Deutschland, du bist mir fremd geworden - Erik Flügge - E-Book

Deutschland, du bist mir fremd geworden E-Book

Erik Flügge

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Beschreibung

Ein Insider knöpft sich das politische System vor

Etwas ist gekippt in diesem Land, überall liest man Hassbotschaften. Von Fortschritt ist kaum noch die Rede, stattdessen immerfort von der Krise. Als gäbe es keine Hoffnung mehr. Messerscharf analysiert Erik Flügge die Stimmung im Land, die Entfremdung zwischen Bevölkerungsteilen, zwischen Politik und Wählern, zwischen den Medien und ihren Nutzern. Sein Buch ist gespickt mit Vorschlägen, Teil einer guten Veränderung zu werden. Das gilt für die alten Volksparteien, für die Kommunen, die oft zu schnell entmutigt sind, aber auch für die Medien, die sich in permanenter Kritik sehen. Und vor allem für jeden Einzelnen. Damit Deutschland wieder ein Land wird, auf das man stolz sein kann - auch als jemand, der das schon lange nicht mehr gesagt hat.

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Seitenzahl: 212

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Dieses Buch ist ein Gesellschaftsporträt der Bundesrepublik und ihres inneren Zustands. Mit Entsetzen blickt Erik Flügge auf die wachsenden Spannungen im Land: Während die sozialen Medien einerseits für die permanente Sichtbarkeit unterschiedlicher Lebensentwürfe sorgen, entfremden sich andererseits ganze Bevölkerungsteile immer mehr voneinander. Die bürgerliche Mitte ist längst kein Hort der Stabilität mehr, denn sie kippt: nach rechts. Statt konstruktivem Ringen um gesellschaftlichen Fortschritt wird erbittert gestritten. Auch in der Politik sieht es nicht besser aus: Der Kontakt zwischen Volksvertretern und Volk reißt ab, die alten Volksparteien nehmen ihre Aufträge längst nicht mehr wahr.

Erk Flügge analysiert den politischen Burnout der deutschen Demokratie und erklärt die Mechanismen einer gesellschaftlichen Veränderung, die Sprengkraft hat. Er scheut sich nicht, den Parteien ins Stammbuch zu schreiben, wie sie sich verändern müssen. Vor allem aber will er aufrütteln und Mut machen, denn wir müssen die Zustände nicht einfach hinnehmen. Jeder kann etwas zur Verbesserung der Verhältnisse beitragen. Deutschland verändert sich – aber der Ausgang ist noch offen!

Erik Flügge

Deutschland, du bist mir fremd geworden

Das Land verändert sich – und wir uns mit?

Kösel

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Copyright © 2018 Kösel-Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: Weiss Werkstatt München

Covermotiv: Squirrel & Nuts GmbH, Frédéric Ranft

Satz und E-Book Produktion: Satzwerk Huber, Germering

ISBN 978-3-641-23219-1V002

www.koesel.de

Deutschland, du bist mir fremd geworden

Es hat sich etwas verändert in unserem Land. Ich fühle mich so fremd und angegriffen wie nie. Überall lese ich Hassbotschaften. Es vergeht kein Tag, an dem nicht jemand gegen andere Menschen hetzt. Was ist aus dir geworden, Deutschland? Warum hast du deine Größe verloren und stimmst erneut ein in den Kleingeist der Vergangenheit?

Ich gehöre zu den Menschen, die viel unterwegs sind in unserem Land. Ich kenne Hunderte Städte und Dörfer überall in Deutschland. In mancher Woche sind es Tausende Kilometer auf innerdeutschen Strecken mit der Bahn. In großen und kleinen Städten bin ich zu Gast. Überall gehe ich abends in Wirtshäuser, treffe Menschen und führe Gespräche. In den Zügen höre ich, was die Menschen um mich herum sagen. Ich tue das seit über zehn Jahren und ich habe noch nie so eine seltsame Stimmung erlebt wie seit einiger Zeit.

Es kippt etwas in diesem Land. Es kippt nach rechts. Auf den Straßen werden wieder wütende Botschaften gesprochen und im Internet finden die Hassprediger kein Halten mehr. Es fühlt sich an, als wäre unser Land umzingelt von Rechten, denen Flüchtlinge willkommener Anlass zur Hetze sind. Zu allem Verdruss hat sich eine neue Partei ihren Weg in die Parlamente und Köpfe gebahnt. Erneut umschmeichelt eine Kraft, die dem Anderssein den Wert abspricht, die Geister der Deutschen. Wieder werden Ängste vor dem Fremden und der Zukunft bedient. Beinahe glaubt man, jede positive Botschaft ertrinke im tristen Grau der Frustration.

Angebliche Denkverbote sind die Bannersprüche der Ausgrenzenden. Sie toben durchs Land und halten Schilder hoch. Es gibt wieder Fackelmärsche und auf diesen brüllt man so laut, dass selbst ich in meiner Lebenswelt sie schon höre.

Ja, ich fühle mich nicht sicher – nicht sicher in einem Land, in dem über Jahre hinweg Rechtsextreme morden konnten und alle Sicherheitsbehörden die Augen verschlossen. Ich fühle mich nicht sicher in einem Land, in dem Wut und Hass die Menschen in Massen auf die Straße treiben.

Jeden Tag wird es kälter. Der Wind bläst eisig die Straßen entlang. Der Zorn marschiert erneut durchs Land. Es ist wieder Herbst in Deutschland. Die Blätter fallen und übrig bleiben kahle Köpfe. Ich hoffe, dass auf den Winter noch ein Frühling folgt, in bunten Farben. Doch fürchte ich, Deutschland versinkt im Strudel aus tristem Grau.

Heimat

Die Seiten, die Sie gerade gelesen haben, schrieb ich im Jahr 2014 für meinen Blog. Es folgte kein Frühling in bunten Farben. Heute, wenige Jahre später, ist die diffuse Ahnung eines Rechtsrucks in Deutschland einer bitteren Gewissheit gewichen.

Es scheint fast so, als redeten alle nur noch über Migration und Integration. Der gesellschaftliche Fortschritt ist abrupt zum Halten gekommen. Hier geht es nicht weiter. Deutschland steckt in einer Sackgasse fest. Einer Sackgasse aus Frust und Angst, aus dümmlichen Egotrips von Menschen, die sich selbst auf allen Zeitungstitelseiten prangen sehen wollen und Kreuze in die Foyers von Behörden hängen oder erklären, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.

Die Tabus sind gefallen. Als hätte irgendwer im Keller der deutschen Psyche einen Käfig aufgeschlossen, in dem ein Monster wohnt. Zu Anfang schlich es sich noch leise die Treppe hinauf, doch mittlerweile hat es sich fett gefressen an der Moral. Es thront übermächtig über dem Land und spuckt die Reste ehemaliger Ethik aus.

Das Monster war immer da. Wir hatten es nur vergessen, bis es schließlich geweckt wurde von Berichten und Youtube-Videos. Es zu wecken war viel leichter als gedacht. Dazu braucht es schlicht das Spiel mit unserer Kreativität. Wer einen Horrorfilm anschaut, fürchtet sich plötzlich, durch die eigene Wohnung zu gehen. Er wittert wider besseres Wissen hinter jeder Ecke den Mörder mit der Maske. Nicht anders ist es mit den Nachrichten über Kriminalität. Unabhängig von jeder statistischen Wahrheit über die Sicherheit, erzeugt der ständige Bericht über die Unsicherheit seine eigene Angst.

Das Monster erwacht im Rezipienten. Es ist wie jedes Monster Teil der Fantasie und prägt doch mehr als jeder andere Gedanke unser tägliches Handeln. Es lebt nicht, aber es ist da.

Ich ertappte mich vor einiger Zeit bei dem Gedanken, auszuwandern. Aber wohin? Es bleibt ja fast kein Land mehr übrig. Überall tobt der Nationalismus vor sich hin. In allen Himmelsrichtungen kommen hetzende Spießbürger an die Macht, die ihren kleinen Garten mit Zäunen umgeben wollen. In den USA will einer seine Mauer ziehen. In Großbritannien wollen sie den alten Wassergraben zum Festland zurück. In Deutschland stellt jetzt ein Heimatminister jeden Morgen kleine deutsche Gartenzwerge in Lederhosen auf.

Ich wünschte, meine Heimat wäre wieder die alte. Eine, in der man sich noch über unterirdische Bahnhöfe stritt. Die Heimat, in der sich Menschen noch an Bäume ketteten und Kurt Beck für Schleckerfrauen kämpfte. Wie selig waren jene Zeiten.

Ich wünschte, ich hätte diese meine Heimat noch. Doch sie ist abgebrannt. Es waren Hunderte Brandstifter am Werk. Journalisten und Populisten, Trittbrettfahrer und Selbstvermarkter. Sie alle zündelten und schließlich blieb von dem, was mir so lieb war, nur ein verkohlter Haufen übrig. Ist Deutschland dadurch für irgendwen besser geworden?

Stoisch versuche ich, nicht auf die Hetzer zu reagieren – und doch, unweigerlich gewinnen sie meine Aufmerksamkeit. Ihre Strategie der immer neuen Provokation verfängt. Nicht irgendwo, sondern in mir. Fast reflexartig möchte ich mich empören und nur mit höchster Kraft stemme ich mich gegen den Impuls, ihren Provokationen durch meinen Widerstand weiteren Aufwind zu geben.

Aber wie können wir einfach stehen lassen, was sie sagen? Wenn wir nicht widersprechen, dann lassen wir ihre Botschaft sein. Wenn wir widersprechen, verschaffen wir ihr den größeren Raum.

Ich stehe vor einer Wand, schreie sie an und höre dabei nur mein Echo, anstatt dass sie zerbricht.

Ich würde mich gerne dieser Sucht entreißen. Mein tiefster Wunsch ist es, mich dem Hass zu entziehen. Ich will gehen und kann es nicht. Es ist keine Himmelsrichtung mehr offen. Die Demokratien des Westens zerbrechen und wenn wir unsere eigene nicht verteidigen, dann bietet uns keine andere eine Heimat mehr.

Selbst in den alten Bekannten meiner eigenen Kindheit erwacht die Wut. Menschen, die ich über so viele Jahre lieb gewonnen habe, erkenne ich nicht wieder. Sie reden voller Zorn. Zorn auf die anderen, Zorn auf den Islam, Zorn auf die Veränderung.

Dieser Zorn vergiftet den Verstand. Er marschiert in unsere Moral ein. Wo er sich ausbreitet, wächst keine Menschlichkeit mehr nach. Der Zorn versiegelt den Boden, auf dem sonst Empathie spross.

Tausende Anschläge auf Flüchtlingsheime in Deutschland. Kaum eine Randnotiz in der Tagesschau sind sie noch wert. Sie berühren nicht mehr. Sie sind von Zorn und Angst und Wut verschüttet worden.

Und auf der anderen Seite – in mir. In mir ist auch kaum noch Empfinden übrig. Wie sollte ich mich wieder über einen Angriff empören? Noch mal und noch mal. Langsam verschwimmt auch meine Moral. Die Kraft für erneutes Entsetzen ist mir abhandengekommen.

Welcher gesellschaftliche Prozess ist in der Lage, eine Terrorwelle zu stoppen? Eine Welle, die überall gleichermaßen zuschlägt. Wie ein Tsunami, der einen ganzen Landstrich unter sich begräbt. Ein unsichtbarer Tsunami, weil er bewusst verzichtet, Deutsche zum Opfer zu wählen. Dennoch, die Welle kommt.

Als die Kinder foltern lernten

Wenn ich über heutige Jugendliche nachdenke, dann wird mir bange. Welche Fragen haben sie gehört? Wer siebzehn Jahre zählt, der kennt nur Merkel. Merkel und ein einziges politisches Wort: Flüchtlingskrise.

Es gab keine Fragen nach dem Sozialstaat, keine Umweltpolitik, keine Bürgerversicherung und keine Rentendebatte in den letzten Jahren. Es ging nicht um Erziehung und Kitaplätze, sondern nur um Flucht und Migration; um angebliche Überforderungen Deutschlands und die Angst vor Überfremdung.

Jugendliche sind ein Spiegel des Jetzt. Sie kennen die Geschichten der Vergangenheit kaum. Helmut Kohl ist für die Teenager von heute eine ferne Figur. Die Deutsche Einheit ist für sie Langeweile längst vergangener Zeiten.

Wenn der politische Geist in der Jugend erwacht, dann ist er geprägt vom Hier und Jetzt. Er ist unmittelbar beeinflusst von den Stimmungen, die diesen politisch jungen Geist umgeben. Er positioniert sich zu den Fragen, die heute diskutiert werden.

Es gab in all den letzten Jahren nur eine Partei, die gewann. Es gab nur eine Frage, die überall besprochen wurde. Es gab nur den aggressiven Ton. Was wird aus jemandem, der keine Erinnerung mehr hat an den politischen Stil von gestern? Was denkt ein Mensch, der Politik nur in der Verhandlung einer Frage kennt? Was empfindet jemand, der Demokratie nur als hysterisches Schreien erlebt hat?

Ich kenne jemanden, der so etwas weiß. Ein alter Freund von mir aus dem Studium. Sein Weg führte ihn in die Schule, als Politiklehrer. Meiner ging in eine andere Richtung. Wenn wir uns treffen, dann trinken wir gerne miteinander Bier und reden über Gott und die Welt. Über unsere Beziehungen und Berufe, über sein Kind oder das Lebensglück. Und natürlich erzählt er aus der Schule. Nur der Text hat sich geändert.

»Meine Schüler sind jetzt alle für das Foltern«, sagt er nach dem dritten Bier. Ich kann es kaum glauben.

Er benutzt im Unterricht jedes Jahr eine Dilemma-Geschichte. Ein muslimischer Terrorist wird geschnappt, aber er verrät nicht, wo die Bombe liegt. Vor nicht allzu langer Zeit entschieden sich fast alle seine Schüler dafür, dass man auch in Zeiten akuter Bedrohung nicht foltern dürfe. Genau so definiert es auch unsere Verfassung. Selbst wenn der Preis ein unschuldiges Leben ist.

Doch plötzlich ist das anders. Nur noch zwei junge Frauen in der Klasse stellten sich gegen einen Folterkonsens. Das Erpressen von Antworten mit Gewalt ist zum dominanten Gedanken geworden. Wir haben verloren.

Wir haben verloren, weil sich in der Jugend spiegelt, was unsere heutige politische Debatte produziert. Die Angst erwürgt die Menschlichkeit.

Mir wird schlecht. Die Vorstellung, dass in unserem Land die Folter wieder Zustimmung gewinnt, dreht mir den Magen um.

Ein Schlag in den Magen. Er würgt und bricht zusammen. Krümmt sich auf dem Boden. Spuckt und sabbert Blut, das sich im Mund mit seinem Speichel mischt. Ein Tritt. Schmerz, Angst. Wieder ein Tritt. Hochziehen an den Haaren. Zurückzerren an den Tisch und auf den Stuhl stoßen. Die nächste Frage.

Wie greift man das mentale Konzept der legitimen Folter an? Wie durchbricht man die Mauern aus Empathielosigkeit, in die man sich einschließen muss, um jemand anderem die Folter zu wünschen? Wie erlernen Menschen, dass sie falsch ist? Nicht eventuell falsch, nicht ein bisschen, sondern grundfalsch.

Es braucht nur einen Gedanken, um sich gegen die Folter zu stellen. Der Gedanke heißt: Du könntest selbst das Opfer sein. Nur zieht der nicht. Wie in einem Kokon sind die Opfer eingesponnen worden. In den Köpfen sind sie Fremde. Es sind Menschen, die anders aussehen. Muslime. Es sind nur die anderen, denen die Folter droht. Damit stimmt man einem Mittel zu, das einen selbst nicht treffen kann. Was hier nach außen drängt, ist die Entmenschlichung ganzer Gruppen. Flüchtlinge ertranken. Es wurde egal. Flüchtlinge erfroren. Es wurde egal. Flüchtlingsheime brannten. Es interessierte niemanden. Die schiere Menge der verlorenen Leben machte den nächsten Toten zum Schulterzucken.

Ein Schnitt mit dem Messer. Der Finger fällt auf den Boden. Blut läuft auf den Tisch. Ein fassungsloser Blick auf den fehlenden Körperteil. Eine Sekunde der Verzögerung. Dann Schmerz. Der Gedanke bricht sich Bahn. Das heilt nie wieder. Panik. Für immer verloren. Ein lächelnder Polizist. Staatsbeamter. Er stellt erneut seine Frage. Die Schüler hinter der Scheibe lachen und sagen Ja dazu.

Wir müssten eine ethische Debatte führen und verweigern sie. Es zählt nicht mehr die Frage, was den Menschen zum Menschen macht. Der Gedanke vom Volk hat sich über den Menschen erhoben. Ein »Wir und Ihr« und beide in unversöhnlicher Konfrontation. Die Nation ist wieder da, nachdem sie immer tiefer schlief. Und wie eh und je fordert sie im Erwachen ihre Opfer ein. Aufopferung für die Nation, Stolz auf die Nation, Sterben für die Nation. Wo die Nation herrscht, stirbt für das Wir das Ich.

Dass die Schüler von heute den Moslem foltern wollen, ist das Ergebnis eines Prozesses. Es ist die Ausgeburt der Grenzen, die zwischen diesem deutschen »Uns« und dem fremden »Die« gezogen wurden. Es ist der Eiter, der aus der Beule aus Krisenwörtern und nationaler Herrlichkeit bricht. Wir haben diesen Eiter schwären lassen und er stinkt.

Angewidert

Zum ersten Mal entdeckte ich die Krankheit auch in mir. Meine eigene Eiterbeule ist der US-Wahlkampf. Ich sah Hillary Clinton auf den Bühnen, in den Duellen, im Netz und las von ihr in Zeitungen. Ich wusste, sie ist die Bessere. Ich wusste, sie ist die Richtigere. Schlicht, ich konnte keine Bindung zu ihr aufbauen. Sie blieb mir fremd, stieß mich ab. Ein tiefes Gefühl des Angewidert-Seins.

Mit E-Mails oder Skandalen hatte das nichts zu tun. Sie war mir zu professionell. Zu geleckt, zu perfekt, zu rund, zu inhaltlich. Wie kann mir jemand zu inhaltlich sein?

Hätte ein Umfrageinstitut mich angerufen und mir all die altbekannten Fragen gestellt, ich hätte stets ihren Namen genannt:

Wer ist kompetenter? – Clinton!

Wer sollte Präsident werden? – Clinton!

Wer ist glaubwürdiger? – Clinton!

Wer ist sympathischer? – Clinton!

Wen werden sie wählen? – Clinton!

Aber auch auf eine Frage, die nie jemand stellt, hätte ich so geantwortet. »Wer widert Sie mehr an?« – und so absurd, so falsch, so fremd mir selbst die Antwort scheint, sie wäre ebenfalls »Clinton!« gewesen.

Es ist wie ein Geschwür aus Ablehnung in mir. Es wächst, durchdringt mich, frisst mich auf. Ein Geschwür aus Widerwille gegen die immer gleichen Figuren. Ein Widerstand gegen das wohlkalkulierte Bild. Ein Aufschrei gegen die Entmenschlichung der Akteure. Ich will sie nicht, diese perfekten Maschinen-Kandidaten. Diese Personen, die keine Regung ihrer Gefühle mehr zeigen. Diese Juristen im deutschen Parlament, die bei jedem Satz wie eine Verwaltungsvorlage klingen. Diese Apparate in Körpern, die alles beantworten können und auf jede Frage eine konzeptionell durchdachte Antwort geben. Diese Kreaturen, die so lange von der Presse getrieben wurden, bis sie nur noch abgeschmirgelte Sätze sagen, die nichts und niemanden berühren können. Diese Zombies, neben die man in der Inszenierung normale Menschen stellt, damit ein bisschen von ihrer Menschlichkeit auf das eigene Image übergeht.

Neben Clinton der Idiot. Der Widerling Trump. Ein echtes Arschloch – endlich. Ein Typ, der gar nichts kontrolliert. Am wenigsten sich selbst. Der sich nicht im Griff hat und die Dinge auch nicht. Ich hätte ihn nicht gewählt, aber ich war mir immer sicher, dass er gewinnt. Über Monate erzählte ich meinen Kollegen, die Leute werden Hillary nicht wählen. Sie werden es nicht tun. Sie ist so kalt. Unnahbar schrecklich. Jeder mit Herz hätte gegen sie gewinnen können. Dass nun ausgerechnet einer ohne Herz, aber mit Zorn gewonnen hat, macht es nicht besser.

Zorn, welch produktive Antriebskraft. Genau wie echte Liebe übt der Zorn eine wahre Faszination auf uns aus. Wer zürnt, der meint es ernst. Wer mit wuchtigen Worten in Rage gerät, wer flucht und schreit, ist am Ende glaubwürdiger als derjenige, der mit Fakten daherkommt. Die Emotion verführt und nicht das Argument. Wir Deutsche sollten das doch längst gelernt haben.

Ich will mein Land zurück

Einer Depression will ich mich nicht ergeben. In den USA regiert ein Idiot. In Deutschland noch nicht. Der Kampf um unser Land ist noch längst nicht verloren. Er kann noch gewonnen werden. Man muss es nur wagen, ihn endlich zu führen. Deutschland verändert sich – na und, der Kurs wird im Kampf bestimmt und nicht von depressivem Rückzug.

Ich brauchte lange, bis ich wieder zu dieser Einsicht kam. Zu oft schlugen die Schlagzeilen in mein Gemüt ein. Zu oft schaute ich nur noch resigniert auf die aktuelle Nachrichtenlage und die täglich neue politische Eskalation. Das alles immer zwischen Terminen und im Beruf, zwischen Berlin und Köln, zwischen München, Stuttgart, Hannover und Wien. Immer auf Achse und ständig dem täglich auftretenden Irrsinn aus allen politischen Richtungen ausgesetzt. Seit der Rechtspopulismus ins Parlament eingezogen ist, drehen auch zunehmend andere Akteure durch. Die Angst frisst sie auf. Mein Einstieg in die Selbsttherapie waren ein paar Tage in Köln. Endlich Urlaub und Zeit für meinen Freundeskreis außerhalb der Politik. Ein paar freie Tage zu Hause zum Nachdenken und Kraftschöpfen. Sich nicht mehr getrieben fühlen, sondern endlich mal wieder wohl.

Wenn man sich gerade wohlfühlt, dann merkt man, was man andernorts so schmerzlich vermisst. Die friedliche Harmonie in meinem sozialen Umfeld und das Vertrauen untereinander fehlt mir neuerdings in der Politik. Das lähmt mich zu oft. Aber es tut gut zu wissen, welchen Zustand man eigentlich erzielen möchte, wenn man sich erneut in den Kampf begibt: Harmonie und Vertrauen. Beides braucht unsere Demokratie zurück und der Kampf darum wird unharmonisch geführt.

Ich bin ein politischer Mensch. Ich bin nicht zur Aufgabe bereit. Ich überlasse mein Land nicht jener Pest. Die Moral meiner Heimat mag in Trümmern liegen, aber sie lässt sich neu errichten. Die Kinder unseres Landes mögen das Foltern gelernt haben, dann müssen wir sie eben nun die Moral lehren. Eine Moral, die Menschlichkeit und nicht Volkstümelei zum Mittelpunkt hat.

Wenn die Nazis auf die Straße gehen, dann gibt es überall noch immer mehr Gegendemonstranten in Deutschland. Wir sind die Mehrheit, und vielleicht ist genau dieser Angriff von rechts der Weckruf, den wir alle brauchten. Denn in der Mitte der Gesellschaft tritt das politische Engagement oftmals zurück hinter die Verpflichtungen des Alltags. Wir haben Jobs und Verantwortung, kümmern uns um Kinder und engagieren uns im Verein. Wir sind die Mitte, die nur schwer in Bewegung zu setzen ist. Wir brauchen manchmal einen Weckruf, der uns auf die Straße treibt.

Wir haben gepennt – alle miteinander. Über Jahre haben wir uns darauf verlassen, dass es ausreicht, in den Parlamenten demokratisch legitimierte Politik zu machen. Wir haben uns darauf verlassen, dass sich kein rechtes Potenzial kräftig genug zusammenballen kann, als dass es eine kritische Wahrnehmungsschwelle überschreitet. Das Aufkommen der AfD hat uns genervt und die Parolen der Ultra-Konservativen haben uns angekotzt. Dennoch, wir ließen es geschehen.

Ich weiß, die Antifa stand auf der Straße. Ich weiß, es gab die linken Splittergruppen, die nicht müde wurden, einsame Demonstratiönchen abzuhalten. Ich weiß, es gibt sie, diejenigen, die immer bei allem übersensibel-wachsam sind. Aber sie sind so sehr eingemauert in ihrem ideologischen Korsett, dass auch bei diesen Gruppen kaum zu befürchten ist, dass sie eine kritische Wahrnehmungsschwelle überschreiten könnten.

Wir, die bürgerlich-spießig-braven Linken müssen aufstehen, damit etwas passiert.

Ich habe noch nie einen Stein geworfen und auch noch nie vermummt an einer Demonstration teilgenommen. Ich habe noch keine Straße blockiert und ich bin kein Veganer. In all den Jahren war ich nur selten demonstrieren. Mal in Heiligendamm gegen den G8-Gipfel oder vor dem Kölner Dom bei Pulse of Europe – sind wir ehrlich, diese Demos haben keine Änderung erreicht.

Doch der rechte Angriff auf unsere Ordnung hat etwas verändert – in uns allen mitte-links. Wir fühlen uns nicht mehr sicher, wir fühlen uns bedroht. Das, was sich dort auf der Straße zusammenbraut, ist mehr als das übliche, leicht zu belächelnde Elend der NPD. Auf Straßen und Plätzen stehen Menschen, die sich selbst nicht als radikal erleben, aber von Radikalen getrieben werden. Unter dem Schlagwort »Lügenpresse« wird ihnen die Versorgung durch die Medien abgeschnitten. Sie werden von der Mitte der Gesellschaft isoliert. Über eigene Facebook-Seiten und Blogs, Reden und Treffen werden sie indoktriniert und können in Zukunft sukzessiv immer weiter nach rechts gedrängt werden. Heute schon applaudieren manche von ihnen, während ein Mädchen mit Migrationshintergrund im Einkaufszentrum zusammengeschlagen wird. Es ist so widerlich. Stehen wir dagegen auf!

Über Jahre waren wir hilflos. Einige von uns haben versucht, durch das Entfreunden von Menschen auf Facebook ein Zeichen zu setzen. Sind wir ehrlich, das war nicht nur lächerlich, das war auch ein bisschen dumm. Wieso sollte es eine brauchbare Strategie sein, die Möglichkeit, diese anderen zu erreichen und zu widersprechen, abzustellen?

Es ist an der Zeit, uns zu bewegen. Langsam – ganz langsam sollten wir, die linke Mitte, lostrotten. Räumen wir Demo-Termine in übervollen Terminkalendern frei und leisten wir endlich all den Widerspruch in den Kommentarspalten!

Übervoll sind unsere Terminkalender, weil wir Politik in Räten und Parlamenten machen – meist ehrenamtlich, fast immer leidenschaftlich und unter Aufopferung fast jeden freien Abends. Übervoll sind unsere Terminkalender, weil wir Jobs mit viel Verantwortung haben, Familien, Hobbys, Vereinsmitgliedschaften und Freunde. Dennoch, wenn dieser rechte Mob nicht siegen soll, dann ist es an uns, aufzustehen.

Dann sind wir plötzlich viele mehr. Wen mehr als Zehntausend Demonstranten in Dresden damals beeindruckt haben, der soll auf die Massen achten, die wir auf die Straße bringen können, wenn wir endlich den Arsch hochkriegen. Stuttgart 21 hat es damals gezeigt. Wir sind nicht der politische Rand in diesem Land, der sich mühsam seine Anhänger zusammenhetzen muss. Wir sind die übergroße Mitte und unsere Zeichen sind besonders stark, weil wir so viele Leute mit Verantwortung, Bildung und echtem Einfluss unter uns haben.

Das, was der Rechtspopulismus in uns ausgelöst hat, wird noch manchen verwundern. Denn es entsteht eine neue Identität der linken Mitte. Nicht nur die Ultra-Konservativen versammeln sich, nein, auch die Mitte entdeckt sich neu, begegnet sich auf der Straße, plaudert und findet ihre Gemeinsamkeit. Leute treten in Parteien ein. Die SPD wächst wieder, man glaubt es kaum.

Sozialdemokraten, Grüne, Linke und, auch wenn es absurd klingen mag, die FDP stehen in einem Gefühl beieinander wie lange nicht. Wir wollen unser Land zurück. Ob wir nun Heimat dazu sagen oder nicht, wir wollen die Deutungshoheit. Wir wollen Liberalität. Wir wollen ein modernes Land. In all den Jahren, in denen wir fast blutleer vor uns hin verwalteten und uns manchmal fragten, warum wir das alles eigentlich noch tun, fehlte uns nicht selten der innere Begründungszusammenhang. PEGIDA, Höcke, Gauland und Weidel haben ihn uns zurückgegeben. Dafür opfern wir unsere Freizeit, dafür eilen wir von Termin zu Termin. Dafür stehen wir samstags auf Marktplätzen und lassen uns von frustrierten Wählerinnen und Wählern beschimpfen. Dafür demonstrieren wir jetzt wieder: ein weltoffenes Land.

Und dann, ganz unerwartet, bricht genau dieser Wunsch sich Bahn. In Berlin ruft im Mai 2018 die AfD zu einer bundesweiten Demonstration auf. Je nach Bericht gerade einmal zwischen 2.000 und 5.000 Leuten kann sie dabei auf die Straße bringen. Der Widerstand ist unendlich viel größer. Die Schätzungen reichen von defensiven 25.000 bis offensiven 70.000 Gegendemonstranten. Ein bunter Haufen weltoffener Menschen, die zusammen feiern, tanzen, Schilder malen und Widerstand gegen den Rechtsmob leisten. Eine Masse, in der man sich vertraut und die harmonisch miteinander umgeht, vielleicht weil sie in der AfD einen klaren Gegner hat, gegen den sie antritt. Mit Europa- und Regenbogenflaggen, mit bunten Klamotten und quer durch die Parteienlandschaft hindurch. Sogar die CDU-Generalsekretärin ist gekommen, die Grünen sind da, die Linken, die SPD. Alle sind da, auch viele von der FDP, wenngleich deren Vorsitzender Christian Lindner per Twitter auf die riesige Gegendemo schimpft. Nun ja, die FDP hatte schon immer Leute in den eigenen Reihen, für die Weltoffenheit ein schwieriges Konzept ist. Möllemann lässt grüßen.

70.000 – das kann der Anfang von etwas Großem sein. Eine Idee, die man ins Land tragen muss!

Weltoffenheit, Baden-Württemberg und andere Illusionen

Weltoffenheit ist der Begriff, der die liberalen Kräfte unseres Landes eint. Ich bin euphorisiert von den Zehntausenden Demonstranten in Berlin. Weltoffenheit ist der zentrale Begriff aller Kräfte, die den einzelnen Menschen über das Volk stellen. Die vernünftigen Teile der FDP verteidigen die Weltoffenheit, die Grünen, die Sozialdemokraten und die Linke ebenso. Zum Teil sogar die CDU. Weltoffenheit eint weite Teile deutscher Politik und deutscher Öffentlichkeit. Die Gewerkschaften verteidigen die Weltoffenheit, viele Arbeitgeber ebenso. Die Weltoffenheit wird erkämpft von Verbänden und Organisationen.

Das Bündnis, das sich für die Weltoffenheit schmieden lässt, ist so groß, dass es ganz Deutschland auf den Kopf stellen kann. Unsere Freiheit ist gefährdet, darum lohnt es sich, sie endlich wieder in den Mittelpunkt zu rücken. Es geht um mehr als Umverteilung. Es geht in Deutschland um die demokratische Existenz.