Deutschlands Verteidigungspolitik -  - E-Book

Deutschlands Verteidigungspolitik E-Book

0,0

Beschreibung

Nach dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine kündigte Bundeskanzler Olaf Scholz eine Zeitenwende in der deutschen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik an. Ein epochaler Umbruch stellt Politik und Gesellschaft vor die Herausforderung, sich mit einer seit dem Ende des Kalten Krieges größtenteils vernachlässigten Thematik auseinanderzusetzen: der nationalen Sicherheit und der Verteidigung Deutschlands mit militärischen Mitteln. Malte Riemann und Georg Löfflmann haben Beiträge verschiedener ExpertInnen versammelt. Die kompakte Einführung beleuchtet das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven der Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschung. Dabei werden konzeptionelle Ansätze vorgestellt, um die strategischen Herausforderungen für Deutschland und seine Rolle in Europa und der Welt einzuordnen und sichtbar zu machen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 213

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Malte Riemann/Georg Löfflmann (Hrsg.)

Deutschlands Verteidigungspolitik

Nationale Sicherheit nach der Zeitenwende

Verlag W. Kohlhammer

Im Gedenken an Christian Hetsch, FKpt d. R.

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Dieses Werk enthält Hinweise/Links zu externen Websites Dritter, auf deren Inhalt der Verlag keinen Einfluss hat und die der Haftung der jeweiligen Seitenanbieter oder -betreiber unterliegen. Zum Zeitpunkt der Verlinkung wurden die externen Websites auf mögliche Rechtsverstöße überprüft und dabei keine Rechtsverletzung festgestellt. Ohne konkrete Hinweise auf eine solche Rechtsverletzung ist eine permanente inhaltliche Kontrolle der verlinkten Seiten nicht zumutbar. Sollten jedoch Rechtsverletzungen bekannt werden, werden die betroffenen externen Links soweit möglich unverzüglich entfernt.

Umschlagabbildung: Das militärische Transportflugzeug Airbus A400M nutzt die Bundeswehr seit Ende 2014, die Auslieferung von insgesamt 53 Maschinen soll bis 2026 abgeschlossen sein (Foto: Adobe Stock).

1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-043182-9

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-043183-6epub: ISBN 978-3-17-043184-3

Inhaltsverzeichnis

Einleitung

Georg Löfflmann und Malte Riemann

Teil 1

Deutschlands sicherheitspolitische Rolle im 21. Jahrhundert

Von der Elbe nach Afghanistan und zurück: Die Bundeswehr zwischen Landesverteidigung und Krisenintervention

Jorit Wintjes

Deutschlands Rolle in den Bündnissen: Führungsmacht in EU und NATO?

Jana Puglierin

Geopolitik und Seemacht im 21. Jahrhundert: Die maritime Rolle Deutschlands

Johannes Peters

Die nukleare Teilhabe und nukleare Bedrohung Deutschlands

Severin Pleyer

Teil 2

Deutsche Verteidigungspolitik und die Zukunft der Bundeswehr

Die Zukunft nachträglich umsetzen: Bundeswehrstruktur in der Zeitenwende

Torben Schütz

Vier Fäuste und (k)ein Halleluja: Rüstungsindustriepolitik in der Zeitenwende

Heiko Borchert und Joseph Verbovszky

Die Bundeswehr, neue Technologien und der Wandel des Krieges im 21. Jahrhundert

Elisabeth Hoffberger-Pippan

Zeitenwende und die Bundeswehr im Auslandseinsatz: Nie wieder Afghanistan?

Gustav Meibauer

Teil 3

Die Zeitenwende als Herausforderung für Politik, Militär und Gesellschaft in Deutschland

Bundeswehr und deutsche Gesellschaft: Die Berliner Republik zwischen Militarisierung und Normalisierung

Frank A. Stengel

Zeit für eine feministische Wende in der Außenpolitik?

Jennifer Menninger

Zeitenwenden und Kriegsbilder

Ilhan Akcay

Drei Perspektiven zur strategischen Rolle Deutschlands im 21. Jahrhundert

Rolf Clement, Eva Högl und Kersten Lahl

Anhang

Nationale Sicherheit in der Zeitenwende: Wind of Change oder heiße Luft?

Georg Löfflmann und Malte Riemann

Autorinnen und Autoren

Einleitung

Georg Löfflmann und Malte Riemann

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 mit einer großangelegten militärischen Offensive auf mehreren Fronten einsetzte, bedeutet eine Zäsur in der europäischen Nachkriegsordnung. Die russische Aggression stellt grundlegende Prinzipen des Völkerrechts und der UN-Charta in Frage; die hohe Anzahl ziviler Opfer und Meldungen über russische Kriegsverbrechen in der Ukraine haben international Schock und Empörung ausgelöst. Obwohl westliche Nachrichtendienste, vor allem in den USA, schon seit dem Dezember 2021 vor der Gefahr eines russischen Angriffs gewarnt hatten, traf der von Vladimir Putin euphemistisch als „militärische Spezialoperation“ bezeichnete Krieg den Großteil der Staaten in NATO und EU relativ unvorbereitet. Die meisten europäischen Staaten, allen voran Deutschland, waren bis zum Schluss davon ausgegangen, dass es sich bei dem russischen Aufmarsch im ukrainischen Grenzgebiet um einen Bluff oder allenfalls die Vorbereitung einer begrenzten militärischen Aktion handele. Das Ausmaß und die Brutalität des russischen Vorgehens in der Ukraine lösten in der Folge einen grundsätzlichen Kurswechsel in der deutschen Verteidigungspolitik aus.

Nur drei Tage nach der weltpolitischen Zäsur des russischen Einmarschs, am 27. Februar, hielt Bundeskanzler Olaf Scholz eine Regierungserklärung im Bundestag. Scholz erklärte, dass der am 24. Februar begonnen Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine eine Zeitenwende in der Geschichte Europas eingeläutet habe, weshalb die deutsche Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik nachhaltig neu ausgerichtet werden müsse. Der Bundeskanzler unterstrich vor allem die Notwendigkeit der Modernisierung und Aufrüstung der Bundeswehr in allen Bereichen – einschließlich der fortgesetzten Fähigkeit zur nuklearen Teilhabe innerhalb der NATO. Zu den spektakulärsten Ankündigungen gehörte die Schaffung eines Sondervermögens von 100 Milliarden Euro zur sofortigen Erhöhung der Verteidigungsausgaben sowie das Versprechen, „von nun an – Jahr für Jahr – mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung [zu] investieren“ und somit das Zwei-Prozent-Ziel der NATO nicht nur zu erfüllen, sondern regelmäßig zu übertreffen.1 In einer für einen deutschen Regierungschef außergewöhnlichen Rhetorik warnte Scholz den russischen Präsidenten, die deutsche Entschlossenheit nicht zu unterschätzen, „gemeinsam mit unseren Alliierten jeden Quadratmeter des Bündnisgebietes zu verteidigen“. Mit der Ankündigung, die Bewaffnung für Heron TP Drohnen aus Israel und amerikanische F-35 als Nachfolger des Tornado Jagdbombers als Träger der nuklearen Teilhabe zu beschaffen, wurden strittige verteidigungspolitische Themen, die über Jahre ergebnislos diskutiert worden waren, kurzerhand zum Abschluss gebracht. Deutschland würde auch seine vorherige militärische Zurückhaltung aufgeben und substanzielle Waffenlieferungen in die Ukraine, inklusive Artillerie und Flugabwehrpanzer, genehmigen. Die von Olaf Scholz angekündigte Zeitenwende steht somit für den vielleicht größten Paradigmenwechsel in der deutschen Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik seit dem Zweiten Weltkrieg. Gleichzeitig stellt sich die Frage, wie nachhaltig und substanziell die Zeitenwende tatsächlich Strukturen und Prozesse in der deutschen Sicherheitspolitik verändern wird und wie die Ankündigungen, die nach dem ursprünglichen Schock über den Krieg in der Ukraine gemacht wurden, praktisch umgesetzt werden.

Ein epochaler Umbruch, wie die Zeitenwende ihn andeutet, stellt Politiker, Experten und die deutsche Öffentlichkeit vor die Herausforderung, sich mit einer seit dem Ende des Kalten Krieges größtenteils vernachlässigten Thematik auseinanderzusetzen: der nationalen Sicherheit und Verteidigung Deutschlands mit militärischen Mitteln. Dieses Buch bietet hierzu eine kompakte Einführung, welche die Zeitenwende aus unterschiedlichen Perspektiven der politikwissenschaftlichen Forschung, inklusive der Friedens-, Konflikt- und Sicherheitsforschung, beleuchtet und verschiedene konzeptionelle Ansätze bietet, um die hieraus resultierenden Herausforderungen für Deutschland und seine strategische Rolle in Europa und der Welt einzuordnen und zu verstehen.

Das Buch wird von drei zentralen Fragestellungen geleitet, um diese hochkomplexe Thematik aufzuarbeiten und auch einer allgemeinen Leserschaft verständlich zu machen. Der erste Teil beschäftigt sich mit der Frage, was zur deutschen Zeitenwende geführt hat und wie diese im historischen, strategischen und geopolitischen Kontext zu verstehen ist. Die ersten vier Beiträge gehen dieser Frage aus unterschiedlichen analytischen Blickwinkeln nach.

Zunächst bietet Jorit Wintjes eine militärhistorische Betrachtung der Entwicklung der Bundeswehr, die insbesondere zwei Wendepunkte in den Fokus stellt: den Übergang nach 1990 von einer reinen Territorial- und Verteidigungsarmee zur globalen Einsatzarmee sowie die seit der Annexion der Krim 2014 einsetzende Rückbesinnung auf die Landes- und Bündnisverteidigung, die im Zuge der Zeitenwende forciert werden soll. Danach betrachtet Jana Puglierin die strategische Rolle Deutschlands in den prinzipiellen transatlantischen und europäischen multilateralen Sicherheitsbündnissen – NATO und Europäischen Union (EU) – und analysiert, welche Auswirkungen der Krieg in der Ukraine und die Zeitenwende auf Deutschland als militärische ‚Anlehnungsmacht‘ in Europa haben, insbesondere was die militärische Rückversicherung Deutschlands osteuropäischer Partner angeht. Darauf folgend beleuchtet Johannes Peters das geopolitische Umfeld und die maritime Rolle Deutschlands im 21. Jahrhundert, um die Zeitenwende auch unter geostrategischen Gegebenheiten einordnen zu können. Der russische Angriff auf die Ukraine findet statt vor dem Hintergrund einer zunehmenden globalen Konfrontation liberaler, demokratischer Staaten, angeführt von den USA, mit den autoritär regierten Großmächten Russland und China, die auch militärische Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen und territorialen Ziele einzusetzen bereit sind. Als führende Export- und Handelsnation bleibt Deutschland dabei auf die Freiheit der internationalen Seewege angewiesen und wird im asiatisch-pazifischen Raum auch mit den territorialen Machtansprüchen Chinas konfrontiert. Abschließend betrachtet Severin Pleyer die deutsche Rolle in der nuklearen Abschreckungsstrategie der NATO und zeigt, welchen nuklearen Bedrohungen Deutschland strategisch gegenübersteht, insbesondere in Form russischer Mittelstreckenraketen, die mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet sind und die unter anderem die deutsche Hauptstadt Berlin von der Enklave Kaliningrad aus erreichen können.

Der zweite Teil dieses Buches geht der Frage nach, auf welche Herausforderungen die deutsche Zeitenwende in der Verteidigungspolitik eine Antwort finden muss. In den vier Beiträgen dieses Teiles betrachten Expertinnen und Experten aus Universitäten und Think Tanks im In- und Ausland ein breitgefächertes Spektrum an Thematiken zur militärischen Dimension der nationalen Sicherheit. Hierbei werden unterschiedliche politische, finanzielle, materielle und personelle Herausforderungen berücksichtigt und auch konkrete Reformvorschläge vorgestellt.

Zunächst wirft Torben Schütz einen Blick auf das Innenleben der deutschen Streitkräfte und erörtert, welche strukturellen Anpassungen die Zeitenwende hier erforderlich macht. Im Kern geht es darum, zu betrachten, wie es um die Organisation, Führungsstruktur, Einsatzfähigkeit und den personellen Umfang der Armee bestellt ist und wie eine adäquate militärische Ausrichtung der Bundeswehr im 21. Jahrhundert nach zwei Jahrzehnten des Schrumpfens und Sparens zu gewährleisten ist. Daran anschließend betrachten Heiko Borchert und Joseph Verbovszky das rüstungsindustrielle Ökosystem in Deutschland und erörtern die Auswirkungen der Zeitenwende auf die etablierten Prozesse und Strukturen im Beschaffungswesen, wobei sie einen dringenden Reformbedarf konstatieren, um die industrielle Produktion und Beschaffung von Rüstungsgütern für die deutschen Streitkräfte auf eine neue Stufe zu heben, was Geschwindigkeit, Quantität und Qualität angeht. Darauf folgt Elisabeth Hoffberger-Pippans Auseinandersetzung mit neuen Technologien, welche die Kriegführung im 21. Jahrhundert maßgeblich beeinflussen werden, wie etwa bewaffnete Drohnen und Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz, die von der Bundeswehr entsprechende organisatorische, materielle und planerische Anpassungen erfordern. Der letzte Beitrag in diesem Themenkomplex von Gustav Meibauer beschäftigt sich mit den Auslandseinsätzen der Bundeswehr, insbesondere den größten Einsätzen der letzten Zeit in Afghanistan und Mali, und der Frage, inwiefern die Zeitenwende auch einen Einfluss auf zukünftige Einsatzszenarien der Bundeswehr außerhalb des NATO-Territoriums hat, von der militärischen Ertüchtigung von Partnernationen in Afrika bis hin zur Beteiligung an internationalen Kampfeinsätzen zur Terrorismusbekämpfung.

Der dritte und letzte Teil dieses Buches stellt die politischen, militärischen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Zeitenwende für etablierte Leitbilder in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik in den Mittelpunkt. Hierbei geht darum, sowohl den Wandel politischer und gesellschaftlicher Einstellungen zur Bundeswehr in den Blick zu nehmen als auch die Transformation etablierter Sicherheitsvorstellungen und Kriegsbilder im Zuge des russischen Angriffskrieges. Der ehemalige Bundespräsident Horst Köhler attestierte den Deutschen einst ein „freundliches Desinteresse“ gegenüber den Streitkräften, jedoch haben die Nachrichtenbilder deutscher Soldaten bei der Evakuierung des Kabuler Flughafens im August 2021 und der Krieg in der Ukraine ein nie dagewesenes öffentliches Interesse an Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Deutschland nach sich gezogen. Die Negativschlagzeilen der letzten Jahre über die zahlreichen Ausrüstungsmängel der Bundeswehr scheinen aber auch dazu beigetragen zu haben, dass in der deutschen Bevölkerung erhebliche Zweifel gewachsen sind, ob die Bundeswehr überhaupt noch in der Lage ist, ihren verfassungsmäßigen Kernauftrag zu erfüllen und die äußere Sicherheit Deutschlands zu gewährleisten.

Im ersten der vier Beiträge zu diesem Themenkomplex widmet sich Frank A. Stengel den gesellschaftspolitischen Herausforderungen, welche die Zeitenwende an die deutsche Friedensforschung und das etablierte Leitbild Deutschlands als Zivilmacht stellt. Hierbei widerspricht Stengel dem weitverbreiteten und auch in nationalen und internationalen Medien oft rezipierten Eindruck einer grundsätzlich pazifistischen Gesellschaft in Deutschland und zeigt auf, dass sich die verfassungsmäßige Rolle der Bundeswehr als Bündnis- und Verteidigungsarme auf eine breite Zustimmung in der Bevölkerung stützen kann. Jennifer Menninger beleuchtet anschließend die Zeitenwende aus feministischer Perspektive und erklärt, warum Deutschland von einer feministischen Wende in der Außen- und Sicherheitspolitik profitieren würde und welche politischen Schwerpunkte nach einer solchen strategischen Neuausrichtung zu setzen wären, die nationale Sicherheit neu denken und auch an den Erfordernissen der Human Security ausrichten würde. Ilhan Akcay, aktiver Offizier der Bundeswehr, setzt sich dagegen mit dem Wandel des Krieges im 21. Jahrhunderts auseinander. Hierbei hinterfragt er, welche Lehren aus dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine zu ziehen sind und ob eine strategische Rückbesinnung der Bundeswehr auf die konventionelle Abschreckung eines russischen Angriffs auf NATO-Territorium mit einer Fokussierung auf gepanzerten Bodentruppen nicht zu einseitig gedacht ist und andere Erfordernisse, etwa zur unkonventionellen Kriegsführung, vernachlässigt. Im Schlussbeitrag dieses Teiles kommen drei prominente Stimmen aus Politik (Eva Högl), Bundeswehr (Kersten Lahl) und Medien (Rolf Clement) zu Wort und legen ihre individuelle Sichtweise auf zwei Kernpunkte der Zeitenwende da: (1) Was ist die strategische Rolle Deutschlands und welche Art von Streitkräften (Größe, Struktur, Ausrüstung etc.) benötigt Deutschland, um diese Rolle zu erfüllen? (2) Welche praktischen Hürden müssen genommen werden, um eine erfolgreiche Zeitenwende einzuleiten?

Schließlich fassen die Herausgeber, Georg Löfflmann und Malte Riemann, die Kernthesen aller Beiträge zusammen und wagen einen analytischen Ausblick auf die Zukunft der deutschen Außen-, Verteidigungs- und Sicherheitspolitik nach der Zeitenwende. Die zentrale Fragestellung, der sie dabei nachgehen, ist, ob und wie die Zeitenwende Deutschland auch politisch, gesellschaftlich und kulturell verändern wird. Insbesondere betrachten sie das Verhältnis zwischen der deutschen Bevölkerung und der Bundeswehr – als Mittel der Politik und Armee des Parlaments – sowie die Fragen, welche Folgen die Priorisierung von Fragen der nationalen Sicherheit und Verteidigung auf die Gesellschaft hat und ob eine historisch gewachsene strategische Kultur militärischer Zurückhaltung angesichts des Ukrainekrieges noch zeitgemäß ist.

1

https://www.bundesregierung.de/breg-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzler-olaf-scholz-am-27-februar-2022-2008356 [Zugriff: 13.12.2022].

Teil 1Deutschlands sicherheitspolitische Rolle im 21. Jahrhundert

Von der Elbe nach Afghanistan und zurück: Die Bundeswehr zwischen Landesverteidigung und Krisenintervention

Jorit Wintjes

Die Geschichte organisierter Streitkräfte ist immer auch eine Geschichte von Reformen, Neu- und Umorganisationen. Spätestens seit dem Einsetzen eines dramatischen technologischen Fortschritts im 19. Jahrhundert sind Reformen ein ständiger, aber keineswegs immer freudig begrüßter Begleiter der Armeen der Moderne. Dabei lassen sich drei verschiedene Arten unterscheiden: Reformen, die durch technologischen Fortschritt hervorgerufen sind und sich auf den Einsatz von Technologie und die sich daraus ergebenden taktischen und operativen Konsequenzen beziehen, Reformen organisatorischer Natur, die sowohl die allgemeine Struktur der Streitkräfte als auch die Rekrutierung und Ausbildung von Personal betreffen, und Reformen, die auf eine grundlegende Neubewertung der Rolle und Funktion der Streitkräfte oder ihrer Teile zurückzuführen sind. Die Grenzen zwischen den drei Arten von Reformen sind allerdings fließend, und oft ergeben sich – nicht zuletzt aufgrund von äußeren Zwängen – Wechselwirkungen zwischen ihnen. Oft handelt es sich hierbei um die Auswirkung technologischer Neuerungen auf die Organisation der Streitkräfte, deren Struktur und Personalwesen beispielsweise an die Anforderungen neuer Technologie angepasst werden muss. Umgekehrt können Veränderungen organisatorischer Natur einen Ausdruck in der veränderten Nutzung von Technologie finden. Deutlich seltener lassen sich grundlegende Veränderungen der Funktion von Streitkräften beobachten, was zum einen daran liegt, dass solchen Veränderungen gewöhnlich ebenso grundlegende Veränderungen der politischen Lage vorausgehen, zum anderen aber auch auf den simplen Umstand zurückzuführen ist, dass präzise Funktionsbeschreibungen jenseits von „taking the king’s shilling and killing the king’s enemies“ ein vergleichsweise neues Phänomen sind.

Die Bundeswehr bis zum Fall des Eisernen Vorhangs

Es ist daher durchaus bemerkenswert, dass am Beginn der ersten geeinten Streitkräfte eines deutschen Nationalstaates eine von fremder Hand verfasste Funktionsbeschreibung stand: So legte der Versailler Vertrag für das neu aufzustellende Heer des Deutschen Reiches fest, dieses sei „nur für die Erhaltung der Ordnung innerhalb des deutschen Gebietes und zur Grenzpolizei bestimmt“ (Art. 160); Eingang in die Weimarer Verfassung fand diese Bestimmung dann aber nicht. Zwar bestimmte die Reichsverfassung, dass die Verteidigung des Reiches dem Heer obliege, weitere Regelungen wurden aber an ein entsprechendes Reichsgesetz verwiesen (Art. 79). Das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland enthielt zunächst keine derartigen Bestimmungen, die Einfügung von Artikel 87a im März 1956 benannte dann allerdings erneut deutlich die Verteidigung als Auftrag der neu aufzustellenden Streitkräfte, eine Bestimmung, die im Juni 1968 durch eine Erweiterung nochmals geschärft wurde; so heißt es: „Außer zur Verteidigung dürfen die Streitkräfte nur eingesetzt werden, soweit dieses Grundgesetz es ausdrücklich zulässt“ (Art. 87a Abs. 2). Seit ihrer Gründung diente die Bundeswehr daher primär der Verteidigung, und auch wenn sowohl der Zusammenbruch des Ostblocks als auch die neuen Herausforderungen zu Veränderungen der konkreten Ausgestaltung der Bundeswehr geführt haben, hat sich mehr als 65 Jahre nach ihrer Gründung an dieser grundsätzlichen Ausrichtung nichts geändert.

Dabei unterlag die Bundeswehr allerdings den gleichen Notwendigkeiten zur Anpassung wie viele deutsche Armeen vor ihr, und so ist die Geschichte der Bundeswehr auch eine Geschichte von in teilweiser schneller Taktung aufeinanderfolgenden Reformen (Rink/von Salisch 2010, 4 f.). Im Rückblick erscheint die Frequenz von Reformen in den etwa dreißig Jahren zwischen dem Zusammenbruch des Ostblocks und der im Frühjahr 2022 angekündigten Zeitenwende besonders hoch. Es sollte aber nicht vergessen werden, dass auch die Bundeswehr des Kalten Krieges bereits teilweise erhebliche Wandlungen durchmachte, die nicht nur deutliche Auswirkungen auf Ausrüstung, Einsatzformen und Strukturen hatten, sondern zum Teil auch durch äußere Veränderungen angestoßen wurden. Die einzelnen Teilstreitkräfte waren hiervon in unterschiedlichem Maße betroffen.

So sah sich das Heer bereits der Notwendigkeit organisatorischer Veränderungen gegenüber, noch ehe der Erstaufbau in seiner ursprünglich geplanten Gliederung abgeschlossen war; bereits nach nicht einmal drei Jahren wurde die Heeresstruktur 1 durch eine neue Struktur ersetzt, die den Anforderungen des durch die Einführung taktischer Nuklearwaffen veränderten Gefechtsfelds Rechnung trug. Diese neue Heeresstruktur 2 hatte etwa ein Jahrzehnt Bestand, bevor die Einführung der flexible response-Strategie durch die NATO erneut Veränderungen notwendig machte. Nach wiederum etwa einem Jahrzehnt wurde die resultierende Heeresstruktur 3 dann von der Heeresstruktur 4 abgelöst, die für die organisatorische Ausgestaltung des Heeres der 1980er Jahre maßgeblich war. Die für das dann folgende Jahrzehnt geplante Heeresstruktur 5 wurde durch den Zusammenbruch des Ostblocks 1989/90 obsolet und nur in Ansätzen umgesetzt (MGFA 1985, 82–86, 119–137). Blickt man vom Fall der Mauer und seinen Folgen zurück auf die Anfangsjahre des Heeres, so ist eine deutliche Regelmäßigkeit im Bemühen erkennbar, seine Strukturen an neue Rahmenbedingungen und Herausforderungen anzupassen. Auch die Luftwaffe durchlief einen ähnlichen Prozess, der allerdings mit den Reformen des Heeres zeitlich nicht deckungsgleich war. So kam es erst 1963 mit der Luftwaffenstruktur 2 zu einer umfassenden Neuorganisation, die aber bereits vier Jahre später in der Luftwaffenstruktur 3 revidiert wurde; diese hatte dann bis zum Ende des Kalten Krieges Bestand (MGFA 1985, 86–90, 140–149). Veränderungen deutlich weniger drastischer Natur durchlief die Marine. Auch hier kam es allerdings zu Beginn der 1960er Jahre insofern zu einer Neuorientierung, als der bislang bestehende Fokus auf Küstenvorfeldoperationen in der Ostsee deutlich erweitert wurde und nun auch den Schutz von Überwasserkommunikationslinien in der Nordsee und die Teilnahme an der Standing Naval Force Atlantic vorsah (MGFA 1985, 90–94, 155–170).

Insgesamt zeigt sich, dass die Reformen und Veränderungen die einzelnen Teilstreitkräfte auf sehr unterschiedliche Art und Weise betrafen; diese Unterschiedlichkeit kann als wesentliches Merkmal der Veränderungen der ersten gut 30 Jahre des Bestehens der Bundeswehr angesehen werden. Quer zu diesen zumeist organisatorischen Umformungen verliefen personale Veränderungen von nicht geringerer Wichtigkeit für die Entwicklung der Bundeswehr. Hier bildet das Ausscheiden der ersten Generation von Berufssoldaten in den 1960er Jahren eine erste wichtige Wegmarke. Die folgenden Jahre war dann immer wieder von Personalengpässen in der schnell wachsenden Bundeswehr geprägt; Versuche, die Attraktivität des Soldatenberufs zu steigern, führten erst um die Mitte der 1970er Jahre zu einem dauerhaften Erfolg. Bis Mitte der 1980er Jahre stieg der Personalbestand der Bundeswehr dann auf knapp 500.000 Mann; allein das Heer, das den zahlenmäßig stärksten Beitrag zu den Landstreitkräften der NATO in Mitteleuropa stellte, war in den 30 Jahren seines Bestehens bis 1985 auf eine Friedensstärke von 345.000 Mann aufgewachsen, die im Verteidigungsfall auf 1.055.000 vermehrt werden konnte (MGFA 1985, 138).

Die Bundeswehr zwischen 1990 und 2022

Der Zusammenbruch des Ostblocks und das Ende des Kalten Krieges markieren insofern eine wichtige Zäsur, als durch eine grundlegende politische Lageänderung zum ersten Mal in der Geschichte der Bundeswehr alle drei Teilstreitkräfte zum gleichen Zeitpunkt vor neue und ähnliche Aufgaben gestellt wurden, die umfangreiche Maßnahmen der Reorganisation notwendig machten. Hierzu zählte vor allem die im „Zwei-plus-Vier-Vertrag“ von 1990 vereinbarte Reduzierung der Gesamtstärke der Bundeswehr auf 370.000 Mann innerhalb eines Zeitraums von drei bis vier Jahren (Art. 3 Abs. 2; Schlaffer/Sandig 2015, 115–118); diese wurde allerdings erst 1994 erreicht. Die Auflösung und Abwicklung der Nationalen Volksarmee der DDR stellte einen wichtigen Teil dieses Prozesses dar. Von etwa 90.000 Mann wurden zunächst rund 18.000 in die Bundeswehr eingegliedert, von denen schließlich 11.000 als Berufssoldaten dauerhaft übernommen wurden (Clement/Jöris 2005, 111 f.). Die umfangreiche Materialausstattung der Nationalen Volksarmee wurde in den auf die Wiedervereinigung folgenden Jahren teilweise an Verbündete abgegeben, auf dem freien Markt verkauft oder vernichtet. Neben der Notwendigkeit zur organisatorischen Anpassung und personellen Reduzierung brachte der Zusammenbruch des Ostblocks auch eine umfassende politische Lageänderung mit sich: Die Bedrohung, auf deren Abwehr die Bundeswehr seit ihrer Gründung primär ausgerichtet war, existierte so nicht mehr.

Der deutlich veränderten Lage trugen die Verteidigungspolitischen Richtlinien aus dem Jahr 1992 Rechnung. Zwar standen Landes- und Bündnisverteidigung noch an erster Stelle der Aufgaben der Bundeswehr, doch ging man nun in der „dauerhaft verbesserte Sicherheitslage […] [von] einer nutzbaren Warnzeit von mindestens einem Jahr“ aus; die Bundeswehr sollte deswegen konsequent den Charakter einer Mobilmachungsarmee erhalten, wobei keine grundsätzliche Verengung des Fähigkeitenspektrums vorgesehen war (BMVg 1992, 46). Gleichzeitig legten die Richtlinien aber bereits den Grundstein für ein verändertes Verständnis von der Aufgabe der Bundeswehr, indem sie Krisenmanagement als „künftige Schwerpunktaufgabe an die Stelle der bisherigen Ausrichtung auf die Abwehr einer großangelegten Aggression“ (BMVg 1992, 48) setzten. Die damit einhergehende Forderung, dieser Aufgabe auch hinsichtlich der Investitionen Priorität einzuräumen, stellte den Abbau von primär der Landes- und Bündnisverteidigung zugeordneten Fähigkeiten dann bereits in den Raum, ohne sie jedoch konkret auszusprechen.

Zu diesem Zeitpunkt hatte die Bundeswehr schon erste Erfahrungen in Auslandseinsätzen im Rahmen von NATO-Operationen und UN-Missionen gewonnen: Während des Zweiten Golfkriegs wurden Anfang 1991 Teile zweier Luftwaffeneinheiten in die Türkei zur Unterstützung gegen einen möglichen Angriff durch den Irak verlegt, im Anschluss an die Kampfhandlungen nahm die Marine dann an einer Minenräumoperation im Persischen Golf unter der Führung der Westeuropäischen Union teil. Auch an der Überwachung der Adria zur Durchsetzung von gegen Jugoslawien verhängten Wirtschaftssanktionen und Waffenembargos waren deutsche Kriegsschiffe ab 1993 beteiligt; im gleichen Jahr entsandte die Bundeswehr ein Feldlazarett im Rahmen einer UN-Blauhelmmission nach Kambodscha, an der bereits seit Ende 1991 deutsche Sanitätssoldaten in geringer Stärke teilgenommen hatten. Den bis zu diesem Zeitpunkt umfangreichsten Einsatz bildete die deutsche Unterstützung der UN-Mission in Somalia (UNSOM): Zwischen 1993 und 1995 kamen insgesamt rund 3.000 Mann verteilt auf zwei Kontingente zum Einsatz. Die Aufgabe des deutschen Kontingents bestand dabei ursprünglich in der logistischen Unterstützung anderer UNSOM-Einheiten in Zentralsomalia; tatsächlich betätigte sich das deutsche Kontingent vor allem im Bereich der Unterstützung ziviler Infrastruktur. Obwohl der Somalia-Einsatz über weite Strecken eher ziviler Entwicklungshilfe ähnelte, bildete er einen wichtigen Wegpunkt in der Geschichte der Bundeswehr; so wurde mit der Einrichtung des Vereinte Nationen Ausbildungszentrums in Hammelburg erstmals institutionelle Unterstützung für Auslandseinsätze geschaffen (Clement/Jöris 2005, 119–124).

Diese ersten Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb Deutschlands und außerhalb des Bündnisgebietes waren mit teilweise intensiven politischen Diskussionen verbunden, auf die hier aus Platzgründen nicht näher eingegangen werden kann. In einem zentralen Streitpunkt, der Frage nach der Verfassungsmäßigkeit derartiger Einsätze, brachte das Bundesverfassungsgericht durch eine Entscheidung im Juli 1994, die Auslandseinsätze nach der Zustimmung durch den Bundestag für verfassungskonform erklärte, Klarheit (BVerfGE 90, 286). Bemerkenswert ist immerhin, dass in der Diskussion um eine immer stärkere Ausrichtung auf solche Einsätze die Folgen für Struktur und Fähigkeiten der Bundeswehr eine sehr geringe Rolle spielten. Tatsächlich wirkte es so, als rückte die Realität des Kalten Krieges rasch in sehr weite Ferne; das 1994 veröffentliche Weißbuch konstatierte bereits selbstsicher, „Deutschlands territoriale Integrität und die seiner Verbündeten“ sei „auf absehbare Zeit nicht existenziell bedroht“ (BMVg 1994, 205).

Und tatsächlich schien die Bundeswehr schnell einen neuen Platz in der durch den Fall des Eisernen Vorhangs veränderten Welt zu finden. Im Frühsommer 1999 beteiligten sich deutsche Kampfflugzeuge im Kosovo-Krieg an der NATO-Operation „Allied Force“, was zu teilweise heftigen politischen Auseinandersetzungen in Deutschland führte. Nach Beendigung der Kampfhandlungen stellte die Bundeswehr dann Kontingente für die KFOR-Stabilisierungsmission ebenso wie für die später aus der SFOR-Mission in Bosnien-Herzegowina hervorgegangene EUFOR-Operation „Althea“. Die Terroranschläge des 11. September 2001 gaben schließlich den vielleicht wichtigsten Impuls zu einer Neuausrichtung der Bundeswehr. An den militärischen Anstrengungen der unter der Führung der USA entstandenen Anti-Terror-Koalition nahm die Bundeswehr sowohl mit einem am Horn von Afrika stationierten Verband als auch mit Kontingenten im Rahmen der NATO-geführten ISAF-Mission teil (Clement/Jöris 2015, 124–127). Der Afghanistan-Einsatz veränderte die Bundeswehr nachhaltig; zwischen 2002 und 2014 nahmen Tausende Bundeswehrangehörige an der ISAF-Mission teil, 57 von ihnen fanden dabei den Tod.

Die Erfahrung eines von erheblicher Asymmetrie auf dem Schlachtfeld gekennzeichneten Konflikts, dessen Wurzeln nicht im Handeln staatlicher Akteure, sondern in einer terroristischen Bedrohung lagen, führte schließlich dazu, dass bereits die Verteidigungspolitischen Richtlinien von 2003 den 1994 noch vorsichtig eingeschlagenen Weg jetzt mit deutlicher Konsequenz weitergingen:

„Die herkömmliche Landesverteidigung gegen einen konventionellen Angriff als allein strukturbestimmende Aufgabe der Bundeswehr entspricht nicht mehr den aktuellen sicherheitspolitischen Erfordernissen. Die nur für diesen Zweck bereitgehaltenen Fähigkeiten werden nicht länger benötigt.“ (BMVg 2003, 12)

Noch deutlicher hielt das drei Jahre später erschienene Weißbuch von 2006 fest:

„Internationale Konfliktverhütung und Krisenbewältigung einschließlich des Kampfes gegen den internationalen Terrorismus sind auf absehbare Zeit ihre wahrscheinlicheren Aufgaben. Sie sind strukturbestimmend und prägen maßgeblich Fähigkeiten, Führungssysteme, Verfügbarkeit und Ausrüstung der Bundeswehr.“ (BMVg 2006, 67)

Die Formulierungen der Verteidigungspolitischen Richtlinien und des Weißbuches zeigen, dass der mit dem Zurücktreten von Landes- und Bündnisverteidigung einhergehende Verlust an Fähigkeiten Teil eines gezielten Umbaus der Bundeswehr war. Dieser fand organisatorisch in der sogenannten Transformation der Bundeswehr seinen Ausdruck, die zu tiefgreifenden Veränderungen und einer starken Ausrichtung auf Auslandseinsätze asymmetrischer Natur führte (Weisswange 2010). So wurden die Kräfte der Bundeswehr in drei Kategorien aufgeteilt: Eingreifkräfte, die für aktive Interventionsaufgaben vorgesehen waren, Stabilisierungskräfte, die vor allem im Rahmen von stabilisierenden Einsätzen geringerer Intensität zum Einsatz kommen sollten, sowie Unterstützungskräfte. Der Transformationsprozess fand schließlich durch eine grundlegende politische Entscheidung ein Ende, die auch neue Verteidigungspolitische Richtlinien anstieß: Im Sommer 2011 wurde die allgemeine Wehrpflicht nicht zuletzt aus Kostengründen ausgesetzt. Die im gleichen Jahr erschienenen Richtlinien enthielten dann bezeichnenderweise einen Passus, wonach „auch der verteidigungspolitische Etat einen Beitrag zu der gesamtstaatlichen Aufgabe, den Bundeshaushalt zu konsolidieren“, zu leisten hatte (BMVg 2011, 20). Hinsichtlich der Fähigkeiten der Bundeswehr folgten die Richtlinien hier dem Weißbuch von 2006 und hielten fest: „Die wahrscheinlicheren Aufgaben der internationalen Konfliktverhütung und Krisenbewältigung bestimmen die Grundzüge der neuen Struktur der Bundeswehr“ (BMVg 2011, 27). Die Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht machte umfassende Neuorganisationen in der Bundeswehr notwendig, die unter der Bezeichnung „Neuausrichtung der Bundeswehr“ ab 2011 schrittweise umgesetzt wurde.