Des Tauchers leere Kleider - Vendela Vida - E-Book
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Des Tauchers leere Kleider E-Book

Vendela Vida

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Beschreibung

Erst in der Fremde können wir wirklich zu uns finden, heißt es. "Des Tauchers leere Kleider" erzählt die abenteuerliche Geschichte einer Frau, der nichts mehr geblieben ist, außer ihr Wille zu überleben. Einer Frau, die nach Casablance reist, um sich schließlich nicht für die Vergangenheit, auch nicht für die Gegenwart, aber mit aller Entschiedenheit für die Zukunft entscheidet. Eine Amerikanerin reist überstürzt nach Casablanca. Der Grund für ihre Reise ist unklar. Kaum in ihrem Hotel angekommen, wird sie ausgeraubt. Die Polizei und die Hoteldirektion versuchen scheinbar, den Dieb zu fassen, haben sich aber eigentlich gegen die Amerikanerin verschworen. Auf der Polizeiwache wird ihr der Rucksack einer fremden Frau ausgehändigt, deren Identität sie annimmt. Vorübergehend, wie sie denkt, bis sich alles aufgeklärt hat. Doch einmal von der Last des eigenen Ich befreit, beginnt sie, Freude daran zu empfinden, sich von der Frau, die sie einmal war, immer mehr zu entfremden. Bis sie eine berühmte Hollywood-Schauspielerin kennen lernt und einen Schritt zu weit geht ... "Des Tauchers leere Kleider" erzählt das Abenteuer einer Frau, die allen Grund zur Flucht hat – einer Frau, die sich in eine fremde Landschaft begibt, um zu vergessen, und dabei zum ersten Mal zu sich selbst findet. Mit Anklängen von Alfred Hitchcock und Patricia Highsmith. »Teils glamouröser Reisebericht, teils schwelende Mystery: diese vielschichtige Geschichte eines Ausbruchs ist zugleich formal einfallsreich wie auch auf herzzerreißende Weise vertraut. (Sie ist auch unfassbar lustig.)« Lena Dunham. »Meisterhaft … Ich war so eingenommen von der Trauer, der klebrig-sandigen Details, dass ich gar nicht merkte, wie tief ich bereits drinnen steckte. Die letzte Seite las ich mit einem tränenreichen Seufzer.« Miranda July. »Vendela Vidas neuer Roman ist voller Überraschungen, schlicht und üppig zugleich und vor allem wunderschön geschrieben.« George Saunders. »Sie werden diesen Roman nicht beiseite legen können. Und dann werden Sie dasselbe seltsame verschmitze Lächen im Gesicht haben wie ich.« Rachel Kushner.

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Informationen zum Buch

Erst in der Fremde können wir wirklich zu uns finden, heißt es. »Des Tauchers leere Kleider« erzählt die abenteuerliche Geschichte einer Frau, der nichts mehr geblieben ist, außer ihr Wille zu überleben. Einer Frau, die nach Casablance reist, um sich schließlich nicht für die Vergangenheit, auch nicht für die Gegenwart, aber mit aller Entschiedenheit für die Zukunft entscheidet.

Eine Amerikanerin reist überstürzt nach Casablanca. Der Grund für ihre Reise ist unklar. Kaum in ihrem Hotel angekommen, wird sie ausgeraubt. Die Polizei und die Hoteldirektion versuchen scheinbar, den Dieb zu fassen, haben sich aber eigentlich gegen die Amerikanerin verschworen. Auf der Polizeiwache wird ihr der Rucksack einer fremden Frau ausgehändigt, deren Identität sie annimmt. Vorübergehend, wie sie denkt, bis sich alles aufgeklärt hat. Doch einmal von der Last des eigenen Ich befreit, beginnt sie, Freude daran zu empfinden, sich von der Frau, die sie einmal war, immer mehr zu entfremden. Bis sie eine berühmte Hollywood-Schauspielerin kennen lernt und einen Schritt zu weit geht.

»Des Tauchers leere Kleider« erzählt das Abenteuer einer Frau, die allen Grund zur Flucht hat – einer Frau, die sich in eine fremde Landschaft begibt, um zu vergessen, und dabei zum ersten Mal zu sich selbst findet. Mit Anklängen von Alfred Hitchcock und Patricia Highsmith.

»Teils glamouröser Reisebericht, teils schwelende Mystery: diese vielschichtige Geschichte eines Ausbruchs ist zugleich formal einfallsreich wie auch auf herzzerreißende Weise vertraut. (Sie ist auch unfassbar lustig.)« Lena Dunham

»Meisterhaft … Ich war so eingenommen von der Trauer, der klebrig-sandigen Details, dass ich gar nicht merkte, wie tief ich bereits drinnen steckte. Die letzte Seite las ich mit einem tränenreichen Seufzer.« Miranda July

»Vendela Vidas neuer Roman ist voller Überraschungen, schlicht und üppig zugleich und vor allem wunderschön geschrieben.« George Saunders

»Sie werden diesen Roman nicht beiseite legen können. Und dann werden Sie dasselbe seltsame verschmitze Lächen im Gesicht haben wie ich.« Rachel Kushner

Vendela Vida

Des Tauchers leere Kleider

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Monika Baark

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

Buch lesen

Danksagung

Über Vendela Vida

Impressum

Wem dieses Buch gefallen hat, der liest auch gerne …

Über diese Zivilisation kann sich nur erheben, dessen besondere Aufgabe ihn dazu ermächtigt: ein Wissenschaftler erhält die Genehmigung, ein Geistlicher bekommt die Erlaubnis. Aber nicht eine Frau, die nicht einmal als Garantie einen Titel vorweisen kann. Ich war auf der Flucht, voller Ekel ergriff ich die Flucht.

Clarice Lispector, Die Passion nach G.H.

Als du deinen Platz findest, wirfst du einen Blick auf den Geschäftsmann neben dir und beschließt, dass er beinahe gutaussehend ist. Dies ist die zweite Etappe deiner Reise von Miami nach Casablanca, und die bereits zurückgelegte Entfernung hat den Horror der letzten zwei Monate abgedämpft. Was sollte dich davon abhalten, ein Gespräch mit diesem Mann anzufangen, vielleicht sogar zwei Wodka Tonic zu bestellen, mit kleinen Zitronenscheiben, die euch die Flugbegleiterin mit einer silbernen Zange in die Plastikbecher legen würde? Er hat ungefähr dein Alter, dreiunddreißig, und scheint wie du allein zu reisen. Er hat zwei Zeitungen auf dem Schoß, eine auf Arabisch, die andere auf Englisch. Wenn ihr euch einigermaßen versteht, könntet ihr nach eurer Ankunft in Casablanca abends zusammen essen gehen. Ihr werdet in ein Restaurant gehen und auf dicken bestickten Kissen sitzen und Couscous mit den Händen essen. Danach wirst du dich an der seltsamen Geometrie einer fremden Skyline vorbei auf den Weg zurück zu deinem Hotel begeben. Ist es nicht das, was Leute tun, wenn sie allein und im Ausland sind?

Aber während du dich neben diesem Geschäftsmann auf deinem Platz einrichtest, sagt er zu dir, er habe vor, auf dem gesamten Flug nach Casablanca zu schlafen. Dann pustet er mit beträchtlicher und beschämend großer Anstrengung mit seinen schmalen Lippen ein Nackenkissen auf, legt sich eine kleine Tablette auf die ausgestreckte Zunge und dreht sich von dir weg und dem ovalen Fenster zu, dessen Blende schon zugezogen wurde.

Während sich das Flugzeug in die Luft erhebt, geht das unvermeidliche Babygeschrei los, und du blätterst zerstreut in deinem Reiseführer Marokko. Du liest: »Das Erste, was man bei der Ankunft in Casablanca tun sollte, ist, Casablanca zu verlassen.« Verdammt. Du hast schon für drei Nächte dort ein Hotelzimmer gebucht. Du solltest dich über dich selbst ärgern, dass du den Reiseführer nicht vor der Reservierung und Bezahlung deines Zimmers gelesen hast, stattdessen aber richtest du deinen Ärger auf den Reiseführer selbst, weil er dir sagt, deine ersten drei Tage in Marokko kannst du vergessen. Du stopfst das Buch in deinen Rucksack und holst deine Kamera hervor. Sie ist ein paar Monate alt, und obwohl du sie schon benutzt hast, hast du sie zusammen mit der noch ungelesenen Gebrauchsanweisung in ihrem Karton aufbewahrt. Du beschließt, dass jetzt eine gute Zeit ist, sie zu lesen und herauszufinden, wie du dir die Fotos von deiner neugeborenen Nichte auf deinen Laptop lädst. Du schaltest die Kamera an – es ist eine Pentax, eine professionelle Kamera, wie du sie eigentlich gar nicht brauchst – und betrachtest ein Foto von deiner Nichte am Tag ihrer Geburt. Du spürst, wie dir die Tränen kommen, und du schaltest die Kamera aus.

Das Flugzeug hat seine reguläre Flughöhe noch nicht erreicht und das Zeichen mit dem Sicherheitsgurt leuchtet noch, aber das hält eine offenkundig westliche Frau zwei Reihen vor dir auf der anderen Seite des Ganges nicht davon ab, aufzustehen. In ihrem mit Herbstlaub gemusterten Kleid, obwohl Frühling ist, holt sie ihren Koffer aus dem Gepäckfach über dem Sitz. Dann setzt sie sich hin, stellt den Koffer auf ihren Schoß, öffnet ihn, verschiebt ein paar akribisch gepackte Kleidungsstücke, schließt den Koffer wieder und hebt ihn zurück in die Gepäckablage. Eine Flugbegleiterin kommt angelaufen und erinnert sie daran, dass das Zeichen mit den Sicherheitsgurten noch leuchtet. Die Frau im herbstlichen Kleid sitzt fünf Minuten da, bis sie sich nicht mehr beherrschen kann und wieder aufsteht, um ihren Koffer zu holen, auf den Schoß zu stellen, aufzuklappen und die Kleidungsstücke neu zu ordnen, ehe sie den Koffer wieder im Fach über ihrem Sitzplatz verstaut.

Deine Mitreisenden – von denen die Hälfte aussieht wie Touristen und die andere Hälfte wie heimkehrende Marokkaner – nehmen Blickkontakt mit dir und miteinander auf, Augen werden verdreht. Man ist sich einig, dass diese Frau an einer Zwangsneurose leidet. Als die Frau im herbstlichen Kleid ein drittes Mal aufsteht, dreht sich die Passagierin vor ihr, die ein Buch in der Hand und eine Brille auf der Nase hat, abrupt zu ihr herum und starrt sie an. Sie gehört zu einer Gruppe, die seit Miami mit dir gereist ist. Ihren Florida State University-Sweatshirts und ihrem ungefähren Alter nach zu urteilen, haben sie vor etwa vierzig Jahren zusammen an der FSU studiert und sind im Rahmen eines Ehemaligentreffens auf Reisen.

Irgendwie kommt dir die Frau mit der Brille, die sich jetzt umgedreht hat, bekannt vor, und während eures kurzen Augenkontakts merkst du ihr an, dass sie sich ebenfalls fragt, woher sie dich kennt. Dein Blick fällt auf einen der Turnschuhe der Frau, der in den Gang hineinragt –ein sauberer, aufgeblähter weißer Reebok –, und dir ist augenblicklich klar, wo du sie zu letzt gesehen hast. Dein Herz fängt an zu rasen wie nach zu viel Koffein. Du wendest den Blick von ihr ab und konzentrierst dich auf deinen Vordersitz. Du klappst deinen Tisch herunter und legst den Kopf darauf ab. Du willst nicht von dieser Frau erkannt und ausgefragt werden.

Du achtest darauf, nicht noch einmal hinaus in den Gang zu sehen, egal wie oft die Frau im herbstlichen Kleid aufsteht und sich hinsetzt, egal wie oft die Flugbegleiterinnen den Gang hinunterkommen und die Frau daran erinnern, dass sie sitzen bleiben muss. Du bestellst dir bei einer dieser Flugbegleiterinnen ein Glas Wein und nimmst eine Schlaftablette. Du weißt, dass man diese Tabletten nicht zusammen mit Alkohol einnehmen soll, aber du hast plötzlich Angst, den ganzen Flug in angespanntem Zustand zu verbringen und in Casablanca völlig gerädert anzukommen. Du schließt die Augen und denkst an Sex, wie immer, wenn du nicht einschlafen kannst. Du sieht Körperteile aufblitzen und Szenarien – von denen du einige aus Filmen kennst und einige selbst erlebt hast. Du denkst an den Jungen, der nach Sonnencreme roch, den du mit achtzehn in einer Hängematte am Strand geküsst hast, an den Mann aus Dubrovnik, mit dem du mit fünfundzwanzig auf einer Irlandreise in einer Bar warst, an eine Szene aus einem italienischen Film mit Jack Nicholson und einer ausländischen Schauspielerin, deren Name dir nicht mehr einfällt. Du denkst an das Mädchen mit den grünen Augen auf der Loft-Party, die mit ihrer Hand deine Brüste streifte. Sie warf einen Blick zurück, aber du bist ihr nicht gefolgt.

Nichts davon hilft: Du kannst nicht schlafen. Die Kinder im Flugzeug schreien, vor allem das kleine Mädchen gegenüber im Gang, das bei ihrer Mutter auf dem Schoß sitzt. Sie hat mehrere Zöpfe, die mit Schleifen zusammengebunden sind. Normalerweise lösen Mädchen mit Zöpfen zärtliche Gefühle bei dir aus – sie erinnern dich an deine eigene Kindheit, als deine Mutter jeden Morgen um sechs in dein Zimmer kam, um dir zwei feste Zöpfe zu flechten. Die Zopfenden band sie mit einem dicken ausgefransten Stück Schnur zusammen, meist in Rot oder Gelb, passend zu deiner Schuluniform. Das alles geschah, noch während du schliefst, weil sie vor sieben Uhr morgens bei der Arbeit sein musste. Selbst wenn du vom Bürsten oder den flinken Bewegungen ihrer Finger geweckt wurdest, hast du dir nichts anmerken lassen. Du wusstest, es würde sie grämen, wenn sie dich um deinen Schlaf gebracht hätte, also hast du die Augen zu gelassen und die langsamen Atemzüge einer Schlummernden nachgeahmt.

Du warst mit einem Stipendium auf einer teuren Mädchenschule, und nicht viele andere Mütter waren berufstätig, insofern wollte sie jeder Mutter, die guckte (und geguckt wurde ständig), sagen: Ja, wir sind Mittelschicht, ja, ich bin berufstätig, aber meiner Tochter hat es nicht geschadet – seht euch ihre ordentlichen festen Zöpfe an. Aus Gründen, die dir damals nicht klar waren, wurde deiner Zwillingsschwester kein Stipendium gewährt, und sie besuchte die öffentliche Schule in der Nähe eurer Wohnung. Nicht, dass du sie jemals bemitleiden würdest: Sie war immer hübscher (ihr seid zweieiige Zwillinge) und aufgeschlossener. Das Ergebnis dieser Kombination führte dazu, dass sie viel öfter Ärger bekam. Sie trug die Haare kurz, selbst wenn es gerade nicht in Mode war, aber meistens war es das. Du dagegen hattest bis zur siebten Klasse Zöpfe.

Das Mädchen mit den Zöpfen, das gegenüber vom Gang bei seiner Mutter auf dem Schoß sitzt, reißt dich mit ihrem Gekreische immer wieder aus den kurzen Momenten des Schlafs. Dann folgen die Beruhigungsversuche der Mutter. Die Mutter ist fast noch lauter, als wollte sie allen um sie herum versichern: Seht ihr, ich tu mein Bestes. Du wirfst ihr einen abfälligen Blick zu, obwohl dir klar ist, dass du genauso sein wirst, solltest du jemals eigene Kinder haben – auch du wirst viel zu laut sein beim Beruhigen. Eine Sache, die du an deiner Mädchenschule beobachtet hast: Elternsein besteht zur Hälfte aus Show für die anderen.

Als das Flugzeug den Sinkflug auf Casablanca beginnt, ordnest du die Sachen in deinem Rucksack. Du musst unbedingt von Bord gehen, ohne in die Nähe der FSU-Frau in den aufgeblähten weißen Reeboks zu kommen. Der Geschäftsmann neben dir wacht auf und blinzelt fünfmal hastig. Er lächelt dich an und du lächelst matt zurück, denn du beneidest ihn um seinen Schlaf. Als das Flugzeug landet, schwankt es nach rechts und links und findet dann erst zu einer geraden Linie. Deine Mitreisenden applaudieren wild. Die Tür zum Cockpit ist geschlossen, sie klatschen also nicht für die Piloten. Sie klatschen, weil ihr Leben weitergeht, weil sie nicht brennend auf der Flugbahn liegen, weil sie nicht über dem Atlantik in Stücke gerissen wurden. Der verstreute Applaus scheint dir eine allzu gedämpfte Feier des Lebens, also verzichtest du aufs Klatschen.

Jetzt, als alle stehen und darauf warten, von Bord gehen zu dürfen, sind die Schreie der Kinder lauter geworden, und die Eltern haben das Beruhigen aufgegeben. Als die Türen des Flugzeugs aufgehen, gibt es einen merklichen kollektiven Schub nach vorn. Alle, die noch nicht gestanden haben, stehen auf. Während du deine Sachen zusammensuchst – deinen blauen Koffer und den unscheinbaren schwarzen Stoffrucksack, der keine Aufmerksamkeit hervorruft, beides erst gestern eigens für die Reise erstanden –, versucht sich jemand aus der Reihe hinter dir vorzudrängeln. Es ist immer dasselbe Spiel auf Flugreisen: Die Mitreisenden applaudieren, weil sie nicht tot sind, und dann drängeln sie sich vor, um vier Sekunden früher aussteigen zu können.

Anders als die Frauen vom Ehemaligentreffen hast du kein Gepäck, auf das du warten musst, du kannst also direkt an ihnen vorbei und durch den Zoll gehen. Du sollst abgeholt werden, der Fahrer werde ein Schild haben, hieß es. Du siehst ihn sofort, einen dünnen Mann in schwarzen Jeans mit einem Stück vergilbtem Papier, darauf gekritzelt dein Name. Er hat deinen Namen auf die französische Art geschrieben; das war klar. Auf deiner Mädchenschule hast du französisch gelernt, weil eine Pariser Erbin die Schule gestiftet hat. Jetzt, als du die Sprache deiner Jugend sprichst, stellst du fest, dass du dich an Wörter erinnerst, von denen du gar nicht wusstest, dass du sie kennst, und dass du Fehler machst, die dir sofort auffallen. Du fragst den Fahrer, wie lange die Fahrt zum Hotel dauern werde (dreißig Minuten), wie das Wetter gewesen sei (regnerisch), und danach gibt es wenig zu reden. Er fragt, woher du kommst, und du sagst ihm, Florida, und er sagt, er sei mal in Idaho gewesen, Verwandte besuchen. Du lächelst und sagst, es sei schön dort. »C’est beau là«, sagst du. Er stimmt dir zu. Du warst noch nie in Idaho.

Draußen vor dem Fenster des Minibusses ist der Himmel weiß, das Gras grün. Die Fahrt geht vorbei an leeren Grundstücken, an Plakaten mit Handywerbung und Autowerbung, dann tauchen plötzlich in der Ferne die hohen cremefarbenen Bauten von Casablanca auf. Du siehst junge Männer beim Trampen und der Fahrer erzählt, sie seien unterwegs zur Schule und zur Uni. »Gibt es keinen Bus?«, fragst du. »Doch«, sagt er, aber sie hätten keine Lust, auf den Bus zu warten.

Der Verkehr in Casablanca ist schlimm, und der Fahrer sagt, das sei normal. Du wünschst, du hättest besser aufgepasst, als er sich vorstellte, denn jetzt ist es zu spät, ihn noch einmal nach seinem Namen zu fragen. An einer Ampel knallt ein Motorradfahrer mit tarnfarbenem Koffer seitlich gegen das Auto. Er wollte sich weiter nach vorne fädeln. Obwohl ihr euch mitten auf der Straße befindet, hält der Fahrer an und steigt aus dem Auto, und die beiden streiten sich. Sie schreien sich an, und der Fahrer gestikuliert auf dramatische Weise, dann steigt er zurück ins Auto, und die Fahrt geht ruckelnd weiter.

Die Straßen wirken jetzt chaotisch auf dich – so viele Lastwagen und so viel Smog und Gelegenheiten für Motorräder, euch in die Seite zu knallen. Die Häuser ringsum sind hässlich. Sie waren mal weiß, aber jetzt haben sie eine Rußschicht. Beim Blick aus dem Fenster gibt es nichts zu sehen als Autos. Du kannst es kaum erwarten, dein Hotelzimmer zu beziehen.

Der Weg führt an einem Regency Hotel der gehobenen Klasse vorbei und an einem teuer aussehenden Sofitel, undals der Fahrer sagt, dein Hotel sei nicht mehr weit, freust du dich, weil du denkst, dein Hotel werde mit diesen hohen gläsernen Gebäuden mithalten können. Das Golden Tulip, so hatte es geheißen, biete allen Komfort, und du hast dich auf dem Hinflug und auf der ganzen Fahrt schon auf diesen Komfort gefreut, doch der Anblick ist enttäuschend. Das Golden Tulip hat ein glänzendes schwarzes Portal mit zwei langen Bannern, von denen eines das Restaurant anpreist und das andere den Pool. Es sieht aus wie ein typisches Touristenhotel, eines von der Sorte, in denen große Reisegruppen zwei Tage wohnen, bevor es weitergeht in die nächste Stadt. Der Fahrer hält vor dem Hotel, und du siehst und hörst amerikanische und britische Touristen aus dem Haupteingang treten. Du bist ernüchtert, aber was hast du erwartet? Dass hier Einheimische absteigen? Es ist nun mal ein Hotel.

Der Fahrer öffnet die Seitentür des Minibusses und holt von hinten deinen Koffer. Du gibt ihm ein Trinkgeld in US-Dollar, anderes Geld hast du nicht. Du hast am Flughafen von Miami dreihundert Dollar abgehoben, weil du durch deine Reisen nach Kuba und Argentinien weißt, wie wichtig es sein kann, amerikanisches Geld in der Tasche zu haben. Du gibst dem Fahrer zwanzig Dollar Trinkgeld. Später wirst du dich fragen, ob das dein erster Fehler war.

Beim Betreten des Hotels musst du durch eine Sicherheitsschleuse – ähnlich wie am Flughafen –, lässt den Rucksack aber auf und deinen Koffer nicht los. Pagen bieten dir an, dein Gepäck zu nehmen, und du sagst, du kämst zurecht. Oder besser: Du lächelst und sagst: »Nein, nein, schon gut. Schon gut.«

Entlang der Seitenwand der Lobby steht eine lange schwarze Bank, aber davon abgesehen gibt es keine Sitzgelegenheit – keine bequem aussehenden Sofas oder Sessel. Diese Lobby ist nicht zum Verweilen gedacht. Du gehst an die Rezeption und wartest hinter einem anderen Pärchen. Es ist wenig los in der Lobby, deshalb verstehst du nicht, warum die Empfangsmitarbeiter, beide in blaugrauen Anzügen, so durch den Wind sind.

Du stehst vor der Rezeption, und rechterhand bemerkst du einen Geldautomaten und nimmst dir vor, nachher dort marokkanisches Geld abzuheben. Als das Pärchen vor dir aus dem Weg ist, trittst du an den Empfangstisch. Du sagst den Empfangsmitarbeitern, du hättest ein Zimmer reserviert. Einer der beiden Männer sagt, dein Zimmer sei noch nicht fertig, und du wendest ein, dass man dir bei der Reservierung zugesichert habe, vorzeitig einchecken zu können. Einer der Männer geht ins Hinterzimmer – ob er die Sache überprüft oder dich meidet, ist unklar. Der andere sieht in seinen Computer. »Das Zimmer wird gerade gereinigt. Es ist in fünf Minuten fertig.«

»Fünf echte Minuten?«, fragst du. Zeit ist nicht das, was du darunter verstehst, sondern was das Land darunter versteht.

»Fünf amerikanische Minuten«, sagt der Mann hinter dem Empfangstisch.

Er schiebt dir einen Zettel hin. Dort sollst du deine Reisepassnummer eintragen. Der Mann verschwindet im Hinterzimmer. Du vermutest, dass er noch mal wegen deines Zimmers nachfragt.

Du starrst auf das Anmeldeformular. Du holst deinen Pass aus dem Rucksack. Dein neuer blauer Koffer steht vor dir, und du stellst den Rucksack darauf ab und beugst dich über den Koffer und fängst an, das Formular auszufüllen. Name, Geburtsort, Reisepassnummer, Nationalität. Als du fertig bist, ruft du dem Empfangsmitarbeiter zu: »Ich wär dann so weit mit dem Formular.«

Er kommt zurück zur Rezeption, zeigt dir einen Computerausdruck einer Namensliste und fragt: »Welcher Name?« Dein Name befindet sich in der unteren Hälfte der Liste, von der du annimmst, dass es sich um eine Liste der eintreffenden Gäste handelt, und dann streicht er deinen Namen so gründlich durch, so gewaltsam, dass er spurlos verschwindet. Du erhältst einen Schlüssel zu dem Zimmer, das jetzt zur Vefügung steht, und du packst den Griff deines Koffers, der immer noch vor dir steht.

Aber wo ist dein Rucksack?

Du schaust auf den Boden. Nichts.

Du tastest an deinen Rücken. Du drehst dich um, als könntest du über deine Schulter hinweg ein Stück von deinem Rucksack sehen. Du sagst zu dem Mann an der Rezeption, dein Rucksack sei nicht mehr da. Du siehst auf den unteren Rand des Empfangstisches, der nicht bis zum Boden reicht. Du denkst, er könnte versehentlich unter den Empfangstisch gerutscht sein. Der Empfangsmitarbeiter sieht auf den Boden auf seiner Seite des Tisches. Nichts.

Panik steigt in dir auf – du bist in Marokko und dein Rucksack ist weg. Du denkst an alles, was im Rucksack ist – Laptop, Portemonnaie mit Kreditkarten und dem gesamten Bargeld, das du in Miami abgehoben hattest. Eine drei Monate alte Kamera. Das Buch aus der Bibliothek. Deine Kosmetiksachen. Ein kleines Paar Korallenohrringe. Die Inventarliste des abhandengekommenen Inhalts wird immer länger, und du vergisst zu atmen.

Du versuchst dem wenig hilfsbereiten Empfangsmitarbeiter zu erklären, was los ist. Er weist darauf hin, dass einer der Pagen den Rucksack ins falsche Zimmer gebracht haben könnte. Er sagt etwas zu den jungen adretten marokkanischen Pagen. Die Pagen weisen darauf hin, dass du ihn im Minibus vergessen haben könntest; sie sagen, der Wagen stehe noch draußen vor der Tür. Du glaubst eigentlich nicht, dass du ihn im Bus vergessen hast, denn du hast an der Rezeption deinen Pass ja aus dem Rucksack genommen, oder? Vielleicht hattest du den Pass schon in der Hand. Du bist so erschöpft, dass du gar nichts mehr sicher sagen kannst. Jede Geschichte scheint plausibler zu sein als deine eigene.

Du folgst einem der Pagen aus dem Hotel. Passanten gehen an dir vorbei – die Stadt ist voller Menschen –, aber du nimmst keines der Gesichter wahr. Dort, eine Farbe, Rot. Dort ein gelber Hidschab. Als du zum Bus kommst, ist er abgeschlossen, also schaust du durchs Fenster. Auf dem Boden des Minibusses ist nichts. Wo ist der Fahrer? Vielleicht hat der Fahrer den Rucksack genommen und ist losgegangen, um dich zu suchen. Vielleicht sucht er dich gerade im Hotel.

Du rennst zurück ins Hotel. Der Fahrer wurde gefunden und wartet auf dich. Er sagt, er habe den Rucksack nicht. Er geht mit dir hinaus zum Minibus und schließt ihn auf, der Rucksack ist nicht da. Du gehst zurück ins Hotel. Der sehr besorgt wirkende Fahrer sagt etwas auf Arabisch zu den Pagen und Sicherheitsleuten, die am Eingang postiert sind.

»Sie sagen, dass Sie beim Reinkommen den Rucksack auf dem Rücken hatten«, sagt er zu dir auf Englisch. Wozu hast du dich dann bemüht, Französisch mit ihm zu sprechen? »Sie sagen, sie erinnern sich daran.«

Du fragst dich kurz, warum sie dich beobachtet haben, um das so genau zu wissen, hast aber keine Zeit, dich zu wundern: Du bist irgendwie erleichtert, dass sie sich erinnern. Deine Erschöpfung ist ein Vorhang, den du nicht beiseiteschieben kannst.

Man bedeutet dir, zum Gepäckraum zu kommen. Jemand hat die Idee, dass dein Rucksack im Gepäckraum gelandet sein könnte, wo die Gäste ihre Koffer aufbewahren, wenn ihr Zimmer noch nicht fertig ist oder wenn sie ihr Zimmer räumen müssen, aber noch Zeit bis zu ihrem Abflug haben. Zwei Hotelangestellte stehen am Eingang zum Gepäckraum wie Flugbegleiter, die ihre Gäste an Bord begrüßen. Du gehst hinein und erkennst einen kleinen Raum mit Regalen, darin ein Dutzend dunkler abgewetzter Koffer. Ein Kindersitz fürs Auto. Kein schwarzer Rucksack.

Du verlässt das klaustrophobische Zimmer und gehst auf dem glänzend weißen Boden der Lobby auf und ab und fragst dich, was du verdammt noch mal jetzt machen sollst. Ein Mann hinter der Rezeption sagt, du sollst dir keine Sorgen machen. Ist es derselbe, der dir angeblich helfen wollte, oder der andere? Schwer zu sagen. Du kannst dich an nichts mehr erinnern. Er sagt, es gebe Überwachungskameras. Er zeigt hinauf an eine Stelle über der Rezeption. »Sie werden gucken, und wir werden sehen, ob Sie den Rucksack dabeihatten. Wir werden gucken und sehen, ob der Page ihn in das falsche Zimmer gebracht hat. Sie werden gucken, und wir werden sehen«, sagt er zu dir.

»Okay«, sagst du und du fragst dich, warum diese Kameras erst jetzt zur Sprache kommen. Hoffnung keimt in dir auf, wie das eben so ist mit der Hoffnung.

»Wie werde ich das sehen?«, fragst du.

»Warten Sie hier«, sagt er.

»Wo?«, fragst du.

Er zeigt genau an die Stelle, an der du stehst.

Während du wartest, beobachtest du die anderen Gäste beim Einchecken. Du willst sie warnen. Aber wovor? Davor, dass sie vielleicht ihr Gepäck irgendwo vergessen haben?

Ein junger Hotelangestellter mit gebeugten Schultern betritt die Lobby, und der Mann hinter der Rezeption sagt etwas zu ihm. Zu dir sagt er: »Gehen Sie mit ihm.«

Du folgst diesem gebeugten Mann am Geldautomaten vorbei und in den Fahrstuhl, ihr fahrt hinunter in den Keller. Er führt dich in ein kleines Zimmer, wo ein großer Monitor vor einer Betonziegelwand steht. Der Monitor ist in vier Quadranten geteilt und in verschwommenem Schwarzweiß und hauptsächlich Grau erkennst du, dass darauf gezeigt wird, was aktuell in vier verschiedenen Bereichen des Hotels passiert – an der Rezeption, auf der schwarzen Bank in der Lobby, in einem Treppenhaus, auf einem Dach. In dem Quadranten, der zeigt, was an der Rezeption passiert, siehst du das Pärchen, das eincheckt. Das Pärchen, das du warnen willst.

»Sie saßen hier auf der schwarzen Bank«, sagt der Mann in einem holprigen Englisch. Er deutet auf den Monitor, der die schwarze rückenlose Bank zeigt, die entlang der Wand verläuft und im rechten Winkel zur Rezeption steht.

»Nein«, sagst du. »Ich stand an der Rezeption.« Du zeigst auf den Monitor, wo die Rezeption zu sehen ist.

»Okay«, sagt er. Er versucht auf den Kasten zu klicken, aber nichts passiert.

Er versucht, etwas auf der Tastatur zu tippen, aber nichts passiert.

»Ich brauche das Passwort«, sagt er.

Der gebeugte Mann nimmt das Telefon, ruft irgendwo an und fragt nach dem Sicherheitspasswort für den Computer. Er gibt das Passwort ein und nichts passiert.

Er bittet den Mann am anderen Ende, das Passwort zu wiederholen und versucht es erneut. Missmut schallt in Form von Gebrüll durch den Hörer.

Fünf Minuten zuvor, als du in der Lobby warst und von den Überwachungskameras erfuhrst, warst du zuversichtlich, dass sie enthüllen würden, welcher Page oder Hotelgast aus Versehen deinen Rucksack mitgenommen hat. Aber jetzt sinkt deine Zuversicht.

Zwei andere Männer betreten das kleine Zimmer. Einer hat einen Bart, und du vermutest, dass es sich um denselben Mann handelt, der gerade am Telefon war, denn wieder brüllt er das Passwort. Er ist eindeutig wütend.

Endlich gelingt es dem gebeugten Mann, sich am Computer anzumelden.

Der bärtige Mann dreht sich zu dir. »Sie haben auf der schwarzen Bank gesessen?«, fragt er und deutet auf das Bild auf dem Monitor mit der Bank in der Lobby entlang der Wand. Die Bank ist leer.

»Nein«, sagst du und erklärst, dass du an der Rezeption gestanden hast. Du zeigst noch einmal hin, um kein Missverständnis aufkommen zu lassen.

Der bärtige Mann fordert den gebeugten Mann auf, die Kamera zurückzuspulen. Der gebeugte Mann sitzt am Computer, kann aber mit dem Computer nicht umgehen. Der bärtige Mann schnauzt ihn an, aber es hilft nichts. Drei weitere Männer kommen rein. Jetzt sind sechs Männer im Raum. Nicht einer weiß, wie man das Video zurückspult.

»Entschuldigung«, sagst du aus dem Hintergrund. »Ich würde es vielleicht … Darf ich?« Es ist ein kleines Zimmer, und die Männer machen dir Platz, damit du dich auf den Holzstuhl vor den Computer setzen kannst. Du hast keine Ahnung von Überwachungstechnik, aber diese Sache scheint weniger kompliziert, als sie von ihnen dargestellt wird. Du bewegst mit der Maus den Cursor zu der Kamera, die auf die Rezeption gerichtet ist. Dann drückst du die Rückspul-Taste und spulst zurück.

Das Video zeigt eine Zeit an – zehn Uhr –, aber das ist noch nicht die richtige Zeit. »Wie spät ist es?«, fragst du. Jeder hat eine andere Antwort. Man erklärt, dass gestern die Zeit umgestellt worden sei. Niemand hat die Zeit an den Aufnahmegeräten aktualisiert.

Du kannst dich auf die Zeit nicht verlassen. Du spulst weiter zurück, langsam. Du hältst an, als du eine Frau siehst, die dir ähnelt, aber deren Haare dunkler sind, dramatischer wirken als deine eigenen, und deren Bluse weißer aussieht. Doch du bist es. Die monochrome Überwachungskamera hebt jede Nuance dramatisch hervor. Du wirkst wie ein Relikt aus einer anderen Zeit. Eine Daguerreotypie; eine Kamee in einem alten Medaillon.

Du spulst das Video noch ein Stück zurück, bis du dich nicht mehr an der Rezeption stehen siehst, dann drückst du auf Start. Du und die sechs Männer schauen sich schweigend das Video an.

Du siehst, wie du mit dem schwarzen Rucksack auf dem Rücken und dem Rollkoffer durch die Sicherheitsschleuse kommst und an die Rezeption trittst. Der bärtige Mann zeigt auf die Kamera und sagt etwas zu den anderen Männern im Raum. Du vermutest, dass er sagt: »Seht ihr, sie hatte beim Reinkommen den Rucksack auf.«

Du selbst bist erleichtert, als du das siehst: Du hast ihn nicht im Minibus vergessen; er wurde dir nicht in der Sicherheitsschleuse aus der Hand genommen.

Du siehst, wie du mit dem wenig behilflichen Mann an der Rezeption über dein Zimmer diskutierst, das eigentlich hätte fertig sein sollen. Du siehst, wie er dir das Anmeldeformular über den Tisch schiebt. Du siehst, wie du den Rucksack von den Schultern nimmst und ihn auf deinem Koffer abstellst, der aufrecht auf seinen Rollen vor dir steht. Du trägst Namen, Geburtsort, Reisepassnummer und Nationalität ein, dann steckst du den Pass wieder an die sichere Stelle in deinem Rucksack. Du schiebst den Pass ganz nach unten, damit er dir nicht aus dem Rucksack fällt oder geklaut wird. Du rufst nach einem der Empfangsmitarbeiter. Du siehst, wie sich dein Mund bewegt: »Ich wär dann so weit mit dem Formular.«

Da bemerkst du auf dem Video eine Gestalt auf der schwarzen Bank in der Lobby. Einen stämmigen Mann im Anzug mit Schlüsselband und Namensschild; bei deiner Ankunft im Hotel hatte dort niemand gesessen. Er steht auf und steuert diagonal und zielsicher auf dich zu. Du siehst, wie er neben dir, zu deiner Rechten, stehen bleibt, während du den Kopf nach links gedreht hast, um den Mann hinter der Rezeption auf dich aufmerksam zu machen. Dann siehst du, wie sich die Finger des stämmigen Mannes zentimeterweise auf deinen Bauch zubewegen. Seine Hand schiebt sich vor dich, während er vorsichtig und langsam den Rucksack von deinem Koffer hebt.

Die Männer vor dem Überwachungsvideo in dem kleinen Betonziegelzimmer fangen an zu brüllen und mit dem Finger auf den Monitor zu zeigen, und ein Mann fasst sich mit beiden Händen an den Kopf, als hätte soeben sein Lieblingsfußballer das entscheidende Tor verfehlt.

Auf dem Video siehst du, wie der stämmige Mann im schwarzen Anzug zehn Sekunden lang neben dir steht, als könnte er selbst nicht glauben, womit er da gerade davongekommen ist. Oder vielleicht ist es eine andere Taktik: Er will keine ruckartigen Bewegungen machen. Für eine kurze Sekunde sieht es aus, als bereute er die Tat und als wollte er den Rucksack an seinen Platz auf deinem Koffer zurückstellen. Dann aber zieht er sich rasch und entschlossen einen Riemen des Rucksacks über die Schulter und geht mit effizienten, aber nicht zu schnellen Schritten und erhobenen Hauptes auf den Ausgang des Hotels zu, vorbei an den Sicherheitsleuten und durch die Sicherheitsschleuse, und dann dreht er sich auf der Straße nach rechts und ist außer Gefahr.

Tief aus deinem Innern hörst du ein Geräusch – ein seltsames kehliges Jaulen –, und du stehst auf. Die Wachleute des Hotels zeigen auf den Bildschirm und drehen das Überwachungsvideo zurück und rufen Dinge auf Arabisch. In deinem Kopf geht es drunter und drüber, jetzt, wo du weißt, dass dein Rucksack weg ist. Du siehst keinen Ausweg aus dieser Sache. Du willst nach Hause. Du bist gerade in Marokko angekommen und dein Rucksack, dein Ausweis wurden dir gestohlen. Sie haben dich vergessen; sie schauen auf den Bildschirm. Sie werden immer aufgeregter, sie zeigen hin, sie spielen die Tat noch einmal ab– endlich haben sie verstanden, wie man das Video zurückspult. Du drehst dich den Aktenschränken zu, in diesem winzigen Zimmer, der Karikatur eines Büros. Du hast das Gefühl, gleich weinen zu müssen. Nicht weinen, befiehlst du dir. Nicht weinen. Und du weißt, du wirst nicht weinen. Ein seltsames Adrenalin, eine kraftvolle Ruhe überkommt dich. Du bist schon in ähnlichen Situationen gewesen, und du spürst diese Gelassenheit, das Blaugrün eines Ozeans über dich hinwegspülen.

Du drehst dich wieder um. »Ich muss meine Kreditkarten sperren lassen«, sagst du zu dem bärtigen Mann, der das lange, komplizierte Passwort kannte. Er sagt, man werde die Polizei rufen, und du nickst.

»Sie kommt hierher?«, fragst du.

»Ja«, sagt er.

»Kann ich in der Zwischenzeit telefonieren?«

Der gebeugte Mann wird beauftragt, dich in ein Büro im zweiten Stock zu begleiten. Um dorthin zu gelangen, musst du erst den einen Fahrstuhl nehmen und dann durch die Lobby zu einem anderen Fahrstuhl gehen. Du kommst an der langen schwarzen Bank mit dem Lederimitat vorbei, die an der Wand steht. Es ist eine schmale Bank ohne Rückenlehne, wo niemand lange sitzen soll.

Auf dem Weg zum anderen Fahrstuhl, der dich in den zweiten Stock bringen wird, siehst du den Fahrer des Minibusses, der dich vom Flughafen zum Hotel gebracht hat. Er ist lebhaft und zufrieden. »Ich habe ja gesagt, Rucksack nicht in meinem Bus«, sagt er. »Ich habe gesagt, Sie haben den Rucksack, als Sie in das Hotel gekommen.« Du merkst, wie erleichtert er ist, nicht verantwortlich zu sein. Ein Glück, dass dein Rucksack von jemand anderem geklaut wurde!

Du nickst und wirst weiter zum Büro im zweiten Stock geführt. Ein dicklicher Mann im grauen Anzug spricht dich an. Er stellt sich als Leiter der Hotel-Security vor. Wo war er die ganze Zeit? Nicht nur, als der Rucksack gestohlen wurde, sondern als die sechs Männer, die nicht wussten, wie man das Überwachungsvideo bedient, sich Passwörter zuriefen und du ihnen zeigen musstest, wie man den Pfeil auf dem Computer anklickt. Wo war er da?

Der Security-Chef hat einen breiten Brustkorb und einen buschigen Schnurrbart. Er erinnert dich an den Mann von dem Brettspiel Monopoly. Den Banker. Er wirkt stolz darauf, hier das Sagen zu haben. Mehr noch: Er wirkt stolz, dass in seinem Hotel ein Diebstahl stattgefunden hat und dass er mit dem Polizeichef wird sprechen müssen. »Wir haben den Polizeichef angerufen, er ist unterwegs«, sagt er. Dabei lächelt er. Was soll das? Er strahlt vor Aufregung und Stolz, anstatt sich dafür zu entschuldigen, dass dir dein Rucksack mitsamt Inhalt abhanden gekommen ist. Er steht einfach nur da und lächelt, und dann sagt er zu dir, du sollst dich entspannen. »Gehen Sie auf Ihr Zimmer und entspannen Sie sich. Wir kümmern uns«, sagt er.

»Ich kann mich nicht entspannen«, sagst du zu ihm. »Ich muss meine Kreditkarten sperren lassen.«

»Einfach entspannen«, wiederholt er. »Der Polizeichef kommt.«

Du ignorierst ihn und nimmst den Fahrstuhl hinauf ins Büro im zweiten Stock. »Der schien sich ja total über diese ganze Sache zu freuen«, sagst du zu dem gebeugten Mann, deinem Begleiter, wobei du vergisst, dass sein Englisch nicht besonders gut ist.

»Sie freuen sich?«, fragt der gebeugte Mann verwirrt.

Die Türen gehen auf und du steigst aus dem Fahrstuhl, ohne ihn zu korrigieren.

In einem Büro mit einem Computer und einem Telefon wirst du an einen Schreibtisch geführt. Zwei andere Leute sitzen in diesem Büro und nehmen Anrufe und, wie du merkst, Reservierungen entgegen. Einer dieser Männer ist wohl der, von dem du erfahren hast, dass dein vorzeitiges Einchecken kein Problem sein würde. Du setzt dich in den leeren Drehstuhl, und nachdem der gebeugte Mann das Büro verlassen hat, fängst du an, im Internet nach den Telefonnummern deiner Banken zu suchen. Du rufst deine Kreditkartenfirma an und Christy aus Denver sagt, sie werde dir helfen. Du kennst deine Kreditkartennummer nicht auswendig, also muss Christy anhand deines Namens auf sie zugreifen und dir verschiedene Sicherheitsfragen stellen. Als sie überzeugt ist, dass du wirklich du bist, fragst du, ob das Konto kürzlich belastet worden sei. Die letzte Belastung deines Kontos, die Christy aus Denver erkennen kann, ist eine Mahlzeit am Flughafen von Miami.

»Sehr gut«, sagst du, und dann fragst du: »Soll ich sie denn dann wirklich sperren lassen? Wenn sie nicht benutzt wird?«

»Wissen Sie denn ganz sicher, dass die Karte gestohlen und nicht verlegt wurde?«, fragt Christy.

»Ja«, sagst du. »Ich war dabei, als das Überwachungsvideo abgespielt wurde. Sie wurde definitiv gestohlen.«

»Dann sollten Sie sie sperren lassen«, sagt sie.

Also lässt du sie sperren.

Schon beim Auflegen wird dir klar, dass du die Kreditkartenfirma wirst zurückrufen müssen, um dich zu erkundigen, inwieweit du gegen Diebstahl versichert bist, aber dafür ist jetzt keine Zeit. Du bist kurzzeitig überwältigt vom Gedanken an die Unmenge von Telefonaten, die dir in den kommenden Wochen und Monaten bevorstehen. Du bist sicher, dass Formulare auf dich zukommen.

Du telefonierst und lässt deine Bankkarte sperren. Vipul aus Indien sagt, er könne dir assistieren. Erst müsstest du ihm einige Sicherheitsfragen beantworten, was du auch tust. Dann fragt er dich, wie viel Geld in etwa auf deinem Konto sei.