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Beschreibung

Diese Sozialkunde der Bundesrepublik stellt dar, wie Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sich in Deutschland historisch gewandelt haben, wo wir heute stehen und wohin die Entwicklung geht. Ausgewiesene Experten schreiben unter anderem zu den Themen sozialer Wandel, Migration, Familie, Bildung, innere Sicherheit, Wirtschaftsordnung, Arbeitsmarkt und Arbeitswelt, Zivilgesellschaft, Regierungssystem und Medien. Darüber hinaus zeigen mögliche Zukunftsszenarien: Trotz sozialer Ungleichheit, Generationenkonflikt und Demokratieverlust besteht die Chance auf eine Gesellschaft, die von Wachstum und Nachhaltigkeit geprägt ist. Das Standardwerk bietet einen Überblick auf dem neusten Stand der Soziologie und Politikwissenschaft. Mit Beiträgen von Hans-Jörg Albrecht, Maurizio Bach, Rolf Becker, Johannes Berger, Hartmut Häußermann, Martin Heidenreich, Stefan Hradil, Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Hans-Peter Müller, Oskar Niedermayer, Uwe Schimank, Josef Schmid, Manfred G. Schmidt, Norbert F. Schneider, Wolfgang Seifert, Roland Sturm, Jürgen Wilke, Annette Zimmer, Sascha Zirra und Michael Zürn.

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Stefan Hradil (Hg.)
Deutsche Verhältnisse
Eine Sozialkunde
Campus Verlag Frankfurt/New York
Über das Buch
Diese Sozialkunde der Bundesrepublik stellt dar, wie Gesellschaft, Wirtschaft und Politik sich in Deutschland historisch gewandelt haben, wo wir heute stehen und wohin die Entwicklung geht. Ausgewiesene Experten schreiben unter anderem zu den Themen sozialer Wandel, Migration, Familie, Bildung, innere Sicherheit, Wirtschaftsordnung, Arbeitsmarkt und Arbeitswelt, Zivilgesellschaft, Regierungssystem und Medien. Darüber hinaus zeigen mögliche Zukunftsszenarien: Trotz sozialer Ungleichheit, Generationenkonflikt und Demokratieverlust besteht die Chance auf eine Gesellschaft, die von Wachstum und Nachhaltigkeit geprägt ist. Das Standardwerk bietet einen Überblick auf dem neusten Stand der Soziologie und Politikwissenschaft.
Mit Beiträgen von Hans-Jörg Albrecht, Maurizio Bach, Rolf Becker, Johannes Berger, Hartmut Häußermann, Martin Heidenreich, Stefan Hradil, Wolfgang Ludwig-Mayerhofer, Hans-Peter Müller, Oskar Niedermayer, Uwe Schimank, Josef Schmid, Manfred G. Schmidt, Norbert F. Schneider, Wolfgang Seifert, Roland Sturm, Jürgen Wilke, Annette Zimmer, Sascha Zirra und Michael Zürn.
Über den Autor
Stefan Hradil war von 1991 bis 2011 Professor für Soziologie an der Universität Mainz.

Inhalt

Kapitel 1
Sozialkunde Deutschlands
Einleitung
Stefan Hradil
Kapitel 2
Sozialer Wandel
Wohin geht die Entwicklung?
Uwe Schimank
Kapitel 3
Bevölkerung
Die Angst vor der demografischen Zukunft
Stefan Hradil
Kapitel 4
Migration
Vom Gastarbeiter zum Menschen mit Migrationshintergrund
Wolfgang Seifert
Kapitel 5
Familie
Zwischen traditioneller Institution und individuell gestalteter Lebensform
Norbert F. Schneider
Kapitel 6
Bildung
Die wichtigste Investition in die Zukunft
Rolf Becker
Kapitel 7
Soziale Ungleichheit
Eine Gesellschaft rückt auseinander
Stefan Hradil
Kapitel 8
Werte, Milieus und Lebensstile
Zum Kulturwandel unserer Gesellschaft
Hans-Peter Müller
Kapitel 9
Innere Sicherheit und soziale Kontrolle
Wie viel Freiheit ist möglich?
Hans-Jörg Albrecht
Kapitel 10
Siedlungsstruktur
Die neue Attraktivität der Städte
Hartmut Häußermann †
Kapitel 11
Wirtschaftsordnung und wirtschaftliche Entwicklung
Vergangenheit und Zukunft der Sozialen Marktwirtschaft
Johannes Berger
Kapitel 12
Arbeitsmarkt
Für alle wichtig, für viele unsicherer
Wolfgang Ludwig-Mayerhofer
Kapitel 13
Arbeitswelt
Die Entgrenzung einer zentralen Sphäre
Martin Heidenreich/Sascha Zirra
Kapitel 14
Demokratie
Deutschlands schwieriger »Weg nach Westen«
Manfred G. Schmidt
Kapitel 15
Zivilgesellschaft
Ein Leitbild
Annette Zimmer
Kapitel 16
Regierungssystem
Herausforderungen für Regierung und Verfassung
Roland Sturm
Kapitel 17
Parteien und Wahlen
Die Entwicklung des politischen Wettbewerbs
Oskar Niedermayer
Kapitel 18
Medien
Die »vierte Gewalt«?
Jürgen Wilke
Kapitel 19
Sozialstaat
Eine Institution im Umbruch
Josef Schmid
Kapitel 20
Europäische Integration
Zwischen Markt und Solidarität
Maurizio Bach
Kapitel 21
Supranationalisierung
Die Zukunft der Staatlichkeit
Michael Zürn
Kapitel 22
Zukunftsszenarien für Deutschland
Stefan Hradil
Glossar
Literatur
Autoren
Sachregister
Kapitel 1
Sozialkunde Deutschlands
Einleitung
Stefan Hradil

1   Was ist eine »Sozialkunde«?

Die vorliegende Schrift wurde verfasst für Leser, die sich einen Überblick über Gesellschaft, Wirtschaft und Politik der Bundesrepublik verschaffen und dabei auf den aktuellen Stand sozialwissenschaftlicher Forschung gebracht werden wollen.
Jedes Kapitel ist von einem besonders gut ausgewiesenen Wissenschaftler verfasst. Alle Autoren wurden gebeten, die zentralen historischen Entwicklungen und die wichtigsten gegenwärtigen Strukturen auf ihrem Feld zu umreißen. Über Fakten hinaus informieren die Beiträge auch über aktuelle Probleme und zeigen, mit welchen künftigen Entwicklungen zu rechnen ist.
Eine Sozialkunde ist gedacht für einen breiten Leserkreis. Deswegen vermeiden Autoren und Herausgeber Fachbegriffe oder erklären sie. Die Darstellungen sind an den realen Gegebenheiten, Problemen und Wahrnehmungen ausgerichtet. Sozialwissenschaftliche Theorien, Ansätze und Methoden werden nur dann aufgeführt, wenn es zum Verständnis von Befunden nötig ist. Im Unterschied zu wissenschaftlichen Lehr- und Handbüchern gehen die Autoren in der Regel nicht auf die einzelnen Studien und ihre Urheber ein. Was zählt, ist das Gesamtbild der Befunde und ihre Bedeutung für die Bürger.
Die Sozialkunde erscheint sowohl als gedruckte Ausgabe – zuerst Bundeszentrale für Politische Bildung, Bonn 2012 – als auch im Internet (bpb.de/sozialkunde). Der gedruckte Band enthält die wichtigsten Daten und Belege und präsentiert Grundinformationen und eine Übersicht in flüssig lesbarer Form. Die Materialien im Internet umfassen neben dem Buchtext der Bundeszentralen-Ausgabe empirische Nachweise, Gesetzestexte, Interviews, Übersichten und Daten etc. Die vorliegende Verlagsausgabe ist die durchgesehene und aktualisierte sowie um einige Schaubilder und Tabellen erweiterte Neuauflage der Bundeszentralen-Ausgabe.|9|

2   Die Bedingungen der neuen Sozialkunde

Eine umfassende »Sozialkunde« der Bundesrepublik Deutschland wurde zum letzten Mal in den 1980er Jahren veröffentlicht (Claessens/Klönne/Tschoepe 1985). Dabei handelte es sich um die aktualisierte Ausgabe des Buches, das schon 1965 geschrieben wurde.
Hintergrund der damaligen Sozialkunde war eine schnell wohlhabend werdende Nachkriegsgesellschaft. Die Verfasser sahen Deutschland denn auch als eine primär nachfaschistische Gesellschaft. Vieles wurde von der Vergangenheit Deutschlands und von den Mühen her analysiert, sich davon zu lösen. Der neue Wohlstand wurde als umwälzende Kraft begriffen, die die Lösung von den alten Schatten indessen nicht immer erleichterte. Die »Industrialisierung im Obrigkeitsstaat« erschien so als Verheißung und Problem zugleich.
Seither hat sich viel verändert. Die meisten äußeren Gegebenheiten haben sich gewandelt. Aber auch deren Wahrnehmung, die zentralen Problemdefinitionen und die öffentlichen Diskussionsgegenstände sind andere geworden. Damit wird eine Sozialkunde auch ein anderes Publikum, andere Bedürfnisse und andere Rezeptionen in Rechnung stellen, sich insgesamt andere Ziele setzen müssen. Beispielsweise zeigt sich dies in folgenden Erscheinungen:
So lässt es die Globalisierung nicht mehr zu, eine Sozialkunde auf Deutschland zu beschränken. Auch dann nicht, wenn sie sich, ihrem Titel zufolge, auf Deutschland konzentriert. So beendete ein weitgehend deregulierter globaler Finanzmarktkapitalismus in Deutschland den nationalen »Rheinischen Kapitalismus«, manche sagen sogar: die Soziale Marktwirtschaft. Mag die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands davon profitiert haben, so sind doch die Konflikte härter geworden. Eine Sozialkunde wird daher auf eine Leserschaft treffen, deren Überzeugungen wesentlich weiter auseinandergehen als noch vor wenigen Jahrzehnten. An die Überzeugungskraft der dargestellten Befunde stellt das hohe Anforderungen.
Zudem engen vielfältige Transnationalisierungsprozesse die Wirksamkeit gewählter nationaler Regierungen immer mehr ein. Supranationale Entscheidungsträger sind jedoch in aller Regel kaum demokratisch legitimiert. Dies trägt zur Empfindung bei, dass die Einwirkungsmöglichkeiten der Menschen schrumpfen. Kein Wunder also, dass politische Instanzen vermehrt unter Rechtfertigungsdruck geraten und eine Sozialkunde mit einer oftmals skeptischen Leserschaft zu rechnen hat.
Neue Informationstechnologien verwandelten in den letzten Jahrzehnten das Alltagsleben, das Informationsverhalten, die Kommunikationsstile, einschließlich der Wege politischer Kommunikation und sozialer Kontrolle. Eine Sozialkunde muss diese Veränderungen als Gegenstand ihrer Darstellungen, aber auch als |10|Kommunikationsmittel und als Erwartungshaltung ihrer Leser berücksichtigen. In einer Zeit, in der eine Fülle von Einzelinformationen mühelos im Internet greifbar ist, wird von einer Sozialkunde nicht erwartet, die Informationsflut zu vermehren, sondern Wissen zu vermitteln. Das heißt: Informationen von großem Gewicht hervorzuheben, sie in Zusammenhang zu bringen und ihre Bedeutung für die Bürger herauszustellen.
Computer und Internet verbinden die Menschen, treiben sie aber auch auseinander. So entstanden wirtschaftliche Sektoren mit hoher Produktivität, hohen Qualifikationsanforderungen, hohen Einkommen und hohen Partizipationserwartungen. Andere Sektoren blieben von alldem jedoch weitgehend unberührt. Die Disparitäten wuchsen dementsprechend. Nach jahrzehntelanger Angleichung wurde die Sozialstruktur Deutschlands, aber auch die anderer Gesellschaften, wieder ungleicher. Auch dies veränderte nicht nur die Darstellungsobjekte, auch die Leserschaft einer neuen Sozialkunde rückte auseinander.
Eine Facette des Auseinanderrückens zeigt sich darin, dass den Gebildeten und Erfolgreichen die vorhandenen Partizipationschancen einer repräsentativen Demokratie immer weniger ausreichen. Die Gewinner erhöhen den Druck, direktere Einflusskanäle zu eröffnen. Dagegen sinkt die Bereitschaft der weniger Erfolgreichen, auch nur an Wahlen, der Basis einer jeden Demokratie, teilzunehmen.
Wird eine Sozialkunde trotz aller Bemühungen um Eingängigkeit und weite Verbreitung vorrangig von Gebildeten und Partizipationsbereiten zur Kenntnis genommen – und das liegt zumal dann nahe, wenn sich die Publikation auf sozialwissenschaftliche Resultate stützt –, so läuft heute eine Sozialkunde mehr denn je Gefahr, die sich aufbauende Kluft des Wissens und der Partizipation noch zu verstärken.
Dass in letzter Zeit immer mehr Menschen armutsgefährdet, aber auch immer mehr Menschen sehr wohlhabend sind, hat auch mit veränderten Lebensformen zu tun. Noch lebt eine knappe Bevölkerungsmehrheit durchaus »konventionell« als Verheiratete, mit oder ohne Kinder. Die Menschen, die als Singles, Alleinerziehende, nichteheliche und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften oder in anderen »unkonventionellen« Beziehungsformen leben, machen aber schon weit mehr als kleine Minderheiten aus. Die einen leben ihre Lebensform fraglos und selbstverständlich, die anderen ringen mit ihrer sozialen Identität und um gesellschaftliche Anerkennung. Vor allem Letztere erwarten von einer Sozialkunde auch gesellschaftliches Orientierungswissen.
Die demografisch bedingte Schrumpfung und Alterung der Bevölkerung entwickelter Gesellschaften, aber auch die wachsenden internationalen Ungleichheiten fördern Zuwanderungen. Viele Zielländer, auch und gerade Deutschland, versäumten es aber schon in der Vergangenheit, sich auf das Bleiben der Zuwanderer |11|rechtzeitig einzustellen. Kulturelle Heterogenität, Vorurteile und die oftmals geringe Qualifikation von Migranten kulminierten in wachsenden Integrationsproblemen. Von differenzierter Sachkenntnis wenig getrübte, emotional vereinfachende Reaktionen hierauf waren und sind eher die Regel als die Ausnahme. In dieser Situation ist eine Sozialkunde aufgefordert, Ideologie durch Empirie einzudämmen. Es geht um die Verbreitung von Wissen, auch von Wissen über Fehlentwicklungen, die nach allgemein gültigen Maßstäben (z. B.des Grundgesetzes) festzustellen sind. Es geht in einer Sozialkunde nicht um Dramatisierungen, Anklagen, persönliche Bewertungen und Parteinahmen.
Trotz wachsenden Reichtums hatte die Sozialpolitik in den letzten Jahren wachsende Aufgaben. Zugleich gerät der Sozialstaat aber unter Druck, unter anderem weil seine Finanzierungsbasis nicht entsprechend wächst und in Zukunft zu erodieren droht. Wenn Problemlasten die Lösungsmöglichkeiten überwiegen, liegt es nahe, von einer Sozialkunde nicht nur Aufklärungen über gegebene Sachverhalte zu erwarten, sondern auch Diskussionsangebote hinsichtlich alternativer Lösungen. Diese durchaus berechtigten Erwartungen kann die vorliegende Veröffentlichung jedoch nur in engen Ausschnitten erfüllen. Die öffentliche Diskussion durch Lösungsvorschläge und deren Analyse anzuregen erforderte eine zusätzliche, weit umfangreichere Sozialkunde, zudem eine, die nicht nur von Sozialwissenschaftlern geschrieben ist.
Überblickt man die erwähnten Veränderungen, so stellen sich die Zielsetzungen einer Sozialkunde heute sehr komplex dar. Im Folgenden sollen einige wesentliche herausgegriffen werden.

3   Zu den Zielen der neuen Sozialkunde

Leitbild der politischen Bildung ist nicht nur der wissende, sondern auch der kritische, urteilsfähige Bürger (Hilligen 1957, zit. n. Patzelt 2007: 346).
Er soll nicht nur zum Sehen befähigt werden, sondern auch zum Beurteilen und – mehr noch – zum Handeln. Gemessen daran, halten sich die Ziele einer Sozialkunde notwendigerweise in Grenzen. Zum Sehen soll eine Sozialkunde auf jeden Fall befähigen. Was das Beurteilen betrifft, so kann und sollte sie immerhin Kriterien hierfür anbieten und Reflexionen in Gang setzen. Jedoch wird eine Sozialkunde kaum Handlungsanleitungen und -kompetenzen vermitteln können. Dies zu leisten bleibt Schulen, öffentlichen Diskussionen, Netzwerken und politischen Akteuren vorbehalten.
Aber schon die Wissensvermittlung und das dementsprechende Erkennen von Strukturen, Entwicklungen und Problemen gelingen in einer pluralisierten, un|12|gleicheren und nicht selten skeptischen Gesellschaft nicht leicht: Inwieweit lässt sich mittels einer Sozialkunde gegen politische Ideologien, verfestigte Alltagstheorien, tiefsitzende Überzeugungen und routinisierte Lebensstile etwas ausrichten? Wie kann das vermittelte Wissen also individuell in die Tiefe dringen? Inwieweit kann eine Sozialkunde angesichts immer ungleicherer sozialer Schichten mit ihren divergierenden Interessen und angesichts immer unterschiedlicherer sozialer Milieus mit ihren heterogenen Mentalitäten darauf hoffen, gesellschaftsweite Wirkung zu erzielen? Wie kann sozialkundliches Wissen also die nötige Breite erlangen?
Wie viele Wirkungen, auf die Sozialwissenschaftler hoffen, so stellen sich auch diese mentalen Effekte beim Leser nur selten direkt ein. Zwar sollte es gelingen, dass die in dieser Sozialkunde enthaltenen Informationen individuell und momentan zur Kenntnis genommen werden. Inwieweit sie dabei aber – seien sie auch eingängig formuliert und leicht zugänglich publiziert – komplexe Wissenssysteme verändern und wie nachhaltig dieser Wandel ist, steht auf einem anderen Blatt. Ganz zu schweigen davon, ob sich Einstellungen, Werthaltungen und diesbezügliche Urteile verändern und sich sogar eingeschliffene politische und alltägliche Verhaltensstile wandeln.
Die sozialwissenschaftliche Praxisforschung (Beck/Bonß 1989) machte deutlich, dass dies erst dann der Fall ist, wenn Diskussionen angeregt werden und sich dadurch gesellschaftliche Diskussionshorizonte insgesamt verschieben, wenn ferner praxisnahe Einübungen (beispielsweise in der Schule) stattfinden, wenn also indirekte Wirkungen erzeugt werden.
Die vorliegende Sozialkunde kann und soll den Sozialkundeunterricht in der Schule nicht ersetzen, und schon gar nicht die rege Diskussion einer politischen Öffentlichkeit. Aber sie sollte beides beeinflussen und mit dieser Hilfe praktische Wirkungen erzeugen.
Jede Sozialkunde muss über bloße Sachinformationen hinaus Interpretationen anbieten. Fakten und Daten allein (zum Beispiel zum Ausmaß der relativen Armut in Deutschland) werden den Lesern nur bedingt die damit einhergehenden Probleme verdeutlichen. Auch diese Interpretationen (zum Beispiel zu den Folgen der Armut) werden in einer wissenschaftlich fundierten Sozialkunde so weit wie möglich durch objektive Daten verdeutlicht werden. Dennoch kann eine Sozialkunde nicht den Anspruch erheben, »richtige« und »vollständige« Probleminterpretationen zu vermitteln. Wie »schlimm« ein gesellschaftliches Problem (zum Beispiel relative Armut) ist, wird nur der beurteilen können, der sich an praktischen Aktivitäten der Zivilgesellschaft (möglicherweise an einer Tafel oder einer Hausaufgabenhilfe) praktisch beteiligt.
In einer Sozialkunde sollen keine persönlichen Werturteile gefällt und erst recht keine politischen Handlungsempfehlungen gegeben werden. Es ist Aufgabe |13|der politischen Willensbildung herauszufinden, welche Gesellschaft wir haben wollen und was wir tun sollen, um die jeweils gewollte Gesellschaft zu erreichen. Aber eine Sozialkunde kann sehr wohl über unterschiedliche Vorstellungen von einer »besseren« Gesellschaft informieren (zum Beispiel in Gestalt von Gerechtigkeitskonzeptionen), eine Sozialkunde kann auch über Urteile informieren, die sich aus bestimmten Wertvorstellungen ergeben (sie kann beurteilen, ob zum Beispiel aus der Sicht der Chancengerechtigkeit die schulische Auswahl in Deutschland gerecht ist), und eine Sozialkunde kann über die Konsequenzen informieren, die zu erwarten sind, wenn bestimmte Maßnahmen (zum Beispiel eine bestimmte Armutsbekämpfung) getroffen werden.
Die Verfügbarkeit differenzierter Informationen erzeugt leider keineswegs automatisch differenzierteres Wissen und sachgerechtes Handeln. Vielmehr droht ausführliche Information im Gegenteil nicht selten zur Ideologisierung beizutragen. Je komplexer nämlich die angebotenen Informationen sind, und wissenschaftliche Spezialisierung trägt hierzu ebenso bei wie die Informationsverbreitung durch das Internet, desto eher neigen Menschen dazu, radikale Vereinfachungen vorzunehmen, um Übersicht und Handlungsfähigkeit zu erhalten. Einer Sozialkunde fällt in dieser Situation die Aufgabe zu, einerseits Komplexität im Dienste ihrer Handhabbarkeit zu reduzieren, andererseits die Bürger vor »schrecklichen Vereinfachungen« zu schützen. Ein wesentliches Ziel einer Sozialkunde ist erreicht, wenn es auf diese Weise gelingt, sozialwissenschaftlich fundiertes Wissen bereitzustellen, das tatsächlich in politische Argumentation Eingang findet, und somit eine Versachlichung gesellschaftlicher Interessens- und Bewertungskämpfe zu erreichen. Dies ist vor allem wichtig in einer ungleicher und heterogener werdenden Gesellschaft, in der die Verteilungskämpfe härter werden und die politischen Lager sich verfestigen.
Was man sich als Herausgeber einer Sozialkunde erhoffen darf, ist nicht die deduktive, flächendeckende Anwendung »wahrer« Erkenntnisse durch die Bürger, sondern sind Prozesse des induktiven, situativen Umgehens mit Kenntnissen und Deutungsangeboten, produziert von Wissenschaftlern, die dem unmittelbaren politischen oder alltäglichen Rechtfertigungs- und Handlungsdruck weitgehend enthoben sind. Politiker, aber vielfach auch »einfache Bürger« stehen häufig unter unmittelbarem Legitimationsdruck. Politische Korrektheit und Pragmatismus engen so häufig die Bandbreite ihrer Fragen und Antworten ein. Wissenschaftler haben mehr Freiheit, heterogene Fragen zu stellen und kontroverse Antworten zu vermitteln. Dies kommt, so ist zu hoffen, einer Sozialkunde zugute (Beck/Bonß 1989: 27).|14|

4   Wie wird versucht, die Ziele der neuen Sozialkunde zu erreichen?

Wie eingangs erwähnt, stellt die Bundeszentrale für Politische Bildung zum gedruckten Buchtext der vorliegenden Sozialkunde zusätzliche Materialien auf ihrer Website bereit. Diese werden regelmäßig aktualisiert (bpb.de/sozialkunde).
Jedes Kapitel der Sozialkunde wurde von einem besonders ausgewiesenen und erfahrenen Spezialisten geschrieben. Das Gesamtwerk folgt einem systematischen Aufbau. Dies kommt schon äußerlich in der Kapitelstruktur zum Ausdruck. Zwar bringen die Kapitel der einzelnen Autoren insgesamt keine durchgehende Argumentation hervor, wohl aber ergänzen die einzelnen Darstellungen einander und vermitteln insgesamt einen Überblick.
Dank vieler Abstimmungen sind die einzelnen Kapitel in Diktion, Aufbau und Anlage vergleichbar. Sie sind jedoch nicht einheitlich geraten. Dies ist bis zu einem gewissen Grade auch gewollt: Die je besonderen Stärken und Eigenarten der Autoren sollten durchaus erhalten bleiben. Das gilt in Ansätzen auch für die politischen und weltanschaulichen Grundüberzeugungen der einzelnen Verfasser. Die vorliegende Sozialkunde enthält zwar keine Meinungsartikel, sondern sozialwissenschaftlich fundierte, in ihren Aussagen durchgehend empirisch belegte Darstellungen. Die objektive Darstellung der Gegebenheiten und Probleme steht im Vordergrund. Probleme definieren die Autoren nicht aufgrund ihrer persönlichen Bewertung, sondern weil faktische Gegebenheiten von allgemein akzeptierten Sollvorstellungen abweichen. Gleichwohl wird dem aufmerksamen Leser nicht verborgen bleiben, dass die politischen Grundeinstellungen der Autoren teilweise auseinandergehen. Dies zeigt sich bei der Auswahl der Inhalte im Einzelnen, den Interpretationen von Befunden und insbesondere in den Ausblicken, die naturgemäß nur bedingt empirisch zu belegen sind. Auf diese Weise kommt in der vorliegenden Sozialkunde zugleich ein Spektrum von legitimen Bewertungsmaßstäben gesellschaftlicher Entwicklungen zum Ausdruck.
Man kann sicher darüber streiten, welche Themenbereiche in einer Sozialkunde zur Darstellung kommen sollen. Hier gilt es auf der einen Seite, die unerlässlichen, konventionellen Basisinformationen zu vermitteln, die aus gutem Grund in allen schulischen Lehrplänen und in allen universitären grundständigen Studiengängen der einschlägigen sozialwissenschaftlichen Fächer enthalten sind, also etwa: Grundinformationen zum politischen System, zur Sozialstruktur sowie zur Wirtschaftsordnung Deutschlands. Auf der anderen Seite erfordern es neuere Entwicklungen und Verschiebungen der öffentlichen Diskussion, auch bislang in Sozialkunden wenig berücksichtigte Themen darzustellen: So sind der Medienentwicklung, der Supranationalisierung, der Zivilgesellschaft und der sozialen Kontrolle (einschließlich des Datenschutzes) jeweils eigene Kapitel gewidmet. |15|
Der Herausgeber hätte gerne weitere Beiträge in diese Sozialkunde aufgenommen, so etwa zu Fragen der Ökologie, der Jugend und zum Zusammenhalt der Gesellschaft insgesamt. Der Umfang dieser Sozialkunde wäre dann aber kaum noch handhabbar geworden, oder aber die einzelnen Beiträge wären zu reinen Skizzen verkürzt worden.
Ausführungen zum Verhältnis von Frauen und Männern werden die Leser jedoch nicht vermissen. Die Lage und die sozialen Beziehungen der Geschlechter sind heute in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik so bedeutend geworden, dass dieser Aspekt quer zur Gliederung in vielen Kapiteln dargestellt wird, unter anderem in den Kapiteln Bildung, Soziale Ungleichheit, Arbeitsmarkt, private Lebensformen.|16|
Kapitel 2
Sozialer Wandel
Wohin geht die Entwicklung?
Uwe Schimank

1   Die Vielfalt sozialen Wandels

Sozialer Wandel*, d. h. nachhaltige Veränderungen gesellschaftlicher Strukturen, kann schneller oder langsamer vor sich gehen und bleibt den Gesellschaftsmitgliedern mitunter über längere Zeit mehr oder weniger verborgen. Viele dieser Veränderungen berühren lediglich begrenzte Teilbereiche der Gesellschaft, etwa das Familienleben oder die Kunst; andere betreffen tendenziell die gesamte Gesellschaft, wie z. B. die Transformation der staatssozialistischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas nach 1990. In diesem Kapitel geht es um gesellschaftsweite Entwicklungen.
Kleine Chronologie der Veränderungen seit dem Zweiten Weltkrieg
Wer nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Westdeutschland aufwuchs, erlebte eine Phase vielfältigen sozialen Wandels:
den rasanten Wiederaufbau der westdeutschen Gesellschaft und das »Wirtschaftswunder« der 1950er-Jahre
die in den 1960er-Jahren einsetzende Bildungsexpansion
die Studentenbewegung und das Aufkommen der Bürgerinitiativen und der »Grünen«
die »Ölkrise« und das Ende der Vollbeschäftigung seit Mitte der 1970er-Jahre
den Zusammenbruch der DDR 1989 und die deutsche Wiedervereinigung
die rapide Verdichtung der weltweiten kommunikativen Vernetzung in allen Lebensbereichen durch das Internet
die Einführung des Euro als gemeinsame Währung von immer mehr europäischen Ländern im Jahr 2002 nach einem jahrzehntelangen Prozess des europäischen Zusammenwachsens seit Gründung der Montanunion von Frankreich, Italien, den Beneluxstaaten und Westdeutschland im Jahr 1951
die von Menschen gemachte drohende »Klimakatastrophe«
»9/11« und den islamistischen Terrorismus|17|
die demografische Entwicklung hin zu einer stetig alternden Gesellschaft
die im Herbst 2008 explosiv ausbrechende Weltfinanzkrise, die die Weltwirtschaft und die Staatsfinanzen noch auf Jahre tiefgreifend prägen wird.
Die »Naturwüchsigkeit« sozialen Wandels
Diese sehr unvollständige Auflistung von Problemen und Chancen macht deutlich, in welchem Maße zahlreiche sich gleichzeitig vollziehende und in oftmals komplexen Wechselwirkungen miteinander verknüpfte Veränderungsdynamiken den sozialen Wandel kennzeichnen. Manche Zeitdiagnostiker gehen davon aus, dass eine immer größere Beschleunigung des Wandels aller Lebensverhältnisse zum Signum der Gegenwartsgesellschaft geworden sei, womit wir alle irgendwie zurechtkommen müssen. Dem widerspricht auf den ersten Blick eine ebenfalls immer wieder geäußerte Sichtweise, die auf Stillstand, Reformstaus, Blockaden hinweist: Vieles müsse sich grundlegend ändern, aber nichts passiere – so z. B. die verbreitete Stimmung in der Endphase der DDR. Der scheinbare Gegensatz löst sich auf, wenn man sich klar macht, dass sozialer Wandel einerseits »naturwüchsig« geschieht, zwar als Ergebnis des handelnden Zusammenwirkens vieler Menschen, aber von keinem geplant – dass wir andererseits aber in der Moderne* der Idee anhängen, diesen Wandel mit Blick auf bestimmte Zielvorstellungen, die wir unter der Generalformel »Fortschritt« bündeln, gestalten zu können. Dass »nichts« passiert, kann dann eben bei genauerem Hinsehen auch heißen: Es passiert nicht das »Richtige«, das als notwendig Erachtete. Was uns also offensichtlich zunehmend Probleme bereitet, ist ein sozialer Wandel, der aus dem Ruder läuft – wobei wir nicht wissen, ob der Wandel tatsächlich immer ungesteuerter passiert oder ob wir immer unrealistischere Steuerungsambitionen hegen.

2   Die Unaufhörlichkeit sozialen Wandels in der Moderne

Optimistische und pessimistische Sichtweisen
Ist das, was wir an sozialem Wandel erleben, eher gut oder eher schlecht? Und haben wir den sozialen Wandel noch im Griff, oder ist er uns entglitten? Diese beiden Fragen – Fortschrittsoptimismus oder -pessimismus und Gestaltungsoptimismus oder -pessimismus – bestimmen unser Bild des sozialen Wandels. Wenn Fortschritts- und Gestaltungsoptimismus zusammenkommen, fühlen wir uns gut. Das ist immer wieder über längere Zeiträume, wie auch in den 1950er- und 1960er-Jahren in Westdeutschland, die Grundstimmung der Moderne gewesen. |18|Gut können wir uns auch fühlen, wenn wir zwar gestaltungspessimistisch, aber fortschrittsoptimistisch sind. Denn dann gehen wir davon aus, dass eine wohltätige »unsichtbare Hand«, etwa die des Marktes, richten wird, was wir geplant nie schaffen würden. Schlecht fühlen wir uns hingegen, wenn wir aufgrund von Gestaltungspessimismus Fortschrittspessimisten sind: Weil wir die überkomplexen gesellschaftlichen Verhältnisse nicht oder nicht mehr in den Griff bekommen, brechen sie – so kommt es vielen vor – unkontrolliert wie ein Wirbelsturm über uns herein.
Sozialer Wandel – eine Grundkonstante der Moderne
Wenn Letzteres nicht bloß zeitweise, sondern dauerhaft zur gesellschaftlichen Grundstimmung würde, liefe das auf einen radikalen Selbstzweifel der Moderne hinaus. Denn – paradox formuliert: Sozialer Wandel ist eine Grundkonstante der Moderne. Natürlich gab es sozialen Wandel auch in früheren Gesellschaften. Doch diese verstanden sich viel stärker als prinzipiell stabile Ordnungen, in denen Wandel entweder als – zumeist von außen, etwa durch Kriege oder Naturkatastrophen auferlegte – De-Stabilisierung und Verfall oder als Re-Stabilisierung, also als Gegenreaktion vorkommt. Zum Selbstverständnis der Moderne gehört hingegen, dass es keine dauerhafte Ordnung gibt, vielmehr sämtliche gesellschaftlichen Strukturen immer nur als Provisorien gelten. Entweder erweisen sie sich früher oder später als schlecht eingerichtet; dann bemüht man sich darum, sie zu verbessern. Oder sie funktionieren gut; dann setzt genau deshalb eine Anspruchssteigerung derart ein, dass man sie sich noch besser vorstellen könnte und dahingehend umgestaltet. Das kann wiederum glücken, was die nächste Anspruchssteigerung nach sich zieht; und wenn es nicht glückt, zieht man aus der Enttäuschung den Schluss, wieder neue Umgestaltungen zu versuchen.
Dieses Bild wird noch viel komplexer, wenn man berücksichtigt, dass die Vorstellungen verschiedener gesellschaftlicher Gruppen darüber, wann bestimmte gesellschaftliche Strukturen gut bzw. schlecht sind, stark divergieren können. Unternehmern beispielsweise kann ein Sozialstaat schon viel zu weit gehen, den ärmere Bevölkerungsgruppen als völlig unzulänglich ansehen. Unter solchen Bedingungen kann das erfolgreiche Bemühen einer Gruppe, gesellschaftliche Strukturen zu ihren Gunsten zu verändern, im nächsten Schritt andere Gruppen, die bis dahin halbwegs zufrieden waren, auf den Plan rufen und zu weiteren Veränderungen, die in der Regel nicht einfach zum Status quo ante zurückführen, veranlassen – usw.|19|
Die Unaufhörlichkeit sozialen Wandels
Allein schon die nimmermüden Gestaltungsbemühungen der gesellschaftlichen Akteure führen also unablässig sozialen Wandel herbei. Hinzu kommen »naturwüchsige« Wandlungsdynamiken – so etwa die auf ein Ursachenbündel aus medizinischem Fortschritt, veränderten Bedingungen für Elternschaft und weitere Faktoren zurückzuführende drastische Verschiebung des Altersaufbaus der Bevölkerung Deutschlands (vgl. dazu Kapitel 3: Bevölkerung). Solche nicht auf Gestaltungshandeln zurückgehenden Wandlungen sind dann ihrerseits Auslöser für Gestaltungshandeln, sobald sie in den Augen gesellschaftlicher Gruppen Probleme aufwerfen, und halten damit die Unaufhörlichkeit sozialen Wandels ebenfalls in Gang. Dieses abstrakte Modell soll die Unaufhörlichkeit des sozialen Wandels in der Moderne verständlich machen.
Die drei Hauptlinien des sozialen Wandels
Im Folgenden veranschaulichen wir dieses Bild, indem wir drei gegenwärtige Hauptlinien des Wandels nachzeichnen:
den Übergang von einer »fordistischen« zu einer »postfordistischen« kapitalistischen Wirtschaft,
die Individualisierung der Lebensführung und
die fortschreitende Globalisierung des gesamtgesellschaftlichen Erfahrungs- und Wirkungshorizonts.
Wie sich zeigen wird, gibt es zahlreiche Wechselwirkungen zwischen diesen drei Dynamiken. Gleichsam als Generalformel des Geschehens wird abschließend die These von der »reflexiven Moderne« (Beck 1986) vorgestellt.
Das Augenmerk gilt Deutschland, für den Zeitraum vor 1989 vorzugsweise Westdeutschland. Freilich müssen die sich hier abspielenden Wandlungsdynamiken im Kontext weltweiter Veränderungen gesehen werden.

3   Vom »fordistischen« zum »postfordistischen« Kapitalismus

Die drei Stadien der Wirtschaftsentwicklung
Für die längerfristige Betrachtung der Wirtschaftsentwicklung seit dem 19. Jahrhundert wird oftmals eine Drei-Stadien-Einteilung genutzt. Vor dem 19. Jahrhundert und noch bis ins 19. Jahrhundert hinein handelte es sich überall auf der Welt |20|um eine Wirtschaft, in der der Agrarsektor dominierte; im 19. Jahrhundert setzte sich in größeren Teilen Europas und zunächst kleineren Regionen Nordamerikas eine Wirtschaftsstruktur durch, in der der Industriesektor zunehmend den Ton angab; und seit einigen Jahrzehnten befinden wir uns – wiederum vorzugsweise in den hochentwickelten westlichen Gesellschaften sowie einigen Ländern Südostasiens – auf dem Weg in eine Wirtschaft, in der der Dienstleistungssektor den größten Raum einnimmt. In dieser postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft* sind also zumindest in den entwickelten Ländern die meisten Arbeitskräfte nicht mehr in der Industrie und schon gar nicht in der Landwirtschaft beschäftigt, sondern in Dienstleistungsberufen. Diese Berufe tragen auch am meisten zur wirtschaftlichen Wertschöpfung bei (vgl. Kapitel 12: Arbeitsmarkt).
Technischer Fortschritt – ein Hauptmotor sozialen Wandels
Mehrere Faktoren haben diesen tiefgreifenden Wandel ausgelöst. Unmittelbar einsichtig ist, dass der technische Fortschritt ein Hauptmotor gewesen ist – dies übrigens im westlichen Kapitalismus und in den staatssozialistischen Gesellschaften Mittel- und Osteuropas einschließlich der ehemaligen DDR gleichermaßen. Immer mehr Güter zunächst des Agrar-, dann auch des Industriesektors können mit einem immer geringeren Arbeitskräfteeinsatz hergestellt werden; und auch wenn die durchschnittlich von einem Menschen benötigte Menge an Gütern deutlich gewachsen ist, wir z. B. heutzutage viel mehr Kleidung besitzen und viel öfter neue kaufen als die Menschen vor hundert oder vor fünfzig Jahren, hat der ungeheure technische Fortschritt in der industriellen Produktion zunehmend Arbeitskräfte freigesetzt, die dann für andere Tätigkeiten wie Dienstleistungen verfügbar wurden. Der Trend zur Dienstleistungsgesellschaft ist also durch den technischen Fortschritt ermöglicht worden.
Die steigende Nachfrage nach Dienstleistungen
Andere Faktoren haben dafür gesorgt, dass auch immer mehr Dienstleistungen nachgefragt worden sind. Hierfür nur zwei Beispiele: Dass Frauen zunehmend berufstätig geworden sind, hatte zur Folge, dass bestimmte Tätigkeiten der Haushalts- und Familienarbeit wie das Putzen der Wohnung oder die Beaufsichtigung der Kinder von anderen erledigt werden müssen – also etwa Putzfrauen oder Kindergärtnerinnen; und dass Jugendliche heute länger zur Schule gehen, mehr junge Erwachsene ein Studium absolvieren und anschließend im Laufe ihres Berufslebens noch öfter Fort- und Weiterbildungen in Anspruch nehmen, bedeutet, dass das Lehrpersonal des Bildungswesens sehr stark aufgestockt werden musste. Beide Veränderungen sind Teil eines allgemeinen Individualisierungsprozesses*, zeigen |21|
also beispielhaft die Verflochtenheit der hier in den Blick genommenen gesamtgesellschaftlichen Wandlungen.
Die Entwicklung zur Informations- und Wissensgesellschaft
Schon die genannten Beispiele führen vor, dass Dienstleistungen von sehr einfachen Tätigkeiten für Ungelernte, z. B. Putzfrauen, bis zu hochqualifizierten Tätigkeiten etwa von Professoren reichen. Insbesondere die seit den 1980er-Jahren zu beobachtende Entwicklung zu einer Informations- und Wissensgesellschaft* hat zahlreiche neue Dienstleistungsbranchen und -berufe geschaffen, wobei die dort benötigten beruflichen Qualifikationen überwiegend auf mindestens mittlerem, in erheblichem Maße auch auf höherem Niveau liegen. Am augenfälligsten ist die Expansion rund um die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien und, teilweise damit verbunden, im Mediensektor gewesen. Die weltweite Verbreitung des Internets mit immer neuen Diensten ist nach wie vor auch eine gigantische Arbeitsplatzbeschaffung; die nicht zu übersehenden Probleme mit Arbeitslosigkeit, die Deutschland wie viele andere westliche Gesellschaften seit den 1970er-Jahren plagen, wären ohne diese schnell gewachsene Branche des Dienstleistungssektors noch weit größer.
3.1   »Fordismus«
Der Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft muss noch tiefgreifender als Transformation eines Grundmusters verstanden werden, dem nicht nur die Wirtschaft, sondern auch deren weitere gesellschaftliche Einbettung unterzogen wurden. Das alte Muster, dessen erste Anfänge in den 1920er-Jahren erkennbar wurden und das seinen eigentlichen Siegeszug nach dem Zweiten Weltkrieg feierte, war der »Fordismus«* – benannt nach dem amerikanischen Automobilproduzenten Henry Ford. Der Fordismus lässt sich durch vier Merkmale kennzeichnen.
Standardisierte Massenproduktion
Erstens stellt er den Höhepunkt der Industriegesellschaft dar. Standardisierte Massenproduktion von Gütern am Fließband beherrscht das Bild – siehe schon Charlie Chaplins Film »Moderne Zeiten« aus dem Jahr 1936. Das ist als selbstironische Devise pointiert in dem Ford zugeschriebenen Diktum formuliert, dass ein Ford-Automobil in allen Farben erhältlich sei – solange es sich um die Farbe Schwarz handle! Diese Form der hochgradig rationalisierten und technisierten |22|Güterproduktion erfordert ein mittleres Qualifikationsniveau der meisten Beschäftigten ohne größeren Weiterbildungsbedarf. Wichtiger als größtenteils »on the job« erlernbare spezielle Qualifikationen ist Arbeitsdisziplin: Zuverlässigkeit, Leistungsbereitschaft, Sich-Fügen in eine monotone Tätigkeit, die sich häufig auf ganz wenige immer gleiche Handgriffe beschränkt.
Steigerung der Massenkaufkraft
Die durch standardisierte Massenproduktion erzielbaren Kostenvorteile sorgten dafür, dass viele Güter sehr viel erschwinglicher wurden als zuvor. Das stellt das zweite Merkmal des Fordismus dar. Wiederum mit einer Devise Fords ausgedrückt: Jeder Arbeiter in einer seiner Fabriken solle sich auch selbst einen Ford leisten können. Im Vergleich zur Ausbeutungshaltung, wie sie Karl Marx und andere Kapitalismuskritiker nicht zu Unrecht den Unternehmern des 19. Jahrhunderts zugeschrieben hatten, war das eine durchaus revolutionär zu nennende Einstellungsänderung. Sie basierte auf der Erkenntnis, dass die Unternehmen mit zunehmender Ausdehnung industrieller Produktion auf die Kaufkraft der Massen angewiesen waren. Wer sollte denn sonst all die Autos, Möbel, Konserven oder Damenoberbekleidung kaufen? Die Reichen oder das Militär – wichtige Abnehmer im 19. Jahrhundert – reichten als Nachfrager bei weitem nicht mehr aus. Eine Voraussetzung solcher Massenkaufkraft waren entsprechende Lohnsteigerungen, ohne dass die Unternehmer dafür auf stabile und sogar noch steigende Gewinne verzichteten; und diese Konstellation beiderseitiger Vorteile setzte starke, aber gesamtwirtschaftlich verantwortliche, »Maß haltende« Gewerkschaften als Gegenüber der Arbeitgeber voraus.
Aufbau des Sozialstaats
Der Sozialstaat, dessen Aufbau Ende des 19. Jahrhunderts begann, und eine keynesianische Konjunktur- und Vollbeschäftigungspolitik, wie sie in den 1960er-Jahren etabliert wurde, flankierten als drittes Merkmal des Fordismus diesen Klassenkompromiss von Kapital und Arbeit, wie ihn Marx vor dem Erfahrungshintergrund des 19. Jahrhunderts nicht für möglich gehalten hatte (vgl. Kapitel 19: Sozialstaat). Wirtschaftliche Schicksalsschläge, die den Einzelnen in Form von Arbeitslosigkeit, krankheits- oder altersbedingter Arbeitsunfähigkeit trafen, wurden durch entsprechende Versicherungssysteme abgefedert; und gesamtwirtschaftlichen Krisen wollte man nach der Erfahrung der 1929 einsetzenden Weltwirtschaftskrise durch eine ausgleichende Wirtschaftspolitik begegnen, der gemäß der Staat in Krisenzeiten Schulden macht, um Beschäftigung zu sichern und die Konjunktur wieder anzukurbeln, um dann mit den nach der wirtschaft|23|lichen Erholung wieder sprudelnden Steuereinnahmen diese Schulden abzahlen zu können.
Steigende Ansprüche an die individuelle Lebensführung
Die typische Lebensführung der Gesellschaftsmitglieder, die mit dem Fordismus verbunden war, lässt sich viertens mit folgenden Stichworten umreißen: Kleinfamilie mit männlichem Alleinverdiener; Betriebstreue und bescheidene Aufstiegsaspirationen; standardisierter Konsum. Man wollte sich etwas erarbeiten, so dass es einem im Lauf des Lebens immer besser geht. Insbesondere das eigene Haus in den sich ausdehnenden Vorstädten stellte für Facharbeiter und Angestellte das zentrale Objekt des Begehrens dar. Der Jahresurlaub im Süden kam schon in den 1950er-Jahren als neuer Luxus auf.
In den 1960er-Jahren trat dann auch der Wunsch hinzu, dass es die eigenen Kinder durch Bildungsanstrengungen und sich daraus ergebenden beruflichen Erfolg einmal besser haben sollten als man selbst. Diese Ambition, die einen massiven gesellschaftlichen Individualisierungsschub einleitete, sprengte im Grunde bereits das Stabilitätsmuster, das den Fordismus ausgezeichnet hatte. Aber sie war nicht der entscheidende Grund dafür, dass sich der Fordismus Mitte der 1970er-Jahre aufzulösen begann. Das hing vielmehr mit einem nicht ganz zufälligen Zusammentreffen mehrerer Ursachen zusammen.
3.2   »Postfordimus«
Ursachen des Niedergangs des Fordismus
Hier sind zunächst die sogenannten »Ölkrisen« der Jahre 1973 und 1978 zu nennen. Ein zentraler Rohstoff der industriellen Produktion in vielen Branchen und der räumlichen Mobilität der »automobilen Gesellschaft« wurde verknappt und massiv verteuert, eine bis dahin ungekannte Kombination stagnierenden Wirtschaftswachstums mit hoher Inflation und steigenden Arbeitslosenzahlen trat ein. Nun erfuhren die westlichen Gesellschaften ihre vitale Abhängigkeit von ehemaligen Kolonien. Weiterhin brach ebenfalls 1973 mit dem aus dem Jahr 1944 stammenden Abkommen von Bretton Woods* eine stabilitätssichernde Architektur des internationalen Finanzmarkts zusammen. Die Freigabe der Wechselkurse hat seitdem für eine Globalisierung und Verselbständigung des Finanzmarktgeschehens gesorgt – auch die weltweiten Turbulenzen des Herbsts 2008 sind als Folge dessen und weiterer Liberalisierungen des Finanzmarkts einzustufen. Ferner war eine starke Steigerung der Staatsausgaben aufgrund der »Anspruchsinflation« an wohlfahrtsstaatliche Leistungen insbesondere im Bildungs- und Gesundheitswe|24|sen zu verzeichnen. Diese öffentliche Finanzkrise wurde Mitte der 1970er-Jahre durch hohe Lohnforderungen der öffentlich Bediensteten zusätzlich angeheizt. Aufkommende »neue soziale Bewegungen« insbesondere zu Fragen der Ökologie – die erste Studie des »Club of Rome« zu den »Grenzen des Wachstums« erschien 1972 – waren weitere Kräfte, die konservative Beobachter das Menetekel einer »Unregierbarkeit« westlicher Demokratien an die Wand malen ließen. Schließlich nahm die wirtschaftliche Globalisierung Fahrt auf: Immer mehr Unternehmen wurden »vaterlandslose Gesellen«, nahmen also eine Produktionsverlagerung ins Ausland vor, wo die Ware Arbeitskraft billiger war, oder drohten dies an, um hierzulande Lohnzurückhaltung oder staatliche Subventionen zu erpressen. Dieser Drohung hatten Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften nichts entgegenzusetzen. Die »win-win«-Koalition mit den Arbeitgebern zerbrach, Arbeitslosigkeit und insbesondere Dauerarbeitslosigkeit stiegen auf ein vorher ungeahntes Niveau. »Der kurze Traum immerwährender Prosperität« (Burkhard Lutz), der in den 1950er-Jahren begonnen hatte, zerbrach.
So hat sich der tiefgreifende Wandel zum Postfordismus vollzogen, der bis heute noch nicht abgeschlossen ist. Die Veränderungen lassen sich in allen vier Merkmalsdimensionen feststellen, die für den Fordismus benannt worden sind.
Veränderungen im Produktionsbereich
Erstens gilt, dass die standardisierte Fließband-Massenproduktion, die es natürlich nach wie vor gibt, zunehmend in die Dritte Welt, in »Schwellenländer« und – nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus – nach Osteuropa ausgelagert worden ist. Hierzulande sind diejenigen Produktionsbereiche verblieben, die in »flexibler Spezialisierung« heterogene und schneller wechselnde Kundenpräferenzen bedienen – sei es in der Werkzeugmaschinenbranche, sei es in denjenigen Branchen, die den schnell wechselnden modischen »Lifestyle« gesellschaftlicher Milieus bedienen. Technische Voraussetzungen dieser neuen internationalen Arbeitsteilung sind die Computerisierung und die Ausbreitung des Internets gewesen – womit zugleich, zusammen mit den Medien, diejenigen Branchen benannt sind, in denen, wie bereits erwähnt, bei uns neue Arbeitsplätze entstanden sind.
Die permanente Innovation von Gütern und Dienstleistungen
Makroökonomischer Wachstumsmotor ist damit fortan – in der zweiten Merkmalsdimension – die permanente Innovation von Gütern und Dienstleistungen. Die Musikindustrie ist ein augenfälliges Beispiel: Nachdem die Schallplatte über ein halbes Jahrhundert lang das technische Medium der Musikspeicherung und -übertragung gewesen war und in diesem Zeitraum immer wieder inkrementell |25|verbessert worden ist, haben sich seit Ende der 1990er-Jahre die Ereignisse von der CD über MP3 und iPod überschlagen. Diese Beschleunigung nicht nur des technischen Fortschritts macht auf Seiten der Arbeitskräfte ein »lebenslanges Lernen« erforderlich. Keiner kann sich mehr auf einmal erworbenen Qualifikationen ausruhen.
Auf dieser Basis herrscht im sich ausbreitenden »Finanzmarkt-Kapitalismus«* (Windolf 2005) eine gesteigerte Qualitäts- und Flexibilitätskonkurrenz von Berufsgruppen und Unternehmen. Immer mehr Unternehmen geraten unter den Druck von »shareholder value«-Forderungen und müssen kurzfristige Gewinne maximieren, auch wenn sich das negativ auf ihr längerfristiges Überleben auswirkt. Für die Beschäftigten läuft das auf eine Polarisierung in eine kleiner werdende Kern- und eine wachsende Randbelegschaft hinaus. Die Gewerkschaften als kollektiver Interessenvertreter erleben einen Niedergang, der sich unübersehbar in den deutlich sinkenden Mitgliederzahlen zeigt.
Der Abbau sozialstaalicher Leistungen
Drittens führt diese globalisierte Standortkonkurrenz vielerorts zu einem sozialpolitischen »race to the bottom«. Jeder Staat baut arbeitsrechtliche und sozialpolitische Sicherungen ab, um attraktiv für die Unternehmen zu sein, die nur noch auf möglichst kostengünstige Standorte schauen. Das im Fordismus erreichte Niveau wohlfahrtsstaatlicher Sicherung wird von Garantien auf Förderung und Anreize zurückgeschraubt: Wer sich anzustrengen bereit ist und vielversprechend erscheint, wird unterstützt – alle anderen haben zu leiden. Ein zu der Zeit aufgekommener vielsagender politischer Slogan lautete: »Leistung soll sich wieder lohnen.« Das unterstellt zum einen, dass man vorher ohne eigene berufliche Leistung zum »Sozialschmarotzer« werden konnte und immer mehr Gesellschaftsmitglieder diesen scheinbar so bequemen Weg gegangen seien. Zum anderen wird darüber hinweggegangen, dass manche Gesellschaftsmitglieder, ohne etwas dafür zu können, nicht hinreichend leistungsfähig sind – etwa chronisch Kranke. Auch wenn der »fordistische« Sozialstaat hier und da ausgenutzt worden sein mag, kommt in seinem »postfordistischen« Umbau ein unbarmherziges egoistisches Menschenbild derer zum Ausdruck, denen es – durch eigene Leistung oder durch das Glück sozialer Herkunft oder körperlicher Gesundheit – gut geht.
Viertens ist die typische Lebensführung der Menschen zu betrachten. Hier lautet das entscheidende, im nächsten Abschnitt ausführlicher zu behandelnde Stichwort: Individualisierung.|26|

4   Individualisierung der Lebensführung

Die veränderten Lebenschancen der Individuen
Um die Individualisierung* der Gesellschaftsmitglieder zu verstehen, die sich mit dem Übergang zum Postfordismus, aber auch schon zuvor und unabhängig davon seit den 1960er-Jahren vollzogen hat, ist ein Rückgriff auf Ralf Dahrendorfs (1979) Konzept der Lebenschancen* hilfreich. Die Lebenschancen eines Individuums bestehen, ganz abstrakt betrachtet, aus Optionen auf der einen und Ligaturen auf der anderen Seite:
Optionen ergeben sich aus Anrechten und Angeboten. Beispielsweise hilft das Demonstrationsrecht, demokratisch Einfluss auf die Regierung auszuüben; und das Warenangebot ermöglicht jemandem, sich z. B. ganz nach seinen individuellen Vorlieben zu kleiden – vorausgesetzt, er verfügt über genug Geld, um die von ihm bevorzugte Kleidung kaufen zu können. Angebote sind also oftmals von individuellen finanziellen Ressourcen abhängig.
Genauso wichtig für die Lebenschancen einer Person sind die Ligaturen, also die sinnstiftenden Bindungen an kulturelle Werte und soziale Gemeinschaften. Diese Bindungen können höchst vielgestaltig sein – von Freundschaften oder einem guten Betriebsklima bis hin zur Identifikation mit einem Pop-Idol oder der eigenen Nation.
Genauso wie totale Fremdbestimmtheit und Chancenlosigkeit, also die Reduktion von Optionen auf null, einer Person das Leben zur Hölle machen können, ist dies auch bei einer Reduktion der Ligaturen auf null der Fall. Denn dann breitet sich im Leben einer Person Sinnleere aus. Je besser es hingegen sowohl um Optionen als auch um Ligaturen bestellt ist, umso größer sind die Lebenschancen.
Das Ideal der individuellen Autonomie
Der bereits in der Renaissance einsetzende moderne Individualismus betonte von Anfang an die Autonomie und Einzigartigkeit des Einzelnen – ursprünglich in Absetzung von der starken Eingebundenheit des mittelalterlichen Menschen in rigide lokale Gemeinschaften. Bis heute neigt der Kult des Individuums zu einer Überbetonung von Optionen auf Kosten der Ligaturen. Auf seinem Programm steht u. a. eine rigorose Enttraditionalisierung aller Lebenszusammenhänge, um der Person ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Traditionen sollen nicht mehr binden. Die Kehrseite dieser Optionserweiterung ist Ligaturenverlust. Der Schützenverein beispielsweise ist eben nicht bloß spießiger Konformitätsterror, sondern kann auch echtes Gemeinschaftserleben – genau wie in der Raver-Szene – bedeuten.|27|
Die drei Voraussetzungen des Individualisierungsprozesses
Der Individualisierungsschub der letzten Jahrzehnte geht vor allem auf drei Entwicklungen zurück. Erstens hat eine bis in die 1980er-Jahre anhaltende Wohlstandssteigerung in fast allen Bevölkerungsgruppen zwar die sozialen Ungleichheiten nicht nivelliert, wohl aber einen »Fahrstuhl-Effekt« (Beck 1986: 122) ausgelöst: Alle konnten sich kontinuierlich ein bisschen mehr leisten, z. B. Fernreisen oder den Zweitfernseher im Kinderzimmer. Zweitens hat die deutliche Verkürzung der Arbeitszeit den vollerwerbstätigen Gesellschaftsmitgliedern entsprechend mehr Freizeit beschert, in denen sie eigenen Interessen, vom Hobby bis zum politischen Engagement oder zur Weiterbildung, nachgehen können. Drittens schließlich hat das gestiegene Bildungsniveau, wie es sich vor allem im von Kohorte zu Kohorte höheren Abiturienten- und Studierendenanteil zeigt, zum einen dazu geführt, dass immer mehr Menschen bessere Chancen des sozialen Aufstiegs über eine berufliche Karriere bekommen haben. Zum anderen bedeutet höhere Bildung auch die Vermittlung kognitiver Kompetenzen und Anregungen, um profunder über sich selbst und das eigene Leben nachzudenken und auf dieser Grundlage selbstbestimmtere Lebensentscheidungen zu treffen – und auch ein höheres Interesse daran. Mehr Zeit dafür hat man als Jugendlicher und junger Erwachsener ebenfalls, wenn man mehrheitlich nicht schon mit vierzehn eine Lehre absolvieren oder als Ungelernter arbeiten gehen muss.
4.1   Individualisierungsgewinne
Sozialer Aufstieg
Aus diesen Entwicklungen erwuchs eine zunehmende Individualisierung, die sich mit ihrer positiven Seite an einer ganzen Reihe von Phänomenen festmachen lässt. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass von den 1950er- bis zu den 1980er-Jahren mehr Gesellschaftsmitglieder als zuvor – und danach – einen sozialen Aufstieg geschafft haben. Diese Aufsteiger, etwa vom Arbeiterkind zum Akademiker, sind schon deshalb individualisiert, weil sie mit dem sozialen Milieu, in dem sie sich dann bewegen, erst einmal nicht vertraut sind und weil sie auch auf Dauer nicht alle habituellen Eigenarten ablegen werden, die sie ihrem Herkunftsmilieu verdanken – was bei den Lieblingsspeisen anfängt. Je mehr Aufsteiger ein Milieu verkraften muss, desto heterogener wird es daher, und desto weniger vermag es noch einen Konformitätsdruck auf einströmende Aufsteiger auszuüben. Sozialer Aufstieg führt so zwangsläufig zu einer Individualisierung in vordem traditional in sich gefestigten Milieus.|28|
Diversifizierung der Lebensstile
Aber auch darüber hinaus hat eine zunehmende Diversifizierung von Lebensstilen stattgefunden, was als Übergang in eine »Erlebnisgesellschaft« (Schulze 1992) verzeichnet worden ist (vgl. Kapitel 8: Werte). Seit den 1960er-Jahren haben viele Menschen in den entwickelten Ländern des Westens eine ganz neuartige Lebenseinstellung kultiviert. Bis dahin ging es primär darum, zunächst vor allem materielle Grundbedürfnisse zu befriedigen und sodann, insbesondere über Bildungsanstrengungen angegangen, berufliche Leistung zu erbringen und Karriere zu machen. Seitdem hat sich das Lebenskonzept vieler in Richtung »schöner Erlebnisse« verschoben, die neben kulturellen Aktivitäten im engeren Sinne viele weitere Lebensbereiche erfassen: vom Wohnen über Freizeitaktivitäten und Bildungsinteressen bis zum Umgang mit dem eigenen Körper und zum Essen. Dabei bilden sich nach Lebensalter und Bildungsniveau vielfältig differenzierte Lebensstil-Szenen und -Milieus heraus, die relativ friedlich nebeneinander koexistieren. Anders als früher das Bildungsbürgertum, das fraglos beanspruchte, den unteren sozialen Schichten verbindliche kulturelle Standards vorgeben zu können, um sich dann mit vorprogrammiertem Grausen über den »schlechten Geschmack« der »Proleten« erheben zu können, kümmert sich nun etwa das grün-alternative Studienratsmilieu kaum noch darum, was die Schrebergärtner oder die Raver-Szene so treiben.
Entscheidungsnotwendigkeiten
Diese durch sozialen Aufstieg sowie Milieu- und Lebensstildiversifizierung erfolgte Freisetzung des Einzelnen aus engen Sollens- und Wollens-Vorgaben seiner Lebensführung bedeutet: Jeder muss immer mehr Fragen selbst entscheiden, anstatt einfach das zu tun, was »man« in seinem Milieu in entsprechenden Situationen so tut. Das reicht von vergleichsweise belanglosen Fragen wie der, wo man Urlaub macht, bis zu weittragenden Entscheidungen der Berufswahl oder der Gestaltung einer Lebenspartnerschaft. Etwas pathetisch heißt es über diese Stufe der Individualisierung: »Der Mensch wird (im radikalisierten Sinne Sartres) zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muss, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden.« (Beck/Beck-Gernsheim 1994: 16/17)
Weil aber der Einzelne so viele zugemutete Entscheidungen gar nicht auf sich allein gestellt zu bewältigen vermag, springt ihm die Wissensgesellschaft hilfreich zur Seite. Sie stellt ein unerschöpfliches Reservoir an Ratschlägen und Rezepten zur Verfügung, wie man sie tagtäglich in Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehprogrammen, aber auch in der Ratgeberliteratur sowie natürlich mittlerweile |29|im Internet angeboten bekommt. Es gibt buchstäblich für jede noch so seltene und idiosynkratische Frage der Lebensführung Internetforen, wo sich Betroffene und – oft selbsternannte – Experten austauschen. Diese wissensgesellschaftliche Rundum-Beratung der Person ist an die Stelle der früheren Traditionen getreten, wie beispielsweise ein Blick auf die Kindererziehung zeigt. In sozialen Milieus fest verankerte, fraglos geltende standardisierte Normen der richtigen Erziehung – etwa der Erziehung zur Sauberkeit – sind in den letzten Jahrzehnten einem stärker sachliche Gründe erwägenden und darin auch massiv wissenschaftlich beeinflussten Wissen über Kindererziehung gewichen. Welchem der vielen und oft konträren Ratschläge jemand freilich folgt, muss er letztlich immer noch selbst entscheiden.
Frauen als Hauptgewinnerinnen des Wandels
An keiner Bevölkerungsgruppe lässt sich der Individualisierungsschub so deutlich zeigen wie an den Frauen, die insofern erst einmal als die Hauptgewinnerinnen dieses Wandels einzustufen sind. Im Bildungserfolg haben sie die Männer mittlerweile übertroffen, im Berufsleben haben sie trotz nach wie vor bestehender Benachteiligungen große Fortschritte zu verzeichnen, und aus beidem erwachsend können sie inzwischen selbstbewusst in Partnerschaften gehen und eigene Bedürfnisse und Interessen etwa in der familialen Arbeitsteilung geltend machen. Dass heutzutage viel mehr Ehen geschieden werden als früher, ist – so paradox sich das zunächst anhört – ein Indikator dafür, wie sich die Lage der Frauen verbessert hat. Denn sie haben nun, anders als früher, aufgrund eigener beruflicher Qualifikationen und Berufstätigkeit Ausstiegsoptionen aus einer unbefriedigenden Partnerschaft.
Pluralisierung der Formen des Zusammenlebens
Generell ist die Pluralisierung der Formen des Zusammenlebens im Vergleich zur Ära des Fordismus, als die Kleinfamilie eines männlichen Alleinverdieners und einer den Haushalt führenden und die Kinder erziehenden Frau der Normalfall war, frappierend. Neben diesem weiterexistierenden Typ von Partnerschaft gibt es kinderlose Ehen, nichteheliche Lebensgemeinschaften mit und ohne Kinder sowie Wohngemeinschaften – nicht mehr nur unter Studierenden. Weiterhin existiert eine erhebliche Teilgruppe von Menschen, die über eine längere Zeit und freiwillig als Singles – wiederum mit oder ohne Kinder – leben. Manche Beobachter sprechen diesbezüglich sogar von einer »Single-Gesellschaft« (Hradil 1995). Schließlich ist bemerkenswert, wie häufig jemand von einer dieser Lebensformen in eine andere überwechselt, und zwar ohne eine feste Abfolge: Vom Single zur |30|Ehe zur Wohngemeinschaft kann ebenso vorkommen wie von der Wohngemeinschaft zur nichtehelichen Partnerschaft mit Kind zum alleinerziehenden Vater (vgl. Kapitel 5: Familie).
Die Entstehung neuer sozialer Bewegungen
Ein weiteres Ergebnis des gesellschaftlichen Individualisierungsschubs waren die sogenannten »neuen sozialen Bewegungen«, die nach der Studentenbewegung der späten 1960er-Jahre als ganz neuartige politische Akteure aufgekommen sind: die Frauen-, die Umwelt- und die Friedensbewegung. Nicht nur in den inhaltlichen Forderungen, auch in den Aktionsformen, die von der »außerparlamentarischen Opposition« der Studenten übernommen wurden, fand die neugewonnene Individualität vor allem jüngerer Menschen aus der Mittelschicht ihren Ausdruck. Es ging um »postmaterialistische« Werte (Inglehart 1977), um »Lebensqualität« – ein damals aufgekommener Begriff – statt um bloßen »Lebensstandard«; und diese politischen Zielsetzungen leiteten sich aus Bildungserlebnissen und neuen Formen des Zusammenlebens ab. Die 1980 gegründete politische Partei »Die Grünen« – die einzige erfolgreiche programmatische Neugründung in der Parteienlandschaft Nachkriegsdeutschlands – wurde zum parlamentarischen Ausdruck dieses Individualisierungsschubs, der sich freilich nachfolgend auch in den beiden großen Volksparteien Bahn brach.
4.2   Schattenseiten der Individualisierung
So weit zum positiv verzeichneten Zugewinn an Optionen! Dieser hat allerdings auch seine Schattenseiten, die im Laufe der Zeit immer deutlicher zum Vorschein gekommen sind.
Die Zunahme der Entscheidungszumutungen
Die eine davon ist als »Multioptionsgesellschaft« (Gross 1994) porträtiert worden. Wie bereits angesprochen, explodieren die Entscheidungszumutungen, mit denen sich jeder tagtäglich konfrontiert sieht, aufgrund des Ligaturenverlusts. Alles könnte auch anders gemacht werden, und nicht zuletzt die Massenmedien versorgen einen mit Alternativangeboten. Beratungsangebote können partiell abhelfen, bleiben aber hinterfragbar – und dann steht jeder letztendlich mit dem vagen, aber nachhaltig schlechten Gefühl da, er hätte es vielleicht doch besser machen können. Sichtbar wird das natürlich vor allem am eigenen Scheitern: der Ehe, der Kindererziehung oder der beruflichen Karriere. Doch selbst für denjenigen, bei |31|dem es »gut läuft«, steht die Frage im Raum: Hätte es nicht noch besser laufen können – und müssen?! Und weil das nicht bloß bei einer einzelnen Entscheidung, sondern jedes Mal so ist, verdichtet es sich zu einem Lebensgefühl, das so weit gehen kann, dass jemand sich als kompletter Versager vorkommt.
Die weitreichende Selbstverantwortung
Die andere Schattenseite der Individualisierung besteht darin, dass der »Homo optionis« auch selbst dafür verantwortlich gemacht wird, was aus seinen Entscheidungen wird. Wer z. B. einen Beruf wählt, der ihn dann mit Mitte vierzig arbeitslos werden lässt, kann nicht mehr so einfach sagen, er habe nur das getan, was sein Vater und Großvater ihm vorgelebt und geraten haben – es war kein Milieuschicksal, sondern seine höchstpersönliche Entscheidung! Niemandem sonst und schon gar nicht »der Gesellschaft« kann die Schuld zugeschoben werden. Selbstverantwortung ist immer schwer – aber sie kann zu einer übermenschlichen Belastung werden, wenn es um unabsehbare Folgen einer Entscheidung geht oder einem die gesellschaftlichen Umstände keine Chance lassen. Wer konnte schon vor dreißig Jahren absehen, dass er einen Beruf erlernt, der heute keine Zukunft mehr hat – und wer kann etwas dafür, dass ihm eine schwere Wirtschaftskrise den Arbeitsplatz nimmt?
Solche lebensgeschichtlichen Risiken, die sich zu einem totalen Scheitern auswachsen können, gab es zwar immer. Dass der Einzelne sie nunmehr viel stärker als früher sich selbst zurechnen muss, ist seit den 1980er-Jahren virulent geworden, als viele Arbeitsplätze unsicherer wurden und zugleich die Löhne nicht mehr so stetig stiegen wie bisher. In den USA erschien 1991 der Roman »Generation X« des Schriftstellers Douglas Coupland. Das zweite Kapitel ist überschrieben: »Unsere Eltern hatten mehr«, und im Anhang wird das Ergebnis einer Meinungsumfrage wiedergegeben, dass 65 % der damals 18- bis 29-jährigen Amerikaner »der Ansicht sind, dass ›so, wie die Dinge liegen, es für Leute meiner Generation viel schwieriger sein wird, ebenso angenehm zu leben wie vorausgegangene Generationen‹ …« Dieser Befund dürfte mit leichten Abstrichen auf Deutschland übertragbar sein und sich seitdem nicht sehr verbessert haben – eher im Gegenteil! Die Überzeugung vieler Generationen vorher, dass es den eigenen Kindern einmal besser gehen wird als einem selbst, ist auch hierzulande bei nicht wenigen Menschen einer tiefgreifenden Zukunftsverunsicherung gewichen.
Die zunehmende »Prekarität«
Bei einem solchen Lebensgefühl kann man nur versuchen, sich so lange wie möglich findig und lernbereit als »flexibler Mensch« (Sennett 1998) durchzuschlagen |32|und hinzunehmen, dass das eigene Leben keine lineare Aufwärtsbewegung mehr ist, sondern unter Umständen kreuz und quer dahin treibt. An Großorganisationen wie Gewerkschaften als kollektive Interessenvertreter, die für stabile Verhältnisse sorgen, glaubt man immer weniger; stattdessen verhält sich der einzelne Arbeitnehmer als »Arbeitskraftunternehmer« (Voß/Pongratz 1998) in eigener Sache – propagandistisch konsequent zu Ende gedacht mit der Erfindung der »Ich- AG« als arbeitsmarktpolitischer Maßnahme. Dabei nimmt die Versuchung zu, mit Ellenbogenmentalität nach dem Motto »Jeder ist sich selbst der Nächste!« zu agieren. Gerade die gesellschaftliche Mitte verspürt inzwischen eine zunehmende »Prekarität« (Bourdieu 1998) ihrer Lage, obwohl es ihr alles in allem immer noch weit besser geht als den unteren Schichten. Das Wort vom »Prekariat« kursiert bereits in der öffentlichen Debatte und bezieht sich auch auf gut ausgebildete Söhne und Töchter aus Mittelschichtfamilien, die sich nach ihrem Studium von einem Praktikum – siehe die journalistische Wortprägung der »Generation Praktikum« – zum nächsten Projekt hangeln und heute nicht wissen, was morgen kommt (vgl. Kapitel 12: Arbeitsmarkt).
Die neue Gruppe der »Überflüssigen«
Die Anzahl der Menschen, die irgendwann dieses Sich-Weiterhangeln nicht mehr hinkriegen, weil die Kräfte ausgehen, was sich etwa in chronischen Krankheiten und psychischen Beschwerden äußern kann, oder die einfach Pech haben, nimmt seit vielen Jahren zu. Schon Ende der 1970er-Jahre wurde Deutschland als »Zweidrittel-Gesellschaft« etikettiert. Das verwies auf eine nicht länger bagatellisierbare Anzahl von Gesellschaftsmitgliedern, die – wie es gut zehn Jahre später hieß – Opfer gesellschaftlicher »Exklusion« geworden waren. Zwar kennt man das »Lumpenproletariat« schon seit Anbeginn der kapitalistischen Gesellschaft, das als »industrielle Reservearmee« nur in wirtschaftlich guten Zeiten Beschäftigung findet und in schlechten Zeiten freigesetzt wird. Doch inzwischen sehen einige Beobachter eine Zuspitzung derart, dass unter den heutigen Langzeitarbeitslosen eine wachsende Anzahl von Menschen sei, die man im radikalen Sinne als neue Gruppe der »Überflüssigen« (Bude/Willisch 2006) einstufen müsse: Sie werden auch in besseren Zeiten nie mehr gebraucht werden, sondern sind nur noch gesellschaftliche Kostgänger. Träfe dies zu, läge hier ein äußerst brisantes gesellschaftliches Konfliktfeld vor; und die Brisanz spitzte sich nochmals zu, wenn sich erwiese, dass nicht nur diese Menschen selbst für den Rest ihres Lebens chancenlos sind, sondern auch ihre Kinder keine realistische Chance bekommen. Gerade für Deutschland hat sich ja im internationalen Vergleich gezeigt, wie schichtabhängig Bildungschancen, an denen spätere Arbeitsmarktchancen hängen, verteilt sind.|33|
Zunehmende Ausländerfeindlichkeit
Eine Ausprägung solcher Konflikte kennt Deutschland bereits seit den 1990er-Jahren in erheblichem Maße: Ausländerfeindlichkeit, die sich immer wieder nicht nur verbal, sondern auch gewalttätig äußert. Wer auch immer die Rädelsführer sind: Die Gefolgschaft und die Sympathisanten setzen sich zu großen Teilen aus jenen zusammen, die wirtschaftlich abgehängt sind und gesellschaftlich nicht mehr mitkommen. Sie suchen Sündenböcke, die sie für die eigene Misere verantwortlich machen können. Dazu taugen bestimmte Gruppen von Ausländern – nicht der italienische Restaurantbesitzer oder der aus Kanada stammende Bankangestellte, sondern in Deutschland insbesondere Türken. Sie sind in der Öffentlichkeit an ihrem Äußeren zumeist gut erkennbar; sie haben einen fremdartigen, nicht christlich geprägten kulturellen Hintergrund, der noch dazu spätestens seit »9/11« über den radikalen Islamismus mit Terrorismus assoziiert wird; und sie nehmen Deutschen – so das simple Wahrnehmungsschema – Arbeitsplätze und/oder Sozialhilfe weg. Dass derartige Ausländerfeindlichkeit regional, bis auf Stadtteilebene heruntergebrochen, immer dort am meisten verbreitet ist, wo die Arbeitslosenquoten und vor allem der Anteil der Langzeitarbeitslosen am höchsten liegen, zeigt, dass vor allem wirtschaftlich verursachte Frustrationen pauschal zum angeblichen Kulturkonflikt umgedeutet werden.
Nicht wenige Gesellschaftsmitglieder – und nicht nur dezidierte Ausländerfeinde – sehen die Gefahr einer »Überfremdung« der deutschen Kultur durch zu viele hier lebende Ausländer, wiederum vor allem mit Blick auf Türken. Der Bau von Moscheen oder der Gebetsruf des Muezzins sind in den letzten Jahren immer wieder Steine des Anstoßes geworden, ganz zu schweigen von der Beschneidung junger Mädchen oder der familialen Gewalt gegen Frauen. Spätestens letztere Phänomene lassen schnell befürchten, dass der von manchen Medienberichterstattungen dramatisierte weltweite »Kampf der Kulturen« nun in Deutschland, gleich um die Ecke, angekommen sei und dass man die »deutsche Kultur« – was immer man genau darunter verstehen mag – entschieden verteidigen müsse, bevor es zu spät sei.

5   Globalisierung

In solchen Reflexen zeigt sich ein tiefes Unbehagen an der kulturellen und wiederum – in enger Wechselwirkung damit – auch wirtschaftlichen Globalisierung*, wie sie seit 1945 bis heute zunehmend spürbar geworden ist.|34|
Die Auswirkungen der wirtschaftlichen Globalisierung
Die wirtschaftliche Globalisierung ist dabei Schrittmacher gewesen. Viele Handelsschranken zwischen Nationalstaaten sind abgebaut worden. Die Güterproduktion wird einem Prozess immer weiter voranschreitender Arbeitsteilung unterworfen, bei dem die einzelnen Teilproduktionen auch räumlich separiert werden können, so dass jeder Produktionsschritt am kostengünstigsten Ort stattfindet. Auch darüber hinaus ist die wirtschaftliche Produktion und erst recht das Finanzkapital von Banken und Anlegern zunehmend räumlich mobil, wozu die Fortschritte der Verkehrs- und Telekommunikationstechnologien entscheidend beigetragen haben. Damit geraten nationale Wirtschaftsstandorte unter einen immer stärkeren Konkurrenzdruck hinsichtlich der Ansiedlung von Unternehmen, insbesondere aus Wachstumsbranchen; und diese Konkurrenz wird u. a. auch durch steuerliche Anreize, Subventionen und den Abbau sozialstaatlicher Leistungen, die den Produktionsfaktor Arbeit verteuern, ausgetragen. Die inzwischen realisierte 24-Stunden-Echtzeit-Ökonomie des weltweiten Börsennetzes schließlich sorgt für eine enorme Beschleunigung finanzieller Transaktionen und Spekulationen – mit allen dadurch ausgelösten Turbulenzen, die nicht erst im Herbst 2008 deutlich geworden sind.
Die widersprüchlichen Wahrnehmungen der Globalisierungsfolgen
Die Ambivalenzen – aus Sicht der Menschen hierzulande – bereits der wirtschaftlichen Globalisierung für sich genommen sind unübersehbar. Einerseits ist Deutschland als langjähriger »Exportweltmeister« wirtschaftlich existentiell auf einen offenen und wachsenden Weltmarkt angewiesen, und die deutschen Konsumenten bedienen sich weidlich auf dem Weltmarkt – ob es nun um frischen Spargel im Januar, eingeflogen von Gott weiß woher, oder um preisgünstig in der Dritten Welt hergestellte Designermode oder auch um einen kompetenten telefonischen Ansprechpartner für Computerprobleme geht, der in Indien zu dort nachtschlafender Zeit in einem Callcenter sitzt und Anrufer aus Deutschland geduldig in perfektem Deutsch dabei unterstützt, Software zu installieren. Diese Beispiele stehen für tausend andere; und allen ist gemeinsam, dass die Globalisierung der Güter- und Dienstleistungsproduktion es Menschen in der westlichen Welt ermöglicht, einen individualisierten Lebensstil zu kultivieren. Andererseits werden schon seit längerem Arbeitsplätze, die geringe Qualifikationsanforderungen stellen, entweder durch Technisierung gänzlich eliminiert oder aber in die Dritte Welt exportiert – und wer so seinen Job verliert, kann mit dem Warenangebot des Weltmarkts wenig anfangen.|35|
Kulturelle Globalisierung und ihre Folgen
Ähnlich ambivalent werden die Begleiterscheinungen der kulturellen Globalisierung aufgenommen. Güter des Massenkonsums werden durch die sich globalisierende Wirtschaft weltweit verbreitet und transportieren unverkennbare kulturelle Botschaften überall hin – von Coca-Cola bis zu Ceran-Herden und Welthits der Popmusik. Werbung, Unterhaltungssendungen des Fernsehens und Kinofilme führen vielfältige Lebensweisen und Lebensprinzipien über nationale Grenzen und Kontinente hinweg vor Augen. Die Massenmedien berichten aus aller Welt und schaffen ein globales Bewusstsein. Die räumliche Mobilität der Menschen – vom Tourismus bis zur Auswanderung – ist ein weiterer wichtiger Träger kultureller Globalisierung. Nicht zuletzt die Globalisierungsgegner müssen paradoxerweise eine weltweite Verbreitung ihrer Anliegen und Forderungen betreiben: Nur noch global lässt sich Globalisierung bekämpfen.
Kulturelle Heterogenisierung
Hieran wird zunächst eine Heterogenisierung je lokaler, regionaler oder nationaler Kulturen sichtbar. Man hat an einem gegebenen Ort – etwa in Berlin – nicht länger nur die dort traditionell verankerten kulturellen Orientierungen, Praktiken und Güter zur Auswahl, sondern vermag darüber hinaus auf mehr oder weniger zahlreiche und mehr oder weniger andersartige Kulturtraditionen zuzugreifen. Die je individuelle Auseinandersetzung mit den insgesamt bereitstehenden kulturellen Offerten kann dabei sehr unterschiedliche Grade an Intensität aufweisen. Jemand mag Gefallen an chinesischer Küche finden, vielleicht auch nur an einer eingedeutschten Version ausgewählter Gerichte, ohne sich weiter um chinesische Kultur zu kümmern; oder er mag – das andere Extrem – sich auch für chinesische Musik, Malerei und Geschichte zu interessieren beginnen. Kulturelle Heterogenisierung heißt, je intensiver sie stattfindet, dass der Einzelne aus kulturellen Begrenzungen seines Denkens und Handelns, die oft unhinterfragte Selbstverständlichkeiten sind, freigesetzt wird. Er bemerkt, dass die Dinge auch ganz anders gesehen werden können, und gewinnt unter Umständen eine immer größere Wahlfreiheit zwischen kulturellen Orientierungen und Praktiken. Das Problem ist allerdings, dass dies leicht zu weit gehen kann. Dann ist Orientierungslosigkeit die Folge. Pointiert gesagt: Wenn alles gleich gültig ist, ist alles gleichgültig. Und um dem zu entgehen, pocht man dann umso entschiedener auf die »deutsche Leitkultur«.|36|
Kulturelle Homogenisierung
Heterogenisierung ist allerdings nur die eine Seite kultureller Globalisierung. Die andere ist Homogenisierung, wie sie als globale »Verwestlichung« bzw. genauer gesagt »Amerikanisierung« auftritt. Dabei stehen die kulturellen Güter des Massenkonsums und die damit verbundenen Praktiken und Orientierungen im Vordergrund, die von westlichen Großkonzernen auf ihrer zwanghaften Suche nach Absatzmärkten rund um die Welt vertrieben werden. Kurzfristig geht damit zwar nur eine oberflächliche Angleichung von Lebensstilen, vor allem in ihren Ausdrucksformen, einher – wenn etwa chinesische Jugendliche mit der Cola-Flasche in der Hand lässig Coolness demonstrieren. Längerfristig ist allerdings, so steht zu vermuten, mit einer subtilen Resozialisation auch hinsichtlich tiefersitzender Normen und Werte zu rechnen. Durch »Amerikanisierung« wird also der weltweit existierende Reichtum an kulturellen Orientierungen reduziert. Für die Individuen schlägt sich dies in einem Optionenverlust nieder. Wenn beispielsweise, wie überall in der Welt, auch in Deutschland seit den 1960er-Jahren die einheimische Filmproduktion in den Kinos und im Fernsehen gegenüber Hollywood den Kürzeren zieht, geht eine Form der Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Gepflogenheiten verloren, und stattdessen beginnt man, auch im »wirklichen Leben« unmerklich und bedenkenlos den »american way of life« zu übernehmen.
Schichtspezifische Reaktionsweisen
Kulturelle Heterogenisierung und Homogenisierung geschehen parallel, teilen sich aber die Bevölkerung auf. Kulturelle Homogenisierung ist eher das Schicksal der unteren sozialen Schichten, während kulturelle Heterogenisierung eher die Chance – aber auch das Risiko – der gebildeteren und einkommensstärkeren Schichten darstellt. Damit ist Homogenisierung der zahlenmäßig überwiegende Trend. Die sogenannte »Massenkultur« wird immer amerikanischer. Eine gegenläufige Heterogenisierung bleibt zwar Minderheitenprogramm, verfügt aber gerade als solches über eine elitäre Legitimation – von wo aus man dann das »Unterschichtenfernsehen« der Privatsender trefflich kritisieren kann. Während eine solche Kritik, wie sie auch das Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert an den »unkultivierten« Freizeitvergnügungen der Arbeiterschaft übte, damals dazu führte, dass sich die Arbeiterbildung an der bürgerlichen Leitkultur orientierte, was bis hin zu den Volkshochschulen der Nachkriegszeit einen enormen Bildungsschub auslöste, steht zu erwarten, dass dieselbe Art der Kritik heute ins Leere läuft. Damit reduzieren sich die ohnehin geringer gewordenen Chancen sozialen Aufstiegs aus der Unter- in die Mittelschicht noch weiter; und eine kulturelle Spaltung der Gesellschaft schreitet – über die ohnehin bestehenden Differenzen der Lebensstile hinaus – immer mehr voran.|37|

6   Die Dynamik sozialen Wandels in der Moderne

Man könnte – und müsste – neben den drei behandelten gesellschaftlichen Wandlungsdynamiken noch mehrere andere benennen: etwa die durchgreifende Verwissenschaftlichung aller Gesellschaftsbereiche in dem Sinne, dass wissenschaftliche Erkenntnisse überall zunehmend zur Handlungsgrundlage geworden sind, oder das immer weiter vorangeschrittene Aufgabenwachstum des Staates, mit korrespondierendem Ausgabenwachstum, das scheinbar niemand mehr in den Griff zu bekommen schafft. Stattdessen soll zum Abschluss eine von Ulrich Beck (1986) zur Diskussion gestellte Gesamtdeutung des sozialen Wandels der Moderne vorgestellt werden.
Die Transformationen der Moderne
Beck versteht die Wandlungsdynamiken der Nachkriegszeit, die hier im Vordergrund standen, im Horizont einer übergreifenden Dynamik, die viel früher, nämlich bereits im 19. Jahrhundert, einsetzte. Damals setzte sich eine »erste Moderne« endgültig gegenüber vormodernen Gesellschaftsstrukturen durch; und damit entstand zugleich eine »zweite Moderne«, die sich an den nach und nach zu Tage tretenden funktionalen und normativen Unzulänglichkeiten der »ersten Moderne« abzuarbeiten begann.
Die Basisprinzipien der Moderne
Die Moderne insgesamt ist für Beck durch bestimmte zentrale Werte – er nennt sie »Basisprinzipien« – wie Rationalität, Fortschritt, Freiheit und Gleichheit bestimmt. An diesen Leitwerten orientiertes Handeln überwand zunächst in der »ersten Moderne« die vormodernen Traditionen und schuf eine ganz neue gesellschaftliche Ordnung mit »Basisinstitutionen« wie Erwerbsarbeit, Kleinfamilie und Nationalstaat. Die weitere Dynamik der Moderne ist dann entlang eines Pfades verlaufen, der von den »Basisprinzipien« abgesteckt ist. Die nicht stillstellbare Triebkraft gesellschaftlicher Dynamik besteht dabei in der Steigerbarkeit dessen, was die »Basisprinzipien« als gute Gesellschaft versprechen: mehr Freiheit und Chancengleichheit, höhere Rationalität, weiteren Fortschritt. Vor dem Hintergrund solcher Wünsche und Forderungen – zwischen denen durchaus Spannungsverhältnisse bestehen, weil etwa Freiheit und Gleichheit ab einem bestimmten Punkt nicht gleichermaßen gesteigert werden können – geraten die »Basisinstitutionen« in ihrer jeweiligen Gestalt immer wieder in die Kritik und werden entsprechend mehr oder weniger weitreichend umgestaltet. Stets stellen |38|sich jedoch früher oder später als problematisch erfahrene Nebenfolgen dieser Gestaltungsbemühungen ein, was neue Gestaltungsaktivitäten initiiert.
Der Übergang von der »ersten« in eine »zweite«, »reflexive« Moderne
In dieser »unendlichen Geschichte« reagiert Gesellschaftsgestaltung zunehmend auf sich selbst, und die »erste Moderne« als »einfache Moderne« geht in eine »zweite«, »reflexive Moderne« über. Überspitzt formuliert: Immer wieder beabsichtigte und auch oft partiell erfolgreiche Gesellschaftsverbesserungen müssen sich mehr und mehr auf eine ebenso aufwendige Abarbeitung ihrer Kollateralschäden einstellen.