virusinfekte vergleichbar: Fieber, Ausschlag und Drüsenschwellungen (weshalb die Erkrankung oft fälschlicherweise für eine Grippe gehalten wurde). Das B19-Virus befiel typischerweise die für die Bildung von roten Blutkörperchen (Erythrozyten) zuständigen Zellen, konnte aber auch die Stammzellen für weiße Blutkörperchen und Megakarozyten infizieren und so zu einem vorübergehenden Rückgang der Zahl der roten und weißen Blutkörperchen sowie der Blutplättchen führen. Echte Probleme rief das Virus jedoch nur dann hervor, wenn das Knochenmark besonders anfällig war, also etwa bei Menschen mit einer hämolytischen Anämie, bei denen jede weitere Beeinträchtigung des ohnehin schon überlasteten Knochenmarks leicht zu einer aplastischen Krise führte. Dieses vorübergehende Geschehen, das mit einem Absinken der Hämoglobinkonzentration, dem Fehlen von Retikulozyten im peripheren Blut und der Abwesenheit von Erythrozytenvorstufen im Knochenmark einherging, dauerte fünf bis sieben Tage und erzeugte Symptome einer akuten Anämie: chronische Erschöpfung, Kurzatmigkeit, Blässe, Lethargie, Verwirrung und manchmal Herzinsuffizienz. Oft wurde eine Bluttransfusion notwendig, ehe das Knochenmark sich wieder erholte, die Retikulozytose wieder einsetzte und die Hämoglobinkonzentration sich normalisierte. Untersuchungen aus dem zwanzigsten Jahrhundert zeigen, dass 90 Prozent aller aplastischen Krisen bei Patienten mit chronischer hämolytischer Anämie auf eine B19-Infektion zurückgingen. Ein wirksames antivirales Chemotherapeutikum gegen das B19-Virus wurde nie entwickelt; sonst wäre alles vielleicht ganz anders gekommen.

Die Aggressivität krankheitserzeugender Viren kann stark variieren. Wie der Mensch haben sich auch die Mikroben als anpassungsfähig und erfinderisch erwiesen, wenn es darum geht, sich effizient zu vermehren und zu entwickeln und an neue Lebensbedingungen anzupassen. Man nehme nur einmal den unterschiedlichen Schweregrad der verschiedenen Influenza-Epidemien[21]. Der Erreger der Influenza ist ein Virus, das häufig das genetische Programm seiner Mantelproteine ändert und darum etwa alle zwei Jahre ein «neues» Virus in die Welt setzt, gegen das in der gesamten Weltbevölkerung so gut wie keine Immunität besteht. Solche Mutationen waren die Ursache zahlreicher Influenza-Pandemien, vor allem aber der berüchtigten Spanischen Grippe von 1918, die in nur sechs Monaten dreißig Millionen Todesopfer forderte – doppelt so viele, wie die vier vorangegangenen Weltkriegsjahre gefordert hatten. Dieses Extrembeispiel verdeutlicht das Potenzial der Viren, durch Mutationen ihre Aggressivität sprunghaft zu steigern, wobei diese Mutationen spontan erfolgen, aber auch durch äußere Faktoren wie Chemikalien, Strahlung, Bakterien und sogar andere Viren hervorgerufen werden können. Die meisten Mutationen werden durch DNA- oder RNA-Reparaturenzyme rasch korrigiert und haben gar keine Chance, eine unmittelbar offensichtliche Veränderung des Virusverhaltens zu bewirken. Von einer Million Mutationen wird vielleicht eine das Virus so erheblich schädigen, dass es keine Zellen mehr infizieren kann oder in die Wirts-DNA eingebaut wird. Umgekehrt kann aber eine entsprechend große Zahl von Mutationen leicht dazu führen, dass sich das Virus effizienter an Wirtszellen ankoppeln oder wirksamer virale Proteine erzeugen kann und daher schlimmere Krankheitserscheinungen hervorruft. Außerdem können Mutationen auch den Tropismus des Virus ändern – es befähigen, Zelltypen anzugreifen, die bisher nicht betroffen waren.

Es gibt viele Theorien, warum das vergleichsweise harmlose B19-Virus zu dem wesentlich tödlicheren Fast HPV1 mutierte. Eine immer populärer werdende Theorie sieht die Ursache in gentechnischen Versuchen, aus einem Baculovirussystem durch DNA-Rekombination ein Antiviruskapsid herzustellen. Eine andere Erklärung lautet, dass der Blutmangel in russischen Krankenhäusern zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts zur vermehrten Verwendung von Leichenblut für Transfusionen geführt habe und dass dabei auch auf verstrahlte Opfer der Schewtschenko-Katastrophe[22] von 2011 zurückgegriffen worden sei, deren Blut mutierte B19-Viren enthielt. Und es gab sogar die «Panspermia»-Theorie, der zufolge sich das B19 mit einem Virus kombiniert habe, das erst kürzlich durch Kometentrümmer oder ein Space-Shuttle aus dem Weltraum auf die Erde gelangt sei. Das sind nur einige der in Umlauf befindlichen Theorien. Sicher scheint jedoch, dass die Entwicklung von Blutersatzstoffen eine wichtige Rolle bei der Mutation des B19-Virus gespielt hat. Militärisches Interesse an neuen Ersthilfe-Transfusionslösungen, die die logistisch schwierige Bereitstellung von Blutkonserven für Verwundete erübrigen würden, führte zur Entwicklung einer Reihe von Produkten, die auf gereinigtem Rinderhämoglobin oder der gentechnischen Erzeugung von Humanhämoglobin durch E.-Coli-Bakterien basierten.

Wie immer die Kausalkette ausgesehen haben mag, unstrittig ist die tödliche Wirkung des Fast HPV1, die auf der Deaktivierung der sauerstoffbindenden Komponente des Hämoglobins[23] bei ansonsten gesunden Menschen beruht. Wie das Virus dies bewerkstelligt, ist allerdings noch nicht völlig geklärt. Offenbar stehen dem HPV1 dabei drei verschiedene Möglichkeiten zur Wahl, was viele Mediziner zu der Überzeugung gebracht hat, dass das HPV1 in Wahrheit drei verschiedene Parvovirustypen umfasst. Diese Möglichkeiten sind:

Das Virus bewirkt die fehlerhafte Produktion von Proteinen, die entscheidend für das Funktionieren der sauerstoffbindenden Komponente sind.

Das Virus stellt die Produktion eines solchen Proteins ganz ab. Die betroffenen roten Blutkörperchen vermögen keinen Sauerstoff mehr zu transportieren. Da die Lebensdauer von roten Blutkörperchen hundertzwanzig Tage beträgt, erstickt der Patient innerhalb dieser Zeitspanne.

Codes für die Erzeugung von Blocker-Polypeptiden interagieren mit der sauerstoffbindenden Komponente.

Die zweite Vorgehensweise entspricht dem häufigsten Szenario bei einer HPV1-Infektion. Das klinische Bild entwickelt sich langsam mit einer symptomfreien Periode von sieben Tagen zwischen der subfebrilen Anfangsphase und dem Auftreten eines Röteln ähnlichen Hautausschlags. Nach vier Wochen folgt das plötzliche Einsetzen einer symmetrischen Arthritis, zunächst in den Fingergelenken, dann in Handgelenken, Sprunggelenken, Knien und Ellbogen. Um den sechzigsten Tag zeigt der Patient bereits die Symptome einer sich rasch verschlimmernden Anämie – Erschöpfung, Kurzatmigkeit, Zyanose, Verwirrtheit –, und je nach Allgemeinkonstitution führt das Fast HPV1 nach etwa neunzig Tagen zum Koma und schließlich zum Tod.

Die Behandlung der HPV1-Infektion bestand in Bluttransfusionen und dem therapeutischen Einsatz von ProTryptol 14, einer spezifischen Protease, die gezielt auf die roten Blutkörperchen einwirken sollte und zur Verhinderung einer vorzeitigen Resorption in eine Lipidhülle (Liposom) eingebettet war. Einmal im Inneren des roten Blutkörperchens angelangt, sollte diese Protease dem mutierten Protein entgegenwirken, das die Funktion der sauerstoffbindenden Komponente störte. Diese Substanz war jedoch über viele Jahre nur schwer und kostspielig herzustellen, und als das ProTryptol schließlich billiger wurde, waren die Preise für gesundes Blut bereits emporgeschnellt.

Das Fast HPV1 war weltweit verbreitet und kam in sämtlichen Populationen vor, ausgenommen ein paar isolierte Gruppen in Brasilien und Afrika. Wie beim B19 traten Infektionen zuerst bei Kindern auf, häufig in Grundschulen, wo die Ausbreitung durch Tröpfchen erfolgte. Bei diesen ersten Ausbrüchen, die immer tödlich verliefen, infizierten sich auch Eltern und Lehrer betroffener Kinder, und so kam es zu einem zweiten Übertragungsmodus: der Infektion durch Spenderblut. Der hohe Durchseuchungsgrad von Blutkonserven führte binnen kurzem in der gesamten westlichen Welt zu einer Vertrauenskrise, Fremdtransfusionen betreffend, und zu einem gewaltigen Aufschwung von Eigenblutdepot-Programmen. Der Ausdruck «böses Blut» existierte zwar schon jahrhundertelang zur Bezeichnung von Ressentiments zwischen Menschen, aber erst jetzt ließ sich ihm eine physiologische Grundlage zuordnen.

Zwischen 2017 und 2023 tötete das Fast HPV1 täglich weltweit fünfzigtausend Menschen. Angesichts der zeitgleichen Serie von Naturkatastrophen – das Erdbeben, das Tokio vernichtete, die Heuschreckenplage, die weite Teile der USA verwüstete, der Nahostkrieg von 2017 und der gewaltige Ausbruch des Vesuvs, von den Klimaveränderungen und der daraus resultierenden verheerenden Dürre und Hungersnot in China ganz zu schweigen – betrachteten viele Menschen die HPV-Seuche als eine Gottesstrafe. Andere schoben sie, mit den üblichen fadenscheinigen Begründungen, den Juden in die Schuhe: Ein jüdischer Mediziner, Benjamin Steinart-Levy, hatte entscheidend zur Entwicklung des Medikaments ProTryptol 14 beigetragen, das den Goldman-Pharmawerken während der ersten Monate der Pandemie Milliarden von Dollar eingebracht hatte. In der ganzen Welt, vor allem jedoch in Amerika, kam es zu Pogromen; allein in Los Angeles wurden vierzehntausend Juden ermordet. Als die New Yorker Friedhöfe und Parks keine weiteren Toten mehr aufnehmen konnten, segnete Kardinal Martin Walsh den Atlantik, damit die Leichen, die ins Meer geworfen wurden, eine geweihte Ruhestätte hätten. Überall auf der Welt zerfielen Familien, kollabierten Gesundheitssysteme unter der Überlastung, versanken ganze Länder im Chaos, weil der Staatsapparat fast völlig zusammenbrach.

Genaue Zahlen zu nennen ist unmöglich, aber selbst die vorsichtigsten offiziellen Schätzungen besagen, dass das Fast HPV1 zwischen 2018 und 2025 hundertfünfzig Millionen Menschen das Leben kostete. Und es wären noch weitere Millionen dazugekommen, hätte sich das Fast HPV1, das binnen hundertzwanzig Tagen zum Tode führte, nicht um 2025 durch eine weitere Mutation in das Slow HPV2 oder kurz P2 verwandelt, das wesentlich länger brauchte, um seinen Wirt zu töten.[24] Natürlich war das nur im Interesse des Virus: Ein Virus kann sich nur erhalten, wenn es Proteine erzeugt, gewöhnlich indem es die Prozesse der Wirtszelle unterwandert. Kann sich ein Virus ungehemmt vermehren, tötet es den Wirtsorganismus, und wenn das passiert, ehe das Virus einen neuen Wirt gefunden hat, geht es selbst ebenfalls zugrunde. Das P2-Virus war eine Antwort auf dieses Problem, denn es ließ die Wirtszelle jahrelang am Leben (heute beträgt die Überlebensdauer von P2-Infizierten zehn bis fünfzehn Jahre), indem es über weite Strecken in der Wirts-DNA latent blieb und sich nur dann reaktivierte, wenn die Abwehr besonders schwach war.

Es ist kein Wunder, dass gesundes Blut heute die wichtigste und wertvollste Ware auf der Erde ist und dass mittlerweile alle Gesellschaften in zwei ungleiche Teile zerfallen: eine privilegierte Minderheit, die nicht P2-infiziert ist und an Eigenblutdepot-Programmen teilnimmt (faktisch sind diese beiden Gruppen identisch), und eine unglückliche Mehrheit, die durch ihre P2-Infektion für immer von allen Blutvorratsprogrammen ausgeschlossen ist.

Der Verfasser kennt sämtliche dystopischen und antiutopischen[25] Romane des zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhunderts und muss feststellen, dass die Realität an Albtraumhaftigkeit keineswegs hinter den Visionen von Schriftstellern wie Wells, Huxley, Koestler, Zamjatin, Orwell, Rand, LeGuin, Atwood, Theroux, Spence oder Saratoga zurücksteht. So apokalyptisch diese Warnungen, die weitere Entwicklung der menschlichen Gesellschaft betreffend, auch sein mögen, ist nach Ansicht des Verfassers die Welt heute doch in einem unendlich viel schlimmeren Zustand, als es sich die Phantasie irgendeines dieser Autoren hätte ausmalen können. Wie Lord Byron richtig sagt: «Seltsam, doch wahr, da Wahrheit seltsam, mehr als Dichtung jemals.»

Die größte Ironie aber ist, dass der Tag des Gerichts selbst verstrich, ohne dass sich die Menschen dessen bewusst waren. Die Atombombe explodierte 1945 und dann noch einmal 2017, und alles, was seither passiert ist, war nichts als Fallout. Für die meisten Menschen ist das alles kalter Kaffee, und niemand regt sich sonderlich darüber auf. Wie soll man sich über etwas aufregen, was längst geschehen ist, was fortexistiert und einen bestimmt, ohne dass man irgendeine Kontrolle darüber hätte? Zukunft – irgendeine Zukunft, selbst eine der Art, wie sie die Zukunftsromane schildern – gibt es nicht mehr. Es gibt den Status quo und nicht viel darüber hinaus. Was vielleicht erklärt, warum kein – sozialer oder wissenschaftlicher – Imperativ existiert, etwas zu tun, um die Dinge zu ändern. Armageddon, Apokalypse, Endzeit, Holocaust – wie immer man es nennen will, es ist längst passiert, und niemand stößt sich groß daran.

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Erster Teil

Der Mensch sitzt in der Falle … und Tugend nützt ihm nichts in der neuen Ordnung. So oder so gibt niemand mehr etwas darauf. Gut und Böse, Pessimismus und Optimismus – sind eine Frage der Blutgruppe, nicht der Engelsgüte.

Lawrence Durrell

1

Durch die Scheibe von Dallas’ Gyrokopter betrachtet, wirkte das Terotech-Gebäude wie das Profil einer riesigen Eidechse, eines Chamäleons vielleicht, da alles daran – von den Klimaoberflächen der Außenwände bis zur Höhe der drei Etagen-Fensterfronten – in ständiger Veränderung begriffen war, um sich den jeweiligen äußeren Bedingungen anzupassen. Das fugenlos elegante Interieur, das praktisch ohne sichtbare Pfeiler, Balken oder Paneele auskam, interagierte nicht minder sensibel mit den Intel-Arbeitern[26], die hier tätig waren. Dank elektronischer und biotechnischer Autoprogrammierung in einem ständigen Selbstregulierungsprozess befindlich, war der dynamische Baukörper des Terotech-Gebäudes mehr als nur ein Unterbringungsort für diejenigen, die wie Dallas das Privileg hatten, dort zu arbeiten, mehr als nur ein gelungenes Beispiel ökologischer Symbiose. Terotech (abgeleitet von dem griechischen Wort terein, was so viel heißt wie «beobachten» oder «bewachen») war weltweit führend in der Planung und Konstruktion sogenannter Rational Environments – modernster Hochsicherheitsanlagen für Digitalbanken, andere Finanzinstitute und Blutbanken. Und Dana Dallas war der brillanteste Konstrukteur des Unternehmens.

Es war ein guter Tag zum Fliegen, kalt, aber sonnig und klar bis auf eine Höhe von fünfundvierzigtausend Fuß, und es herrschte kaum Verkehr, sodass Dallas praktisch ungehindert mit vierhundert Stundenmeilen vorankam. Nicht dass er großes Vergnügen daraus gezogen hätte. Im Geist war er bereits bei seinem jüngsten Projekt und den diversen Berechnungen, die er seiner Assistentin über Nacht aufgetragen hatte. Noch fünfzig Fuß. Er setzte den Gyrokopter in drei Sekunden vollends hinunter, gurtete sich los und stellte den Zwillings-Turbokompressormotor ab. Ehe er unter den schwindenden Stahlkreis der Rotorblätter hinaussprang, blieb Dallas noch einen Moment in dem kugelsicheren Gehäuse sitzen und sah sich gründlich um. Es war immer gut, erst mal zu prüfen, wer auf dem Gyro-Parkplatz herumlungerte, ehe man ausstieg. Bei diesen ganzen Blutsaugern heutzutage konnte man nicht vorsichtig genug sein. Selbst innerhalb der vergleichsweise sicheren gesundheitskontrollierten Zone – kurz GKZ genannt. Als er befunden hatte, dass draußen so weit alles in Ordnung schien, öffnete er den Gyro und rannte zur Glastür des Terotech-Gebäudes, allerdings nicht schnell genug, um die Staubwolke, die seine Landung aufgewirbelt hatte, hinter sich zu lassen.

«Morgen, Jay.»

«Morgen, Mister Dallas, Sir», sagte der Parkassistent, der schon angelaufen kam, um Dallas’ Gyro auf den reservierten Parkplatz des Chefdesigners zu fahren. «Wie geht’s?»

Dallas gab ein vieldeutiges Grunzen von sich. Er nahm die Sonnenbrille ab, blieb kurz vor dem Sicherheitsscreen stehen und atmete sorgsam auf den exhalosensitiven Film. Ein simples, aber effektives Gerät, von Dallas selbst entwickelt.[27] Er witzelte immer gern, dass man in eins der sichersten Gebäude Amerikas gelangen konnte, indem man einfach nur leicht gegen die Tür pustete.

Nachdem ihm der Zutritt zum nichtöffentlichen Bereich des Terotech-Gebäudes gewährt worden war, nahm Dallas den Fahrstuhl zur sechsten Ebene, die die strengstgesicherte war. Der größte Teil des Terotech-Betriebs fand unterirdisch statt, in Dutzenden fensterlosen Büros, die dadurch freundlicher gestaltet waren, dass sie jeweils einen Faux-Fenêtre-Screen besaßen, der dem Inhaber jede gewünschte Aussicht bot. Dallas blickte gern aus seinem Büro in die Tiefen eines computergenerierten Ozeans, in dem immer neue Schwärme leuchtend bunter Fische eine Vielzahl lebensechter Verhaltensweisen entfalteten. Das war für ihn die inspirierendste Aussicht. Aber es gab auch Zeiten, da seine Stimmung den Blick auf rot glühende Lavaströme, schneebedeckte Gebirgsketten oder auch einfach nur einen englischen Landhausgarten forderte.

Das Unterwasserpanorama verlieh dem mit Lackstahl, Edelholz und weichem Leder ausgestatteten Büro etwas von dem Ambiente eines Privat-U-Boots. Doch trotz dieser luxuriösen Umgebung – und Dallas wusste, wie glücklich er sich schätzen durfte – überkam ihn nicht selten der Wunsch, er könnte seinen Arbeitsplatz einfach dort hinausdriften lassen, in das unendliche Blau des Faux Fenêtre, weit weg von Terotech und dem Mann nebenan – seinem Boss Simon King. Dallas’ Assistentin Dixy – die ein unerschöpfliches Gedächtnis für solche Spruchweisheiten besaß – erklärte ihm mit Vorliebe, es könne eben selbst der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefalle.

Dallas liebte seine Arbeit, aber er hasste den Mann, für den er arbeitete. Das ist kein seltenes Dilemma, und Dallas kannte sich selbst gut genug, um zu wissen, dass es ebenso an seiner Person lag wie an der von King. Der Terotech-Direktor war arrogant, launisch und grausam, aber nicht arroganter, launischer und grausamer als Dallas oder irgendein anderes Vorstandsmitglied. Dallas hasste den Direktor hauptsächlich deshalb, weil er in dem Älteren sein eigenes Spiegelbild sah und weil ihm klar war, dass Kings Position eines Tages ihm zufallen würde, was genau das war, was er auf der Welt am meisten fürchtete. Konstrukteur zu sein war etwas völlig anderes, als ein Unternehmen von der Größe von Terotechnology zu leiten. Konstruktion war eine Sache kleiner Teams oder, wie Dallas es lieber sah, einzelner Personen. Im Management ging es um Effizienz, was Peitschen, Treten und Schubsen beinhaltete. Kein Wunder, dass King auf Rimmer, seinen Sicherheitschef, angewiesen war. Aber die Konstruktionsabteilung konnte man unmöglich auf diese Art auf Trab bringen. Je mehr man auf Effizienz drängte, desto ineffizienter wurde sie. Dallas war stolz darauf, dass er keine Managementaufgaben hatte. Sein Hirn funktionierte nur dann auf Hochtouren, wenn es nicht durch banalen, täglichen Verwaltungskram gebremst wurde. Er fand es verrückt, jemanden wie ihn, einen Vollblutkonstrukteur, an die Spitze eines Unternehmens wie Terotechnology zu stellen, aber zugleich war ihm klar, dass King, selbst Exkonstrukteur, genau das mit ihm vorhatte, und dafür hasste er ihn. Alles, was Dallas wollte, war, in Ruhe seine ausgeklügelten Hochsicherheitsanlagen zu entwickeln.

Dallas huschte rasch in sein Büro, ehe King ihn entdecken konnte, zog die Tür hinter sich zu und verriegelte sie.

«Das hält ihn auch nicht draußen», sagte Dixy.

«Ich weiß», sagte er dumpf. «Ich bin offen für jeden Vorschlag, wie ich ihn dauerhafter aus meinem Leben aussperren kann.»

«Klingt, als hätte da jemand einen miesen Abend gehabt.»

Dallas schlüpfte schweigend aus seinem Jackett und goss sich ein Glas Wasser ein. Als Dixy keine Antwort zuteilwurde, wartete sie geduldig und respektvoll auf die Anweisungen ihres Herrn und Meisters.

«Zurzeit sind meine Abende alle mies», sagte er schließlich.

«Tut mir leid, das hören zu müssen.»

«Wegen meiner Tochter. Sie ist krank.»

«Caro? Was hat sie denn?»

«Das ist ja Teil des Problems», sagte er. «Die Ärzte – die kriegen es einfach nicht raus.» Er seufzte und schüttelte den Kopf.

«Klingt, als sei sie schon länger krank.»

«Seit ihrer Geburt.»

«Warum haben Sie mir das nie gesagt?» Es klang ein bisschen gekränkt. Sie hatte recht. Das war das erste Mal, dass er Caros Krankheit seiner Assistentin gegenüber erwähnte. Es war nicht Dallas’ Art, Privat- und Berufsleben zu vermengen. Doch jetzt verspürte er das Bedürfnis, mit jemandem darüber zu reden. Auch wenn dieser Jemand nur Dixy war.

«Sie können mir doch alles erzählen. Dafür bin ich doch da.»

Dallas nickte. Er wusste Dixys teilnahmsvolle Reaktion zu schätzen.

«Sie will einfach nicht richtig gedeihen», sagte er. «Erstens mal ist sie anämisch. Und dann ist da noch diese Gesichtsform.» Dallas zuckte die Achseln. «Ihre Kiefer stehen so komisch vor. Wenn sie nicht so schwächlich wäre, sähe sie aus wie ein Neandertalerbaby. Ich meine, wenn man sie so sehen würde, hätte man den spontanen Impuls, sie auf irgendeinem Hügel auszusetzen. Nein, ich mein’s nicht so. Ich liebe sie ja, wirklich, aber es gibt Situationen – na ja, ich will nur sagen, es ist nicht leicht, zu so einem Kind eine Bindung aufzubauen, verstehst du, Dixy?»

«Das kann ich nicht beurteilen», sagte sie steif.

Der Unterton in ihrer Stimme überraschte ihn, und einen Moment lang fragte er sich, ob sie sich womöglich selbst ein Kind wünschte. Vielleicht konnte er das arrangieren.

«Lass dir’s gesagt sein», sagte er bitter.

«Was meinen denn die Ärzte?»

«Die Ärzte», schnaubte Dallas verächtlich. «Die machen Tests. Und immer noch mehr Tests. Aber bisher konnten sie nicht feststellen, was ihr fehlt. Ich habe, ehrlich gesagt, nicht viel Hoffnung, dass sie je was finden.»

«Du liebe Güte», seufzte Dixy. «Kann ich irgendwas tun?»

Dallas starrte auf den Faux-Fenêtre-Screen, wo ein Schwarm Schmetterlingsfische synchron auf den Betrachter zuschwenkte. Die breite schwarze Bindenzeichnung im Gesicht gab ihnen etwas Schurkisches, sodass sie am ehesten einer Horde marodierender Banditen glichen. Es verblüffte Dallas immer wieder, wie die Fische es schafften, alle gleichzeitig in dieselbe Richtung zu schwenken – sie mochten ja computergeneriert sein, aber sie waren so lebensecht, als stammten sie aus der Zoohandlung. Er vermutete, dass dieses Verhalten durch Fortpflanzungs- und Ernährungszwänge geprägt war. Aber wie sehr sie darin der Masse der Menschen ähnelten, dachte er. Den unzähligen Leuten, die dort draußen leben mussten, außerhalb der Zone und ihres Systems medizinischer Privilegien, das Dallas und seine Klasse wie ein schützender Kokon umgab. Gefährliche, nichtsnutzige Leute. Unerziehbare, infizierte Kreaturen, die nur aus Habgier und Begierde bestanden. Ein Meer sterbender Generationen, gegen dessen Ansteckungspotenzial sich eine kleinere, gesündere, moralisch hochwertigere Population gezwungenermaßen mit Hilfe von Panzerglas, Überwachungskameras und hohen Elektrozäunen in den hermetisch abgeriegelten Wohngebieten der RES-1-Bürger verschanzte.

Dixy hüstelte höflich, und als Dallas begriff, dass sie ihn etwas gefragt hatte, wandte er sich mit einem Seufzer von dem Faux Fenêtre ab und schloss ein «Was?» an.

«Ich habe gefragt, ob ich irgendetwas tun kann», sagte sie geduldig. Eine überflüssige Geste, denn sie wussten beide, dass sie ihm sowieso nichts verweigern konnte. Deshalb fungierte sie ja als Dallas’ Assistentin, statt irgendeinen niedereren Job zu verrichten.

«Sie wissen doch, dass ich Ihnen gern gefällig sein möchte», setzte sie mit der verführerischsten Stimme, die ihr zu Gebote stand, hinzu und fuhr sich mit der perfekt manikürten Hand durch das üppige, lange Haar, so wie sie es in alten Filmen gesehen hatte, wenn Frauen sexuell aufreizend wirken wollten.

Dallas lächelte, dankbar für ihr Mitgefühl. Schon die kleinste Kleinigkeit tat gut. Auch die Anteilnahme einer Assistentin war etwas wert. Und Dixy war in der Tat eine Perle unter den Assistentinnen. Ende zwanzig, groß, tadellos proportioniert und mit langem blondem Haar, war sie die Sorte weibliches Wesen, deren Schönheit noch von dem Wissen profitierte, dass sie seine Idealfrau war und dass er sie nie würde berühren können. Denn Dixy war ein Motion-Parallax, ein dreidimensionales Bild mit praktisch unendlicher Auflösung, erzeugt durch die Computerumsetzung von Dallas’ Gehirnströmen mittels eines digitalen Thought-Recordings[28]. Sie war die interaktive Echtzeit-Bildwiedergabe seines Elektronischer-Assistent-Programmbündels, ein optischer Trick, der Dallas half, aus dem massiv parallelen Computer, der sein geistiger Gehilfe war, das Beste herauszuholen. Dixy konnte so ziemlich alles, was keinen körperlichen Kontakt mit Dallas beinhaltete. Sie war Sekretärin, Graphikerin, Beraterin, Rechengenie, Spaßmacherin, Gesprächspartnerin, Übersetzerin und manchmal sogar autoerotisches Stimulans in Personalunion. Kurz, Dixy war für Dallas eine unschätzbare Hilfe und in der Lage, die komplexesten Polynomgleichungen zu lösen und gleichzeitig ihrem menschlichen Herrn und Meister intimste und erotischste Einblicke in ihre realistische, beinahe opake (aus welcher Perspektive man dieses Zwei-Gigabyte-Basis-Fringe[29]-Trioskopbild auch betrachtete, Dixy war eine exakte Kreation aus reflektiertem Licht) und lebensechte Anatomie zu gewähren.

«Du könntest mir diese Zahlen geben», schlug er vor. «Für das neue Mehrpfadsystem.»

«Ich meinte …»

«Ich weiß, was du gemeint hast, Dixy», sagte Dallas sanft.

Es war seine eigene Schuld. Nie erlahmendes sexuelles Interesse gehörte nun mal zu seiner Vorstellung von der idealen Frau. Dass Dixy seiner Frau nicht ähnlicher sah, hatte ebenso viel mit Aria zu tun wie mit ihm. Im Wissen um die missbräuchliche Benutzung von Motion-Parallax-Programmen – Dallas war in dieser Hinsicht kein Ausnahmefall – hatte Aria darauf bestanden, dass ihr Mann sich für das Ausgangs-Thought-Recording eine Frau vorstellen sollte, die ganz anders war als sie. Sie war nicht scharf darauf, dass der Direktor oder irgendwelche Kollegen von Dallas ihr Ebenbild in einer so servilen und manchmal sogar pornographischen Funktion erlebten. Er hatte also mit Arias Einverständnis, ja sogar auf ihr Betreiben, dafür gesorgt, dass Dixy am ehesten einer Schauspielerin aus einem jener zweidimensionalen CD-ROM-Filme der Jahrhundertwende glich, die er hobbymäßig sammelte.

Mit Rücksicht auf ihre Gefühlsfunktion setzte er hinzu: «Vielleicht kannst du mir ja später diesen neuen Trick zeigen. Den mit der Zigarre. Aber jetzt brauche ich wirklich erst mal die Berechnungen für das MS[30] – die auf Basis der Fresnel’schen Integrale. Und natürlich die Spezifikationen für die einzelnen Komponenten.»

«Gern», sagte Dixy lächelnd, denn trotz der Fähigkeit ihrer Gefühlsfunktion, ein gewisses Maß an Sensibilität zu imitieren, war es unmöglich, sie dauerhaft zu kränken. «Soll ich die Differenzialgleichungen auf Papier darstellen oder auf dem Faux Fenêtre?»

«Sur la fenêtre», sagte Dallas.

Sein unterseeisches Panorama wich jetzt Zahlenreihen. Über Nacht hatte Dixy eine Menge von Gleichungen aufgestellt, die manuell zu Papier zu bringen ein ganzes Team von Ingenieuren monatelang beschäftigt hätte. Unter den finanziellen und zeitlichen Beschränkungen, die die Terotech-Kunden vorgaben, Rational Environments zu entwerfen wäre ohne eine Assistentin wie Dixy völlig unmöglich gewesen. Das hier war die neunzehnte Blutbank, die er in ebenso vielen Monaten entworfen hatte. Doch für einen großen Kunden wie diesen – die Deutsche Siedlungs-Blutbank, eine rein terrestrische Institution – zu arbeiten und ein großzügiges Budget zur Verfügung zu haben bedeutete für Dallas, dass er sich eine kleine Extraspielerei gönnen und all den anderen Sicherheitssystemen, die er zum Schutz der tiefgefrorenen Eigenblut-Depositen der Deutschen Siedlung entworfen hatte, noch ein Mehrpfadsystem hinzufügen konnte. Das bot ihm Gelegenheit, kreativ zu sein, etwas Künstlerisches und Phantasievolles zu tun und sich selbst zu übertreffen, denn jedes neue Mehrpfadsystem, das er schuf, enthielt eine noch verwirrendere Vielzahl von Wahlmöglichkeiten als das letzte. Das war eins der Dinge, für die Dallas berühmt war und derentwegen sich viele Kunden – in dem Drang, ihre Konkurrenten sicherheitstechnisch zu übertrumpfen – überhaupt an Terotechnology wandten.

Das MS, an dem Dallas im Moment tantologisch arbeitete, beinhaltete unter anderem einen gekrümmten Gang, dessen Boden graduell und kaum merklich zur Wand wurde, was die Desorientierung möglicher Eindringlinge noch verstärken sollte. Trotz raffiniertester Sicherheitsvorkehrungen versuchten immer noch Kriminelle, solche Anlagen – selbst im Weltraum – auszurauben, obwohl das bisher noch nie gelungen war.

«Um einen optimalen Übergang zu erhalten», erklärte Dixy gerade, «brauchen wir eine Kurve, deren Krümmung mit der Bogenlänge linear zunimmt. Die Differenzialgeometrie liefert uns folgende Gleichungen, die wir unmittelbar algebraisch lösen können.»

Dallas nickte nachdenklich. «Kannst du mir diese Kurve als parametrisch gesteuerten Plot zeigen?»

«Natürlich.» Dixys symbolische Lösungen machten jetzt einer bildlichen Darstellung Platz, die mehr Spirale als Kurve war. Dallas erkannte, dass sich diese Spirale leicht in den Gesamtentwurf des MS einbauen ließ. Und welch besserer Ort ließe sich denken, um die Lebensbedingungen und die essenzielle Nahrungsversorgung für einen Transgenen[31] bereitzustellen – jene hochaggressive Lebensform, die Terotech in allen terrestrischen Rational Environments einsetzte.

«Das ist gut, Dixy», sagte Dallas. «Das ist sogar sehr gut. Fein gemacht. Jetzt kannst du darangehen, diese Spirale in den Gesamtentwurf zu integrieren.»

Hocherfreut, dass sie ihren Herrn und Meister so weit zufrieden gestellt hatte, zeigte Dixy ein makelloses Lächeln. Die Arme vor der Brust verschränkt, ging sie vor seinem Schreibtisch auf und ab und warf ihre blonde Mähne hin und her wie ein erregtes Pferd. Dallas bemerkte den Parfümduft, den der Motion-Parallax-Reality-Support-Sensor über die Klimaanlage seines Büros verwirbelte.

Dallas atmete tief durch die Nase ein, weil er wusste, dass Dixys Duft kein gewöhnliches Parfüm war, sondern eins, das winzige Mengen des Wirkstoffs enthielt, den er brauchte, um seiner genetischen Prostatakrebs-Prädisposition entgegenzuwirken. Sein Großvater war an dieser Krankheit gestorben. Deshalb diese Medikation, basierend auf der modernen medizinischen Ansicht, dass Prophylaxe die einzig sichere Form der Krebstherapie war. Die Prädisposition seiner Frau für Arthritis und Osteoporose wurde mit anderen vomeronasalen[32] Prophylaktika auf ähnliche Weise behandelt. Ein Jammer, dass Caros Krankheit nicht so leicht zu bekämpfen war.

Es gab Momente im Leben seiner kleinen Tochter, in denen Dallas jede Hoffnung auf eine korrekte Diagnose, geschweige denn eine erfolgreiche Behandlung verlor. Das war das Problem, wenn man RES-Klasse 1 und Autologspender innerhalb des Freigabe-Gesundheitssystems war: Man verfiel leicht dem Glauben an eine allmächtige Medizin. Doch nur weil man nicht wie die übrigen 80 Prozent der Bevölkerung P2-infiziert war, hatte man noch lange nicht das ewige Leben gepachtet. Es gab immer noch eine Menge anderer Krankheiten, denen man auch als RES-1-Individuum zum Opfer fallen konnte. Ganz zu schweigen von der enormen Gewaltkriminalität. Bei der es meistens um Blut ging. In den Nachrichtenmedien gab es sogar schon einen Namen dafür: Vamping. Kaum ein Tag, an dem New York Today nicht über irgendein armes, glückloses Opfer berichtete, das ermordet und ausgeblutet aufgefunden worden war. Geschlachtet und geschächtet – «gevampt» nannten es die Zeitungen – von einer der bestialischen, blutdürstigen Kreaturen, die jenen elenden Teil der Gesellschaft bildeten, der auch als «die Verdammten» oder die «lebenden Toten» bezeichnet wurde. Dieses spektakuläre moderne Phänomen hatte nichts mit altem Aberglauben zu tun und stand eher in der Tradition der Elisabeth Bathory, auch Gräfin Dracula genannt, als in der des transsilvanischen Grafen selbst. Bathory war eine ungarische Aristokratin des siebzehnten Jahrhunderts, die über dreihundert junge Mädchen ermordete, um ihren alternden Leib in deren vermeintlich verjüngendem Blut zu baden. Hieß es nicht schon in der Bibel: Denn des Leibes Leben ist im Blut?[33]

Nach den Maßstäben des einundzwanzigsten Jahrhunderts waren dreihundert Morde kaum der Rede wert. Inzwischen gab es Bluträuber ganz anderen Kalibers, deren Opfer in die Tausende gingen. Erst in der letzten Ausgabe von New York Today war es um einen solchen Massenmord gegangen.

Carl Dreyer wurde gestern wegen «besonders verwerflichen» Mordes an über zweitausend Männern und Frauen zum Tode verurteilt. Das Urteil nahm er mit demselben blassen, unbewegten Gesicht entgegen, das er schon während des dreiwöchigen Prozesses dargeboten hatte. In dem dezenten schwarzen Anzug, den er fast die ganze Verhandlung hindurch trug, hätte er eher ein Anwalt oder Beamter sein können als der erbarmungslose Killer, der er laut Prozessergebnis ist. Während Dreyer sich jetzt auf seine Hinrichtung vorbereitet, bittet die Polizei um Hinweise auf weitere Personen, die ihm und seinem Mordkomplizen Tony Johannot zum Opfer gefallen sein könnten. Johannot erhängte sich letzte Woche im Gefängnis.

Im Lauf des Prozesses vor dem Obersten Gerichtshof erschienen die beiden Männer zunehmend als eine moderne Version des Mörder- und Leichenhändlerduos Burke und Hare. Zwischen 2064 und 2066 fuhren sie kreuz und quer durch Nordamerika und kidnappten ihre RES-1-Opfer, um ihnen dann die Kehle durchzuschneiden und ihre Leichen kopfunter in dem umgebauten Möbelwagen aufzuhängen und ausbluten zu lassen. Zeitweise dürften sie acht Menschen pro Woche auf diese Art umgebracht haben.

Die Polizei ist sich noch nicht sicher, welche Absatzwege diese Mengen qualitätsgesicherten Vollbluts letztlich gingen, aber es wird allgemein angenommen, dass die Endabnehmer illegale P2-Kliniken in Fernost waren. Bei ihrer Ergreifung verfügten Dreyer und Johannot über Bankkonten in einer Gesamthöhe von über 1,5 Milliarden Dollar. Die Computerunterlagen wiesen beide Männer als offiziell P2-positiv aus, doch nach ihrer Festnahme wurden bei ihnen keinerlei Spuren des Virus festgestellt. Ein vollständiger Blutaustausch in Verbindung mit dem Medikament ProTryptol 14 ist bis heute die einzige Möglichkeit, eine P2-Infektion zu kurieren.

Chefinspektor Paul Arthuis erklärt: «In fast allen Fällen von Vamping geht es den Tätern zunächst um ihre eigene Heilung. Doch wenn sie dann merken, wie viel Geld sich mit dem illegalen Bluthandel machen lässt, fällt es ihnen schwer aufzuhören. Sechzig Prozent aller Mordfälle haben heutzutage mit Blutraub zu tun.»

Dieses selbst nach heutigen Maßstäben schockierende Verbrechen hat in ganz Amerika Entsetzen hervorgerufen, und von mehreren Kongressabgeordneten wurde bereits gefordert, mehr für die P2-Infizierten zu tun. Der Abgeordnete Peter Piers sagte: «Solche Dinge werden immer wieder geschehen, solange P2-Infizierte zu einer Existenz als lebende Tote, ohne jede Hoffnung auf Heilung, verdammt sind. Das ist letztlich das Allerschockierendste, was dieser Prozess zutage gebracht hat.»

Der grauenhafteste Aspekt dessen, was dem Gericht an Fakten unterbreitet wurde, ist wohl die Methode, deren sich Dreyer und Johannot bedienten, um die ausgebluteten Leichen zu beseitigen. Die fünf Richter mussten sich schildern lassen, wie die beiden den Möbelwagen mit einem vollautomatischen Abfallbeseitigungssystem ausrüsteten, das es ihnen ermöglichte, die Leichen, ganz ohne verräterische Gerüche, Emissionen oder Abwässer, in ein feines Pulver zu verwandeln. Mikrocomputer steuerten die Anlage, die einen Shredder sowie ein Mahlwerk umfasste. Nach einer gewissen Lagerzeit in einem Tank mit einem chemischen Kondensat wurde das Endprodukt durch ein Dampfstrahlansaugsystem mit den Abgasen des Möbelwagens verwirbelt. Die beiden Männer wären vielleicht nie gefasst worden, wären sie nicht in eine Abgaskontrolle an Gaskompressionsfahrzeugen geraten. Die beiden Polizeibeamten schöpften Verdacht, als sie auf dem Beifahrersitz eine Betäubungsgaspistole entdeckten, wie sie vom Militär verwandt wird. Bei der Durchsuchung des Fahrzeugs fanden die Beamten vier ausgeblutete Leichen, die ihrer Entsorgung harrten. Chefinspektor Paul Arthuis erklärte: «Offenbar hätte die SS von den beiden noch das eine oder andere lernen können.»

Dreyer sagte während des gesamten Prozesses gar nichts. Es bleibt abzuwarten, ob der Anblick des Rads[34] und der Brechstange des Scharfrichters den Verurteilten zu einer Äußerung bewegen wird.

Dixy setzte sich auf ihren nicht existenten Stuhl und schlug lässig die Beine übereinander. Sie schien etwas sagen zu wollen, horchte dann aber kurz in sich hinein und meldete anschließend: «Da ist Ogilvy. Er möchte Sie sprechen.»